Wilson Tucker – Zeit-Bombe

Ungeachtet aller Schutzmaßnahmen werden die Mitglieder einer Partei gezielt umgebracht. Ein unkonventionell ermittelnder Polizist findet heraus, dass der Attentäter unter Einsatz der Zeitreise mordet; eine Erkenntnis, die ihm der Täter selbst nicht grundlos ermöglicht hat … – Heiligt der (gute) Zweck alle Mittel? Autor Tucker spielt diese Frage vor allem spannend, aber durchaus auch moralisch sowie konsequent durch, wobei der Text dem Inhalt nicht immer gewachsen ist, d. h. Abschweifungen und Logiklöcher aufweist: dennoch interessant (und angenehm kurz).

Das geschieht:

Seit Monaten sorgt ein Attentäter für Schrecken. In seinem Visier hat er möglichst ranghohe Mitglieder der „Söhne Amerikas“, einer konservativen, rechtsgerichteten Gruppe, deren ebenso charismatischer wie skrupelloser Einpeitscher Ben auf die Unterstützung (einfluss-) reicher Kreise rechnen kann. Für die nächste Wahl steht ein Strohmann als Präsidentenkandidat bereit, dem Ben sagen wird, was er zu tun hat.

Doch der Widerstand gegen die „Söhne“ beschränkt sich nicht auf die legale Opposition. Jemand attackiert die Gruppe persönlich. Bei bisher sechs Sprengstoffanschlägen starben wichtige Mitglieder. Polizei und Geheimdienst stehen unter Druck; trotz intensiver Ermittlungen finden sich keinerlei Indizien, die den Täter entlarven könnten.

Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei des US-Staates Illinois war nur ein Rädchen im Getriebe der Nachforschungen. Nach dem Tod seines Vorgesetzten rückt er in Springfield, der Stadt des letzten Anschlags, an die Spitze des Ermittlerteams. Auch er steckt bald in einer Sackgasse und verliert sogar seinen Job, macht aber undercover weiter. Er ist auf eine Fährte gestoßen, die den Schluss nahelegt, dass der Attentäter seine Opfer durch die Zeit angreift. Diese These ist nicht gänzlich unrealistisch, denn in dieser Zukunft haben Zeit-Forscher beachtliche Fortschritte erzielt. Zumindest ‚Blicke‘ in die Vergangenheit sind bereits möglich. Hat jemand den Durchbruch geschafft und vermag selbst durch die Zeit zu reisen?

Danforth kann auf die Hilfe des Telepathen Mr. Ramsey setzen. Auch das mysteriöse Ehepaar Nash weiß mehr, als es aufzudecken bereit ist. In einer dritten Informationsquelle meint Danforth ausgerechnet den Attentäter zu erkennen, der anscheinend bemüht ist, ihn gezielt auf sich aufmerksam zu machen …

Der perfekte = unmögliche Mord: eine SF-Variante

Seit Jahrzehnten fließen Unmengen Hirnschmalz und Schweiß, wenn sich die Erzähler von Kriminalgeschichten die Köpfe über den perfekten Mord zerbrechen – jene Tat, die so gut geplant und ausgeführt ist, dass entweder keine Indizien am Ort des Verbrechens zurückbleiben und der Ermittler – selbst wenn er das Kaliber eines Sherlock Holmes aufweist – ergebnislos aufgeben muss.

In der Regel findet sich eben doch ein winziges Detail, dass den kunstvollen Überbau letztlich zum Einsturz bringt. Dies ist die Bestätigung jener Erkenntnis, dass kein Plan makellos ist und keine Umsetzung fehlerfrei gelingt. Der Mensch ist nicht perfekt; es schleichen sich Fehler ein, und für den Rest sorgt die berüchtigte Tücke des Objekts: Der Zufall ist ein mächtiger Feind, zumal man ihn nicht kommen sieht!

Natürlich gibt es faktisch unlautere, weil in der Realität den Naturgesetzen widersprechende Mordmethoden, die sich jedoch auf das Reich der Fantasie beschränken. Mischt sich der Krimi mit der Science Fiction, gibt es mehrere Möglichkeiten, dem Ermittler Schnippchen zu schlagen. Die Zeitreise ist eine naheliegende Wahl. Wie lässt sich jemand aufhalten, der nicht nur genau weiß, wo, sondern vor allem wann er sein Opfer hilf- und seine Verfolger ratlos antrifft? Auch die Verfolgung des Täters durch die Zeit/en ist alles andere als ein Kinderspiel.

Motiv und Möglichkeit

Wilson Tucker lässt seine Geschichte in einer zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nahen Zukunft spielen (die deshalb im heutigen Rückblick eine nie realisierte Vergangenheit darstellt). Es gibt kaum Anzeichen für einen SF-typischen und vor allem deutlichen Fortschritt. Die „Zeitkamera“, mit deren Hilfe man eine halbe Stunde ‚zurückblicken‘ und diese Vergangenheit aufzeichnen kann, ist das deutlichste Indiz, und es wirkt wie ein Fremdkörper.

Erstaunlich ist der alltägliche Einsatz von Telepathen. Sie werden vom Staat angeheuert, um kriminelle (oder einfach regierungsmissliebige) Elemente zu erkennen und auszuspähen. Tucker bleibt hart an der Realität, wenn er davon ausgeht, dass es nur wenige Telepathen gibt. Sie sind ein wichtiges, aber nicht allmächtiges Instrument, weshalb sich der Attentäter in relativer Sicherheit vor Mr. Ramsey wiegen kann.

Wie geht der Mörder vor? Tucker verwendet genretypisch viel Zeit auf entsprechende Untersuchungen und Vermutungen. Seine ‚Lösung‘ hat Kritiker und Leser nur bedingt überzeugt. Sie ist allzu umständlich, weshalb es selbst dem technobabbel-geprüften SF-Leser schwerfällt nachzuvollziehen, wie er sich diese Zeit-Bombe vorstellen soll.

Die Nadel im temporalen Heuhaufen

Auch sonst wird die ohnehin komplizierte Ermittlung durch Abschweifungen aufgehalten. So gibt es einen Erzählstrang, der Danforth auf einen zwar ‚menschlichen‘, aber bereits viele Jahrtausende alten Außerirdischen treffen lässt. Dies weist darauf hin, dass Tucker eventuell eine Serie plante, denn die Geschichte dieses Methusalems und seiner Gefährten hatte er bereits zwei Jahre zuvor im Roman „The Time Masters“ (1953; dt. „Die Letzten der Unsterblichen“) erzählt. Für das Geschehen in „Zeit-Bombe“ ist dieser Auftritt ohne echte Relevanz. Ähnlich flüchtig ist die Begegnung mit der an sich interessanten Figur Mr. Ramsey. Tucker reißt die Problematik, die der Umgang ‚normaler‘ Menschen mit gedankenlesenden Zeitgenossen bedeutet, einerseits nur an, während er andererseits das Thema unnötig vertieft.

Der Plot wurde vor allem nachträglich oft kritisiert, womit man Tucker Unrecht tut. Die Vorstellung, dass die USA – bekanntlich/angeblich eine Wiege der Demokratie – in faschistoide Hände fallen könnte, ist heute ein alter Hut. 1955 war das anders – und relevanter: Der Zweite Weltkrieg lag erst ein Jahrzehnt zurück. Man wusste um die Gräueltaten skrupelloser Diktatoren in Nazideutschland, Japan und der Sowjetunion. Zu allem Überfluss erlebten die USA in den frühen 1950er Jahren die Ära McCarthy, dessen Spießgesellen zur Jagd auf ‚Kommunisten‘ bliesen. Wer ihnen in die Hände fiel, wurde beruflich und privat vernichtet, wanderte ins Gefängnis oder wurde auf „schwarze Listen“ gesetzt und ausgegrenzt.

Tucker steht deshalb am Anfang einer Reihe von Autoren, die machtgierige, kriminelle Psychopathen in hohe Ämter hievten, um ihrem Publikum die Konsequenten auszumalen. In seine Fußstapfen – und das erstaunlich deckungsgleich – trat z. B. sehr erfolgreich Stephen King mit seinem Roman „Dead Zone“ (1979; dt. „Das Attentat). Dennoch trifft zu, dass Wilson Tucker ‚Besseres‘ geschrieben hat. Das ändert nichts am zwar moderaten, aber ehrlichen Vergnügen, das dieser Roman zu wecken mag. Eine Lektion für moderne Autoren ist inbegriffen: Man kann eine Geschichte auf unter 200 Seiten erzählen. Dass sie nicht totgeritten wird, steigert ihren Unterhaltungswert zuverlässig!

Autor

Arthur Wilson „Bob“ Tucker wurde am 23. November 1914 in Deer Creek, US-Staat Illinois, geboren. Nach dem frühen Tod der Mutter schob der Vater ihn und seinen Bruder in ein Waisenhaus ab. 1931 galt er als erwachsen und wurde – auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise – auf die Straße gesetzt. Da er die Pulp-Magazine dieser Ära kannte und schätzte, beschloss Tucker in seiner Not, sich selbst als Autor zu versuchen. Doch erst 1941 konnte er eine erste Kurzgeschichte („Interstellar Way Station“) verkaufen, weshalb er u. a. als Filmvorführer, Beleuchter und Elektriker arbeitete und das bis 1972 fortsetzte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlegte sich Tucker auf Romane. Er kreierte den Detektiv Charles Horne, der zwischen 1946 und 1951 fünf Kriminalfälle löste; später veröffentlichte Tucker weitere Thriller. Danach konzentrierte er sich auf Science Fiction. „The City in the Sea“ (dt. „Die Stadt im Meer“) erschien 1951. In den folgenden Jahren erschienen in rascher Folge weitere Werke, unter denen das Zeitreise-Abenteuer „The Lincoln Hunters“ (dt. „Die Lincoln-Jäger“) und der Weltuntergangs-Roman „The Year of the Quiet Sun“ (dt. „Das Jahr der stillen Sonne“) auch den Zuspruch der Kritik fanden.

Bekannt wurde Tucker auch als eifriges Mitglied des SF-Fandoms. Schon in den 1930er Jahren gab er ein Fan-Magazin namens „The Planetoid“ heraus. Zwischen 1938 und 1975 publizierte er das Magazin „Le Zombie“. Bekannt war Tucker auch als Herausgeber des „Bloomington News Letter“, dessen Leser er mit Informationen über die aktuelle SF-Szene versorgte. Anfang der 1980er Jahre zog sich Tucker als Schriftsteller zurück. 1996 zeichneten ihn die „Science Fiction Writers of America“ (SFWA) mit einem „Author Emeritus Award“ aus. Am 6. Oktober 2006 ist Wilson Tucker kurz vor Vollendung seines 92. Lebensjahres in Pinellas Park, Florida, gestorben.

Taschenbuch: 128 Seiten
Originaltitel: Time Bomb (New York : Rinehart 1955)/Tomorrow Plus X (New York : Avon Book Co. 1957)
Übersetzung: Otto Kuehn u. Peter Mathys
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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