Connie Willis – Lincolns Träume

Robert E. Lee und Abe Lincoln, im Traum vereint

Eine junge Frau der Gegenwart hat in Washington, D.C., seltsame Träume, die sie von ihrem Psychiater untersuchen lässt, doch dieser nutzt sie aus. Sie wendet sich an den Rechercheur eines Historikers, und Jeff Johnston verliebt sich in Annie. Denn wovon sie träumt, ist genau sein Spezialgebiet: der amerikanische Bürgerkrieg. Sie träumt die Träume des Oberbefehlshabers der Konföderierten, die von Robert E. Lee …

Die Autorin

Die 1945 geborene Lehrerin und US-Schriftstellerinnen Connie Willis ist seit den achtziger Jahren eine der besten und originellsten Science-Fiction-Autorinnen. Die Storys, die dies beweisen, sind in dem Band „Brandwache“ gesammelt (deutsch bei |Luchterhand|). Sie hat bereits zahlreiche Preise eingeheimst, darunter den HUGO für ihren Zeitreiseroman „Die Jahre des Schwarzen Todes“ (1991, dt. bei |Heyne|). „Lincolns Träume“ war 1987 ihr Romandebüt als Solo-Autorin, davor schrieb sie als Ko-Autorin mit Cynthia Felice. Für „Die Farben der Zeit“ (dt. bei |Heyne|) wurde Connie Willis mit dem |Hugo Gernsback Award| und dem |Locus (Magazine) Award| für den besten SF-Roman des Jahres 1997 ausgezeichnet.

„Lincolns Träume“ wurde 1988 mit dem John W. Campbell jr. Award für den besten Roman eines Newcomers ausgezeichnet.


Handlung

Jeff Johnston hat einen stressigen Job. Im Auftrag des Historikers und Schriftstellers Broun hetzt er von einer Informationsquelle zu anderen, dabei geht es meist nur um Trivialitäten wie etwa jene, wann Robert E. Lee sein Pferd Traveller erwarb und wo Willie Lincoln, der Sohn von US-Präsident Abraham Lincoln, zwischen 1862 und 1865 begraben lag. Das Wetter ist grausig: Ein Schneesturm fegt übers Land, und Jeff ist heilfroh, unbeschadet seine Wohnung im Hause des Historikers zu erreichen.

Mr. Broun ist jedoch ein Pedant und kann seinen gerade zur Druckerei gebrachten Roman „Die Bürde der Pflicht“ einfach nicht endgültig aus den Händen geben. Ständig gibt es was zu verbessern und einzufügen, was den Verlag auf die Palme bringt. Jetzt denkt er daran, einen Roman über Lincoln zu schreiben. Wieso träumte Lincoln zwei Wochen vor seinem Tod 1865, er liege in einem Sarg des Ostflügels des Weißen Hauses? Verwechselte er sich mit seinem Sohn, Willie Lincoln, der 1862 starb? Wenige Wochen später erschoss der Attentäter William Wilkes Boothe Lincoln im Theater.

Auf Veranlassung Brouns lädt Johnston seinen früheren Kommilitonen, den Psychiater Richard Madison, auf eine Presseparty ein. Während Broun dem Arzt Löcher in den Bauch fragt, lernt Jeff dessen Patientin Annie kennen, ein schüchternes Mädchen, das aber etwas ganz Besonderes ist. Annie fragt nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, und damit ist sie an der richtigen Adresse: Jeff weiß fast alles darüber. Sie interessiert sich besonders für Robert E. Lee, den Oberkommandierenden der Konföderierten, der den Krieg überlebte und von Lincoln nicht einmal zum Tode verurteilt wurde. Sie träume von Lees Villa in Arlington – und den dort vergrabenen Unionssoldaten.

Bei einem Spaziergang an dieser Villa versichert ihr Jeff, dass er keineswegs glaube, sie sei verrückt. Aber eine Erklärung für ihre Träume hat er auch nicht. Im Traum hatte sie eine schreckliche Vision. Lees Katze Tom Tita führte sie in den Garten und dort war der Schnee des Winters weggetaut, nur um die Arme und Beine und Gesichter der dort verscharrten Unionssoldaten freizulegen. Bei diesem Horrorerlebnis stieß sie auf einen weißen Zettel. Jeff identifiziert diesen Zettel als Lees Sonderbefehl 191, der den Nordstaatlern in die Hände gefallen war.

Jeff macht sich Sorgen um Annie. Als er erfährt, dass sein Ex-Kommilitone Richard Madison nicht nur mit Annie, seiner Patientin, schläft, sondern sie auch noch unter harte Drogen wie Thorazin setzt, kontaktiert er das Mädchen öfters. Schließlich läuft sie Richard davon, um bei Jeff Unterschlupf zu finden, denn er hat versprochen, sich um sie zu kümmern. Jeff schüttelt Richard durch eine Polizeimeldung ab und verduftet mit Annie nach Fredericksburg, Virginia, ein früheres Schlachtfeld des Bürgerkriegs.

Hier hat Annie, wie Jeff hätte erwarten sollen, weiterhin lebhafte Träume, in denen sie Robert E. Lees Schlachten erlebt. Hinzu kommen die Textpassagen aus Brouns neuem Roman, die Jeff korrekturliest: noch mehr Schlachtenszenen. Zusammen begeben sich die beiden, die schnell zueinander finden (aber nicht zu nahe), auf eine Expedition in jene Zeit, als Virginia unter den Hufen der Kavallerie und den Einschlägen der Artillerie erzitterte …

Mein Eindruck

Der Roman hat mich gefesselt und beeindruckt, selbst wenn er strenggenommen nicht der Science-Fiction zugerechnet werden kann und lediglich im Randbereich der phantastischen Literatur angesiedelt ist. Willis ist bekannt für Ihre Erzählungen um ein Zeitreise-Institut, das seine Studenten in die Vergangenheit reisen lässt, um wichtige Artefakte vor Ort besichtigen und beschreiben zu können. Zum Glück findet in „Lincolns Träume“ keine Zeitreise statt. Doch Annies Träume erfüllen fast die gleiche Aufgabe, wenn sie bruchstückhaft von Robert E. Lees Leben erzählt, das von 1807 bis 1870 währte. Lees letzte Worte lauteten „Brecht das Zelt ab!“, und sie gibt sie getreulich wieder, als wäre sie sein lebender Anrufbeantworter.

Auf einer symbolischer Ebene wird Annie damit zu Robert E. Lee. Aber wem entspricht dann Jeff Johnston? Wie er am Schluss haarscharf erkennt, entspricht er am ehesten Traveller, dem treuen Pferd Lees, das ihn überallhin trug und den Tod seines Herrn zwei Jahre überlebte. Seine Gebeine sind sogar in Lees Gruft in der Kapelle von Lexington begraben. (Und es gibt einen gleichnamigen Roman von Richard Adams über dieses Pferd – es fehlt in keiner Lee-Biografie.)

Sie erleben zusammen, vermittelt durch ihre Träume, den Bürgerkrieg bis zur Kapitulation im Jahre 1865. Als er merkt, dass ihre Träume zum Ausgangspunkt zurückkehren („Brecht das Zelt ab!“), will er sie wieder Richard Madison anvertrauen, der bei Annie einen Herzfehler festgestellt hat. Doch in der entscheidenden Begegnung muss Jeff feststellen, dass Richards Position in dieser Konstellation genau jenem General Longstreet entspricht, der in der Schlacht von Gettysburg 1863 keine Verstärkungen schickte, als der entscheidende Angriff im Gange war. Lee verlor die Schlacht bekanntlich, und mehrere zehntausend Südstaatler starben. Jeff reagiert, wie es die Vergangenheit verlangt hätte – jeder tue seine Pflicht: Er wimmelt Richard ab und verduftet erneut mit Annie, wie Traveller stets der treue Begleiter.

In den Träumen, die sowohl Jeff als auch sein Arbeitgeber Broun recherchieren, können sich alle möglichen Bedeutungen verbergen. Sie sind hart an der Grenze zur Lächerlichkeit angesiedelt, wenn man in Betracht zieht, dass der Historiker Broun zu Quacksalbern und Schamanen reist. Doch dem steht Jeffs Erfahrung mit Annies Träumen und Brouns Buch entgegen. Das Beeindruckendste am Buch sind eindeutig die lebhaften Szenen aus dem blutigen Bürgerkrieg, die uns die damaligen Menschen und ihre Schicksale nahebringen. Diese Träume stehen auf halber Strecke zwischen nüchterner historischer Recherche, wie Jeff sie sonst betreibt, und echter Zeitreise, wie die Autorin sie später inszeniert.

Aber diese Träume verursachen auch ein erzählerisches Problem: Wie sind sie zu rechtfertigen und was bedeuten sie? Deshalb wird viel Zeit auf die Frage verschwendet, wie solche Träume entstehen können und ob sie die Funktion eines Omens haben. In diesem Zusammenhang wird Lincolns Traum vom Sarg seines Sohnes und von einem Boot vor dunkler Küste relevant. Vielleicht hat er aber auch nur seine Generäle angelogen, um sie mit Siegeszuversicht zu erfüllen. Denn er wollte die Union unbedingt erhalten, duldete kein Gerede von Sezession. Also konnte der Bürgerkrieg nur mit dem Sieg einer der beiden Seiten enden.

Annie lügt bestimmt nicht, vielmehr jagen ihre Anwandlungen, in denen sie sich wie ein Schlafwandler aufführt, nicht nur Jeff einen Schrecken ein, sondern auch dem Leser, der um ihr Leben bangen muss. Allein schon die Tatsache, dass sie alleine zum Nationalfriedhof der Schlacht von Fredericksburg gefahren ist, wo über 12.000 Soldaten begraben liegen, veranlasst Jeff zu einer rasanten Fahrt durch das Städtchen. Es ist schon recht unheimlich, wenn die Beifahrerin plötzlich „Anhalten!“ ruft, nur weil ihr ein Farmhaus bekannt vorkommt. Und dann findet man heraus, dass hier ein Schlachtfeld war. Tatsächlich muss Jeff erkennen, dass es sich bei halb Virginia um ein Schlachtfeld handelt und er praktisch davon umzingelt ist.

Wenigstens geht die Autorin nicht über diese unheimlichen Szenen hinaus. Niemand wird verletzt, anders als in den Rückblenden. „Lincolns Träume“ ist eine Fingerübung, mit der die Autorin testete, wie weit sie gehen konnte. Der Test verlief offenbar zu ihrer Zufriedenheit: Sie bekam einen wichtigen Preis des Genres. In dem weitaus umfangreicheren „Die Jahre des Schwarzen Todes“ belastet sie die Leidensfähigkeit des Lesers bis zur Schmerzgrenze. Sie schickt ihre Geschichtsstunde ins Jahr 1350. Damals wütet in England der Schwarze Tod, die Pest.

Unterm Strich

Sowohl in der Handlung als auch in der Charakterisierung stellt der Roman eine Fingerübung dar, die auf Größeres hoffen lässt. Es handelt sich nicht um Science-Fiction oder Fantasy, sondern um phantastische Literatur, die auch von einem der schwarzen Romantiker hätte geschrieben werden können. Allerdings tastet sich die Autorin über wissenschaftliches Terrain voran, was die Behandlung von Albträumen angeht. Solche Träume sind, anders als bei den Romantikern, potenziell gefährlich und lebensbedrohlich.

Die stärksten Szenen sind zweifellos jene, in denen die Protagonistin Annie direkt im Geschehen des amerikanischen Bürgerkriegs steht. Auch die Szenen aus Brouns Buch gehört dazu. Dadurch gerät der damalige Horror, wie etwa bei Gettysburg, in unmittelbare psychologische, aber auch geografische Nähe der Gegenwart. Das steht in makaberem Kontrast zur touristischen Vermarktung der Friedhöfe und Schlachtfelder durch fast jeden in Fredericksburg.

Die zentrale Frage ist aber, in welchem Maße sich ein Mensch dieser Vergangenheit verschreiben darf. Annie verschreibt sich der Aufgabe, den unglücklichen und schlaflosen General Robert E. Lee von seiner Bürde der Träume zu entlasten. Dies geht zu Lasten ihrer Beziehungen zu ihren Mitmenschen, allen voran zu Jeff, der sich fast sofort in sie verliebt hat. Wäre Annie eine Historikerin, so würde sie einen schmalen Grat wandeln und sich fragen lassen müssen, inwieweit sie denn noch eine Wissenschaftlerin sei.

„Lincolns Träume“ ist ein kleines, interessantes, aber noch ungelenkes Vorspiel zu den großen Zeitreiseromanen „Die Jahre des Schwarzen Todes“, „Die Farben der Zeit“ und „Passage“, welches noch unübersetzt ist.

Taschenbuch: 287 Seiten
Originaltitel: Lincoln’s Dreams, 1987
Aus dem US-Englischen übertragen von Norbert Stöbe.
ISBN-13: 978-3453054011

www.heyne.de

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