Ellen Weiss / Chris Van Allsburg – Der Polarexpress (Lesung)

Der amerikanische Weihnachtsklassiker hat am 25. November weltweit Premiere als Zeichentrickfilm. Dabei ist auch die deutsche Stimme von Tom Hanks zu hören. Alle kleinen und großen Träumer können sich dann vom Polarexpress auf eine magische Reise zum Nordpol nehmen lassen, um – wen wohl? – zu besuchen.

Der Autor/Die Autorin

Die 1985 veröffentlichte Weihnachtserzählung stammt ursprünglich von Chris Van Allsburg, geboren 1949 in Grand Rapids/Michigan. Er wurde für seine zahlreichen Bilderbücher mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Ellen Weiss hat einen Roman daraus gemacht. Gabriele Haefs hat den Text ins Deutsche übertragen.

Das Titelbild meiner Hörbuchausgabe entspricht nicht dem, das bei Amazon.de abgebildet ist. Laut Credits handelt es sich vielmehr um die Umschlagillustration der Buchausgabe: Ein kleiner Junge steht vor einer riesigen schwarzen Dampflok, die plötzlich in seiner Vorortstraße aufgetaucht ist. Im Bild links ist ein Schneemann zu sehen.

Der Sprecher

Rufus Beck, geboren 1957, spielte im Ensemble und als Gast auf deutschsprachigen Bühnen, wurde durch Sönke Wortmanns Film „Der bewegte Mann“ populär und gilt seit seinen einmaligen Interpretationen aller vier Harry-Potter-Romane als einer der besten, engagiertesten Hörbuchsprecher („-leser“ kann man wohl nicht mehr sagen).

Auffällig ist sein Engagement für Werke, in denen Jungs auf ungewöhnlichen Wegen ihre Identität suchen und finden. Dazu gehören „Der Fliegenfänger“ von Willy Russell sowie „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel, um nur zwei neuere Beispiele zu nennen. Auch Eoin Colfers jugendlichen Helden Artemis Fowl hat er uns bereits zu Gehör gebracht.

Handlung

Es ist Heiligabend in einem netten Haus in Grand Rapids, Michigan, im Jahre 1955. Alles ist für das Weihnachtsfest dekoriert, nur die Geschenke fehlen noch. Die bringt bekanntlich der Weihnachtsmann. Doch an den glaubt der Junge einfach nicht und seine Schwester Sara auch nicht. Nur sein Vater und seine Mutter wollen ihm weismachen, dass es Santa Claus wirklich gibt. Der Vater bimmelt mit einem Glöckchen, als könne er so den Zauber des Festes wecken.

In der Nacht erwacht der Junge von den quietschenden Bremsen, als eine große Dampflok mit vielen Waggons mitten in seiner Straße hält. Der Schaffner ruft: „Alles einsteigen!“ Doch wohin soll die Reise gehen? „Zum Nordpol“, antwortet der Schaffner, „denn das ist der Polarexpress.“ In letzter Sekunde steigt der Junge ein, obwohl er der Sache nicht so recht traut.

Alle Passagiere an Bord sind Kinder in Schlafanzügen oder Nachthemden. Ganz wichtig scheinen Fahrscheine zu sein, die der Schaffner kontrolliert. In seiner Pyjamajacke findet der Junge ein Ticket mit der Aufschrift „1x Nordpol und zurück“. Und als der Schaffner es knipst, erscheinen zwei Buchstaben darauf. Es sind bei jedem Kind jeweils andere Buchstaben. Ihre Bedeutung wird sich erst am Schluss offenbaren.

Am Rande von Grand Rapids hält der Zauberzug vor einem einsamen Jungen, der leider viel zu lange mit dem Einsteigen zögert, so dass er erst losrennt, als der Zug sich schon in Bewegung setzt. Der Junge Nummer eins zieht die Notbremse, obwohl das streng verboten ist, und hilft so dem Einsamen, den Zug zu besteigen. Dann wird ein Mädchen kontrolliert, doch es hat seinen Fahrschein auf seinem Sitz vergessen, und als der Junge ihn ihm bringen will, fällt er, so dass der Fahrschein davonflattert.

Nun beginnt ein irres Abenteuer, in dem der König des Polarexpress, zwei komische Heizer, eine Herde Karibus und sehr viele Gefahren vorkommen. Der Junge lernt viel dazu, und auch der Charakter des Mädchens enthüllt sich: Sie ist die geborene Lenkerin und Organisatorin. Außerdem findet sie diese Reise ein „tolle Sache“ und glaubt ganz fest an den Weihnachtsmann. Deshalb kann sie Glöckchen hören, aber der Junge nicht.

Der Zug hält endlich in Nordpol City. Tausende von Wichteln sind damit beschäftigt, die Geschenke für die Kinder der Welt zu sortieren und zum Abtransport bereit zu machen. Der Junge erfährt endlich den Namen des Einsamen: Billy. Und er begegnet zu guter Letzt dem Weihnachtsmann selbst. Dieser fragt den bisher ungläubigen Jungen, was er sich denn als Geschenk wünsche. Er sagt, er wolle eines der wundervoll klingenden Glöckchen vom funkelnden Schlitten des Weihnachtsmanns. Gesagt, getan.

Während der Weihnachtsmann bereits in die Welt braust, um die Geschenke zu verteilen, wartet der Polarexpress, um die Kinder zurück nach Hause zu bringen. Doch oh Schreck! Der Junge hat sein Glöckchen verloren. Wie soll er jetzt nur Weihnachten fröhlich feiern? Da offenbart sich die Macht der Freundschaft zu Billy und dem Mädchen, aber auch die Kraft des Glaubens.

Mein Eindruck

Diese poetisch erzählte Weihnachtsgeschichte dreht sich wie alle bedeutsamen Weihnachtsgeschichten um die Frage, ob es den Weihnachtsmann überhaupt gibt. Der Junge ist zunächst ein ungläubiger Thomas, der sogar im prächtig geschmückten Kaufhaus nicht die Dekorationen sieht, sondern wie das Getriebeöl aus einem mechanischen Weihnachtsmann tropft.

Doch schnell wird er eines Besseren belehrt, denn je länger er mit dem Polarexpress fährt, desto seltsamere Dinge erlebt er, und die Leute, die er dabei trifft, sind wirklich interessant und wichtig für ihn. So fragt ihn einmal der Hobo, der sich der „König des PolEx“ nennt, ob er an Gespenster glaube. Natürlich nicht, ist die Antwort. Gleich darauf ist der Landstreicher verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst …

Aber seine Solidarität mit dem einsamen Jungen Billy, der noch nie ein Weihnachtsfest erlebt hat, bereitet ihn darauf vor, dass es weitaus mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wichtig sind, die wir aber nicht sehen können. Die Probe aufs Exempel erfolgt mit dem Glöckchen, das ihm vom Santa-Claus-Schlitten vor die Füße kullert. Nur er sieht es und nur er kann es zum Klingen bringen. Jetzt endlich glaubt er.

Für ältere Leser hält die Innenausstattung der Versandzentrale der Wichtel für Geschenke ein paar Aha-Effekte bereit. Vielleicht lehnt sich die 1985 veröffentlichte Geschichte mit dem Ausdruck „PolEx“ schon an FedEx (= Federal Express), den globalen Zustelldienst an. Und genau so hat man sich die Sortier- und Versandzentrale vorzustellen. Es gibt sogar ein fortschrittliches Transportsystem für Wichtel und (sehr) kleine Menschen, das die drei Forscher – den Jungen, das Mädchen und den Einsamen – sehr schnell ins Stadtzentrum bringt. Mich hat dies an die Zentrale der elfischen Unterweltpolizei in „Artemis Fowl“ erinnert. Und hier erzählt Rufus Beck hörbar mit Gusto. Er hat ja auch alle „Artemis Fowl“-Hörbücher gesprochen.

Der Sprecher

Mit seiner lebhaften Stimmakrobatik macht Rufus Beck auch diese Weihnachtsgeschichte zu einem sinnlichen Erlebnis. Fast jede Figur erhält ihre eigene stimmliche Charakteristik, so dass sie leicht zu unterscheiden ist. Damit nicht genug, sprechen Figuren wie die zwei Heizer auch einen eigenen Dialektik, und die Wichtel wirken alle ein wenig heiser. Nur Santa Claus klingt kein bisschen heiser, sondern beeindruckt mit einer tiefen Bassstimme.

Damit nicht genug, singt uns Rufus Beck auch ein schönes Weihnachtslied vor. Es gehört nicht zu den bekannten. Dies wird zunächst von dem einsamen Billy recht traurig und zaghaft vorgetragen, dann aber zuversichtlich vom Mädchen ergänzt. Aber keine Bange: Auch ein Rufus Beck kann nicht zweistimmig vortragen *fg*. Das Tüpfelchen auf dem i bilden die Geräusche, die die Dampflok macht, so etwa das Zischen von Dampf.

Da kleine Kinder sehr empfänglich für solche sprachlichen Extravaganzen sind, wird das Hörbuch für sie sicherlich zu einem außergewöhnlich sinnlichen Erlebnis. Ich würde sagen, der Text ist ohne Weiteres für Kinder ab sechs Jahren verständlich.

Musik

Die schöne Musik erinnert lediglich durch die Glöckchen an klassische Weihnachtsklänge. Die Musik im Intro und Abspann selbst stammt von Parviz Mir-Ali und besteht lediglich aus glockenähnlichen Akkorden, denen ein weicher Kontrabass unterlegt wurde. Die Wirkung ist einerseits entspannend, andererseits ein wenig feierlich und besinnlich, aber auf keinen Fall abgedroschen.

Der Komponist Parviz Mir-Ali, geboren 1967, lebt in Frankfurt/M. Als Referenzen gibt der Verlag für ihn die Zusammenarbeit mit Matthias Hartmann am Schauspielhaus Bochum an, mit André Heller für „Yume“ und mit Gérard Mortier an „Deutschland deine Lieder“ (Ruhrtriennale 2002).

Unterm Strich

Das Hörbuch enthält offenbar einen gekürzten Romantext. Ziemlich häufig findet ein Szenenwechsel statt und wer ganz genau hinhört, merkt, dass es mit den Anschlüssen an vorhergehende Passagen stellenweise hapert. Aber das ist wirklich nur selten der Fall. Wer damit Probleme hat, greift zum Buch.

Mit über 150 Minuten ist das Hörbuch schon ziemlich lang für eine Kindergeschichte, weit länger jedenfalls als ein Hörspiel, das normalerweise ca. 110 Minuten lang ist. Aber da die Handlung sowohl spannend als auch abwechslungsreich ist, verfliegen die zweieinhalb Stunden im Nu. Es sind zum Glück die besinnlichen Stellen, die in vollständiger Länge stehen gelassen wurden. Sie machen den lehrreichen Charakter der Geschichte aus.

Das Hörbuch eignet sich gut für Kinder ab sechs oder acht Jahren, aber einem zwölfjährigen Kind würde man die Geschichte nicht mehr so ohne Weiteres anbieten. Aber wer weiß, welche Massen in den Film strömen werden, um sich verzaubern zu lassen, wenn es wieder heißt: „Alles einsteigen nach Nordpol City!“

Umfang: 153 Minuten auf 2 CDs
ISBN-13: 9783899031669

www.hoerbuch-hamburg.de

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