Marc Walter – Legendäre Reisen. Auf den großen Routen rund um die Welt

Stilvoll in die fremde Ferne

Eine Reise glich früher, d. h. von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre vor dem II. Weltkriegm eher einem Karawanenzug als einer zeitlich begrenzten Abwesenheit vom Alltag. Dieser reiste stattdessen mit und wurde von stillen aber allgegenwärtigen Dienern und Zofen sorgfältig in große Schrankkoffer verpackt (und geschleppt), die folgerichtig Kleidung zum dreimaligen täglichen Wechsel, Sportartikel und Jagdwaffen für den Herrn sowie jene Accessoires enthielten, die eine Frau zur Dame adelten.

Denn die Form galt es zu wahren, wenn man – mehr oder weniger widerwillig – die traute Heimat verließ, um sich die kulturellen und kuriosen Errungenschaften der übrigen Menschheit anzuschauen. Schließlich war man wer, sonst hätte man sich diese Form des Reisens, bei der Zeit kaum eine Rolle spielte, ohnehin nicht leisten können. Stilvoll die Welt besichtigen zu können, das ließ man sich einiges kosten. Kein Wunder, dass sich eine Vielzahl hoch qualifizierter Reiseunternehmer und Dienstleute um die betuchte Klientel kümmerte.

Schon vor einhundert Jahren kam man eigentlich überall hin, und das auf Wunsch überaus luxuriös. Begehrte Reiseziele ließen sich in edel ausgestatteten Zügen und Schiffen oder später per Flugzeug erreichen. Von Schmutz, Schweiß und dem sonst leider unvermeidlichen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung blieb man auf diese Weise verschont und unter sich, bis nach dem I. Weltkrieg die Demokratisierung des Reisens auch Herrn und Frau Jedermann zunehmend in die Ferne lockte.

Urlaub als Alltagspflicht

Geografisch bzw. nach den großen Reisenzonen ihrer Zeit gegliedert, stellt uns Reisehistoriker Marc Walter die bereiste Welt der Vergangenheit vor. Für den US-Amerikaner von Welt gehörte die „Tour d’Europe“ – die Reise zum und über den alten Kontinent, der Wiege der abendländischen Zivilisation – praktisch zum Lebenslauf, aber auch die Reichen & Schönen Europas besuchten einander fleißig und wanderten durch die Alpen, kurten in Baden-Baden, spielten in Monte Carlo und wandelten durch die Museen von Paris und Wien oder die Ruinen des antiken Athen und Rom.

Für reiselustige Briten und Franzosen war es von Vorteil, dass ihnen die meisten Länder, in denen Sehenswürdiges sie erwartete, ohnehin gehörten. In den Kolonien wurden sie mit demselben Annehmlichkeiten empfangen und betreut, die sie von daheim gewöhnt waren. So trifft die Überschrift des zweiten Kapitels – „Der Orient, so nah“ – völlig zu: Weil es möglich war ganze Soldatenheere umgehend dorthin zu schicken, wo Eingeborenenaufstände niederzuschlagen waren, konnte auch eine Infrastruktur für Luxusreisende geschaffen werden. Der berühmte Orient-Express brachte seine Gäste gemächlich und gediegen gleichermaßen von Paris nach Konstantinopel.

Mit dem Orient waren hier übrigens primär die Länder Nordafrikas und speziell Ägyptens gemeint, die alle reichen Europäer gleichermaßen anzogen. Agatha Christie könnte uns mit ihrem Krimiklassiker „Tod auf dem Nil“ (1937) als Reiseführerin dienen: Alexandria, Kairo, Giseh, Karnak, Theben, Luxor und Abu Simbel; gemächlich wurde man in mahagonigetäfelten Hotelschiffen den Nil aufwärts zu den imposanten Überresten einer vorzeitlichen Hochkultur geschippert. Der wagemutige Gentleman jüngeren Alters ließ sich womöglich von kräftigen Führerarmen auf die Spitze der Großen Pyramide hieven.

Noch weiter aber stets formvollendet

„Von Bengalen nach Java“ konnte so eine Weltreise durch das Rote Meer und den Indischen Ozean dann weitergehen. Britische Passagiere stiegen gern in Indien aus, ihre französischen oder holländischen Kabinengenossen blieben ein wenig länger an Bord, um dann in Kuala Lumpur, Singapur, Djakarta oder Saigon wieder heimatlich-kolonialen Boden zu betreten bzw. sich in lässiger, aber korrekter weißer Leinenkleidung von Elefanten durch den wilden Dschungel oder die Ruinen des kambodschanischen Angkor tragen zu lassen.

Noch weiter mochte es gehen in die „Länder der aufgehenden Sonne“. Per Schiff erreichte man Hongkong und war damit schon fast in China. Bequemer und abenteuerlicher zugleich ließ sich das ferne Riesenreich mit dem berühmten Transsibirien-Express erreichen, den man in Paris betrat, quer durch Europa und Russland rumpelte und vierzehn Tage später ausgeruht in Peking wieder verließ; mit dem Schiff dauerte die Reise doppelt so lange. Amerikanische Luxus-Globetrotter besuchten gern das exotische Japan, wo sie sich in Tokio und Yokohama wiederum wie kühne Reisende aber doch wie zu Hause fühlen durften.

„Die Neue Welt“ kannte ihre eigene Reiseprominenz. Sie reiste mit der Canadian Pacific Railroad von Quebec nach Vancouver einmal quer über den nordamerikanischen Riesenkontinent, der seine Besucher in schlossähnlichen Riesenhotels willkommen hieß. Dank des Pananakanals ließ der sich ab 1920 per Schiff von New York an der Ostküste bis nach San Francisco an der Westküste umrunden. Wer einen Hang zum (maßvoll) echten Abenteuer in sich spürte, konnte mit der Andenbahn von Veracruz in Mexiko entweder bis nach Valparaiso (und von dort quer über den südamerikanischen Kontinent bis Buenos Aires und womöglich mit einem Sud-Atlantique-Linienschiff ins französische Bordeaux) reisen oder in Mollendo umsteigen und sich nach Nordwesten hoch in die Anden bis zur Inkafestung Machu Picchu bringen lassen. Diese Routen standen auch Europäern mit erforderlich großen Geldbeutel offen, die sich zuvor mit einem der Prachtschiffe der „Compagnie Generale Transatlantique“ oder der „White Star Line“ (Flaggschiff 1912: die „Titanic“) nach New York hatten befördern (besser: auf Händen tragen) lassen.

Grimmig entschlossen zur Reisebildung

„Reisen bildet“ – der knappe aber bekannte Spruch muss wohl in jener Ära entstanden sein, als sich die Fahrt in und durch ferne Länder im Vergleich zur Jetztzeit noch im Schneckentempo abspielte und die Reisenden, die nicht das App-bewehrte X-Phon, sondern den sprichwörtlichen Baedeker in der Hand hielten, sich wild entschlossen die dort verzeichneten Sehenswürdigkeiten erschlossen. Da durfte man keine Schwäche zeigen, denn schließlich wurde das Erlebte zu Hause abgefragt, wenn sich die gesellschaftliche (oder wenigstens finanzstarke) Elite traf und vornehme Weltläufigkeit demonstrierte. (Der unendliche Foto- und Dia-Abend ist übrigens keine Erfindung der Neuzeit; eines der in diesem Buch gezeigten Bilder zeigt die rumänische Königsfamilie in die Betrachtung von Urlaubsbildern versunken, mit denen sie später die Daheimgebliebenen traktieren würde.)

Trotz gewisser Reiseschwierigkeiten – so manche korsettgeschnürte Dame sank während des Sahara-Ausritts ohnmächtig vom Kamel – galt es den eigenen Status zu repräsentieren: Jeder Reisende war ein Botschafter und hatte den Ausländern zu zeigen, wieso sie ihren Besuchern dienlich sein mussten. Solche Anforderungen schufen – verbunden mit dem nötigen Kleingeld und einer beneidenswerten Verfügungsgewalt über die eigene Zeit – eine ganz besondere Klasse von Reisenden, die zwar nicht ausgestorben ist, deren Auftritt sich aber mit der ‚Evolution‘ des Reisens stark verändert hat; auch dieser allmähliche Wandel ist Teil der Reisegeschichte/n, die in diesem Buch erzählt werden.

Marc Walter, der als Reisehistoriker eine lange Reihe einschlägiger Bildbände herausgegeben hat, setzt den Weltenbummlern von damals ein Denkmal. Wahrscheinlich ist es politisch unkorrekt, sich an dem opulenten Werk zu erfreuen, denn schließlich reisten unsere reichen Urahnen verschwenderisch dekadent und selbst unsere Ahnen noch bemerkenswert ignorant durch die Welt, aber das sollte die Lektüre nicht verderben. Vorbei ist vorbei, genießen wir also unsererseits diese Reise in die Vergangenheit. Notgedrungen muss sie Stückwerk bleiben. Außerdem lassen sich dem Werk ausgesprochen frankophile Züge unterstellen, was angesichts der Herkunft seines Verfassers und der von ihm genutzten Quellen indes kaum erstaunt oder gar stört.

Der dokumentierte Traum

Ansonsten meldet sich Walter kaum selbst zu Wort. Er lässt sich von zwei wortgewaltigen Kollegen (Alain Rustenholz, Sabine Arque) unterstützen und ansonsten die Zeitgenossen sprechen bzw. schreiben: jene Menschen also, welche die beschriebenen Reisen unternommen haben. Sie haben darüber berichtet, fotografiert, Andenken mitgebracht. Viele kurze, zu den in Wort und Bild vorgestellten Reiseorten passenden Äußerungen werden zitiert, dazu kommen Passagen aus Reiseführern, Routenplänen, Prospekten.

Die große Besonderheit: Solche Dokumente wurden zusammen mit Geld- und Fahrscheinen, Postkarten, Koffermarken und anderen Papierzeugen im Originalformat faksimiliert und dem Buch zugebunden. Es wirkt so wie ein altes Reisetagebuch, was den Reiz der Lektüre – die immer wieder ins Entdecken übergeht – ungemein erhöht. Die Textseiten wurden leicht sepiafarben angefärbt und wirken nostalgisch verblichen, was sich auf die Qualität der Fotos aber nicht auswirkt. (Tatsächlich wirken die alten, mit großer Sorgfalt und noch größeren Apparaturen hergestellten Bilder wesentlich ansehnlicher als die stets leicht verschwommenen modernen Aufnahmen, die meist der Verfasser beisteuerte.)

Überhaupt stellen die Fotos den Hauptgrund für eine Anschaffung des nicht gerade preisgünstigen Buches dar. Der Mensch scheint eine Reise vor sich und seiner Umgebung nur rechtfertigen zu können, wenn er ‚Beweise‘ dafür vorlegen kann, sich amüsiert und gebildet zu haben – je mehr desto besser. Also wurde schon vor einem Jahrhundert geknipst, was sich vor die Linse verirrte; glücklicherweise, denn heute sind wir froh darüber. Was einst ein malerischer Schnappschuss war, entwickelt sich unter Umständen zum wertvollen Zeitdokument.

Doch so viel Tiefgründigkeit wollen wir „Legendäre Reisen“ gar nicht unterstellen. Im Vordergrund steht der Spaß an einer doppelten Zeitreise in die Vergangenheit/en: die des Reisenden und die der Reiseziele. In diesem Buch lässt es sich blättern und träumen: von einer Nacht im echten Casablanca, einer Dampferfahrt ins tropische Batavia, einem Bummel über die römische Via Appia, auf dem man nicht eine Million Massentouristen, sondern höchstens einen ermatteten Wanderer trifft.

Gebunden: 320 Seiten
Originaltitel: Voyages au tour du monde (Paris : Editions du Chêne – Hachette Livre 2001)
Übersetzung: Sigrid Groß
http://www.frederking-thaler.de

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