Die Milch des Todes und andere riskante Phänomene
Dieser Erzählband versammelt Walter M. Millers Kurzgeschichten und Novellen. Viele darunter loten die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für Individuen aus, sei es auf dem Mars, im Theater oder als telepathischer Mutant. Sie wurden vielfach abgedruckt, ganz besonders in den Anthologien des Heyne-Verlags.
Der Autor
Der US-Autor Walter M. Miller erlangte mit seinem SF-Roman „Ein Lobgesang für Leibowitz“ (1959) unsterblichen Ruhm. Dieser Roman gewann 1960 den HUGO Award (ironischerweise ein Jahr nach dem Debakel mit Heinleins „Starship Troopers“) und wird von vielen Kritikern als einer der besten Science-Fiction-Romane überhaupt angesehen. Viele Jahre später ließ er die Fortsetzung „Saint Leibowitz and the Wild Woman“ folgen.
Miller wurde 1923 in New Smyrna Beach, Florida, geboren, absolvierte ein Ingenieurstudium an der University of Texas und diente im Zweiten Weltkrieg bei US-Luftwaffe. Dabei war er an den schweren Kämpfen um das italienische Kloster Monte Cassino 1944 beteiligt. Nach dem Krieg schlug er sich als freier Schriftsteller durch und widmete sich mehr und mehr der Science-Fiction.
Sein zweitwichtigstes Werk sind seine Kurzgeschichten und Novellen, denn mit ihnen formte er maßgeblich die moderne amerikanische Science Fiction mit. Nach seinem Bestseller „A Canticle for Leibowitz“ zog er sich vom Schreiben zurück und widmete sich privaten Interessen und Forschungen.
Die Erzählungen
1) Du nichtsnutziges Stinktier! (You triflin’ skunk!, 1953)
Die dicke Lucey lebt mit ihrem Sohn Doodie in einer kleinen Hütte in der Nähe der Sümpfe. Ein Mann, der sein Vater sein könnte, lebt hier nicht. Immer wieder hat Doodie Anfälle, in denen er sich qualvoll windet. Er sagt dann, er könne sich mit seinem Vater verständigen – in seinen Gedanken. Er behauptet, sein Vater lebe weit entfernt, jenseits der Welt. Solches unchristliches Gerede will Lucey wirklich nicht hören und sie schilt Doodie dafür.
Doodie sagt voraus, sein Vater werde heute Nacht von den Sternen kommen, um sie als Kundschafter seines Volkes erneut zu besuchen, bevor die Invasion beginnt. Na, der kann was zu hören bekommen, denkt Lucey zornig, sie einfach so sitzenzulassen! Sie schnappt sich die Flinte und legt sich hinter dem Hühnerstall auf die Lauer. Schon bald erspäht sie ein violettes Licht zwischen den Bäumen, und etwas wie Rauch schwebt zwischen den Bäumen auf ihre Hütte herab…
Mein Eindruck
So kann man eine Alieninvasion natürlich auch zurückschlagen – mit der Schrotflinte! Die Angst vor den Kommunisten schimmert ebenso durch wie die Furcht vor Mutanten, die durch Radioaktivität erzeugt werden. Last but not least gilt die Kritik den Soldaten, die in den gerade zurückliegenden Krieg zogen und ihre Braut sitzenließen, z.B. weil sie in den Kämpfen umkamen.
Neuartig ist, dass die Telepathie Doodies Schmerzen und Krämpfe verursacht. Wenn sein Vater käme, würde dies daher seinen Tod bedeuten. Doodie ist also nicht privilegiert, sondern ein Opfer. Angesichts der religiös-christlichen Untertöne erinnert der Plot an die Geschichte von der Ankunft Jesu auf der Erde – mit einem außerirdischen Vater.
2) Der letzte Wille (The will, 1953)
Kenny Westmore ist an Leukämie erkrankt. Der achtjährige Junge ist die ganze Liebe seines Vaters Rod, des Ich-Erzählers, und seiner Mutter Cleo. Sie sind über den Befund niedergeschmettert, Cleo erleidet einen Zusammenbruch. Kenny versteht den Sachverhalt jedoch viel besser. Er will nicht sterben, sagt er und nimmt sich seinen Helden Captain Chronos zum Vorbild: Er baut in einem Baum im Garten ein Zeitschiff.
Ein Foto davon, das er an die Fanzeitschrift der Produktionsfirma von „Captain Chronos“ schickt, erregt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Eines kommt zum anderen, und nach einem Live-Auftritt im TV überschwemmen Spenden und Briefe das Haus der Westmores. Das nützt Kenny herzlich wenig, denn er wird schwächer. Doch bald stellen seine Eltern fest, dass er an einem geheimen Projekt arbeitet…
Mein Eindruck
Die Geschichte von Kenny wäre unendlich traurig, wenn sie nicht ein glückliches Ende fände: Eines Tages holt ihn ein UFO ab. Aber wie konnten die Fremden überhaupt von ihm wissen und ihm eine Heilungsmethode für seine Krankheit anbieten? Das wird Kennys Geheimnis bleiben.
Das Wichtigste an der Story ist aber der Appell des Ich-Erzählers/Autors an den Leser. Er läuft daraus hinaus, dass man sich selbst für die Entwicklung von Heilmethoden einsetzt – und entsprechende Botschaften an die Zukunft sendet, als eine Art Kettenbrief für unsere Nachfahren. Mir ging die Geschichte sehr nahe, denn meine Mutter starb auch an Krebs.
3) Gibt es noch jemanden wie mich? (Anybody else like me?, 1952)
Lisa Waverly hat alles, was sich eine Frau nur wünschen kann: einen gut verdienenden Mann, drei wohlgeratene Kinder, ein hübsches Heim in einer guten Gegend der Stadt, viele Freunde und Verbindungen. Nur dass ihr Mann auf Geschäftsreise ist und ihre Kinder bei Großmutter. Sie ist ganz allein. Warum, wenn sie doch alles hat, verspürt sie einen solchen undefinierbaren Hunger?
Sie wirft ihre Klamotten von sich und hüpft hinaus in den Regen, um im wohl geschützten Garten zu tanzen. Wenn Dr. Mensley sie sehen könnte, er würde sie glatt einweisen lassen. Da fühlt sie sich auf einmal beobachtet. Es ist jedoch niemand da. Kein Gorilla springt aus dem Gebüsch, um über sie herzufallen. Als sie jedoch über die Mauer späht, erblickt sie einen Mann auf der anderen Straßenseite. Er liest ihre Gedanken!
Sein Name sei Richard Greary, spricht er in ihrem Kopf, und wolle mit ihr kommunizieren. Sie seien schließlich die einzigen Mutanten weit und breit, die sich telepathisch verständigen könnten. Doch allein schon dieses Ansinnen stößt bei ihr auf heftigen Widerstand. Hat er sie etwa dazu gebracht, nackt im Regen zu tanzen? Kann er im Moment ihren nackten Körper sehen? Außer sich vor Entrüstung schickt sie ihn zur Hölle.
Doch ein leiser Hunger im Hintergrund lässt ihren Verstand nicht zur Ruhe kommen. Sie kann Greary in seinem Labor an der Uni beobachten. Er arbeitet an psychophysikalischen Studien. Als er mit Sarah, seiner Mitarbeiterin, zu Mittag isst, belauscht Lisa die beiden. Sie bleibt unbemerkt, bis er zu dem gedachten Schluss kommt, dass er nur mit Lisa weiterkommt – und mit ihr Kinder haben muss. Lisas mentaler Aufschrei lässt ihn auf sie aufmerksam werden.
Er hat vor, sie mit Gewalt zu nehmen! Sie weiß es, doch wie soll sie es verhindern? Ihre Absicht, die Polizei um Hilfe zu rufen, werden von ihm mit Störfeuer vereitelt. Bleibt nur noch eine Chance: Wenn er die Hauptstraße überqueren muss…
Mein Eindruck
Wie schon Curt Siodmaks Roman „Das dritte Ohr“ (siehe meinen Bericht) warnt Miller vor den möglichen Folgen des Gedankenlesens. Der Verlust der privatesten Sphäre, nämlich der eigenen Gedanken, könnte nicht etwa Weltfrieden ausbrechen lassen, sondern vielmehr zu Mord und Totschlag führen.
Mutantengeschichten gab es in den fünfziger Jahren in den USA viele, weil man erst anfing, die Folgen einer radioaktiven Verseuchung durch Atombomben zu begreifen. Bemerkenswert ist der erotische Aspekt an dieser Geschichte: Die sinnliche Frau tanzt nackt im Regen, was sie im normalen Leben nie wagen würde. Nicht genug damit, will der andere Mutant sie auch noch vergewaltigen. Höchste Zeit also für sie zurückzuschlagen. Die bürgerliche Fassade, die in den fünfziger Jahren allenthalben demonstriert wurde, verdeckt ein brodelndes Inferno aus Sex und Gewalt.
4) Crucifixus Etiam (dito, 1953)
Auf dem Mars sind Bauarbeiter und Ingenieure dabei, Sauerstoffvorräte für die Anreicherung der dünnen Atmosphäre abzuzapfen. Die Bauarbeiter kommen zwar aus irdischen Gegenden mit dünner Luft, wie etwa Peru oder Tibet, doch sie müssen trotzdem mit einem Luftanreicherungsgerät versorgt werden. Dieser Oxigenator wird direkt in ihre Lunge eingestöpselt. Es sieht aus, als wäre der Mann gekreuzigt worden. (Der Titel der Geschichte lautet übersetzt „Auch ich bin gekreuzigt“.)
Manue Nanti ist Peruaner und sehnt sich nach seiner Heimat auf der Erde. Lange Monate muss er jedoch schuften, bis er umfällt. Dann stellt ihn der Vorarbeiter, ein „Niederdeutscher“, wieder an die Arbeit. Doch Manue fragt sich und andere, was die Erde von all dem hat, was man hier ausgräbt.
Dass es um die Zukunft des Mars geht, erfährt er erst, als der Lohn seiner Arbeit, das Tritiumeis, in die Luft fliegt und die Atmosphäre anreichert. Als man ihm sagt, dass es 800 Jahre dauern wird, bis die Luft für Erdlinge atembar ist, weint Manue Nanti. Er wird diese Zeit nicht erleben. Aber zur Erde kann er auch nicht mehr zurück: Seine Lungen sind inzwischen zu sehr verkümmert. Jetzt ist der Rote Planet seine Heimat – und sein Kerker.
Mein Eindruck
Mit deutlichen christlichen Untertönen stilisiert der Autor den einfachen Bauarbeiter von der Erde zu einem Märtyrer hoch, der sein Leben opfert, damit andere, die nach ihm kommen, leben können wie auf der Erde, die einst auch seine Heimat war. Diese Untertöne wären kaum zu ertragen, würde die Geschichte nicht durch ihren bitteren Realismus überzeugen, der von authentischer Sachkenntnis zeugt. Miller könnte selbst auf dem Bau gearbeitet haben, nachdem er sein Ingenieursstudium abgeschlossen hatte. Er flog im 2. Weltkrieg mehrere Bombereinsätze.
Durch diese und ein Dutzend weitere Geschichten half Miller, die Technikverliebtheit des Herausgebers John W. Campbell jr. zu überwinden, der die SF der vierziger Jahre dominiert hatte. Autoren wie Pohl, Kornbluth und Harness fügten weitere sozialkritische Aspekte sowie die Beschäftigung mit den Humanwissenschaften hinzu, um Campbells Erbe zu überwinden. Und wer bei explodierendem Mars-Eis an „Total Recall“ denkt, liegt natürlich völlig richtig.
5) Ich, der Träumer (I, dreamer; 1953)
Auf dem siebten Planeten der gelben Sonne Epsilon Eridani herrscht ein grausames System. Babys werden ihren Müttern weggenommen und ihre Gehirne so gezüchtet, dass sie in der Lage sind, ganze Maschinen und sogar Raumschiffe zu steuern: Cyborgs der übelsten Machart. Aber die beraubten Mütter organisieren eine Widerstandsbewegung.
Der Ich-Erzähler Klicker ist solch ein Cyborg, und seine Lieblingsbeschäftigung ist das Träumen. Sein zweibeiniger Lehrer Barnish hat ihm per Knopfdruck beigebracht, dass Klicker durchaus in der Lage ist, Schmerz zu empfinden. So großen Schmerz, dass er das Bewusstsein verlieren kann. Janna, Barnishs Assistentin, ist hingegen sympathisch. Leider will der Lehrer sie gegen ihren Willen zu einem weiteren Mitglied seines Harems machen.
Auf einem Ausflug ins All, den Barnish als Vorwand inszeniert, eröffnet er Janna, dass er wisse, wo sich ihre Widerstandsgruppe treffe und in wenigen Stunden verhaftet werde. Es sei denn, sie willige ein, seine Frau zu werden und ihm zu Willen zu sein. Doch diesbezüglich hat auch Klicker noch ein Wörtchen mitzureden…
Mein Eindruck
Offenbar geht es um den Wert von Maschine vs. Mensch. Was ist wertvoller? Ganz klar steht aber die Sympathie des Autors auf Seiten des Menschen, denn dieser sei in der Lage, zu träumen und aus Liebe und Kreativität neue Dinge hervorzubringen. Dafür stehen Klicker und seine Mutter Janna.
Das Gegenteil wird von Barnish und dessen Regierungssystem verkörpert, das diese Mütter ihrer Kinder beraubt. Barnishs Verhalten wird von Kontrolle anstelle von Liebe bestimmt. Die Folgen des Aufeinandertreffens dieser beiden Verhaltensweisen sind dramatisch. Am Schluss wird die Zentrale des repressiven Systems in einem Akt der Selbstaufopferung vernichtet. Aber für Klicker und seine Mutter stellt dieser individuelle Tod nur ein Mittel zum Zweck der Rettung (seitens Janna) sowie einen Übergang zu einem anderen erhofften Zutstand (Klicker) dar.
Dies ist wie „Nichtsnutz“ und „Crucifixus“ eine weitere Verarbeitung des Jesus-Themas in Millers Werk.
6) Die sterbende Stadt (Dumb waiter, 1952)
Der Krieg ist vorüber, aber die Bomber fliegen immer noch. Sie werden von Maschinen gesteuert, die der Zentralcomputer lenkt. Doch die Maschinen haben vergessen, dass sie weder über Bomben noch Munition verfügen. Der Krieg ist nur noch ein sinnloses Ritual, das die Überlebenden ärgert und erzürnt.
Als der ehemalige Soldat Mitch Laskell auf seinem Fahrrad zur Stadt des Zentralrechners zurückkehren will, wollen ihn Banditen daran hindern. Diese wollen den Rechner in die Luft jagen. Doch Mitch hat einen anderen Plan: Er zieht es vor, den Rechner so umprogrammieren, dass er Gutes tut statt den Krieg fortzusetzen. Und die Strahlung muss inzwischen auf ein erträgliches Maß gesunken sein.
Indem er sich trickreich falsche Papiere zulegt, schmuggelt er sich ins System der Roboter und Rechner ein, die immer noch einwandfrei arbeiten – nach den Befehlen, die sie vor dem Atomkrieg erhalten haben. Eine junge Mutter, deren Mann sich umgebracht hat, klaut sein Fahrrad – und landet prompt im Knast. Ihr Baby jedoch wird ins Stadtwaisenhaus gebracht, wo keine Menschen mehr sich um junges Leben kümmern können. Sie ist dementsprechend verzweifelt.
Indem er Marta unter seine Fittiche nimmt, beginnt Mitch das System der Stadt zu übernehmen. Doch im Haus des Bürgermeisters stößt er auf ein schier überwindliches Hindernis: Wie lautet der Zugangscode zum Zentralrechner?
Mein Eindruck
Der Autor dachte schon die Folgen des Atomkriegs voraus. Wer sollte die verwaisten Städte wiederaufbauen – die Banditen oder die Techniker? Hier gewinnt der Techniker, aber nur um Haaresbreite. Mit (zuvor unterworfener) Frau und ihrem Baby kann er eine Zukunft aufbauen. Verblüffend ist lediglich, dass der Autor annahm, dass eine radioaktive Stadt bereits nach drei Jahren wieder bewohnbar wäre. Aktuelle Forschungen widerlegen dies entschieden. Die Faktenlage, auf die er sich stützte, muss also anno 1952 eine ganz andere gewesen sein. Der O-Titel “ Dumb waiter“ bedeutet „stummer Diener“.
7) Abfallprodukte (Blood bank, 1952)
Eli Roki ist der meistgehasste Mann der Galaxis. Er hat ein Hilfsschiff der Solarier, das von der alten Erde kam, mit seinem Schiff von der Raumpatrouille angehalten, um es auf Schmuggelware zu durchsuchen. Doch als es zu fliehen versuchte, musste er es abschießen. Dabei gingen dringend benötigte Transplantate und Blutkonserven für den Planeten Jod-6 verloren. Klar, dass ihn besonders die Leute, die von Jod-6 stammen, verachten. So etwa die Sekretärin, die seine Aussage zu Protokoll nimmt, als er einem Oberst der Raumpatrouille alles erklärt. Er reicht seinen Abschied ein und verlangt eine Passage nach Sol-3, also Erde. Genehmigt.
Aber was für ein klappriges Gefährt er da benützen soll. Es heißt bezeichnenderweise „Idiot“ und gehört einer Pilotin von der Welt Daleth – und so soll er sie auch nennen. Ihre männliche Attitüde nervt, denn auf seiner Welt, Coph, hätte man ihresgleichen auf dem Marktplatz ausgepeitscht. Daleth ist stur, doch das wird ihr auf der nächsten Station zum Verhängnis. Als sie sich auf Tragon, der Hauptwelt des Sechzig-Sterne-Clusters, weigert, einen Schleier zu tragen wie alle „anständigen“ Frauen, wird sie eingelocht.
Während sie im Knast schmort, lässt Roki das Schiff aufrüsten und erkundigt sich nach Solariern von der Erde. Er muss sich sogar gegen einen dieser raubtierartigen Erdbewohner zur Wehr setzen und ihn töten. Das Ende vom Lied: Die Solarier nehmen nicht bloß die Leiche klammheimlich mit, sondern auch Käptn Daleth!
Im Orbit von Sol-3 wird sein Schiff wie geplant von der Raumpatrouille angehalten. Offensichtlich wollen die Solarier mit ihm kurzen Prozess machen, aber da haben sie sich geschnitten: Er hat sein Schiff, die „Idiot“, in eine fliegende Bombe verwandelt. Diese lässt sich nur von der Detonation des Reaktors abhalten, indem Roki regelmäßig eine Kontrollanfrage korrekt beantwortet – von Bord des Sol-Schiffes. Allmählich wird Kommandant Hulgruv klar, was für ein cleveres „Menschending“ er da an Bord seines Schiffes gelassen hat. Und Roki muss herausfinden, wie es den Solariern gelingt, pro Jahr mehrere Millionen menschliche Organe und Blutkonserven zu exportieren…
Mein Eindruck
In dieser Novelle spielen der Überlichtantrieb, den die Solarier endlich haben wollen, und der Kannibalismus eine fatale Rolle. Denn für die Menschenbestandteile handeln die raubtierhaft gewordenen Solarier radioaktiven Brennstoff für ihre Raumschiffe ein. Der Kommandant erzählt ihm, wie es zu dieser verhängnisvollen Entwicklung kam. Nachdem die Erde 1200 Raumschiffe ins All geschickt und so die Besiedlung des Kosmos angestoßen hatte, fiel die Zivilisation wieder auf das Niveau von kannibalischen Barbaren zurück.
Roki und Daleth sind kein dynamisches, sondern ein widerspenstiges Duo. Schließlich wird sie sogar seine Gegenspielerin, unter Drogen gesetzt von den Solariern. Roki ist jedoch ein cleverer Bursche und den Solariern immer einen Schritt voraus. Nachdem alles überstanden, tut er sich vielleicht sogar mit Daleth zusammen. Leider wurde aus diesem Auftakt zu einer Raumpatrouillenserie nichts. Wahrscheinlich waren die Zutaten viel zu konventionell und schon Ende der 1940er Jahre überholt.
8) Big Joe und die n-te Generation (Big Joe and the nth generation, 1952)
Die Tage der Mars-Zivilisation nähern sich ihrem Ende. Aber die mittelalterlichen Bewohner der letzten Marsdörfer verfolgen jeden, der auch nur ein Fitzelchen Wissen stiehlt, mit dem sich die Lage bessern ließe. So ergeht es dem jungen Asir, einem Wissensdieb aus den Bergen, der nun sterben soll. Doch Mara, die Tochter des Dorfältesten Weklin, ist ein durchtriebenes Mädchen und hilft ihm erst einmal runter vom Folterbaum, bevor sie ihm eine Transportmöglichkeit anbietet: ein Flugtier.
Doch statt ihr seine Dankbarkeit zu erweisen, stellt sich Asir störrisch und versucht, sie loszuwerden. Sie überlistet ihn mehrfach, doch auf dem anschließenden Flug in die Berge zwingt er das Flugtier zu einem Abstecher in die verbotenen Gewölbe der Vorfahren. Hier will Asir sein gestohlenes Wissen anwenden, um den Großen Wind freizulassen. Nur dieser kann die Luft des Mars erneuern. (Siehe auch „Crucifixus Etiam“.)
Doch nicht nur die Priester haben etwas dagegen, dass Unbefugte die Gewölbe der Vorfahren ohne zu fragen betreten, sondern auch ein riesiger Roboter, der alle Eindringlinge, die den Zutrittscode nicht kennen, zermalmt. Zum Glück besitzt Asir nicht nur den Code, sondern er entdeckt auch, wie man den mit Fallen gespickten Korridor überquert, um an die Maschinen zu gelangen…
Mein Eindruck
Wieder mal macht sich der Ingenieur und Mathematiker im Autor bemerkbar. Diese Szene erinnert stark an „Total Recall“, die Verfilmung mit Schwarzenegger, in dem seine Figur das Kraftwerk aktivieren muss, das den Mars mit atembarer Luft versorgen wird. Die Szene, in der Asir die richtigen Fliesen auf dem Boden erkennt und betritt, erinnert an „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, als Indy mehrere Todesfallen bewältigen muss.
Die Story ist leicht und flott zu lesen, sie macht Hoffnung auf einen Neubeginn. Das Szenario verschütteten, verstreuten und als Reliquien verehrten Wissens ist eine Vorwegnahme von Millers Bestseller „Lobgesang für Leibowitz“. Schon hier werden Vorfahren wie Einstein als „Götter“ verehrt, in „Leibowitz“ kommt noch der Gedanke einer katholischen Kirche hinzu, die altes Wissen hortet, um seinen Gebrauch rigoros zu regulieren.
9) Der große Hunger (The big hunger, 1952)
Es hat immer damit angefangen, dass ein Schiffsingenieur wie Abe Jolie – vielleicht aufgrund der Einflüsterung einer Frau – rebellierte und ohne Genehmigung einfach mit seinem Raumschiff losflog ins große Unbekannte. Doch zusammen bekamen sie Nachkommen und die wollten Land, grünes, fruchtbares Land. Ihre Nachfahren vermehrten sich, vergaßen das alte Technikwissen, durchliefen die Niederungen der Stein-, Bronze- und Eisenzeit, bevor sie wieder ins Raumfahrtzeitalter gelangten. Dann ging der ganze Zyklus von vorne los.
Das ging so lange, berichtet uns der stählerne Ich-Erzähler, bis die Menschen den äußersten Rand ihrer Galaxis erreichten und nur noch den toten, leeren Raum vor sich sahen, der sich auf dem Weg zur nächsten Galaxie erstreckte und den sie nicht durchqueren konnten. Da begab es sich, dass sich die Legende von der Alten Erde – wieder einmal – regte. Die Menschen, inzwischen 2,40 m große Nomadenriesen, machte sich auf den Weg ins Innere der Galaxis und stießen auf die Erde. Und dann noch eine und noch eine. Und als sie endlich das Original fanden, konnten sie es nicht glauben. So regte sich der alte Hunger wieder…
Mein Eindruck
Es ist kein Zufall, dass der Autor diese Erzählung nur in „Astounding“ unterbringen konnte. Denn „Astounding [Stories]“, mittlerweile in „Analog“ umbenannt, war das Magazin, das von dem Pionier unter den Herausgebern der Technik-SF, John W. Campbell jr., groß gemacht worden war. Campbell selbst pflegte Geschichten wie „Der große Hunger“ Ende der 1930er unter dem Pseudonym Don A. Stuart zu veröffentlichten (Siehe „Die besten Geschichten von John W. Campbell“ bei Moewig).
Der wichtigste Grundgedanke ist der des zyklischen Geschichtsverlaufs. So wie Gesellschaftsformen Zyklen durchlaufen, so auch technische Geschichtszyklen. Dieses Grundschema ist bestimmend für „Lobgesang für Leibowitz“, Millers Hauptwerk. Über seinen erklärenden Wert lässt sich indes trefflich streiten.
10) Bedingt menschlich (Conditionally human, 1952)
Die Welt leidet seit Jahren unter massiver Überbevölkerung, aller Lebensraum ist bebaut, und es gelten scharfe Beschränkung für die Fortpflanzung. Deshalb hat sich die Gentech-Firma Anthropos darauf verlegt, mit sprachlicher Intelligenz ausgestattete, genmanipulierte und vor allem geschlechtsneutrale Schimpansen, Katzen und Hunde zu produzieren, die vielen Besitzern als Partner- und Kindesersatz dienen.
Unser Held Terry Norris hat jedoch den harten Job, diese lieben Tierchen zu entsorgen – er betrachtet sich als besseren Hundefänger, sagt er zu seiner frisch angetrauten Frau Anne, die diese widernatürliche Tätigkeit missbilligt. Und zwar nicht nur aus dem Grund, dass sie selbst mit Terry keine eigenen Kinder bekommen darf – er ist nur Klasse C.
Dann aber ereignet sich der Delmont-Fall. Bei Anthropos hat Delmont, einer der Mitarbeiter, illegal intelligente Schimpansenweibchen (und wie man später entdeckt, auch Männchen) erzeugt, die noch intelligenter sind als die normalen und zudem länger leben. Die Gefahr besteht, dass sie sich fortpflanzen. Da dies um jeden Preis unterbunden werden soll, muss Terry Delmont-Neutroiden einfangen und in seinem Krematorium entsorgen. Wie Anne dazu steht, kann man sich denken.
Dann jedoch entdeckt er bei einem Tierhändler das Schimpansenweibchen Peony, und ihre Intelligenz ist ebenso unübersehbar wie ihre Liebe zu O’Reilly, dem verwitweten Tierhändler. Indem er ein Auge zudrückt, nimmt er Peony mit. Anne stürzt sich liebevoll auf das anhängliche Tier und gibt ihm all ihre Liebe: endlich ein Mädchen!
Doch Terry muss sich entscheiden, ob er sich weiterhin als Charakterschwein betätigen und Peony töten will – oder ob er das ungerechte und unmenschliche System nicht von innen heraus unterwandern soll.
Mein Eindruck
Die Neutroiden in dieser Geschichte sind zwar innerhalb des Szenarios der Überbevölkerung ernstzunehmen – es gibt sogar Geburtsfeiern für ihre „Mütter“ -, doch in Wahrheit stehen sie für etwas anderes: für alle Lebewesen, über deren Menschlichkeit die Menschen streiten. So ist es durchaus möglich, dass ein Leser sich vorstellen kann, wie es wäre, wenn Rassenfanatiker die Juden, Zigeuner, Slawen usw. als „Untermenschen“ klassifizieren würden und damit begännen, sie allesamt auszurotten – genauso wie Nationalsozialisten es getan haben.
Dann befände sich ein Handlanger wie Terry Norris in der verzwickten Lage, auch reguläre Menschen, die nun „Untermenschen“ sind, zu fangen und zu töten, genau wie Gestapo, SS und so weiter. Der Vorwand bei Terry ist die Überbevölkerung, bei den „Untermenschen“ die Rassereinheit. Die Wirkung ist die gleiche: Verfolgung und Ausrottung.
Durch diesen erzählerischen Kniff gelingt es dem erstklassigen Autor, einen Amerikaner zum KZ-Aufseher zu machen. Nur mit dem (scheinbaren?) Unterschied, dass sein KZ nicht Auschwitz heißt, sondern die USA. Richtig gut wird die Erzählung dadurch, dass wir von Terrys sich entwickelndem Konflikt minutiös auf dem Laufenden gehalten werden. Seine Auseinandersetzungen mit Anne, so schmerzhaft sie auch sein mögen, sind notwendig, um Terrys moralischen Konflikt aufzuzeigen. Sogar ein Geistlicher tritt auf – und bekommt kräftig sein Fett weg.
11) Der Darfsteller (The darfsteller, 1955)
In der nahen Zukunft hat das von programmierbaren Schaufensterpuppen ausgeführte „Autodrama“ das traditionelle Theaterschauspiel abgelöst – und mit ihm auch die menschlichen Darsteller. Thornier, der einst große Mime, hat dadurch seine Berufung verloren, doch er arbeitet immer noch im Theatergebäude: als Reinigungskraft. Dass er sich erniedrigt fühlt, versteht sich von selbst. Sein Kumpel Rick erklärt, wie das Autodrama im einzelnen funktioniert, und ein tollkühner Plan entsteht.
Als das neue Stück namens „Der Anarchist“ seine Premiere hat, will er die Puppe der Hauptfigur ausfallen lassen und für sie einspringen. Soweit klappt sein Plan auch hervorragend, denn die Koproduzentin spielt mit, ist sie doch eine alte Bekannte von Thornier. Doch dann taucht auch seine frühere Geliebte Mela auf, die ebenfalls in diesem Stück durch eine Puppe verkörpert wird. Und an diesem Punkt beginnen die Dinge schiefzugehen…
Mein Eindruck
In jeder Zeile verrät der Autor seine genaue Kenntnis des Theaters, und zwar nicht nur von dessen äußerer Mechanik und Verwaltung, sondern auch vom Innenleben der Schauspieler – wie sie „ticken“, was sie motiviert, was sie zum Versagen und zum Weitermachen bringen kann. Diese Psychologie erfüllt den Charakter der Hauptfigur der Geschichte auf glaubwürdige Weise und bringt den Leser dazu, mit ihm zu fühlen: sich zu freuen, mit ihm zu bangen.
Der Autor verschließt auch nicht die Augen vor der Notwendigkeit der Veränderung durch neue Technik: Rechner, Fernsehen, Schreibmaschine, was auch immer – nun ist es eben Autodrama. Doch er sagt auch, dass jede unabwendbar erscheinende Veränderung nicht immer zum Besten ausschlagen muss. Die Hauptsache ist doch meist, dass sie Geld einbringt. Wenn dadurch einige tausend Leute ihren Job verlieren – nun ja, dann müssen sie eben umsatteln. Leichter gesagt als getan.
Was die Geschichte inzwischen antiquiert erscheinen lässt (anno 1955 wohl nicht so sehr als jetzt, 2015), sind natürlich die technischen Details. Die Programmierung der „Mannequins“, die wie frühere Stars aussehen, erfolgt noch mit Lochstreifenbändern wie anno dazumal und noch nicht mit magnetischen (Festplatte) oder optischen Medien (mit Laserabtastung) wie heute. Auch dass ein paar verwirrende Druckfehler den Lesefluss stören, gehört zu den Schwächen dieser Übersetzung.
12) Dunkle Segnung (Dark benediction, 1951)
Eine seltsame Seuche, die mit Meteoriten von den Sternen auf die Erde fiel, hat binnen weniger Monate zum Zusammenbruch der Zivilisation geführt. Die Seuche verursacht eine besondere Art von Neuredermitis, die dazu führt, dass der Infizierte seine Krankheit durch Handauflegen übertragen will. Er glaubt nämlich, damit den Nichtbefallenen eine Segnung zu bringen: Träume, Visionen und mehr. Doch die Nichtbefallenen haben Angst vor der Veränderung ihres Aussehens – die Flecken sind grau und hässlich – und fliehen in den Norden, wo die Seuche angeblich keine Chance hat.
Paul Oberlin ist ein Ingenieurstudent gewesen, als die Seuche ausbrach , nun schlägt er sich alleine durch. Als er die Stadt Houston, Texas, betritt, gerät unvermittelt unter den Verdachten, einer der „Dermies“ zu sein. Anscheinend ist dies nicht der Fall, doch die gut organisierte Polizeitruppe stellt ihn unter Beobachtung. Weil ihn dies an Konzentrationslager erinnert, beschafft er sich eine Fluchtmöglichkeit, indem er einen alten LKW wieder flottmacht. Er rettet eine infizierte junge Frau von ca. 20 Jahren vor dem Tod in ungelöschtem Kalk und nimmt sie nach Galveston mit, das an der Küste des Golfs von Mexiko liegt.
Natürlich darf sie ihn nicht anfassen. Aber die Cops von Houston haben sie angeschossen, und ihre Beinwunde muss behandelt werden. Galveston entpuppt sich als Inselkolonie, auf der eine mönchische Gemeinschaft von Dermies versucht, ihre Gier nach der Berührung von „Nicht-Hypers“, wie Paul einer ist, zu sublimieren, indem sie Forschungen anstellen, Boote bauen und medizinisches Personal ausbilden.
Dies erweist sich als großer Vorteil für Paul, der immer nich furchtbare Angst vor der Dermie-Infektion hat. Aber der Forscher Dr. Seevers kommt von der Uni Princeton (wo auch Einstein lehrte) und berichtet, dass die infizierten „Hypers“ neue Sinnesorgane entwickelt hätten: Mit den Händen schmecken, mit den Augen Infrarot- und UV-Licht sehen, schärfere Augen und Ohren – der extraterrestrische Organismus, der sich eines Befallenen, bemächtigt, verändert diesen auch, wie ein Parasit seinen Wirt.
Es kommt zur Krise, als die genesende junge Frau, Willie, ihren fremdgesteuerten Drang, Paul zu berühren, nicht mehr beherrschen kann und sich in sein abgeschieden gelegenes Zimmer schleicht. Er erwacht zu spät, eilt ihr nach und entdeckt sie erst über einer jäh abfallen Klippe am Meer. Sie will sich in die Tiefe stürzen. Erst als Paul ihre Gründe versteht, wagt er es, sie zu lieben – und zu berühren…
Mein Eindruck
Dass die Seuche von den Sternen kommt, ist ja nichts Neues. Spätestens John Wyndhams Triffids kamen 1951 als Plage von den Sternen, und das vor allem aufgrund einer nicht ganz neuen Sicht der Entstehung von Leben auf Himmelskörpern: der Panspermie (vgl. dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Panspermie ). Die seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert von Anaxagoras vertretene Theorie wurde 1950, also ein Jahr vor „The Triffids“ und „Dark benediction“, erneut von Fred Hoyle, einem Cambridge-Professor aufgewärmt und wenig später mit seiner Stady-State-Theorie verknüpft, wonach das Universum sich nicht ausdehne, sondern statisch sei (was inzwischen durch die Urknalltheorie widerlegt worden ist).
Panspermie besagt, dass sich einfache Lebensformen über große Distanzen durch das Universum bewegen und so die Anfänge des Lebens auf die Erde brachten. Ihre Vertreter versuchen damit, dem nach ihrer Auffassung bestehenden Widerspruch zwischen der hohen Komplexität des Lebens auf der einen Seite und der vergleichsweise kurzen Zeit für seine Entstehung auf der anderen Seite zu begegnen. Von den meisten Wissenschaftlern wird die Panspermie jedoch bisher als reine Spekulation betrachtet, da bislang nur auf der Erde Leben nachgewiesen werden konnte.
Panspermie besagt, „dass sich einfache Lebensformen über große Distanzen durch das Universum bewegen und so die Anfänge des Lebens auf die Erde brachten. Ihre Vertreter versuchen damit, dem nach ihrer Auffassung bestehenden Widerspruch zwischen der hohen Komplexität des Lebens auf der einen Seite und der vergleichsweise kurzen Zeit für seine Entstehung auf der anderen Seite zu begegnen. Von den meisten Wissenschaftlern wird die Panspermie jedoch bisher als reine Spekulation betrachtet, da bislang nur auf der Erde Leben nachgewiesen werden konnte.“ (Wikipedia.de) Immerhin konnte Hoyles Schüler und Koautor Wickramasingh beweisen, dass fremde Himmelskörper wie Kometen Kohlenstoff enthalten und zur Erdoberfläche hätten bringen können.
Miller versucht nun, in seiner Erzählung herauszufinden, ob diese „dunkle Segnung“ positive oder negative Auswirkungen auf die Menschheit hat. Die Paranoia erscheint zunächst gerechtfertigt, denn die Graufärbung der Haut eines „Hypers“ sieht nicht sonderlich gesund aus. Tatsächlich stirbt aber keiner der Hyper, sondern erhält im Gegenteil von seinem Alien-Parasiten zusätzliche positive Fähigkeiten.
Miller geht klugerweise einen Schritt weiter und hinterfragt die moralischen Motive der Übertragung dieser Seuche unter den Menschen. Zombies kennen ja bekanntlich keine Skrupel, um Nichtinfizierte zu Ihresgleichen zu machen. Die junge Willie aber würde sich lieber selbst umbringen, als ihrem Lebensretter Paul ihre vermeintliche Krankheit aufzuzwingen.
Das erscheint zunächst höchst edelmütig von ihr, hat aber auch einen zweiten Grund: Der Parasit unterdrückt ihren eigenen Willen, um sie dazu zu bringen, ihn weiterzugeben. Das empfindet sie als ihre eigene Vergewaltigung, was sie nicht weiter ertragen will. Es geht also zweimal um Willensfreiheit und Missbrauch. Als Willie versagt und dem Parasiten unterliegt, will sie sich lieber selbst töten. Das wiederum kann Paul nicht ertragen und bewahrt sie vor dem Freitod, indem er sich mit ihr auf eine Stufe stellt: Er wird zum Hyper. Ob das nun eine Adam-und-Eva-Geschichte vor dem Hintergrund des 1945 angebrochenen Atomzeitalters ist, oder etwas anderes, muss der Leser entscheiden.
Dies scheint mir darüber hinaus eine Parabel auf die wachsende Kommunistenangst und -verfolgung von Kommunisten unter Senator Joseph McCarthy zu sein, dessen Kampagne am 9. Februar 1950 ihren verhängnisvollen Anfang nahm. (http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_McCarthy#Beginn) Heute spiegelt sich die Paranoia jener Zeit in der Islamfeindlichkeit in der aktuellen deutschen Politik wider. Man denke nur an die Pegida-Kundgebungen und die Anti-Cherlie-Demos in muslimischen Ländern. Das Zeitalter der Religionskriege, das einst Bob Dylan vorhersagte, ist angebrochen.
So wichtig und anschaulich das Thema klingt, so mittelmäßig hat es der Autor, der 1951 am Anfang seiner literarischen Laufbahn stand, ausgeführt. Er hat lange dozierende Abschnitte integriert und die Dramaturgie sträflich vernachlässigt: In der Mitte der rund 70-Seiten-Novelle kommt Langeweile auf. Wenigstens macht er es sich nicht einfach und malt schwarz/weiß. Bemerkenswert ist hier der Auftritt einer mönchischen Gemeinschaft, wie sie etwa für sein Meisterwerk „Lobgesang für Leibowitz“ von zentraler Bedeutung ist. „Dunkle Segnung“ sollte unbedingt wiederentdeckt werden.
13) Der Kabelleger (The lineman, 1957)
Auf dem Mond ist das Leben der Baumannschaften hart. Telefon- und Stromkabel müssen verlegt während, während Mikrometeoriten drohen, ein Loch in den Schutzanzug zu stanzen – mit tödlichen Folgen. Nach einer Sieben-Stunden-Schicht stinkt der Anzug und jeder Mann ist froh, wieder unter die Dusche zu kommen. Aber wer nicht aufpasst, wie unser Kabelleger Bill Relke, der gerät an die Amerikanische Partei und bekommt Fausthiebe angedroht. Dass man in der Gewerkschaft sein muss, versteht sich von allein.
Eines Tages landet ein Raumschiff entlang der Kabeltrasse und unser Kabelleger darf mit dem Vorarbeiter hinfahren, um nachzusehen, was es hier mitten im Kopernikus-Krater will. Wie sich herausstellt, haben französisch sprechende Typen schon die Sicherheits – und Rettungsmannschaft in „Empfang“ genommen. Der Vorarbeiter Joe Novotny fasst es kaum, während seine eher schlichten Arbeiter jubeln: ein Bordell auf dem Mond – juchuu!
Der Chefingenieur kriegt fast einen Herzkasper, als Novotny ihm diese Erkenntnis mitteilt. Er muss Fristen einhalten und dafür ist Disziplin nötig. Am liebsten würde der Ingenieur alle einbuchten oder anketten oder sonstwas, doch Novotny redet ihm gut. Dann verfallen beide auf einen (hoffentlich) genialen Plan. Schon bald gibt es die erste Leiche…
Mein Eindruck
Dass Miller jahrelang bei der Army und als Ingenieur tätig war, macht sich beides positiv für diese Novelle bemerkbar. Er kennt die einfachen Leute aus dem Volk, ihre Vorlieben, Vorurteile, ihre Ausdrucksweise – und ihre Einstellung zu Frauen, wenn sie lange auf Arbeit waren. Frauen – die blödsinnige Übersetzung nennt sie „Weibsbilder“ – sind keine Engel, sondern Spender irdischer Wonnen. Nur Bill Relke, der titelgebende Kabelleger, denkt sehnsüchtig an seine Exfrau Fran, die auf der Erde geblieben ist, besonders nachdem er die Hure Giselle kennengelernt hat.
Tödliche Unfälle sind an der Tagesordnung, und es sind Unfälle, auf die eine Landratte von der Erde nicht in ihren verrücktesten Träumen kommen würde. Eine Champagnerflasche wird zur tödlichen Bombe. Eine frische Schweißnaht führt zu einem undichten Schutzanzug mit anschließender Dekompression. Einen visuellen Eindruck von solchen Katastrophen, der auf realistischen Vorgaben beruht, bietet am ehesten noch Sean Connerys SF-Streifen „Outland“.
Aber es gibt auch politisch-ideologische Konfrontationen in der Erzählung, die auf der einen Seite die Gewerkschaft, auf der anderen die Partei und auf der dritten die Gesetze der Vereinten Nationen vorstellen. Unter letzteren fliegen die algerischen Franzosen mit ihrem mobilen Bordell, eine recht kuriose Sache. Diese Aspekte gehen weit über das hinaus, was sich Heinlein seinerzeit zum Leben auf dem Mond hat einfallen lassen.
14) Vergeltung für Nikolai (Vengeance for Nikolai, 1956)
Oberleutnant Marja Dimitrowna hat gerade ihr Baby Nikolaj verloren. Ihre Brüste sind geschwollen von Milch, die sie nun loswerden will. Nikki starb durch die amerikanischen Invasionstruppen, die ihr Russland erobern wollen. Die Volksarmee bietet Marja eine Möglichkeit, für Nikki Vergeltung zu üben – am Oberkommandierenden der US-Truppen. Obwohl es natürlich ein Himmelsfahrtskommando ist, erklärt sie sich einverstanden. Sie sieht nur noch einen Sinn in ihrem Leben. Sollen die Injektionen sie doch umbringen! Ist ihr auch egal.
Im Frontgraben wird sie von einem jungen Sergeant entdeckt, der zunächst voll Angst und Verachtung reagiert, ihr aber ständig auf die Brüste starrt. Nachdem sie deren last hat diskret erleichtern dürfen, bringt er sie zur ersten Linie der Etappen. Allerdings herrschen hier die „Politkommissare“ der Amerikanischen Partei. Als Marja nichts auf deren blödsinnige Fragen antwortet, wird sie vergewaltigt. Aber diese Folter kann sie nicht brechen.
Nach einer Behandlung durch Ärzte des Roten Kreuzes, die die Verantwortlichen vor ein Kriegsgericht stellen wollen, gelangt sie endlich an ihr Ziel: den General und Oberbefehlshaber der Invasoren. Von ihren Auftraggebern weiß sie, dass er ein Busenfetischist ist. Endlich kann sie ihm in einem intimen Augenblick ihre Milch geben – mit tödlichen Folgen…
Mein Eindruck
Man merkt den realistischen, kriegerischen Schilderungen der Schlacht an, dass der Autor an den erbitterten Kämpfen um das Kloster Monte Cassino teilgenommen hat. Nur kommt hier noch eine politisch-ideologische Schicht hinzu. Während die Russin Marja für ihre Erde, ihr Vater-Land bis zum letzten, äh, Milchtropfen kämpft, werden die US-Invasoren vor allem von Partei-Ideologie geleitet. Welche Ideologie ist grausamer? Das muss der Leser selbst beurteilen. Auf jeden Fall wird er eine Geschichte über eine Schwarze Madonna namens Marja nicht so bald wieder lesen.
Die Übersetzung
Manche dieser Übersetzungen stammen aus den frühen siebziger Jahren, so etwa „Dunkle Segnung“. Daraus ergeben sich Stilfehler, weil die Originalausdrücke heute andere Entsprechungen haben. Beispiele:
(engl.) radio = „Radio“, gemeint ist aber ein Funkgerät.
(engl.) negro = „Neger“, also Afroamerikaner
(engl.) shrink = „Kopfschrumpfer“, gemeint ist ein Psychiater
(engl.) garage = „Garage“, gemeint ist aber kein überdachter Stellplatz, sondern eine Autowerkstatt.
S. 437: „Unfallraum“, gemeint ist die Notfallaufnahme eines Krankenhauses
S. 454: (engl.) radiator = „Radiator“, gemeint ist ein Heizkörper
S. 472: „gelbbäuchige Obszönität“, bezogen auf eine Gewerkschaft. Direkte Übersetzung von (engl.) „yellow-bellied“, das im übertragenen Sinn „feige, hasenfüßig“ bedeutet.
S. 530: Weibsbild: gemeint ist eine Frau; „Mädchen“ = junge Frau über 18.
S. 540: „ich habe das Denken drangegeben“ = „Ich habe das Denken aufgegeben“
S. 545: Tort: etwas Unangenehmes, Ungerechtes, aber auch Unbill.
Die Liste der Druckfehler würde den Rahmen dieser Würdigung sprengen. Ein trauriges Beispiel für das schlampige bzw. nicht vorhandene Korrektorat bei Heyne.
Unterm Strich
Immer wieder findet der SF-Sammler die beiden zentralen Novellen „Der Darfsteller“ und „Bedingt menschlich“ in Klassiker-Anthologien abgedruckt. Völlig zurecht – sie sind plausible und ernsthafte Untersuchungen ihres Themas. Veränderung ist eines der wichtigsten Themen der Zukunftsliteratur, und „Der Darfsteller“ sieht sich seiner Ausrottung als Spezies durch Autodrama-Roboter gegenüber, wenn man dies mal biologisch ausdrücken will.
Im Fall von „Bedingt menschlich“ könnte sich schon bald die Frage stellen, ob sich genetisch „verbesserte“ Menschen oder Menschenaffen noch mit dem herkömmlichen Begriff der Menschenwürde vereinbaren lassen. Die Grenze zum Missbrauch ist gerade in kapitalistischen (USA) und ortho-sozialistischen (Nordkorea) Gesellschaften fließend, und das könnte für solche veränderten Organismen nichts Gutes verheißen. Es wäre nur womöglich eine Erweiterung des ohnehin florierenden Menschenhandels.
„Crucifixus Etiam“ wurde mich ebenfalls zu überzeugen, liegt aber auf einer Linie mit „Kabelleger“: Es geht um die Rechte, Wünsche und Konflikte von Arbeitern im All. Ein weiteres, geradezu virulentes Thema greift der Autor in „Dunkle Segnung“ auf. Wenn die Novelle auch heute literarisch wenig überzeugend wirkt, so illustriert sie doch auf anschauliche Weise die paranoide Furcht vo der eigenen Veränderung. An einem Punkt erscheint der letzte „Gesunde“ als der einzige Kranke in einer Gmeinschaft von Veränderten. Die Novelle lässt sich als Parabel auf alle Paranoia-Kampagnen lesen, seien dies nun die US-Kommunistenhatz ab 1950 oder die islamfeindliche Pegida-Bewegung anno 2015.
Die restlichen Erzählungen sind, bis auf eine Ausnahme, recht nette Durchschnittsgeschichten, wenn auch mitunter recht amüsant wie etwa „Big Joe“. Diese Ausnahme ist die letzte Story: „Vergeltung für Nikolai“. In einer an üblen Kriegsszenen nicht gerade armen Geschichte verfolgt eine Frau, die gerade ihren Säugling verloren hat, einen Racheplan mit beängstigender Konsequenz und einer perfiden Methode.
Zweifellos stehen diese Erzählungen innerhalb der Zukunftsliteratur der fünfziger Jahre auf einer Stufe mit denen von Philip K.Dick. Doch die beiden Autoren unterscheiden sich grundlegend. Bei Miller erkennt man immer den Ingenieur und ehemaligen Soldaten.
Taschenbuch: 574 Seiten
Info: The Best of Walter M. Miller, jr., 1980;
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453313057
www.heyne.de
Der Autor vergibt: