Wilson Tucker – Die Unheilbaren

Ein Blitzkrieg verheert den Osten der USA. Der halbe Kontinent ist verwüstet, die Bevölkerung verseucht. Da kein Gegenmittel bekannt ist, werden die wenigen Überlebenden mit Waffengewalt ferngehalten. Im Osten herrschen Hunger und Tod. Ein Ex-Soldat versucht die Grenze zu durchbrechen … – Diese scheinbar typische „Doomsday“-Science-Fiction aus der Ära des Kalten Krieges überrascht durch eine differenzierte Weltsicht. Der Angreifer wird nie enthüllt; Autor Tucker konzentriert sich auf den Überlebenskampf der Opfer, die von ihren eigenen Mitbürgern ausgegrenzt werden, bis sie hoffentlich bald gestorben sind: keine Lektüre für Trump-eltiere.

Das geschieht:

Niemand konnte je feststellen, wer die Vereinigten Staaten von Amerika angegriffen hat. Obwohl man sich wohlgerüstet fühlte, war die Attacke ein voller Erfolg: Atomare, biologische und chemische Kampfstoffe regneten über dem Osten des Kontinents herab. Als das Bombardement stoppte, waren die großen Städte zerstört und die meisten US-Bürger tot.

Glück hatten nur jene, die in den 22 Weststaaten der USA lebten. Zwar gab es auch dort Atomexplosionen, aber wenigstens blieb man von der schrecklichsten Plage verschont: Der Feind setzte eine pestähnliche Krankheit frei, die jene, die sie nicht tötet, in Überträger der Seuche verwandelt. Ein Heilmittel gibt es nicht, weshalb die Rest-USA beschließt, den gesamten Osten hermetisch abzuriegeln. Ein breiter Todesstreifen entsteht, und jede Frau und jeder Mann, die oder der in den Westen kommen will, wird von der wachenden Armee erbarmungslos niedergeschossen.

Zu seinem Pech war Corporal Russell Gary zum Zeitpunkt des ‚Krieges‘ dienstlich im Ostteil seines Heimatlandes unterwegs. Als er begreift, was geschehen ist, will er bei seiner Einheit melden. Doch nachdem es seinen ehemaligen Kameraden beinahe gelungen ist ihn umzubringen, hat Gary verstanden. Unstet beginnt er durch den fast entvölkerten Osten zu streifen. Dort setzt rasch ein erbitterter Kampf um schrumpfende Ressourcen ein. Räuberbanden streifen umher und belauern jene, die sich auf Farmen oder in den Ruinen der Städte verbarrikadiert haben. Der Tod ist nicht das schlimmste Schicksal, denn die Not verwandelt einst brave Amerikaner in Kannibalen. Immer wieder muss Gary um sein Leben kämpfen, während er entschlossen sein Ziel verfolgt, die tödliche Grenze irgendwo, irgendwie gen Westen zu überwinden …

Das Ende kommt – mit Verzögerung

Sobald der Mensch die ersten echten Massenvernichtungswaffen entwickelt hatte und diese mit den im Namen angesprochenen Folgen eingesetzt wurden, fragten sich (nicht nur) Schriftsteller, was geschehen würde, sollten diese Waffen noch ‚besser‘ bzw. nicht so wie geplant funktionieren. Zwei Weltkriege und die Erfindung der Atombombe sorgten für kräftigen Aufwind in diesem Genre. Die beunruhigende Tatsache, dass sich spätestens ab 1950 zwei Machtblöcke gegenüberstanden, die beide über mehr als genug dieser Superwaffen verfügten, um die gesamte Erde zu entvölkern, regte die Fantasie gebührend an.

Unter den unzähligen Titeln, die sich mit der Frage nach dem „Danach“ beschäftigten, wirkt „Die Unheilbaren“ ungeachtet der vielen Jahrzehnte, die seit dem Ersterscheinen verstrichen sind, erstaunlich ‚modern‘. Anders als viele seiner schreibenden Kollegen schwelgt Wilson Tucker nicht in Beschreibungen spektakulärer Zerstörung und massenhaftes Todes. Tatsächlich spielt der ‚Krieg‘ kaum eine Rolle; er dient nur als Begründung für die Entstehung einer Welt, für deren Grauen ausschließlich der Mensch verantwortlich ist. Was eigentlich geschah, bleibt dem Leser wie Russell Gary weitgehend rätselhaft. Waren es überhaupt die Kommunisten-Teufel aus der UdSSR und/oder China, die über die USA hergefallen sind? Diese Frage bleibt ungeklärt. Sie interessiert Tucker ohnehin nicht; er macht sich stattdessen Gedanken darüber, wie der Krieg die Überlebenden prägt.

Für die ‚Falken‘ stand damals (und steht heute) fest: Ein Dritter Weltkrieg lässt sich überstehen; jedenfalls gilt das für jene, die sich patriotisch-tapfer vorbereitet haben und nach dem großen Knall solidarisch zusammenarbeiten, um eine neue, bessere Welt (ohne liberale Schwächlinge) aufzubauen. Ausgeblendet wird dabei vorsätzlich, dass damit kaum zu rechnen ist. Tucker ist pessimistisch – oder realistisch. Er stellt uns ausschließlich US-Amerikaner vor, die jedoch nur in Ausnahmefällen zusammenhalten, während ansonsten der blanke Eigennutz ihr Verhalten dominiert.

Der schreckliche Moment der Erkenntnis

Russel Gary ist nicht nur ein „Mann aus dem Volk“, sondern auch ein Soldat, der bereits mehrfach unter Beweis gestellt hat, dass er willens ist, für sein Land in den Kampf zu ziehen. Deshalb steht für ihn fest, dass man im Westen auf ihn wartet, um ihn für Aufbau- und Schutzmaßnahmen einzuteilen. Bis Gary endlich begreift, dass man ihn abgeschrieben hat, ist er gleich mehrfach beinahe gestorben. Er kann und will lange – und stellvertretend für die meisten zeitgenössischen Leser – nicht hinnehmen, dass solches Unrecht in den USA geschieht: Dort ist sich jede/r selbst die bzw. der Nächste, es herrscht eine im Originaltitel angesprochene, schreckliche, ‚laute‘, d. h. ‚nur‘ von Schüssen und Todesschreien unterbrochene Stille.

Als Gary zu schlechter Letzt entdeckt, dass der US-Westen den Osten nicht nur abriegelt, um sich vor der Seuche zu schützen, sondern die Überlebenden dort absichtlich sterben lässt sowie einen Militärschlag plant, um die letzten Menschen im Osten buchstäblich auszurotten, zerbrechen seine Wertvorstellungen, die schon vorher hart geprüft werden: Tucker schickt seine Hauptfigur auf einen wahren Höllentrip. Er erzählt Garys Geschichte in Episoden, zwischen denen Wochen, Monate, sogar Jahre liegen. Jedes Mal, wenn wir Gary wiedersehen, ist er moralisch tiefer gesunken. Ursprünglich plante Tucker ein Finale, das ihn als Kannibalen zeigen sollte, doch das war dem Verleger zu drastisch. So findet Gary nach einer Kette deprimierender Erlebnisse ein ebenso handlungstypisches wie tragisches Ende.

Raub, Vergewaltigung, Menschenfresserei auf der einen, systematischer Mord und Abschottung auf der anderen Seite; dazwischen fließt der Mississippi, mit dem Tucker die Grenze zwischen den beiden US-Welten versinnbildlicht. Einmal gelingt Gary die Flucht. Die Seuche nimmt er mit, aber auch sonst ist der Westen keine Option mehr für ihn. Dort hat man den Osten abgeschrieben. Die neue Regierung behauptet, dass jenseits der Grenze nur noch „feindliche Agenten“ lauern, die man austilgen wird, um den Osten für den Westen zurückzuerobern; eine ironische Volte Tuckers, denn historisch wurden die USA von Ost nach West besiedelt.

„Die Unheilbaren“ erregte einiges Aufsehen. Der Roman gehört zu Tuckers Frühwerken und wurde zu einem Fundament, auf dem spätere, ebenfalls wider den (konservativen) Strich gebürstete Werke solide ruhten. Hierzulande erschien dieses Buch (gekürzt) erstmals 1958; auch die Neuauflage von 1973 dürfte nicht völlig komplett übersetzt sein. Die Kernaussage des Romans bleibt davon freilich unbeeinträchtigt.

Autor

Arthur Wilson „Bob“ Tucker wurde am 23. November 1914 in Deer Creek, US-Staat Illinois, geboren. Nach dem frühen Tod der Mutter schob der Vater ihn und seinen Bruder in ein Waisenhaus ab. 1931 galt er als erwachsen und wurde – auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise – auf die Straße gesetzt. Da er die Pulp-Magazine dieser Ära kannte und schätzte, beschloss Tucker in seiner Not, sich selbst als Autor zu versuchen. Doch erst 1941 konnte er eine erste Kurzgeschichte („Interstellar Way Station“) verkaufen, weshalb er u. a. als Filmvorführer, Beleuchter und Elektriker arbeitete und das bis 1972 fortsetzte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlegte sich Tucker auf Romane. Er kreierte den Detektiv Charles Horne, der zwischen 1946 und 1951 fünf Kriminalfälle löste; später veröffentlichte Tucker weitere Thriller. Danach konzentrierte er sich auf Science Fiction. „The City in the Sea“ (dt. „Die Stadt im Meer“) erschien 1951. In den folgenden Jahren erschienen in rascher Folge weitere Werke, unter denen das Zeitreise-Abenteuer „The Lincoln Hunters“ (dt. „Die Lincoln-Jäger“) und der Weltuntergangs-Roman „The Year of the Quiet Sun“ (dt. „Das Jahr der stillen Sonne“) auch den Zuspruch der Kritik fanden.

Bekannt wurde Tucker auch als eifriges Mitglied des SF-Fandoms. Schon in den 1930er Jahren gab er ein Fan-Magazin namens „The Planetoid“ heraus. Zwischen 1938 und 1975 publizierte er das Magazin „Le Zombie“. Bekannt war Tucker auch als Herausgeber des „Bloomington News Letter“, dessen Leser er mit Informationen über die aktuelle SF-Szene versorgte. Anfang der 1980er Jahre zog sich Tucker als Schriftsteller zurück. 1996 zeichneten ihn die „Science Fiction Writers of America“ (SFWA) mit einem „Author Emeritus Award“ aus. Am 6. Oktober 2006 ist Wilson Tucker kurz vor Vollendung seines 92. Lebensjahres in Pinellas Park, Florida, gestorben.

Taschenbuch: 126 Seiten
Originaltitel: The Long Loud Silence (New York: Rinehart & Co. 1952)
Übersetzung: Walter Ernsting
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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