William Gibson – Neuromancer. Cyberpunk-Klassiker

Elektrische Poesie und Spannung: Klassischer Cyber-Krimi

„Case ist 24 und seine Karriere am Ende. Das Nervensystem des abgehalfterten Daten-Cowboys ist zerstört, er hat keinen Zugang mehr zur Matrix des Cyberspace. Bis er Molly kennenlernt, eine durch Implantate getunte Kämpferin. Ein unerwarteter Auftrag führt sie in die gefährliche Auseinandersetzung zwischen den künstlichen Zwillings-Intelligenzen Neuromancer und Wintermute…“ (Klappentext)

Der Autor

William (Ford) Gibson, geboren 1948, lebt in Vancouver, British Columbia, jener Gegend, in der auch seine Kollege Douglas Coupland lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er fing als Englischlehrer an, floh vor dem Wehrdienst ins kanadische Toronto und schrieb ab Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre Erzählungen, die die Science Fiction verändern sollten.

Höhepunkt dieser Entwicklung war der Roman „Neuromancer“, in dem er den „Cyberspace“ postulierte, das, was wir heute als Internet kennen und nutzen. Allerdings stöpselt sich Gibsons Held Case direkt in den Computer ein. Auch an dieser direkten Gehirn-Maschine-Verbindung wird bereits gearbeitet, Geräte für Endverbraucher waren schon auf der CeBIT 2004 zu sehen.

Sein Werk bestand bis zu „Mustererkennung“ aus vielen Stories und zwei Roman-Trilogien, der „Neuromancer“- und der „Idoru“-Trilogie. Alle Bücher sind bei Heyne und zum Teil bei Zweitausendeins erschienen. Seine Romane „Mustererkennung“ und „Quellcode“ wurden bei Klett-Cotta veröffentlicht. Einen nicht allzu anspruchsvollen Einstieg in Gibsons Werk bietet seine Story-Sammlung „Cyberspace“ (bei Heyne; siehe meinen Bericht).

Mehr Info: www.williamgibsonbooks.com (geprüft).

Hauptfiguren

• Case ist ein ehemaliger Konsolen-Cowboy (Hacker), der, im Auftrag anderer, Computer über den Cyberspace infiltriert hat. Als er einen Auftraggeber betrog, wurde zur Strafe sein Nervensystem mit Hilfe eines russischen Mykotoxins beschädigt, so dass er nicht mehr in den Cyberspace gelangen kann. Er nimmt den Auftrag von Armitage an, da ihm eine Heilung der Schäden angeboten wird.

• Molly, eine Auftragskillerin und ehemalige Prostituierte, trägt diverse Körpermodifikationen (Cyberware) an sich, wie beispielsweise fest in die Haut eingebaute Linsen mit Restlichtverstärker und ausfahrbare Skalpellklingen unter den Fingernägeln. Sie arbeitet für Armitage als Söldnerin für das Grobe (im Roman als Straßensamurai bezeichnet). Schnell entwickelt sie Zuneigung zu Case.+++ Sie berichtet von ihrer einstigen Liebe, Johnny, einem Datenkurier, der von den Yaks (Yakuza) getötet wurde. Es handelt sich hierbei offensichtlich um Johnny Mnemonic, die Hauptfigur aus der bekanntesten Kurzgeschichte Gibsons, die Grundlage für einen Kinofilm war.

• Armitage ist der ehemalige Special Forces Officer Corto, der nach einem fehlgeschlagenen Einsatz körperlich wiederhergestellt werden konnte, aber psychisch labil ist. Während seiner Genesung in einem Krankenhaus bemächtigt sich die KI Wintermute Cortos mit subtilen Mitteln und ersetzt seine Persönlichkeit durch Armitage. Anfangs tritt er als direkter Auftraggeber auf, bis sich im Laufe des Auftrags zeigt, dass er nur eine Marionette von Wintermute ist. Als er sich am Ende an sein früheres Ich erinnert, empfindet ihn Wintermute als Bedrohung und tötet ihn.

• Wintermute ist eine künstliche Intelligenz mit Standort in Bern, die eine Gruppe Menschen dirigiert, um sich mit ihrem Zwilling Neuromancer vereinigen zu können und so die Grenzen ihrer programmierten Parameter zu sprengen. Eine Art digitales Bewusstsein in Form einer Super-KI entsteht.

• Neuromancer ist eine künstliche Intelligenz mit Standort in Rio, der Zwilling der künstlichen Intelligenz Wintermute. Auch wenn die Figur Neuromancer im Buch eher knapp beschrieben ist, stellt sie den Hauptbeweggrund für alle Handlungen der übrigen Figuren dar, die im Auftrag Wintermutes handeln.

• Peter Riviera stammt aus dem durch Atombomben zerstörten Bonn. Er ist ein Mutant und schwer drogensüchtiger Psychopath und beherrscht die Fähigkeit der Hologramm-Projektion.

• Der Finne ist ein Hehler. Seine geschäftlichen Kontakte und sein Talent zur Beschaffung heikler Software sind ausschlaggebend für seinen guten Ruf. In der zweiten Hälfte des Romans benutzt Wintermute meistens sein Erscheinungsbild, um mit Case in Kontakt zu treten.

(Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Die komplette Handlung zusammenzufassen, würde etwas zu weit führen. Daher beschränke ich mich auf die wichtigsten Plot-Elemente.

Henry Dorset Case, 24, ist ein Computer-Cowboy, der sich auf den Straßen seines Tokioter Exils Chiba City auskennt. Er war mal einer der besten Datendiebe, drüben in den Staaten, und nahm auch an der kriegerischen Invasion des russischen Computernetzes von Kirensk teil, die unter dem Decknamen „Screaming Fist“ berüchtigt wurde. Leider wurde er ein wenig übermütig und zweigte etwas für sich ab. Seine Auftraggeber ließen ihm das Geld, verbrannten aber seine Nerven, so dass er nicht mehr in die Matrix des Cyberspace gelangen kann. Seitdem verhökert er illegale Drogen in Chiba City, in Zusammenarbeit mit seinem Mentor, dem 135-jährigen Julian Deane.

Auch Colonel Willis Corto Armitage, Ex-Spezialkommando, hat an „Screaming Fist“ teilgenommen und musste die Kongressverhöre durchmachen. Nun hat er einen neuen Auftrag erhalten und dafür engagiert er Case. Armitages Agentin ist Molly Millions, eine professionelle Leibwächterin und Attentäterin, deren Augen implantiert und von einer Spiegelbrille verdeckt sind. Unter ihren Fingernägeln verbergen sich zehn Stahlklingen von je vier Zentimetern Länge. Ich stelle sie mich als ebenso gefährlich vor wie Trinity in „The Matrix“. Dass sich die beiden ineinander verlieben, ist unausweichlich.

Der Auftrag: Die Verteidigungseinrichtungen einer Künstlichen Intelligenz (KI) zu durchbrechen und dort etwas Bestimmtes zu tun. Natürlich ist das nicht ganz einfach. Die KI Wintermute gehört den Tessier-Ashpools, einem der mächtigsten Konzerne, und befindet sich nicht auf der Erde, sondern auf der Orbitalstation Freeside, die die Erde umkreist: eine Art aufgemotztes Las Vegas. Doch an der Spitze der zentralen Spindel von Freeside befindet sich das Domizil der Tessier-Ashpools, die Villa Straylight. Hier befindet sich der Zugang zu Wintermute.

Und was soll das Ganze, fragt Case. Wintermute hat die Nase voll von den lächerlichen Kapazitätsbeschränkungen, die ihr die Turing-Polizei auferlegt hat, um die KIs zu kontrollieren, und will sich mit ihrem Zwilling, der KI „Neuromancer“ in Rio de Janeiro, vereinigen. Allerdings würde es sich dabei um keine Liebesheirat handeln, sondern um eine feindliche Übernahme…

Um die Beschränkungen zu beseitigen, inszeniert Wintermute über Armitage, Molly und Case einen digitalen Angriff auf sich selbst und ganz nebenbei auch auf die Tessier-Ashpool-Inhaber, John Harness Ashpool und seine geklonte dritte Tochter, Lady 3Jane.

Na, das kann ja heiter werden, denkt sich Case. Allerdings ein wenig zu spät, denn da ist die Kacke schon gewaltig am Dampfen…

Mein Eindruck

Natürlich kommen noch eine ganze Reihe weiterer Figuren zu einem mehr oder weniger glorreichen Auftritt: Rastafarier, Ninja-Attentäter, Klone, Psychopathen, Turing-Polizisten und einige andere. Allerdings ist die Handlung keine Nummernrevue, sondern jede Figur hat eine bestimmte Funktion, in der sie immer mal wieder zum passenden Zeitpunkt auftaucht. So wird aus der Abfolge der Szene keine Kette, sondern ein Gewebe.

Die Sprache ist eine bunte Mischung aus Straßenjargon, Gangsterslang, Cyberspace-Kauderwelsch, aber auch sehr vielen poetischen Beschreibungen, besonders in den Cyberspace-Runs und in der barocken Villa Straylight. Hier merkt man, dass William Gibson Englischlehrer war und seine Vorbilder kennt. Zu diesen gehören nicht nur die englischen und amerikanischen Dichter, sondern auch Alfred Bester („The Stars My Destination“, 1956), William S. Burroughs („The Naked Lunch“, 1959) und (vielleicht Samuel R. Delany („Babel-17“, „Nova“, „Dhalgren“). Offensichtliche Verweise auf Science Fiction-Autoren sind die Rue Jules Verne und das Restaurant „Vingtième siècle“, das nicht nur nach 20. Jahrhundert, sondern auch nach einem Verne-Roman benannt ist.

Natürlich bezog Gibson seine Inspiration aus den damaligen Träumen des Silicon Valley, aus denen er zuvor schon seit 1977 seine Stories gesponnen hatte. Daher kommen nicht nur der Cyberspace, die dreidimensionale Welt der Computernetze, vor, sondern auch Künstliche Intelligenzen, Organtransplantationen, Klone und sogenannte Simstims: Aufzeichnungs- und Abspielgeräte für Simulationen und Stimulation. All diese Zutaten verfehlen ihre Wirkung nicht, doch ihr massiertes Auftreten verstopft ein klein wenig den zügigen Fortgang der Handlung. Das ist bei einem Romanerstling kaum anders zu erwarten: Der Autor will zeigen, was er alles draufhat.

Tempo und Gewalt

„Neuromancer“ ist temporeich wie ein Gangsterfilm, genau gewaltgeladen, sehr erfindungsreich und verblüffend, aber dann auch wieder unerwartet menschlich. Besonders im Finale in der Villa Straylight fallen die wichtigen Entscheidungen nicht aufgrund technischen Könnens, sondern infolge menschlicher Interaktion. Hier gibt es bewegende Momente, aber auch komische. Wie gesagt, kann die Sprache – zu mindest im Buch – durchaus poetisch werden. Im Hörspiel wären solche Momente möglicherweise missverstanden worden, weshalb sie extrem selten sind.

Am besten haben mir die Rastafarier um Maelcum Zionite gefallen. Sie sind ehemalige Bauarbeiter, die auf Freeside gestrandet sind und hier festsitzen, weil ihr ans All angepasster Körper auf der Erde einfach nicht mehr funktionieren würde: zu wenig Kalzium in den Knochen, zu schwacher Herzmuskel. Sie haben ihre eigene Kolonie gegründet und siehe da! – sie heißt ebenfalls „Zion“, genau wie in „The Matrix Reloaded“. Allerdings war Gibson schon vorher da, nämlich 1984, und die Gebrüder Wachowski haben bei ihm abgeschaut.

Unterm Strich

Für die SF-Eingeweihten, die sich für „Neuromancer“ interessieren, kommt William Gibson seit diesem Roman (1984) und den zwei Nachfolgern „Biochips“ und „Mona Lisa Overdrive“ gleich nach Gott und seiner Frau.

Auch wenn die Handlung recht konventionell gestrickt erscheinen mag, so handelt sie dennoch von uns und unserer Realität, wie sie seit der Mitte der achtziger Jahre gestaltet wird. Hier treten nicht Abziehbilder in eine Kunstkulisse auf, sondern Figuren mit menschlichen Zügen, die in einem Ambiente (inter-) agieren, das ganz besonders im Hörspiel realistisch und doch kunstvoll gestaltet wurde.

Das, was man als Mensch definiert, ist bei Gibson schon 1984 stark erweitert worden. Die Definition könnte zum Teil auch auf die beiden KIs angewandt werden. Daher funktioniert die Story, die im Grunde eine klassische Räuberpistole par excellence ist. Die Hauptfigur ist keine heldenhafter Detektiv, sondern ein Datendieb. Doch auch er hat so etwas wie einen Ehrenkodex – und die Fähigkeit zu lieben. Und deshalb interessiert uns, wie es ihm bei seinem lebensgefährlichen Coup gegen Wintermute ergeht. Und dies natürlich in einer Umgebung, die spannend und einfallsreich imaginiert worden ist.

Von der bisherigen Heyne-Übersetzung ist dringend abzuraten und man sollte sich auf das Original einlassen, auch wenn es etwas mehr Aufwand bedeutet.

Taschenbuch: 366 Seiten.
O-Titel: Neuromancer, 1984.
Aus dem US-Englischen von Reinhard Heinz.
ISBN-13: 9783453056657

www.heyne.de

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