Gene Wolfe – Der fünfte Kopf des Zerberus

Unter Gestaltwandlern, Träumern und Klonen

Schauplatz ist ein fernes Sonnensystem, das aus zwei Planeten besteht, die von französischen Aussiedlern kolonisiert wurden. Die Franzosen rotteten die Aborigines auf Sainte Anne aus, die wahrscheinlich Gestaltwandler waren, und errichteten auf den zwei Welten unterschiedliche Herrschaftssysteme, die sich misstrauisch bis feindlich gegenüberstehen.

Die drei Novellen, die diesen Beinahe-Roman ausmachen, haben die Frage nach Identität, Menschentum, Menschlichkeit und Bestimmung zum gemeinsamen Thema. In der titelgebenden Novelle steht ein junger Klon im Mittelpunkt, der mittlere Text gibt einen Mythos der Aborigines wieder, die dritte Novelle dreht sich, in Fragmenten wiedergegeben, um einen Forscher namens John V. Marsch, der auf Sainte Croix verhaftet wird, weil er für Sainte Anne spioniert haben soll. Aber ist er wirklich derjenige, der vor fünf Jahren aufbrach, um die Aborigines zu suchen?

Der Autor

Gene Rodman Wolfe, geboren 1931, ist einer der großen Stilisten der Science-Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Storysammlungen gehören „The Island of Dr. Death and other stories“ (1980) sowie „Endangered Species“ (1989). Und natürlich das „Book of Days“ (1981).

Seine wichtigsten SF-Romane gehören den drei Zyklen um die Sonne an – die neue, die lange und die kurze:

DAS BUCH DER NEUEN SONNE

1) Der Schatten des Folterers
2) Die Klaue des Schlichters
3) Das Schwert des Liktors
4) Die Zitadelle des Autarchen
5) Die Urth der Neuen Sonne

DAS BUCH DER LANGEN SONNE

1) Die Nachtseite der Langen Sonne (siehe meinen Bericht)
2) Der See der Langen Sonne
3) Der Caldé der Langen Sonne
4) Der Exodus aus der Langen Sonne

THE BOOK OF THE SHORT SUN (unübersetzt)
1) On Blue’s Waters
2) In Green’s Jungles
3) Return to the Whorl

Weitere SF-Romane:
1) Frees Vermächtnis
2) Operation Ares
3) Der fünfte Kopf des Zerberus (1972)

Wichtige Fantasyromane sind:

1) [MYTHGARTHR 1: Der Ritter]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=2584 (dt. bei Klett-Cotta)
2) [MYTHGARTHR 2: Der Zauberer]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=3971 (dt. bei Klett-Cotta)
3) Soldat des Nebels (dt. bei Heyne; Band 1 eines Zyklus’ aus bislang 3 Romanen)
4) Peace (unübersetzt)

DER ROMAN

1) Der fünfte Kopf des Zerberus

Schauplatz ist ein fernes Sonnensystem, das aus zwei Planeten besteht, die von französischen Aussiedlern kolonisiert wurden. Die Franzosen rotteten die Aborigines auf Sainte Anne aus, die wahrscheinlich Gestaltwandler waren. David ist ein Junge auf dem Planeten Sainte Croix und ein Nachkomme in der fünften Generation von nicht näher beschriebenen Vorfahren (möglicherweise Aborigines), er ist aber auch ein Klon seines Vaters, eines Bordellbesitzers und Regierungsagenten.

Der namenlose Ich-Erzähler wird von seinem Vater Nummer Fünf genannt. Zusammen mit seinem Bruder David wird er von einer Menschmaschine namens Mr. Million unterrichtet, und sein Spezialgebiet ist die Biologie. Ab seinem siebenten Geburtstag bittet ihn sein Vater allnächtlich zu sich, damit er Reden halte und erzähle. Das stundenlange Erzählen raubt dem Jungen den Schlaf und führt zu immer stärker werdenden Aussetzern des Wachbewusstseins.

Als er in die Pubertät kommt, macht ihn sein Vater zu designierten Nachfolger und lässt ihn als Portier arbeiten. In dieser Funktion begrüßt er die Freier, die zu den Mädchen wollen. Eines Tages kommt ein Fremder von der Erde, der nach Madame Aubrey Veil fragt. Der Junge ist erst verdattert, denn er kennt diese Frau nicht in seinem Haus, doch John Marsch, so nennt sich der Fremde, bleibt dabei. Dunkel erinnert sich der Junge, mit seiner Tante Jeannine, der Dame des Hauses, über die Veil-Theorie gesprochen zu haben.

Dieser zufolge haben die Aborigines, lauter Gestaltwandler, die französischen Siedler gleich nach der Landung massakriert und ihre Gestalt angenommen. Den Unterschied würde man heute, 150 Jahre später, nicht mehr bemerken. Wie sich herausstellt, sind die Tante und Madame Aubrey Veil ein und dieselbe Person. Das haut ihn echt von den Socken. Welche Geheimnisse mag sein Haus noch bergen?

Er freundet sich mit dem Mädchen Phaedria an, das im gleichen Alter ist, und zusammen mit David gründen sie eine Theater AG. Schon nach der ersten Sommersaison stecken sie bis zum Hals in Schulden und suchen einen Ausweg. Sie hören von einem Spieleveranstalter am Fluss und brechen nachts bei ihm ein. Vorbei an Kampfhunden, – hähnen und -sklaven gelangen sie in ein größeres Gemach, in dem eine große Truhe steht. Bingo, der Reichtum ist zum Greifen nahe. Dumm nur, dass ein vierarmiger Zerberus die Truhe bewacht. Der Kampf mit diesem beinahe menschlichen Wesen kostet David um ein Haar das Leben. Unserem Chronisten kommt erst später – er hat eine ganze Jahreszeit vergessen – der Gedanke, dass der Wächter nur ein weiterer Klon seines Vaters ist. Wie viele mag es noch davon geben?

Gemeinsam beschließen er, David und Phaedria, dass der Herr des Hauses „Cave Canem“ sterben soll, damit sie endlich frei und reich sein können. Doch das ist nicht so einfach wie gedacht …

Mein Eindruck

Die Kultur, die Nummer Fünf auf Sainte Croix schildert, erinnert an eine Kombination aus dem Paris des Fin de siècle und aus der Antike, als Sklaven gehandelt wurden, als seien Menschen nur Tiere. Auch in Port Mimizon werden Frauen, deren Ehe gescheitert ist – etwa weil sie kein Kind bekamen – oder die keine Mitgift hatten, kurzerhand verkauft, wenn sie sich nicht gleich selbst prostituieren. Für all dies zeigt Nr. Fünf durchaus Verständnis, denn er kennt ja nichts anderes.

Das Kloning ist von seinem Vater perfektioniert worden, denn die Einnahmen aus dem Bordellbetrieb steckt er in sein Labor und seine genetischen Experimente. Denn der Vater ist sehr unzufrieden damit, dass es mit der menschlichen Zivilisation auf Sainte Croix einfach nicht vorangeht. Reformen werden abgelehnt, und es herrscht eine milde Form der Militärdiktatur (mehr dazu in „V.R.T.“). Kurzum: Die Entwicklung der Gesellschaft stagniert. Schlimmer noch: Die Bevölkerungszahl nimmt stetig ab. Daher herrscht ein Bedarf für Klone und modifizierte Menschen wie etwa Prostituierte oder Kampfsklaven.

Es ist John Marsch, der auf das grundlegende Problem hinweist, das mit verbreitetem Kloning von Menschen einhergeht: Das Phänomen der „Relaxation“, das man aus der Physik kennt, erlaubt nur eine Annäherung an den angestrebten Wert, nicht aber sein Erreichen. Selbst wenn also Nr. 5 als Nachfolger seines Vaters Unmengen von Klonen herstellen würde, könnte er nie sein menschliches Ideal erreichen. Und wozu sollte er überhaupt Klone herstellen? Nerissa und Phaedria kommen ja ungebeten zu ihm, um mit ihm „Familie“ zu spielen.

Kloning wirft ein begleitendes Problem auf: Der geklonte Mensch verfügt über die biologische Identität seines Eltern, muss also danach streben sich auf andere Weise zu individualisieren. Das gelingt Nr. 5 aber nicht, wenn ihn der Mech-Lehrer seines Vater unterrichtet und ihn sein Vater ständig abhört. Im Gegenteil: Selbst die Identität und das Bewusstsein, das er mit sieben Jahren erlangt hat, werden permanent erodiert, bis sein Zeitbewusstsein so durcheinander ist, dass er ganze Jahreszeiten „vergisst“. Schließlich glaubt er, sein Leben nur zu simulieren, so wie Mr. Million einen Menschen simuliert – oder ein Aborigine von Sainte Anne einen Siedler.

Die ganze Novelle liest sich spannend, anrührend und wunderlich bizarr, mit herrlich sinnlichen Einfällen, wie ich sie einem amerikanischen Autor niemals zugetraut hätte. Und wer die schwüle Atmosphäre des Pariser fin de siècle mag, der ist hier genau richtig.

2) „Ein Märchen von John V. Marsch“

Dies ist der Versuch des im ersten Teil aufgetauchten Anthropologen John V. Marsch, die Kultur der Ureinwohner und deren Beziehung zur Natur zu rekonstruieren. Die Grenze zwischen Real- und Traumwelt ist hier durch die Form des Mythos aufgehoben.

Es ist an der Zeit, dass Wispernde Zedernzweige im Land der Gleitenden Steine ihr Kind zur Welt bringt. Ihre Mutter hilft ihr dabei. Doch zu ihrer Überraschung sind es zwei Jungen, die ihrem Bauch auf verschiedene Weise entgleiten. John (= Mann) Ostwind kommt mit dem Kopf voran zur Welt, doch der zweite mit den Füßen, so dass er den Namen John Sandwanderer bekommt. Als sie das Blut der Neugeborenen im Fluss abwaschen wollen, ertrinkt Zedernzweiges Mutter und nimmt Ostwind mit.

Sandwanderer wächst zu einem starken, listigen Jäger heran. Eines Tages beschließt es, den Priester in seiner Höhle in den Bergen aufzusuchen. Doch die Höhle ist leer, und als sich Sandwanderer müde niederlegt, träumt er von seinem verlorenen Bruder Ostwind. Dieser ist der Lehrling des Priesters Letzte Stimme und muss viele Aufgaben erfüllen.

Sobald Sandwanderer wieder erwacht ist, jagt er ein Zeckenreh. Als er es endlich erreicht, ist es bereits dunkel, und die Schattenkinder machen ihm die sicher geglaubte Beute streitig. Nach einigem Streit nehmen ihn die Schattenkinder in ihren Kreis auf und geben ihm von dem Reh zu essen. Nun sind sie seine Freunde, und er kann sie mit einem besonderen Lied rufen, wenn er in Not ist. Kaum färbt Purpur den Horizont der Nacht, verschwinden sie wieder.

Sandwanderer versucht es noch einmal mit der Höhle des Priesters, die in einer Schlucht liegt. Doch er trifft lediglich eine junge Mutter, die wie er den Stamm verloren hat. Sie lieben sich und beschaffen sich Essen. In der Nacht ereilt Sandwanderer der Ruf der Schattenkinder, und er folgt ihm. Sie sind in die Falle der Marschmenschen geraten. Diese werden von dem Schamanen Letzte Stimme angeführt, dessen Schüler sein Bruder Ostwind ist. Auch Sandwanderer und die junge Mutter geraten zusammen mit den Schattenkinder in die Gefangenschaft.

Die Religion der Marschmenschen ist seltsam und tödlich. Sie glauben, die Sterne seien böse und sie müssten ihnen Opfer bringen, die den Sternen besänftigende Botschaften von ihren Untertanen bringen sollen. In Wahrheit dienen die Opfer lediglich dazu, die Marschmenschen zu ernähren … Als Sandwanderer seinem Bruder sagt, dass die Sternen die Opfer nicht annehmen würden, schlägt dieser ihn nieder.

Aber es gibt einen Ausweg aus der tödlichen Sandgrube, wo die ausersehenen Opfer auf ihr Ende warten. Denn das letzte der Schattenkinder, das von sich behauptet, von den Sternen zu stammen, verfügt über die Magie, die Gedankenbarriere, die die Schattenkinder gegen die Sternenmenschen errichtet haben, niederzureißen. Schon bald fallen die Sterne, einer nach dem anderen – und dies bedeutet das Ende von Letzte Stimme und seiner Religion.

Doch noch einmal muss Sandwanderers Schicksal eine Wendung nehmen, bevor die schwere Zeit der Langen Träume vorüber sein kann …

Mein Eindruck

Dr. Aubrey Veils (s. o.) Hypothese von den Ureinwohnern als Gestaltwandlern ist hier im Mythos, den John Marsch gestaltet, in eine Erzählung umgesetzt. Gestaltwandler, Traumzeit, Gedankenmacht, Magie – all dies sind Dinge, die dem Ureinwohnerdenken Australiens völlig natürlich zu Eigen sind. Nur so ist es ihnen möglich, in einer Welt der Technologie ihre eigene Identität und ihre Kultur zu bewahren. Die Aborigines sind den Bewohnern des Planeten Sainte Anne, der Schwesterwelt Sainte Croix‘, sehr nahe. Wie wichtig kann also Technik sein?

Die zentrale Frage, die Wolfe außerdem mit dieser Erzählung aufwirft, lautet, wie groß die moralische Kluft zwischen den Abkömmlingen der Sternenmenschen, den Schattenkindern, und den Ureinwohnern Sainte Annes ist, den Marschmenschen wie Ostwind und den Bergmenschen wie Sandwanderer. Dürfen die Marschmenschen ohne weiteres Angehörige einer anderen menschlichen Spezies, nämlich die Schattenkinder, essen? Selbst wenn sie dadurch ihrem Gott dienen? Wie un-menschlich muss eine andere Rasse sein, dass dies ohne Skrupel erlaubt ist? Einige Menschen der Erde finden nichts dabei, Hunde zu essen, für andere ist das Schwein ebenso wie der Hund tabu.

Die dritte Frage gilt der Identität. Wenn in einem Zwillingspaar wie Ostwind und Sandwanderer der eine im Traum die Gedanken des anderen erfahren kann, die beiden aber dennoch Täter und Opfer sind, wie weit kann es dann mit der biologischen Identität der Körper her sein? Ist die gesellschaftliche Identität nicht viel wichtiger, weil sie den Geist formt? Was würde geschehen, wenn die beiden den Körper oder den Geist tauschten, wie es ganz am Schluss geschieht?

Man sieht also, dass diese Erzählung zwar in der Form der Legende daherkommt, dabei aber doch grundlegende Fragen stellt, die wir uns auch auf der Erde stellen. Und die Experimente, die der Autor anstellt, sind recht erstaunlich, erschüttern sie doch stillschweigende Annahmen, denen jeder von uns folgt, ohne sie je wahrzunehmen, geschweige denn, sie infrage zu stellen.

3) „V.R.T.“

Hier erreicht die Suche nach der persönlichen und kulturellen Identität ihren Höhepunkt. John V. Marsch ist nun Häftling in einem Gefängnis auf Ste. Croix. Man beschuldigt ihn der Spionage für die Schwesterwelt Ste. Anne und des Mordes an dem Vater von Nr. 5 in Teil 1, er findet sich in der Albtraummaschinerie der Staatsgewalt wieder.

Dennoch bietet „V.R.T.“ faszinierende Lektüre auf mehreren Ebenen. Der Gefängnisbeamte, in dessen Obhut sich Marsch nun befindet, soll die Spionageanklage anhand der Dokumente belegen, die man beim Gefangenen beschlagnahmt hat. Es handelt sich um ein Reisetagebuch, ein Gefängnisjournal und Tonbandaufnahmen, die transkribiert wurden.

In seinem Bemühen um eine Stelle als Anthropologe auf der Erde, führt Marsch auf Ste. Anne Interviews mit alten Bewohnern des Planeten, die sich noch an die ausgerotteten Annesen, also die Ureinwohner oder Aborigines, erinnern. Neben allerlei Jägerlatein erfährt er auch von einer heiligen Höhle der „Abos“, die in den Bergen befinden soll, wo der Fluss Tempus („Zeit“) entspringt. Mit dem Mischling V. R. Trenchard (= V.R.T.) bricht Marsch Anfang zu seiner Forschungsreise auf.

Sein Reisetagebuch liest sich anfangs exotisch und spannend wie ein Roman von H. Rider Haggard („Die Minen von König Salomon“, „Sie“), denn V.R.T. steckt voller Wissen über die Welt der Annesen, das ihm seine Mutter überliefert hat. Diese ist schon längst wieder in der „Weite der Leere“, der menschenleeren Steppe, verschwunden. Doch in der Mitte des Reisetagebuch-Fragment kommt es zu einem Wechsel im Stil, und auf einmal sagt der Schreiber, dass er kaum den Stift halten kann.

Kurz zuvor haben wir aus den Aufzeichnungen des Gefangenen Nr. 143 (Marsch?) erfahren, dass auch er den Stift kaum halten kann. Sein Stil ist auch kaum mit dem eines Wissenschaftlers von der Erde vereinbar, und er erwähnt ständig seine Mutter und seinen Vater, ja, er erwähnt sogar detaillierte Unterschiede zwischen dem Freien Volk der Berge und dem Volk der Wiesenmorre im Flachland. Woher hat er diese Kenntnisse?

Zusammen mit dem Wissen, dass „Marsch“ drei Jahre beim Freien Volk der Annesen verbracht hat – er war insgesamt fünf Jahre auf Ste. Anne – , müssen wir zum Schluss kommen, dass aus „Marsch“ unversehens V.R.T. geworden ist. Das heißt, derjenige, der auf Ste. Anne starb – wohl an einem infizierten Katzenbiss -, war gar nicht V.R.T., sondern vielmehr John Marsch. V.R.T. hat in einem Akt der Annesen-Mimikry dessen Identität übernommen. Doch zu welchem Zweck?

Mein Eindruck

Wie der gesamte Roman ist auch „V.R.T.“ vielschichtig in seinem ungeordneten Aufbau und erfordert hohe Konzentration beim Lesen. Oftmals hatte ich das Gefühl, dass sich viel mehr abspielt, als ich erfassen konnte, und mehrmaliges Lesen enthüllt neue Geheimnisse, weitere Bezüge und Labyrinthe, aber dennoch herrscht dahinter eine bemerkenswerte Logik und Stringenz.

Wie schon in der ersten Novelle des Zyklus‘ stellt der Autor die Frage nach der Identität des Menschen, nach Menschentum und Menschlichkeit. Er fordert uns heraus, den Unterschied zwischen John Marsch und V.R.T. zu erkennen. Auf diese Weise hinterfragen wir unsere eigene Identität, als blickten wir in einen Spiegel. Raffiniert wie der ganze Zyklus.

Das Nachwort von Joan Gordon

In der Taschenbuchausgabe der „Heyne Bibliothek der SF-Literatur“ findet der SF-Fan eine ausgefeilte Interpretation und kritische Würdigung aller drei Novellen, angefertigt von Joan Gordon. Ich habe mich in meinen Deutungsversuchen davon anregen lassen, und will dies auch gar nicht verheimlichen. Um jedoch noch viele weitere Hinweise zu den Bedeutungsschichten der drei Novellen zu erhalten, sollte man diesen Essay lesen. Warum zum Beispiel spielt die Zahl 5 – römisch V – eine gemeinsame Rolle in den drei Geschichten?

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Yoma Cap ist leicht und flüssig zu lesen, die Formulierungen sind verständlich und nachvollziehbar, ohne dass ein Stirnrunzeln aufkäme. Druckfehler halten sich sehr stark in Grenzen, wie überhaupt in allen Bänden der Bibliothek der SF-Literatur. Leider fehlen in dieser Ausgabe die Illustrationen zu „V.R.T.“, die man nur im [„Heyne SF Jahresband 1983“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=8202 findet.

Unterm Strich

Der sprachliche Stil ist ausgezeichnet, und viele Kritiker bezeichnen dieses schwierige Werk als den wichtigsten SF-Roman der 1970er Jahre. Aber man sollte sich schon auf ein wenig Gedankenakrobatik einlassen, wenn man sich für dieses Buch interessiert. Eigentlich ist es kein Roman aus einem Guss, sondern ein Novellenzyklus aus drei Teilen.

Wie ich herausgefunden habe, kann man die drei Teile durchaus in umgekehrter Reihenfolge lesen, ohne Erkenntnisverluste zu erleiden. Ich habe erst Nr. 3, dann Nr. 1 und zuletzt Nr. 2 gelesen. Es hilft aber, könnte ich mir vorstellen, zuerst das „Märchen“ zu lesen, um die Aborigines kennenzulernen, bevor man mit John Marsch aufbricht, um diese schwer zu findenden Ureinwohner zu suchen.

Auf diese Weise schließt sich auch ein Kreis im Hinblick auf den Schauplatz. Der Zyklus beginnt auf Sainte Croix, wo Nr. 5 aufwächst und zum Vatermörder wird. Er begegnet John Marsch zweimal, in der Mitte und am Schluss. Diesen John Marsch beschuldigt er, ein Gestaltwandler von Sainte Anne zu sein. Das könnte mit zu dessen Verhaftung beigetragen haben, deren Folgen wir in „V.R.T.“ erfahren und geschildert bekommen.

Marsch sitzt nach seinen fünf Jahren auf Sainte Anne wieder im Kerker von Sainte Croix ein. Was soll man bloß mit ihm anfangen, lautet die Frage des Gefängniskommandanten, der Marschs Unterlagen sichtet. Das interessiert uns weniger als die Frage, wer dieser „John V. Marsch“ in Wahrheit ist – ein Mensch oder ein Gestaltwandler? Und welcher moralische Maßstab wäre im jeweiligen Fall anzulegen? Die Frage ist die gleiche wie jene, die sich Ostwind und Sandwanderer beziehungsweise Nr. 5 und sein Vater stellen.

Je tiefer man gräbt, desto mehr Fragen wird man in diesem Buch finden. Das ist stets ein Zeichen von Qualität. Und das Graben belohnt stets den, der sich dafür die Mühe macht.

Originaltitel: The Fifth Head of Cerberus, 1972;
208 (engl.) bzw. 319 (dt.) Seiten
Aus dem US-Englischen von Yoma Cap
Besprochene Auflage: November 1992
ISBN-13: 978-3453045149

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