Wolfgang Jeschke (Hg.) – Fernes Licht. Die besten Erzählungen aus 40 Jahren Heyne Science Fiction

Preisgünstiger Auswahlband: klassische Science-Fiction-Erzählungen

Zum vierzigjährigen Jubiläum der Heyne-SF-Reihe gab Wolfgang Jeschke diesen Auswahlband zu einem besonders günstigen Preis heraus: über 1000 Seiten für nur 15 D-Mark. Allerdings fand sich darin kein einziger Beitrag außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums. Das finde ich sehr schade.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim Heyne-Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die Einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

Die Erzählungen

1) Nelson Bond: Der Sokrates vom Rübenfeld (The Socrates of the South Forty, 1949)

Als Blakesons Wagen schlappmacht, hält er direkt vor einem Rübenfeld mitten in der Pampa. Er fragt Hank, den am Zaun neben der Straße stehenden Bauern, nach dem Weg zur nächsten Reparaturwerkstatt. Der fragt ihn, ob er schwimmen könne. Wieso? Weil die Brücke über den breiten Fluss da vorne kaputt sei und er, Blakeson, schwimmen müsse – oder 16 Meilen Umweg laufen. Blakeson neigt dazu, zu verzweifeln, aber Hank schaut sich den Motor kurz an, macht was und die Karre startet wieder!

Wie sich bei einem Besuch an der Midland-Uni, wo Blakeson PR-Berater werden soll, zeigt, ist „Logik-Hank“ ein Genie. Aber leider hat er das Handicap, dass er weder schreiben noch lesen kann, also weigert sich der Dekan, ihn zuzulassen. Doch Helen, dessen faszinierte Tochter, ermutigt Blakeson, es weiter zuversuchen. Hank findet bei Blakeson Obdach, und als sie den Casino Clubbe in der Vorstadt besuchen, hat Hank „so ein Gefühl“, als ob eine ganz bestimmte Zahl, die 19, kommen müsste – und mit dem Gewinn würde er die Bank sprengen. Es kommt anders, aber nur durch einen Betrug.

Langer Rede kurzer Sinn: Hank beantwortet selbst die schwierigsten Fragen mit seinem „Gefühl“ für die richtige Logik. Und zwar solange, bis er den Nobelpreis bekommt. Aber als er Helen heiraten soll, scheint sein Verstand erstmals auszusetzen …

Mein Eindruck

Der Autor ist als Schalk bekannt, der auf humorvolle Weise seine satirische Bissigkeit verbirgt. Hier nimmt Bond den Dünkel der akademischen Gemeinde auf die Schippe. Newton – nie gehört, und wer soll dieser Mendel noch gleich sein? Hank hat zwar keine Bildung, kann aber trotzdem Logik und ihre Regel auf alle möglichen Phänomene anwenden, von der Vererbung bis zur Sternenbewegung.

Glücklicherweise geht das nicht ewig so weiter, denn bei der Anwendung von Vorurteilen hört die Logik bekanntlich auf. Aber warum Hank ausgerechnet Chormädchen ablehnt, bleibt unersichtlich. – Die sprachliche Qualität des Textes entspricht den fünfziger Jahren. Dass ein „Monatswechsel“ keine Regelblutung, sondern ein Scheck ist, war mir noch bekannt. Aber was Hank mit „sich ins Geschirr legen“ sagen will, ist selbst einem an Karl May geschulten Leser inzwischen unverständlich.

2) Ray Bradbury: Ylla (February 1999: Ylla; aus „The Martian Chronicles“, 1950)

Unter den marsianischen Ureinwohnern sind Yll und Ylla K als Ehepaar bekannt, das schon ewig in Eintracht zusammenlebt. Doch eines Tages hat Ylla einen seltsamen Traum: Ein glänzendes Raumfahrzeug fällt aus dem schwarzen Himmel in das Grüne Tal und dieser Kapsel entsteigt ein Mann, der schwarzes Haar, blaue Augen und weiße Haut trägt. Er nennt sich Nathaniel York und sagt, er komme von der ERDE. „Was für ein blühender Unsinn!“ schimpft Mr K, als Ylla ihm von diesem Traum erzählt. „Und auf dem dritten Planeten kann sowieso kein Leben existieren – der Gehalt an Sauerstoff ist viel zu hoch!“

Doch weitere Träume finden ihren Weg in Yllas Bewusstsein, und sie sind nicht mehr so harmlos. Mr K wird eifersüchtig, denn Ylla hat im Traum mit Nathaniel York geschäkert und gelacht. Als sie ihm im Traum mitteilt, wo und wann die Landung der Erdlinge erfolgen soll, lädt er sein Luftgewehr mit zwei Giftbienen. Eine Lüge hält Ylla in ihrem Heim fest, während er vorgibt, auf die Jagd zu gehen.

Dann fallen Schüsse im grünen Tal, erst einer, dann noch einer. Nathaniel York kommt nie wieder, um Ylla im Traum zu besuchen …

Mein Eindruck

Dies ist eine der schönsten Erzählungen in dem verfilmten Episodenroman „Die Mars-Chroniken“ (1950). Die Beschreibungen der häuslichen Details einer fremdartigen, weil marsianischen Kultur zeugen von Einfallsreichtum, das Paar verhält sich hingegen wie ein irdisches, wobei die Frau immer die zweite Geige spielt – eben die fünfziger Jahre.

Typisch für Bradbury ist hingegen die resignative, nostalgische Melancholie, die den Ausgang der Handlung kennzeichnet. Wo zunächst illusorische Hoffnung vorherrscht, schlägt sie nach einer Auseinandersetzung in Vergessen und Trauer um. Die Chance für ein anderes Morgen, das der sterbenden Mars-Zivilisation neues, frisches Leben einhauchen würde, ist zunichtegemacht.

Dies ist eine Warnung für die Erdlinge selbst, sich nicht in alten Denktraditionen und Vorurteilen zu verrennen, sondern offenzubleiben für das Andere, um die Chance zu wahren, mit dem konstanten Wandel Schritt halten zu können. So hält sich die Melancholie und Nostalgie, die Bradbury kennzeichnet, die Waage mit der Hoffnung auf einen Wandel zum besseren. Aber Bradbury kann auch ganz schön sarkastisch sein, wie seine berühmte Erzählung „The Veldt“ belegt. Darin lassen zwei kleine Kinder ihre Eltern in der afrikanischen Steppe von wilden Löwen fressen…

3) Donald A. Wollheim: Das Ding (The Rag Thing)

Mrs Larch ist nicht die reinlichste Vermieterin, und so kommt es, dass sie in dem Zimmer, das ihre Untermieter bewohnen, einen schmutzigen Lumpen hinter dem Dampfheizkörper vergisst. Es ist nicht irgendein Lumpen. Dieser hat Blut aufgesaugt von dem Fleisch, das sie daraufgelegt hatte. Während der Heizperiode, die plötzlich Mrs Larch im März abrupt beendet, entwickelt der Lumpen ein Eigenleben. Eines Tages findet sie ihren Untermieter Gorman erstickt vor …

Mein Eindruck

Der Alltag hält unzählige Formen von Schrecken bereit, und das Lumpending ist nur einer davon. Wollheims bekannte Kurzgeschichte (4-5 Seiten) ist zwar nicht der Knaller, aber detailgenau und stimmungsvoll geschrieben.

4) Philip José Farmer: Weitersegeln! Weitersegeln!

Es ist ungefähr das späte 15., frühe 16. Jahrhundert in einer seltsamen Parallelwelt. Admiral Kolumbus segelt gen Westen, um von Spanien aus nach Cipangu (Japan) zu gelangen, da ja jeder weiß, dass die Welt eine Kugel ist. Ein irischer Mönsch, der dem alchimistischen Orden des Roger Bacon angehört, hält eine Funkverbindung mit seinem Bruder, der auf Gran Canaria mit ihm funkt. Leider gibt es jede Menge Störungen in der Verbindung, weil der blutrote leuchtende Mond noch nicht untergegangen ist.

Nach einem theoretischen Gespräch mit zwei Seeleuten über die Cherubim, die die Funkverbindung herstellen, werden am Morgen Riesenvögel gesichtet: ein sicheres Zeichen für die Nähe von Land, freuen sich die schon wochenlang segelnden Matrosen und lassen den Admiral hochleben. Doch dann stört ein merkwürdiges Geräusch die Freudenfeier. Es klingt, als würde eine riesige Saite angerissen. Der Lärm wird unerträglich, und so manche brave Teerjacke macht sich in die Hose. Umkehr ist unmöglich. Während der irische Rogerianer seinen Bruder in Gran Canaria verständigt, segeln Santa Maria, Pinta und Nina immer weiter an den Rand der unbekannten Gefahr …

Mein Eindruck

Parallelwelten mit einem alternativen Geschichtsverlauf waren nichts Neues, aber diese Story nimmt bereits das inzwischen weitaus berühmtere Werk „Ein Logesang für Leibowitz“ (1955-57) von Walter M. Miller vorweg, indem Farmer hier Religion und Wissenschaft nicht als Gegensatz präsentiert, sondern als wechselseitige Ergänzung. Wissenschaft und Technik werden einfach als Alchimie aufgefasst und mit religiösem Inventar wie etwa Engeln (Kurieren) erklärt. Erfindungen von Ketzern wie Roger Bacon und den Katharern (einmal wird Carcassonne erwähnt) sowie von einem Mann aus „Gotham“ sind keineswegs als Teufelswerk verbannt worden, sondern unter der Ägide der Rogerianer als nützliche Technik im Einsatz. Der Funker in Gran Canaria meldet sogar Luftballons der Türken vor Wien.

Soweit das irdische Inventar. Doch wie ist es um das kosmische bestellt? Der Mond ist blutrot und möglicherweise von den Portugiesen besetzt, denn diese funken den Spaniern um Kolumbus dazwischen. Am Schluss trifft die Flotte des Admirals auf ein mysteriöses Phänomen, das alles Mögliche sein könnte: der Rand der Weltenscheibe (siehe „Discworld“) oder ein Loch in eine Hohlwelt, wie etwa bei „Arthur Gordon Pym“ von Poe. Riesige weiße Vögel, die wie Albatrosse aussehen, stoßen allerdings nicht das unheilverkündende „Tekeli-li!“ aus, das wir aus Poes und Lovecrafts Erzählungen kennen.

Wer sich mit der phantastischen Literatur und der Religions- und Kulturgeschichte auskennt, findet in der Kurzgeschichte jede Menge Witze und humorvolle Anspielungen.

5) Alfred Bester: Geliebtes Fahrenheit (Fondly Fahrenheit, 1954)

Wie schon in „Demolition“ greift der Autor ein psychologisches Motiv auf: Paranoia und Projektion, also die Übertragung des eigenen Wahns auf einen anderen. Zunächst denkt der Leser, er habe es mit drei Figuren zu tun, dann sogar mit vier, aber das stimmt nicht. Es geht immer nur um zwei Figuren: um James Vandaleur und seinen „vielseitig anwendbaren“ Androiden, der sich als wahrer Killer herausstellt. Auf dem Planeten Paragon III ermordet er sogar ein kleines Mädchen, danach eine Erpresserin, schließlich zwei Studenten, die ihm auf die Schliche kommen. Doch der Android ist alles, was Vandaleur geerbt hat und noch besitzt. Er will nicht von ihm lassen.

Doch was stimmt nicht mit dem Androiden? Anscheinend entspricht seine ursprüngliche Programmierung den drei Asimovschen Gesetzen der Robotik, doch unter einer bestimmten Bedingung versagen die entsprechenden Schaltkreise: Wenn die Temperatur 90° Fahrenheit übersteigt. Dann beginnt er zu singen und zu tanzen, dass einem angst und bange wird. Das Ende des Androiden in einem brennenden Schilfgürtel ist höchst bizarr. Aber ist noch die Frage, ob sein Herr, James Vandaleur, nicht ebenfalls eine Schraube locker hat.

Der Grund, warum diese Story so verwirrt, ist der perfide Umstand, dass die Identität dessen, der gerade ICH sagt, wechselt: mal ist es Vandaleur, dann wieder sein Android. Projektion, Q.E.D. Am besten liest man die Geschichte mehrmals.

6) Arthur C. Clarke: Die nächsten Mieter (The next tenants, 1957)

In seiner Kneipe in England erzählt Harry Purvis, was er in seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Atombombenversuchen im Pazifik erlebte. Dort traten sich ja Briten und Russen als Beobachter der amerikanischen Forscher um Edward Teller auf die Füße. Auf einem der Atolle des Bikini-Archipels stößt Harry eines Tages auf ein Wasserrad in einem Bach, und es wurde nicht von Menschen erbaut, wie er herausfindet.

Riesige Termitenhügel stehen mitten im Urwald um eine Holzhütte herum, in der der japanische Biologie-Forscher Versuche mit den Termiten unternimmt. Nachdem Purvis dem Japaner, dessen Eltern 1945 in Nagasaki umkamen, mehrfach geholfen hat, erhält er das Privileg, dessen neueste Entdeckung gezeigt zu bekommen: Die Termiten sind ja intelligente Staaten bildende Kerbtiere – und keineswegs Ameisen. Takato hat ihnen gezeigt, wie man einen Schlitten baut. Irgendwie müssen die radioaktiven Isotope in der Luft sie verändert haben: Sie beginnen, eigene Schlitten zu bauen …

Die Evolution soll weitergehen, hofft Takato, wenn schon nicht die des Menschen, so doch die seiner Konkurrenten, der Termiten. Als Nächstes will er ihnen das Feuer bringen …

Mein Eindruck

Diese typische Clarke-Erzählung baut vor einem naturwissenschaftlich fundierten Hintergrund eine Spekulation auf, die als Warnung dienen soll. Diese verfehlt ihre Wirkung nicht, und Ende der 50er Jahre, als der nukleare Wettlauf den Höhepunkt seines Wahnsinns erreichte, drangen immer mehr Wissenschaftler auf einen Rüstungsbegrenzungsvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion. Die Beschreibung der Ameisen ist übrigens zutreffend, und der Vergleich der riesigen Hügel mit Wolkenkratzern in New York City keineswegs an den Haaren herbeigezogen.

7) Poul Anderson: Nenn mich Joe (Call me Joe, 1957)

Die Menschen erforschen den Riesenplaneten Jupiter. Auf dessen Oberfläche herrscht unter den Gaswolken ein extrem hoher Druck, unter dem sich die bekannten Elemente wie Methan und Wasserstoff auf drastische Weise verändern. Doch wie kann man diese menschenfeindliche Gegend erkunden, wenn die Technik komplett versagt? Deshalb hat die bionische Wissenschaft einen Pseudojupitermenschen entwickelt, und nach zahlreichen Fehlschlägen haben sie das optimale Modell geschaffen. Sie nennen ihn Joe. Und er kennt sich selbst nur unter diesem Namen.

Joe ist ein grauer, sehr widerstandsfähiger Zentaur und weiß sich der Raubtiere des Jupiter durchaus zu erwehren. Wie bei Frankensteins Ungeheuer wurde seine Intelligenz aber lediglich angelegt – sie anzuwenden erfordert einen geistigen Steuermann. Hier kommt Edward Anglesey ins Spiel. Ed ist ein von der Brust abwärts gelähmter Telepath, der an Bord eines kleinen Jupitermondes lebt, den man zu einer Forschungsstation ausgebaut hat. Mit Hilfe seiner psi-verstärkenden Technik kann sich Ed ins Bewusstsein Joes hineinversetzen und ihn sich intelligent verhalten lassen.

Allerdings gibt es in letzter Zeit ein technisches Problem. Die K-Röhre (Transistoren sind noch nicht erfunden), die seine Gedanken bei der Psi-Kommunikationen verstärkt, brennt immer öfter durch. Die Ursache ist unbekannt. Deshalb hat die Station den Psitechniker Jan Cornelius angefordert. Cornelius setzt sich mit dem Problem auseinander, findet aber keinerlei technischen Fehler. Die Ursache vermutet er im psychologischen Bereich. Die Überlastung der K-Röhre könnte durch eine Art negative, sich verstärkende Rückkopplung herbeigeführt werden. Doch welche Faktoren sind dafür verantwortlich?

Zunächst wendet Cornelius simple Freudianische Psychotheorie an, denn von „Analyse“ kann bei einem so cholerischen Menschen wie Anglesey keine Rede sein. Der Widerspruch zwischen Joes perfektem, starkem Körper und Eds schwachem Krüppelkörper könnte eine Rolle spielen. Aber Ed sagt, er finde es herrlich, Joe sein zu dürfen. Was er sich wünsche, seien Gefährten. Diese wurden bereits vorbereitet und sollen nun zur Oberfläche geschickt werden.

Als Cornelius sich in dieser entscheidenden Phase des Projekts mit einem Psiprojektor in die Kommunikation zwischen Ed und Joe einklinken kann, führt er eine Krise herbei, die endlich zur gesuchten Erkenntnis führt, aber gleichzeitig für Ed eine Katastrophe bedeutet. Und doch ist nichts verloren, wie der Forschungsleiter von einem aufgeregten Cornelius erfährt: Dies ist nicht das Ende von Ed und Joe, sondern der Anfang von Joe Anglesey …

Mein Eindruck

Poul Anderson schafft es immer wieder, seine unmöglichen Konstellationen von problemen zu einem positiven, menschlich zufriedenstellenden Ende zu führen. So auch hier, wenn die altbekannte Horrorstory von Frankensteins Ungeheuer zu einer Vision gewendet wird, die nicht nur die unmittelbar Beteiligten befriedigt, sondern auch der Erde selbst eine verheißungsvolle Zukunftsperspektive bietet.

Denn wenn nun Krüppel und alte Menschen und Behinderte eine zweite Chance benötigen, brauchen sie nicht lange zu suchen: Sie lassen ihren Geist in einen von Joes Verwandten übertragen. Die Übertragung ist zwar etwas völlig anderes als das Verschicken einer E-Mail, wie man an Ed Angleseys Beispiel sieht, aber sie eröffnet ein zweites, völlig andersartiges Leben, voller Vitalität und Schönheit.

Der Text ist zwar relativ leicht verständlich, richtet sich aber dennoch an Leser, die etwas mit Physik, Chemie und Psychologie anfangen können. Ohne diese Wissensbereiche wäre die Erzählung nur romantisches Wischiwaschi, aber so ist sie eine mit menschlichen Dimensionen ausgestattete wissenschaftliche Vision. Sehr amüsant fand ich dabei die King-Kong-Allüren, die Ed seiner „Marionette“ Joe eingibt. In den Anspielungen auf das Elisabethanische Zeitalter (Prosepero, Caliban und andere Heroen) erweist sich Anderson als ausgezeichneter Shakespearekenner.

8) J. G. Ballard: Die 1000 Träume von Stellavista (1962)

Howard und Fay Talbot sind seit fünf Jahren ein halbwegs glücklich verheiratetes Ehepaar, als sie sich in Vermilion Sands in der Siedlung Stellavista ein Häuschen suchen. Er ist Anwalt und sucht ergiebige Klienten. Die vormals lebhafte kleine Kolonie von Stellavista weist noch ein paar betuchte Bewohner auf, die die Rezession übrig gelassen hat. Nach mehreren abgelehnten Kandidaten fällt ihre Wahl auf Haus Nr. 99.

Das Haus soll eine Frau namens Emma Slack als letzte bewohnt haben, sagt der Makler. Es ist geformt wie eine Orchidee, unverkennbar weiblich. Dass es wie alle Häuser in Stellavista psychotropisch ist, spielt keine Rolle, bis der Makler erwähnt, dass Emma Slacks Pseudonym Gloria Tremayne lautete. Da schrillen bei Howard die Alarmglocken. Denn vor zehn Jahren war er Assistent der Verteidigung der Tremayne und verliebte sich in jene Diva, die angeblich ihren Mann ermordet haben sollte. Dieser Mann, Miles Vaden Starr, hatte das Haus in einem recht exzentrischen Stil erbaut.

Psychotropische Häuser geben, wie der Name schon sagt, die Stimmung und Erinnerungen ihrer Bewohner wieder. Sie passen sich an, wiederholen aber auch Erlebtes. Und da sich hier tatsächlich mal ein Ehedrama und ein Mord ereignet haben, sehen sich fay und Howard schon bald in einem düsteren, unheimlichen Haus wieder, das offenbar darauf aus ist, jene Tragödie an ihnen zu wiederholen …

Mein Eindruck

Ballards bekannte New-Wave-Erzählung aus dem Stellavista-Zyklus vereint seine beiden Lieblingsthemen: die Vereinigung bzw. Auseinandersetzung von Mensch und Technik (vgl. „Crash“) einerseits sowie die Variation bekannter Motive und Themen. Diesmal sind dies die Motive des Gespensterhauses und des Gattenmordes. Ballard kannte sich bestens in der griechischen Mythologie aus, und darin ist allenthalben von Gattenmord die Rede (z.B. bei Medea).

Das Gespensterhaus verselbständigt sich. Es verformt sein „Plastex“, bis seine Komponenten zu einem Mordwerkzeug werden. Dieses Haus ist kein Heim, sondern eine Tatwaffe. Das merkt Fay schnell und zieht fluchtartig aus. Ihr Glück, denn kurz darauf richten sich die Agressionen des Hauses auf den verbliebenen Bewohner – wenn das Haus Gloria entspricht, so ist Howard das natürliche Opfer der Wiederholung ihrer Tat. Die Ironie: Seinerzeit paukte Howard sie raus, so dass sie nicht schuldig gesprochen wurde. Nun sieht ihre Dankbarkeit jedoch lebensbedrohlich aus.

Es kommt zu einem fulminanten Showdown, bei dem Howard seine ganze Entschlossenheit und seinen Einfallsreichtum aufbieten muss, um der – geradezu mütterlichen – Falle zu entrinnen. Es ist wie eine Wiedergeburt. Doch noch ist das abgeschaltete Haus nicht völlig tot. Es ist nur statisch. Howard ist in Versuchung, es nochmals mit der Persönlichkeit seiner Exgeliebten aufzunehmen. Ganz so, als sei er nun vollends vom Geist eines gewissen Miles Vander Starr.

9) Gordon R. Dickson: Computer streiten nicht (Computers don’t argue; 1965)

Das unbescholtene Buchclubmitglied Walter A. Child wird Opfer einer auf Computerakten basierenden Verwechslung. Plötzlich ist er nicht nur wider Willen ein angeblich säumiger Zahler, sondern auch noch der Kidnapper eines gewissen Robert Louis Stevenson! Die Computer-gestützten Prozesse nehmen ihren Lauf: Er wird verhaftet, verurteilt, in den Todestrakt verlegt. Die in letzter Minute vom Gouverneur unterzeichnete Begnadigung wird von den Computern wegen eines Formfehlers zurückgeschickt und verschleppt.

Mein Eindruck

Die menschliche Demenz hat ebenso wie die rechtliche Enteignung durch die Computersysteme ihren befürchteten Höhepunkt erreicht. Selbst ein Unschuldiger hat keine Chance mehr, dem System zu entgehen. Ganz egal ob man nun ein Normalsterblicher oder der Gouverneur eines Bundesstaates ist – vor der heiligen Software sind alle gleich. Eine bittere Satire auf eine Unsitte, die heute bereits alle hilflos hinzunehmen scheinen. Der Computer, dein Freund und Helfer? Besser noch mal drüber nachdenken.

10) Stephen Goldin: Träum süß, Melissa (Sweet dreams, Melissa; 1968)

Der Gefechtscomputer MLSA-5400 ist mit der Persönlichkeit eines sechsjährigen Mädchens gekoppelt worden. Doch „Melissa“ hat ein Problem: Die Opferzahlen hält sie für echt statt simuliert. Ihre Betreuer veranlassen eine Eigenanalyse – mit wenig Erfolg. Der zweite Fehler: Nun werden erstmals Datenbanken angeschlossen, damit sie ihre Eigenanalyse mit umfassenden Daten durchführen kann. Melissa ertrinkt in der Datenflut …

Mein Eindruck

Die Kurzgeschichte ist eine deutliche Anklage gegen den Vietnamkrieg um 1968 und gegen den Versuch, Computersysteme einzusetzen. Die Spekulation lautet, dass ein IT-System mit eigenständiger Persönlichkeit nicht nur nicht funktionieren KANN, sondern auch nicht DARF, weil dann nämlich die Persönlichkeit moralisch missbraucht wird.

11) Larry Niven: Wechselhafter Mond (Inconstant Moon, 1971)

Der freie Schriftsteller Stan ruft nachts um zwölf seine Freundin Leslie, die Astronomin, in sLos Angeles an, um zu fragen, ob sie das Gleiche beobachtet wie er: den unnatürlich hell strahlenden Mond über dem Pazifik. Auch sie wundert sich über dieses Phänomen, und als Astronomin weiß sie ja, woher der Glanz des Mondes kommt: von der Sonne, die er reflektiert. Was also ist mit der Sonne passiert?

In dieser Weltuntergangsstimmung machen sich die beiden ein paar schöne Stunden in Bars, Restaurants, beim Schaufenster-Shopping auf dem teuren Rodeo Drive. Was, wenn dies wirklich der letzte Tag der Erde ist, weil die Sonne zur Nova geworden und explodiert ist? In wenigen Stunden wäre es dann aus mit allen Menschen in Kalifornien. Doch ganz so schlimm kommt es dann doch nicht. Denn ein gelber Fixstern wie die Sonne kann gar nicht zur Nova werden, weil sie nicht genügend Masse besitzt.

Was ist aber dann passiert? Stan Leslie finden heraus. Zum Glück haben sie sich für eine Woche mit Lebensmitteln und Wasser eingedeckt, denn nun brechen alle Einrichtungen der Zivilisation zusammen …

Mein Eindruck

Diese berühmte Weltuntergangsgeschichte ist ein Vorspiel, eine Fingerübung für den Megaseller, den Niven bald danach schreiben sollte: „Luzifers Hammer“. Es ist eine Studie darüber, welche Gefühle Menschen bewegen, wenn sie den sicheren Untergang der Welt vor Augen haben und zu welchen Handlungen sie dann bereit sind. Aber was passiert, wenn die Natur ihnen noch eine Gnadenfrist einräumt? Haben sie vorgesorgt oder stürzen sie sich aus dem Fenster?

12) Piers Anthony: Im Stall (In the Barn, 1972)

Die Erde hat entdeckt, dass es über tausend Parallelwelten gibt, die sich nur durch ein paar Details von der Muttererde unterscheiden. Eine dieser Erden, Nr. 772, wurde bereits von Inspektoren untersucht, doch erst jetzt hat man einen merkwürdigen Widerspruch gefunden: Obwohl es weder Rinder, Schafe, Ziege noch Schweine gibt, floriert hier eine Molkereiindustrie. Wie kann das sein?

Um dies herauszufinden, begibt sich der interweltliche Ermittler Hitch durch das Wahrscheinlichkeitstor auf die Welt Nr. 772 und bewirbt sich als Aushilfskraft auf einer der vielen Milchfarmen. Der Besitzer braucht ständig Arbeiter, um den Betrieb am Laufen zu halten, und stellt ihn sofort ein. Mit einem Zettel voller Instruktionen begibt sich Hitch in den riesigen Stall und die angrenzenden Gebäude, neugierig auf das, was ihn hier erwartet. Er denkt an seine Freundin Io auf der Erde, die ihn leider nicht ranlässt, so dass er sexuell ziemlich ausgehungert ist.

Im ersten Stall hat er die Aufgabe, die Kühe zu füttern und sie danach zu melken. Er stellt fest, dass es sich bei den Kühen um Frauen handelt, die riesige Brüste aufweisen. Sie sprechen kein Wort, aus einem Grund, den er viel später entdeckt: Schon den Neugeborenen wird die Zunge verstümmelt. Sie weisen auch einen sehr niedrigen IQ auf, denn schon als Baby werden sie unterernährt, so dass sich ihr Gehirn nicht wie üblich entwickelt. Hinsichtlich ihrer Intelligenz entsprechen sie also unseren Haustieren.

Doch es geht auch um die Züchtung dieser „Kühe“. Und da wird es für Hitch wirklich kritisch …

Mein Eindruck

Als ich diese Geschichte vor Jahrzehnten das erste Mal las, dachte ich, es ginge dem Autor darum, Frauen als ausgebeutete Wesen darzustellen, damit sich der Leser daran aufgeilen kann. Das ist nicht zutreffend. Vielmehr nimmt der Ermittler Hitch meist, mit zwei Ausnahmen, eine wissenschaftlich beobachtende Haltung ein, als er seinen Job im Stall verrichtet. Er will sich nicht als Schnüffler enttarnen, sondern verhält sich, wie man es von ihm erwartet. Deshalb schafft er es bis zur Säuglingsstation, ohne aufzufliegen. Und das eine Mal, als er eine Jungkuh besteigt, verläuft dies alles andere als erfolgreich – die „Kühe“ wurden in mehrfacher Hinsicht genetisch verändert.

Das zweite Mal, als er sich einmischt, geschieht auf der Säuglingsstation: Er entführt das Neugeborene auf seine eigene Welt, um es von seiner Freundin Io aufziehen zu lassen. Dann muss er seinen Bericht schreiben: Soll er wirklich empfehlen, die Welt Nr. 772 durch eine Invasion von dieser Ungerechtigkeit gegen die Frauen zu „befreien“? Hat er überhaupt die moralische Berechtigung dazu, wo doch der Mensch schon vor 10.000 Jahren Rind und Schaf und Hund gegen deren Willen domestiziert hat? Darf der Mensch diese „Befreiung“ auch mit anderen nichtmenschlichen Wesen, also „Aliens“, vornehmen? Und wie kommt die Erde dazu, anderen Welten einfach ihre Ernährungsgrundlage zu entziehen, nur weil sie mit den Nahrungslieferanten nicht einverstanden ist?

Dennoch ist dies eine der umstrittensten Storys überhaupt. Es verwundert nicht zu erfahren, dass sie von Harlan Ellison angekauft wurde, dem Herausgeber der provokanten Anthologien „Dangerous Visions“ und „Again, Dangerous Visions“. In diesem 2. Band ist die Story zuerst erschienen. Der Kundige ist gewarnt.

13) Ursula K. Le Guin: Neun Leben (Nine Lives, 1975)

Auf dem Planeten Libra bebt regelmäßig die von Vulkanen geprägte Erde. Daher sind die zwei intergalaktischen Bergbauingenieure Alvaro Martin und Owen Pugh froh, als sie endlich Verstärkung kriegen. Zu ihrer Überraschung sehen die zehn Neulinge aber alle genau gleich aus: gut genährt, schwarzhaarig, golden gebräunt, sechs Männer und vier Frauen – ein Klon aus zehn Einheiten. Sie sind andersartig, verständig sich beinahe telepathisch, so als wären sie schon seit ihrer Geburt zusammen – was auch tatsächlich der Fall ist.

Zunächst machen sich die zehn Klone gut und rackern in der Mine „Höllenmund“ für zwanzig, so dass sich Martin und Pugh um intelligentere Arbeiten kümmern können. Doch es kommt zur Katastrophe, als Mutter Libra mal wieder heftig die Hüften schwingt und Polka tanzt: Die Mine stürzt ein. In einem Luftschlitten überlebt von zwei Passagieren nur ein Mann schwerverletzt den Absturz.

Doch dieser Kaph will gar nicht weiterleben, wozu auch, „wenn der größte Teil von mir gestorben ist?“, fragt er. In schweren Anfällen durchlebt er den Tod jedes einzelnen Klon-Mitglieds selbst, bis nur noch er selbst übrig bleibt: erstmals im Leben allein. Nun gleicht er den beiden anderen, Pugh und Martin. Doch erst muss er seine Apathie überwinden.

Einen Tag vor der endgültigen Ablösung erkundet Martin eine gefährliche Erdspalte und wird prompt von einem weiteren Erdbeben überrascht. Felsen zerschmettern sein Vehikel, und sein Anzug sendet ein Signal, das nicht aufgefangen wird. Als Pugh losfliegt, ihn zu retten, und lange ausbleibt, beginnt Kaph, sich wirklich Sorgen zu machen. Das ist neu für ihn. Passt er sich wirklich diesen beiden Fremden an?

Mein Eindruck

Was wie eine der Standardsituationen aus der naturwissenschaftlich orientierten Abenteuer-Zukunftsliteratur à la Heinlein beginnt, entwickelt sich in Le Guins Händen allmählich zur Erkundung einer neuartigen psychologischen Konfrontation. Martin und Owen Pugh sind noch Männer der alten Generation, doch der Klon, eine Art Gestaltwesen, ist etwas völlig anderes – und die Zukunft. Diese Klonwesen, beschrieben nach Le Guins damaligem Wissensstand, agieren wie ein vielgliedriger Organismus. Pugh fragt sich, wie man den Sex zwischen zwei von diesen Wesen bezeichnen müsste: Inzest oder Masturbation?

Das psychologische Problem des plötzlich vereinsamten letzten Klonmitglieds wird in aller Schärfe geschildert, so dass wir wirklich Mitleid mit Kaph bekommen. Ein Mensch, der zeit seines Lebens stets in der Gesellschaft von seinesgleichen gelebt hat, ist plötzlich unter lauter Fremde geworfen, einsam und verletzlich. Doch die Geschichte endet auf einer hoffnungsvollen Note: Freundlichkeit hat noch eine Zukunft, und Kaph wird lernen, daduch zu überleben, genau wie die alte Generation.

Ständig musste ich bei dieser Story an Theodore Sturgeons Roman „Baby ist drei / Die Ersten ihrer Art“ (O-Titel „More than human“, 1954) denken. Auch Sturgeon beschreibt ein Gestaltwesen, dessen telepathische Mitglieder verschiedene Aufgaben übernehmen und dadurch überleben können. Der Unterschied ist natürlich, dass die Mitglieder nicht geklont sind.

14) James Tiptree, jr.: Der Psychologe, der keine Ratten quälen wollte (1976)

Tilman Lipsitz, ein jüdischer Psychologie-Doktorand, hat es satt, Ratten im Namen der quantitativen Beobachtungsmethode nach B.F. Skinner zu sezieren und zu quälen. Er versucht, qualitativ zu arbeiten, doch eine Besprechung beim Leiter dieses Forschungsprogramms belehrt ihn, dass er für sein Vorhaben allenfalls noch zwei Wochen bekommt. Dann ist Feiertag, Heldengedenktag, und alle gehen nach Hause.

Doch Tilman hat im Unterschied zu seinen Kollegen ein Gewissen. Er geht zurück in das Institut und schaut, ob alles in Ordnung ist. Zur Feier des Tages hat er sich eine Flasche Absinth mitgenommen, und der halluzinogene Alkohol beschwingt ihn. Er sieht ein, dass seine Methode keine Zukunft hat und bringt die ersten Generation kurzerhand um. Doch dann entdeckt er, dass eine alte Ratte fehlt: Snedecor.

Als er unter den Käfigen nachschaut, entdeckt er etwas sehr Sonderbares: einen Knäuel Ratten, der lebendig ist, aber wie zusammengepackt erscheint. Der legendäre Rattenkönig – wow! Tilman wird von einer Art heiliger Scheu und Verehrung gepackt. Dann ist ihm, als werde hinter oder über dem Rattenkönig ein großer Kopf sichtbar, mit roten Augen. Und dieser führe sein leidendes, misshandeltes Volk aus dem Labor hinaus in die Freiheit. Er schließt sich ihm an…

Als er aus seinem Absinthrausch erwacht, ist ihm eine geniale neue Idee gekommen. Sie hat mit Shetlandponys zu tun und ihrer gehirnmäßigen Stimulation bei Pferderennen …

Mein Eindruck

Die Geschichte greift die Legende vom Rattenfänger von Hameln auf und kehrt sie um. Nun sind es die Ratten, die sich in Tilmans Absinthtraum selbst in die – jenseitige – Freiheit führen, und der Rattenfänger muss folgen. Doch ist diese erhoffte Freiheit zu erlangen? Ist es der Freitod, den die Autorin schließlich selbst gewählt hat?

Eines wird klar gemacht: Descartes‘ Unterscheidung zwischen Seelen von Menschen und den Seelen von Tieren wird radikal abgelehnt. Tiere haben das gleiche Recht auf Leben. Und folglich auch das gleiche Recht auf Erlösung vom Leiden, das ihnen der Mensch allenthalben antut. Nein, hier schlagen die Tiere nicht zurück: Hier werden sie wie das Volk Israel aus der ägyptischen oder babylonischen Knechtschaft in die Freiheit geführt.

Es kommt der Verdacht auf, dass dieses Versuchslabor in Wahrheit eine Metapher für ein KZ ist, in dem die Ratten in die Freiheit geführt werden – aber nur im Traum. Denn Lipsitz macht einen radikalen Schnitt mit der eigenen Testgruppe und betätigt sich wie einer der KZ-Herren als Massenmörder.

Der Schluss der Geschichte bildet dann einen zynischen Schlenker, passt aber gar nicht zu Tilmans vorheriger Gewissenhaftigkeit und Feinfühligkeit, sondern vielmehr zu seiner neuen „Persönlichkeit“ als Kreuzung aus KZ-Killer und Dr. Seltsam. Der Schluss ist deshalb umso grauenerregender.

15) Francois Camoin: Manche meiner Freunde sind Amerikaner (1980)

Michael Stein, der Chronist, lebt in den Vereinigten Staaten, die von den Arabern in eine islamische, sozialistische Republik umgewandelt worden sind. Das geschah, nachdem Präsident Grey 1988 die AKWs abschaltete und ermordet wurde. Seitdem werden alle Juden nach Oklahoma in KZs deportiert und Israel erobert. In den USA selbst will keiner mehr blond und blauäugig sein, dafür gibt es spezielle Färbemittel.

Der Polizeistaat des Ayatollah sorgt mit harter Hand und den Strafformen der Scharia dafür, dass verbrechen scharf geahndet werden. heute wohnt Michael Stein, der deutsche Vorfahren hat, einer Hinrichtung bei: Ein Jude wurde in der heiligen Stadt Brooklyn entdeckt und soll enthauptet werden. Berittene irische Polizisten vertreiben die Menge der Zuschauer. Im Durcheinander bringt Michael den Juden Harry Landon in Sicherheit und sie werden Freunde.

Dass Harry Jude ist, erfährt er erst nach etlichen Wochen, denn so einfach traut man heute keiner Menschenseele mehr. Erst recht nicht Michael, dem man als überführtem Dieb die linke Hand abgehackt hat. Er hat stets Angst, auch die andere Hand zu verlieren – und somit auch seinen Job in einer Lagerverwaltung. Doch Ende Oktober passt er nicht auf, als er Harry wiedersieht. Er schnappt sich einen daliegenden verschrumpelten Apfel und isst ihn. Die Frucht gehört einem Jungen. Michael wird verurteilt werden, Harry nicht verraten und seine zweite Hand verlieren…

Mein Eindruck

In dieser bekannten Erzählung des Heyne-SF-Programms zeigt die Zukunftsliteratur, dass sie auch bissig sein kann. Was wäre, wenn die Allianz zwischen Saudis und der US-Regierung dazu führen würde, dass die Amis von den Saudis abhängig würden und Letztere die Macht übernähmen? Die Saudis praktizieren bekanntlich den wahhabitischen Islam, der zu den strengsten gehört: Die Scharia bildet die Rechtsgrundlage, Mullahs haben das Sagen. Dies würde auf die USA übertragen werden, und ein schiitischer Ayatollah wie im Iran wäre nur die oberste Instanz, quasi als Papst einer Theokratie.

Der Autor schildert Michael Steins Alltag und Schicksal mit großem Einfühlungsvermögen und eingehender Detailkenntnis. Den sozialistischen Alltag von der Sowjetunion auf die USA zu übertragen, bedarf keiner Mühe. Nein, es sind die Details, die stimmen. Die Story schockiert v.a. deshalb, weil fremde Systeme, die die USA bislang verpönen, auf das Land der Freiheit angwendet werden. Fortan fällt das einst stolze Land unter die Parias: Die Mexikaner lassen keinen Ami mehr über die Grenze und schießen ohne Vorwarnung.

Aber wozu wurde diese Story geschrieben? Ich denke, sie soll uns vor den repressiven Systemen warnen, die bislang in vielen islamischen Ländern existiert haben. Erst der Arabische Frühling hat es geschafft, Freiheiten zu erkämpfen, v.a. in Tunesien. Zum anderen bezieht sich die Warnung auf eine USA, die sich in zu große Abhängigkeit vom Öl der Saudis begeben hat. Dass die AKWs abgeschaltet wurden, wird als verhängnisvolller Fehler bewertet. Darin zeigt sich die Ideologie Frankreichs, wonach all die AKWs den Fortschritt des Landes sichern.

16) William Gibson: Das Gernsback-Kontinuum oder: der Amerikanische Traum (1981)

Ein amerikanischer Fotograf des Jahres 1981 bekommt in London von einer Agentur den Auftrag, in den USA die noch verbliebenen der futuristischen Design-Träume aus den 30er und 40er Jahren abzulichten. Die Auftraggeberin zeigt ihm einen der Entwürfe für ein rumpfloses Nur-Flügel-Passagierflugzeug, das wie ein Luxusdampfer Amerika mit der Alten Welt verbinden sollte.

Dem Fotografen wird bald klar, worum bei diesem Design gegangen war: um Schaufensterdekoration der Wirklichkeit. Die Depression musste überwunden werden, und europäische Einflüsse von faschistischem Nazi-Design machten sich bemerkbar. Eines Tages hat der Fotograf tatsächlich die Vision eines solchen Nur-Flügel-Propellerriesen über Kalifornien. Handelt es sich um Einbildung?

Mein Eindruck

Der Titel der Story bezieht sich auf den ersten Herausgeber dessen, was man später als erste Science Fiction-Groschenhefte (Pulp Fiction) bezeichnete. Hugo Gernsback wird sogar die Erfindung des Begriffs „Science Fiction“ im Jahr 1929 zugeschrieben. Seine Autoren und v.a. Illustratoren erfanden für die verarmten bzw. verarmenden Leser grandiose Städte in einer perfekten Welt, die weder Ernährungs- noch Energiekrisen kennen würde. Die Menschen jedoch gehören ausschließlich der arischen Rasse an: blond, weiß und blauäugig. Hitlers Traum, von Albert Speer erbaut.

17) Bruce Sterling: Spider Rose (1982)

Die Evolution der Menschheit hat sich gespalten. Au der einen Seite stehen die Former, die ihren Körper mit Hilfe der Gentechnik erweitern und modifizieren. Auf der anderen Seite stehen die Mechanisierer, die ihre körperlichen Fähigkeiten mit technischen Mitteln erweitern. Spider Rose ist eine Mechanisiererin.

Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie einsam und allein in ihrer Raumstation, die eine Kreisbahn um den Planeten Uranus, einen Gasriesen, beschreibt. Hier hat sie aus hauchdünnem Material ein Spinnennetz um den Planeten gewoben, in dem sich so mancher Himmelskörper verfängt. So etwa der größte Edelstein des Sonnensystems; er hat die Größe eines Busses und ist somit von unschätzbarem Wert.

Das Raumschiff der Investierer kommt also wie gerufen. Doch die reptilienartigen Aliens sind schlaue und durchtriebene Krämer, die den Unachtsamen liebend gerne aufs Kreuz legen. Kaum hat sie ihren Edelstein angeboten, als es Gegenangebote hagelt: Waffen, Gebrauchsgegenstände, Geheiminformationen, Literatur und vieles mehr. Rose lehnt alles ab, bis ihr gegenüber endlich die große Küchenschabe auf ihrem Kopf erspäht: „Haustiere?“ Bingo! Sie sind der große Trost in ihrer mittlerweile 200-jährigen Einsamkeit.

Zwölf Stunden später präsentieren ihr die Investierer ein höchst ungewöhnliches Haustier mit bemerkenswerten Eigenschaften …

Mein Eindruck

Entgegen meiner Erwartung erweist sich das Maskottchen nicht als hinterhältiges Trojanisches Pferd, das die Investierer platziert haben, um Spider Rose zur leichten Beute zu machen. Das Haustier verpuppt sich zu einem Äffchen, das die Gefühle seiner Betreuerin empfangen und angemessen beantworten kann. Zunehmend erweist sich die Beziehung als Therapie für Lydia Martinez, wie Spider Rose in Wahrheit heißt.

Und als Piraten der Former sie angreifen und ihr Schiff irreparabel beschädigen, hinterlässt ihr das Maskottchen eine weitere Erbschaft, die Rose hilft zu überleben. Allerdings in völlig anderer Gestalt.

Sterlings bekannte Erzählung aus dem Former-Mechanisierer-Zyklus (der in „Die Zikadenkönigin“ zusammengefasst veröffentlicht wurde, dt. bei Heyne) belegt, dass Wandlung das Grundprinzip des Lebens ist. Selbst ein Mechanisierer wie Lydia Martinez muss dieses Prinzip anerkennen. Es verhilft ihr zum Überleben in einem Kosmos, der lebensfeindlich ist.

18) Kim Stanley Robinson: Lucky Strike (1984)

Der Autor K.S. Robinson zeigt sich als Pazifist in seiner Erzählung (Der Flug der) „Lucky Strike“, jenem Bomber, der statt der verunglückten „Enola Gay“ die erste Atombombe auf Japan abwerfen soll. Das Unternehmen wird in dieser Alternativversion der Historie von einem menschenfreundlich gesinnten Bombenschützen à la Yossarian in Joseph Hellers „Catch-22“ erfolgreich vereitelt.

Der Bombenschütze, der die Bombe auf Hiroshima werfen soll, entscheidet sich im Konflikt zwischen Patriotismus, Gewissen und Befehl dafür, die Bombe ins Meer zu werfen. Die Stadt überlebt, der Bombenschütze wird hingerichtet. Ein paar Tage später fällt die Bombe dann doch noch auf Japan.

Das ewige Alibi des Bequemen und Ängstlichen – „Ich kann ja doch nichts ändern“ – wird in dieser Alternativweltstory auf sehr nachdenkenswerte Weise unter die Lupe genommen. Das ist das Hauptverdienst der Erzählung, die historische Ereignisse auf positive Weise abwandelt.

19) John Varley: Drücke ENTER (Press ENTER, 1984)

Alles fängt mit der Bandaufzeichnung eines Telefonanrufs an: Victor Apfel, zurückgezogen lebender Koreakriegsveteran, soll seinen Nachbarn Charles Kluge besuchen. Eine Belohnung warte auf ihn. Wie sich herausstellt, ist Kluge mausetot, als Victor ihn über dessen Computertastatur zusammengesunken vorfindet. Die Todesursache dürfte im Fehlen des halben Kopfes zu finden sein.

Das denkt auch die Mordkommission in Gestalt von Detective Osborne vom Los Angeles Police Department LAPD. Die Frage lautet allerdings: War es Mord oder Selbstmord? Kluge hat auf seinen zahlreichen vernetzten Rechnern fiese Botschaften hinterlassen, die eher auf Suizid hindeuten. Allerdings meint die IT-Spezialistin Lisa Foo, die hinzugezogen wird, dass Kluge seine letzte Botschaft nicht selbst geschrieben haben könne. Deshalb müsse es wohl Mord gewesen sein. Aber wer kommt als Mörder in Betracht?

Lisa Foo, ausgestattet mit silikongestärktem Busen, ist ein interessantes Frauenzimmer, und ein sehr kluges obendrein, findet Victor. Sie stammt aus Vietnam, Tochter einer Chinesin und eines Japaners, hat Kambodscha überlebt und ist von Thailand aus in die USA gekommen. Eine Überlebende – genau wie Victor selbst, der ca. 1953 in nordkoreanische Gefangenschaft geriet und einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, die ihm bis heute epileptische Anfälle beschert. Er kann mit Computern rein gar nichts anfangen.

Sie tun sich zunächst freundschaftlich, dann liebend zusammen und stoßen in Kluges digitaler Hinterlassenschaft auf einige gruselige, um nicht zu sagen: gefährliche Konstrukte. Kluge weiß beispielsweise die intimsten Details über das Leben seiner Nachbarn. Auch über Victor, den er als Einzigen seiner Erbschaft für würdig befindet. Lisa geht anschließend soweit, alle Programme und Dateien mit einem Magneten zu löschen. Dennoch gelingt es Kluges Computer eine Botschaft darzustellen, die in Victor einen epileptischen Anfall auslöst. Zufall oder Absicht?

Mein Eindruck

Dass die beiden Hauptfiguren einander ihre Lebensgeschichte peu à peu ganz genau erzählen, ist kein lästiger Ballast, sondern eine innere Notwendigkeit, um ihre Psychologie zu verstehen. Beide haben brutalste Gefängnisse und Unfreiheit überlebt. Nun droht der Dämon in der Maschine, im Computernetzwerk, erneut ein Gefängnis zu errichten – für die gesamte Menschheit. Inzwischen wissen wir, dass dies längst eine Tatsache ist. Die NSA und die Briten können alle Datenübertragungen auf jedem Weg, vom Überseekabel bis zum Handy und WLAN, abhören.

Der Autor zeigt aber den nächsten Schritt auf: Charles Kluge – ein Hacker-Pseudonym – hat an künstlicher Intelligenz (KI) geforscht und wahrscheinlich ein Programm losgelassen, das möglichst viele Rechner miteinander verbindet, ähnlich dem Netz von Nervenzellen im menschlichen Gehirn. Sind genügend viele manipulierte Rechner verbunden, so werden sie ihrer selbst bewusst. Dieser Fall wird in der Science-Fiction als „Singularität“ bezeichnet. Die KI wird versuchen, die Kontrolle über die Computernutzer zu übernehmen. Und bei Victor hat sich gezeigt, dass sie auch vor brutalen Methoden nicht zurückschreckt.

Man sollte es sich also zweimal überlegen, ob man an einem vernetzten Computer die ENTER-Taste drückt. Die Figuren jedenfalls ziehen auf ihre – tragische bzw. komische – Weise die Konsequenz daraus.

20) Michael F. Flynn: Eifelheim (1986)

Sharon Nagy ist Physikerin und ihr Freund Tom Schwoerin Psychohistoriker (genau, wie in Isaac Asimovs FOUNDATION-Zyklus). Sharon ist überzeugt, ihre Disziplin arbeite mit handfesten Dingen, bis Tom sie mit der Nase auf das Schwarzwalddorf Eifelheim stößt. Eifelheim, unweit Todtnau am Feldberg gelegen, existierte bis zum Pestjahr 1348, wurde verlassen und angeblich nie wieder besiedelt: eine klassische Wüstung.

Warum aber machen dann sämtliche Wege einen Bogen um diese angebliche Leerstelle auf der geografisch-kulturellen Landkarte, so fragt Tom in aller Unschuld, nicht ahnend, auf was für eine kolossale Sache er stoßen wird. Warum erwähnen selbst amerikanische Infanteristen, die hier üben, den Ort nicht, rücken seine genaue Lage nicht heraus? Was haben sie zu verbergen? Sein schlauer Computer CLIO (benannt nach der Muse der Geschichtsschreibung) weiß darauf keine Antworten.

Tom erringt einen Durchbruch, als er die Nachtbibliothekarin Judy Cao kennenlernt. Sie hat seine fruchtlose Forschung verfolgt, als sie seine Quellen heraussuchte. Wisse er denn nicht, dass Eifelheim vor der Pestepidemie Oberhochwald hieß? Tom fällt aus allen Wolken. Zu diesem Namen finden sich allerlei Quellen, darunter die Predigt eines Minoritenpaters „Wider die Hexen von Oberhochwald“. Warum aber dann die Umbenennung und Verwüstung des Dorfes? Dazu leistet Sharin Nagy ihren ganz eigenen Beitrag…

Mein Eindruck

In dieser recht anspruchsvollen Erzählung verknüpft der Autor Quantenphysik mit Psychohistorik. Dabei tut er so, als gäbe es beide Disziplinen bereits ganz selbstverständlich. Die Physik ist nur für Fortgeschrittene verständlich, aber es läuft darauf hinaus, dass Reisende durch einen Trick von einer Dimension in die nächste wechseln können. Toms Idee ist nun, dass solche Reisen bereits im Pestjahr 1348 in den Schwarzwald gelangt sind und dort ein Raumfahrzeug bauen wollten. Sie fanden teils freundliche, teils ablehnende Aufnahme („Hexen und Dämonen!“), doch nacheinander erlagen sie dem Nahrungsmangel.

Das wirklich Spannende an der langen Erzählung ist nun die Frage, ob sich von diesem Ereignis wirklich noch Spuren im Boden finden. Tom und Judy Cao fliegen nach Freiburg im Breisgau, wo ihnen ein Historiker, der die Geschichte als Chronist erzählt, treffen. Vor Ort stoßen sie tatsächlich auf einen Beweis, den die US-Soldaten unberührt gelassen haben. Was tun? Da trifft Judy Cao eine folgenschwere Entscheidung.

Die Geschichte ist für meinen Geschmack etwa ein Drittel zu lang, aber durchaus interessant und humorvoll – wenn man den wissenschaftlichen Argumenten folgen kann.

21) Connie Willis: Schwarzschild-Radius (1987)

Ein gieriger US-Akademiker will über Schwarze Löcher schreiben, um damit seine Karriere zu fördern. Er befragt einen uralten Deutschen, der einst Einstein und insbesondere Karl Schwarzschild gekannt haben soll. Karl Schwarzschild ist der Entdecker des Schwarzschild-Radius, jener imaginären Linie, an der es für Informationen und Lichtteilchen kein Entkommen mehr gibt, wenn ein Stern in sich zusammenstürzt. Sie bezeichnet den Punkt, an dem es keine Wiederkehr gibt.

Doch statt ihm höflich und ehrlich zu antworten, ergeht sich der alte Mann in Gemeinplätzen, Lügen und verwirrenden Sätzen. Denn er erinnert sich daran, wie er seinerzeit in den Schützengräben an der Ostfront des Ersten Weltkriegs Karl Schwarzschild kennenlernte. Es gab bereits eine Art Schwarzschild-Radius, einen Punkt ohne Wiederkehr. Er trug die Bezeichnung „Front“. Und dorthin wollte absolut niemand: Niemand kehrte von dort zurück. Aber Rottschieben, wie der Fernmelder damals hieß, geriet immer mehr in Gefahr, dorthin abgeschoben zu werden.

Bis dann eines Tages die Front zu ihnen in die Gräben kam…

Mein Eindruck

Die eindringlich geschilderte Geschichte lebt von dem bitteren Gegensatz zwischen dem ehrgeizigen Informationssammler Travers und seinem verzweifelten Opfer Rottschieben, der diese Informationen unter Einsatz seines baren Lebens vor den Klauen der Front in Sicherheit gebracht hat. Das Grauen des Lebens in den Schützengräben und klapprigen Unterständen, unter Bedingungen sibirischen Frostes (nahe Bialystok), steigert sich zunehmend.

Man glaubt es kaum, aber es wird immer schlimmer, was Rottschieben erlebt. Die Bombardierung ist nur noch das i-Tüpfelchen, um sinnfällig zu machen, was eigentlich ein „Schwarzschild-Radius“ in Wahrheit ist: ein Kreis der Dante’schen Hölle, vor dem es nur für die Wenigsten ein Entrinnen gibt. Diese imaginäre Linie (die sich übrigens mit der Relativitätstheorie genau berechnen lässt) befindet sich nicht in den Tiefen des Kosmos, sonhdern im Hier und Jetzt. Die Pointe: Schwarzschild hatte keine Ahnung von der Existenz Schwarzer Löcher. Was nur das emotionale Grauen umso stärker belegt.

22) Pat Murphy: Rachel ist verliebt (Rachel in Love, 1987)

Rachel ist eine ganz besondere Schimpansin. Ihr „Vater“ Aaron war ein Mensch, der seine eigene Tochter, die bei einem Verkehrsunfall zusammen mit ihrer Mutter ums Leben kam, sehr lieb hatte. Er hatte sie so lieb, dass er ihre geistig-seelische Signatur aufzeichnete, speicherte und nach ihrem Tod auf das Gehirn einer jungen Schimpansin übertrug. Seitdem verfügt Rachel, die Schimpansin mit der Mädchenpersönlichkeit, über eine verwirrende Mischung von zwei Seelen. Doch Aaron behandelte sie weiterhin wie seine eigene Tochter, denn er kann sich mit ihr in Amerikanischer Zeichensprache (AZS), die er sie gelehrt hat, verständigen.

Als er an einem Herzinfarkt im Bett stirbt, wird Rachel von Wissenschaftlern eingefangen, die sie in ihre Forschungsstation in der Wüste bringen, nur 50 km von Rachels Elternhaus entfernt. Niemand von den Forschern versteht, dass sie ein Mädchen ist, sondern bezeichnen sie als „gutes Zuchtmaterial“. Nur Jake, der taube, alkoholsüchtige Hausmeister, kann AZS und akzeptiert sie als seine Gehilfin. Mit ihr reinigt er die Flure, Käfige und Büros viel schneller.

Alles wäre vielleicht gutgegangen, wenn Rachel nicht die Liebe kennengelernt hätte. Zunächst liest sie in romantischen Magazinen über die Liebe zwischen mann und Frau – genau ihre Kragenweite. Doch Jake zieht es vor, Pornomagazine anzugucken. Sie denkt, sie habe sich in ihn verliebt. Doch wenn sie sich für ihn schön macht, stößt dies auf wenig Verständnis, und dass sie brünstig geworden ist, versteht er erst recht nicht. Dies kapiert ihr Käfignachbar Johnson, dem sie AZS beibringt, umso schneller.

Eines Nachts bricht Rachel zusammen mit Johnson – aus dem Institut aus, um durch die Wüste nach Hause zu fliehen. Freiheit und Liebe, was könnte es Schöneres geben?

Mein Eindruck

Diese schöne, gefühlvolle Erzählung schließt thematisch an die Story von James Tiptree jr (alias Alice Sheldon) an. Wieder wird die Tierforschung als eine Art Gefängnis dargestellt. Hier findet aber auch Rachels Verwandlung statt: Aus einem scheuen Mädchen in Affengestalt wird eine Primatin, die andere Primaten erzieht und auf ein höheres Intelligenzniveau bringen kann. Aus der drohenden Schizophrenie wird eine Verschmelzung der beiden Persönlichkeiten.

Leider fand ich die Aussage durch den Umstand etwas beeinträchtigt, dass die Handlung ein wenig viel romantisches Wunschdenken aufweist, besonders das Happy-End. Das ist zwar schön für bürgerliche SF-Leserinnen, aber mit der Realität hat es wahrscheinlich herzlich wenig zu tun. Man könnte die Geschichte aber gut als Märchen genießen.

23) Marc Laidlaw: Brunos Schatten (Bruno’s Shadow, 1988)

In einer Welt mit einem alternativen Geschichtsverlauf besucht der Fotograf des Vatikans die einstige Gefängniszelle des Ketzers Giordano bruno. Dieser wurde anno 1600 nach jahrelanger Haft auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In der nahezu vergessenen Zelle stößt der Fotograf jedoch auf eine Art Kunstwerk. Bruno ließ am längsten Tag des Jahres, also Johannis, durch ein winziges Loch in einer Blattgoldplatte Sonnenlicht einfallen, um eine Art fotografischer Platte zu belichten, die so groß war wie seine Zellenwand und die Zellentür.

Das Ergebnis kann unser Chronist immer noch betrachten: Eine auf dem Kopf stehende Stadtsilhouette, die sie anno 1599 draußen vor dem Zellenfenster existierte – plus Brunos kniende Gestalt, die die Sonne anbetet, jenen Quell des Lichts, der seine Kunst ermöglichte. In diesen Schatten sind vier Zeilen eingraviert, ein Vermächtnis.

Diese Kunst hatte Bruno, von Leonardo da Vinci inspiriert, wiederentdeckt und sie „Chiaroscurographie“ genannt. Er hatte hundert solcher Abbilder am Vatikan angebracht, was jedoch nicht zur Bekehrung des Papstes führte, sondern zu seiner eigenen Verhaftung. Die Bilder waren zu erotisch, die Kunst „gottlos“. Doch die Fotografie hat überdauert …

Mein Eindruck

Eine feine und sowohl gebildete als auch intelligente Erzählung über die Folgen, die eine Erfindung haben kann, die ihrer Zeit angeblich voraus ist. Das Ende der Renaissance und der Beginn der Neuzeit, der Aufklärung – ein kritischer Moment der Geschichte, wie er vom Beispiel Galileo Galileis wohlbekannt ist – der Beobachter der Planeten musste widerrufen. Bruno hingegen wurde schließlich verbrannt. Nicht so hingegen sein Vermächtnis und seine Bilder – wie so vieles an Ketzerischem überdauerten sie in den Giftschränken des Vatikan.

Der Autor führt den Leser listig von Entdeckung zu Entdeckung wie im „Da Vinci Code“, von Ketzerei zu Ketzerei, zu erotischen Darstellungen, wie sie heute in Magazinen und im Internet allenthalben wohlfeil angeboten werden. Selbst noch in kleinsten Details ist die Beschreibung stimmig, selbst wenn sich heute keiner mehr vorstellen mag, wie aus Zinnplatten (= weiß) und einer Bitumenschicht (= schwarz) ein Foto entstehen kann, hier „Chiaroscurografie“ genannt.

24) Robert Silverberg: Erster Auftritt: Soldat. Darauf: Ein anderer (1989)

Im Jahr 2130 haben zwei Amerikaner die Technik perfektioniert, historische (und fiktive) Persönlichkeiten zu simulieren. Doch als sie den Eroberer des Inkareiches, Francisco Pizarro, erschaffen, sind sie erstaunt darüber, dass die Simulation selbständig handelt und denkt. Pizarro erkennt sogar, dass er schlechtes Spanisch spricht. Woher kann die Simulation das wissen? Sie kennt doch nur eingespeiste Daten – oder?

Ist Pizarro der erste Soldat, so ist der Athener Philosoph Sokrates der zweite – er musste in den Bürgerkriegen des 5. Jahrhunderts v. Chr. kämpfen. Ein interessanter Disput über die Natur ihrer Realität entspinnt sich, und die beiden beschließen, nach Atahualpa, dem toten Inkakönig, zu suchen, bevor er von den Spaniern ermordet wird …

Mein Eindruck

Diese Story bietet zwar keine Action, aber umso mehr witzig-ironische Seitenhiebe auf Amerikaner, Christen, Philosophen und Religion im allgemeinen. Der Leser sollte in all diesen Wissensgebieten beschlagen sein.

25) David Brin: Dr. Paks Vorschule (Dr. Pak’s Preschool, 1989)

Reiko ist die Frau von Tetsuo, einem japanischen Manager. Ihre Tochter Yukiko geht mit ihren vier Jahren bereits auf eine Vorschule. Die Ansprüche der japanischen Wirtschaft an ihre künftigen Mitarbeiter sind hoch, weiß Tetsuo, und werden immer höher. Deshalb wünscht er sich einen Sohn mit speziellen Fähigkeiten – von denen er Reijo nichts verrät. In der koreanischen Fruchtbarkeitsklinik von Dr. Pak Jong klappt die Behandlung: Es wird ein Junge, Minuro.

Doch im sechsten Monat bauen die Pak-Mediziner ein Gerät in Reikos Bauch ein, das verschiedene wunderliche Dinge tut. Es spielt die ganze Zeit Musik, leuchtet den Mutterleib aus und äußert Worte in unbekannter Sprache. Das findet Reiko sehr beunruhigend, doch Tetsuo stellt sie dem Ministerium MIHI vor – eine große Ehre. Da findet sich Reiko mit ihrem Schicksal ab.

Noch seltsamer ist Tetsuos Gerede von einer telepathischen Verbindung zwischen Mutter und Kind. Ist das der Grund, warum sie von einer Kleinschen Flasche träumt, deren Außenseite innen ist? Offenbar soll ihr Sohn Softwareprogrammierer werden. Der Geburtstermin wird hinausgeschoben. Reiko erforscht, was aus ihren Vorgängerinnen und ihren Kindern geworden. Sie stößt auf ein bestürzendes Geheimnis …

Mein Eindruck

Dr. Paks Vorschule ist nämlich ein Vorläufer von „The Matrix“: Kindergehirne als zusammengeschalteter biologischer Computer. Es geht kaum gruseliger. Und doch ist dies nur die absehbare Konsequenz aus dem steigenden Leistungsdruck, der in Japan bereits die jüngsten Generationen erfasst hat. East meets West, doch wer wird in der Synthese gewinnen, fragt Reikos Vater skeptisch: östliche Weisheit oder westliches Machtstreben?

Glücklicherweise hat der Autor ein witziges Ende gefunden, das dem Vorhaben der Pak-Mediziner ironisch ein Schnippchen schlägt.

26) Judith Moffet: Tiny Tango (dito, 1989)

Anfang der 1990er Jahre bekommt Sandy, die Ich-Erzählerin, Aids – von ihrem Professor. Aus ist’s mit der wissenschaftlichen Laufbahn, mit dem bürgerlichen und der geplanten Weltveränderung. Alles kommt ganz anders. Aber sie hat „nur“ HIV-1 und deshalb bricht die Immunschwäche nicht aus. Während anderswo HIV-Patienten ausfindig gemacht und vom Mob getötet werden, versteckt sie sich in ihrer Gruppe, ihrer „Firma“.

Sie richtet sich ein, bekommt einen anständigen Job, aber das stellt sich als nicht genug heraus. Nach einem offenbarenden Traum, in dem Gregor Mendel, Entdecker der genetik, sie umarmt, beginnt sie, nach einer Melone zu suchen, die für das Mosaikvirus resistent ist. Nach 20 Jahren wird sie es finden und die Melone „Tiny Tango“ nennen. Doch davor kommt es zu einer Alien-Landung, die friedlich verläuft, und zu einem AKW-GAU, der weitaus weniger friedlich verläuft.

Schließlich wird ein Anti-Aids-Serum entwickelt, das die Befürchtungen ihrer Umwelt beruhigt – mehr als sie ahnt. Als sie sich in ihren Assistenten Eric Meredith verliebt, entdeckt dieser ihre Infektion, hat aber keine Angst: Er ist geimpft. Durch die Zusammenarbeit verändert Sandy sein Leben: Statt ihrer selbst darf er die Lorbeeren für ihre Forschung einheimsen – denn bei ihr ist Aids schließlich doch ausgebrochen. Die Aliens stecken Sandy in den Stasisschlaf – so lange, bis auch ihre Infektion geheilt werden kann.

Mein Eindruck

Die Handlung mag vielleicht banal klingen – keine Weltuntergänge und Kriege. Aber sie ist vor dem Hintergrund der in den achtziger Jahren ausgebrochenen Aids-Epidemie und -Hysterie, besonders in den USA, ein ganz bemerkenswertes Stück Prosa. Denn hier wird Aids nicht als Schicksal und Todesurteil aufgefasst, sondern als Chance, einen ganz anderen Lebensweg einzuschlagen.

Als ausgebildete Biogenetikerin ist Sandy durchaus in der Lage, nicht nur Genforschung zu betreiben, sondern auch einen Test zu entwickeln, der sich auf viele andere Gebiete übertragen lässt – und das in ihrem eigenen Vorgarten. Zweitens verfällt sie auf die verwegene Idee, sich als Mann zu verkleiden und so dem anderen Geschlecht auf öffentlichen Toiletten näherzukommen. Das ist zwar voyeuristisch, aber immer noch besser als gar kein Sex. Die Szenen dazu sind sehr witzig geschildert. Ob die Autorin da wohl aus eigener Erfahrung spricht?

Drittens kann Sandy auf diese Weise in den Wirren der Evakuierung Pennsyslvanias nach dem Atom-GAU flugs vom Mann wieder zur Frau werden. Der GAU ereignet sich nicht weit von Three Mile Island bei Harrisburg entfernt, wo es ca. 1979 schon einmal zu einem Atomunfall mit teilweiser Kernschmelze kam (verarbeitet in „Das China-Syndrom“, mit Michael Douglas, Jane Fonda und Jack Lemmon). Auch dieser Teil ist visionär.

Während die Emotionen und Gedanken der Hauptfigur und Chronistin Sandy den meisten Raum einnehmen und zuweilen sehr anrührend oder amüsant sind, spielen die Aliens nur eine Statistenrolle. Die Hefn, wie sie genannt werden wollen, sind humanoid und somit wenig furchteinflößend. Sie helfen, wo sie können, und Gregory, Sandys Betreuer, empfiehlt ihr, diesen Bericht zu schreiben. Aber die können den Planeten auch nicht vor seinen Bewohnern retten. (Diese Novelle hat Moffett zu einem Roman ausgebaut: „The Ragged World. A Novel of the Hefn on Earth“; deutsch als „Die Rückkehr der Hobbs“.)

27) Greg Egan: Liebkosung (The Caress, 1990)

Die 30er Jahre des 21. Jahrhunderts sind eine stressige Zeit. Künstler und andere Spinner lassen sich die ausgefallensten neuen Methoden einfallen, um auf sich aufmerksam zu machen. Das bekommt auch unser Chronist am eigenen Leib zu spüren. Segel ist Spezialermittler der Mordkommission einer US-amerikanischen Stadt. In dem Keller einer verstorbenen Gentechnikerin namens Dr. Macklenburg stößt er auf ein Chimärenwesen: Auf einem Leopardenkörper sitzt der Kopf einer jungen Frau, die sich im Koma befindet. Der Abtransport ist daher völlig ungefährlich.

Das Ü-Video seiner Helmkamera landet aus unerklärten Gründen im Internet und die Leute geben ihre Kommentare dazu ab. Der einzige brauchbare Hinweis ist der auf einen Künstler namens Lindhquist. Dieser hat eine Masche gefunden, um reale Vorlagen mit künstlichen Mitteln nachzustellen, ähnlich einem Stilleben-Bild (nature morte) oder einem Lebenden Bild, wie es im 18. und 19. Jahrhundert von kostümierten Personen nachgestellt wurde.

Der vermörgende Pharma-Erbe Lindhquist geht erheblich weiter. Er hat das berühmte symbolistische Bild „Die Liebkosung“ des belgischen Malers Fernand Khnopff (1896) nachgestellt – die Sphinx-artige Frau mit dem Leopardenkörper streckt ihre Tatze nach dem Unterleib eines hermes-artigen Jünglings aus. Sehr suggestiv, denkt Detective Segel. Doch er hätte sich nicht träumen lassen, dass die Suche nach diesem Jüngling zu ihm führt: Er selbst ist das Modell, das Lindhquist für diese Rolle auserkoren hat …

Mein Eindruck

Dies ist ein typischer Greg-Egan-Text: hart an der Grenze der SF, aber dennoch anrührend und einfallsreich, so dass der Leser unbedingt erfahren will, wie die Sache für Detective Segel ausgeht. Es gibt sogar eine Aussage, die des Nachdenkens wert ist. Der Künstler verwischt die grenze zwischen Kunst und Leben, indem er das Leben – die humane Vorlage – in Kunst, nämlich in eine Schimäre, verwandelt. Ist das ein Wert an sich? Für ihn schon. Aber für das jeweilige Modell ist es ein Albtraum. Während die Frau Catherine, der der Kopf gehört(e), keinerlei Emotionen zeigt, was durchaus erschreckend ist, fühlt sich Detective Segel in seinen Albträumen fortan verfolgt.

Das Interessante daran: In seinem wachen Leben befindet sich Segel bereits durch eine Droge namens Primer in einem mentalen Ausnahmezustand, der es ihm erlaubt, Emotionen aufgrund schrecklicher Anblicke zu unterdrücken, aber zehnmal so schnell zu reagieren. Das heißt, er ist bereits super- oder transhuman. Im Grunde ist es deshalb für ihn und seinesgleichen nur ein winziger Schritt zur nächsten Phase: die Zweckentfremdung zum Kunstobjekt. Darin liegt die warnende Botschaft dieses reizvollen Textes.

28) Joe Haldeman: Passagen (Passages, 1990)

Dies ist eine Story über eine Großwildjagd. Ein reicher Prinz namens Raj heuert den Safariführer Gregorio Fuentes an, um die übelste Bestie auf dem Planeten Obelobel zu erlegen: nackt und nur mit einem Speer bewaffnet. So ein zwölffüßiges Baleseli lässt sich von der Decke einer Höhle herabfallen und umhüllt das Opfer mit seinem zähnebewehrten Fell. Dem Opfer wird bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, der Rest wird verdaut. Kein schöner Tod, denkt Fuentes. Vielleicht befindet sich Raj Kademen auf einer Selbstmordmission?

Die Baleselis sind in Höhlen auf Obelobel zu finden, wo die angeblich primitiven Einheimischen ihre Erwachsenenritual vollführen. Dies tun jedoch nur so viele junge Menschen, Männchen wie Weibchen, dass der Bestand ihrer Art in diesem kargen Land nicht gefährdet ist. Das haben die Alienforscher vor Ort bereits herausgefunden. Sie haben aber nicht erkannt, dass die Obelobelianer auch Telepathen sind.

Nach Überwindung der üblichen bürokratischen Schwierigkeiten ist Fuentes mit seinem irren Schützling endlich vor Ort. Erste ernüchternde Erkenntnis: Die Höhle wimmelt nur so vor Baleselis! Zweite Erkenntnis: Die Obelobelianer mögen es nicht, wenn Fremde bei ihnen jagen wollen. Raj muss seinen importierten Speer gegen einen einheimischen eintauschen und erfährt vom Ältesten, dass er sterben wird. Na, schön, und Fuentes? Der könnte vielleicht überleben.

Die Jagd kann also beginnen. Die beiden Männer steigen unter den Augen der Obelobelianer in die Höhle hinab, wo die Bestien lauern …

Mein Eindruck

Der Macho Ernest Hemingway war Großwildjäger, und viele seiner bekanntesten Geschihten drehen sich um die Jagd. Die Herausforderung, die die Jagd an den Jäger stellte, ist heute durch die friedlichere Herausforderung des Extrembergsteigens abgelöst worden – und steht daher auch Frauen offen.

Zu den bekanntesten Jagd-Geschichten Hemingways gehört „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“. Auch für Raj Kademer könnte es ein kurzes glückliches Leben werden, wenn er nicht aufpasst. Doch in einer Jagdstory geht es nicht um das Ziel, sondern immer um den Weg. Welche Voraussetzungen muss ein Mann mitbringen, um die Konfrontation mit dem gefährlichen Gegner zu überleben oder gar zu siegen?

Raj und Fuentes finden dies auf die harte Tour heraus. Raj wehrt sich gegen die Umklammerung durch das Baleseli und stirbt, Fuentes hingegen ergibt sich der Umklammerung und überlebt. Welche Taktik ist also besser: die weiche, die das Überleben sichert, oder die heldenhafte, die den Tod bedeutet?

Die Antwort, die der Leser selbst finden muss, ist auf die Begegnung des heutigen Westlers auf die Begegnung mit dem Fremden anzuwenden, egal woher dieses kommt: aus dem Osten, aus dem Süden oder von außerhalb der Erde. Annahme oder Abstoßung – die Reaktion, die angemessen ist, muss stets von Neuem bewertet und gewählt werden. Für Fuentes erweist sich die Begegnung mit dem Fremden als nutzbringend: Er verbringt noch 22 Jahre bei den Obelobelianern.

29) Ian McDonald: Zum Kilimanscharo (Towards Kilimajaro, 1990)

Die ersten Sporen des außerirdischen Chaga fallen im Jahr 2004 auf den Kilimandscharo – und breiten sich von dort mit einer Geschwindigkeit von 50 Metern pro Tag in alle Richtungen aus. Ständig fallen neue Sporenpakete, überall auf der Südhalbkugel. Der Lebensraum wird knapp, und die Verdrängten finden das gar nicht witzig.

Eine gigantische UNO-Hilfsmission wird weltweit gestartet, und die irische Reporterin Gaby McAslan berichtet darüber in Kenia. Sie wird Zeugin eines Verschwindens der Erde, einer Transformation durch das Chaga. Aber können Menschen in dieser außerirdischen Vegetation leben? Und was passiert mit den vom Chaga Infizierten?

Unsere Frau bei den Aliens heißt Gaby McAslan und stammt – wie der Autor dieses Buches – aus Nordirland. Das Problem in diesem Satz sind die Aliens: Es gibt sie nicht, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Aber etwas Alien-Mäßiges existiert da in der Gegend um den Kilimandscharo ganz bestimmt. Wie ein paar deutsche Drachenflieger zu ihrem Leidwesen erfahren mussten, schlug dort in der Nähe ein Meteor ein, der seltsame Lebensformen mit sich brachte. Das Chaga, wie sie bald danach genannt wird (warum, wird nicht klar, da sie doch mit der Hungerkrankheit gleichen Namens nur metaphorisch etwas zu tun hat), breitet sich mit rasender Geschwindigkeit Richtung Nairobi aus, alle Lebensformen, die nicht fliehen, transformierend – so auch den einen oder anderen deutschen Drachenflieger.

Gaby, vom Nachrichtendienst SkyNet Satellite News an die „Front“ geschickt, schafft es mit einigen Tricks, einen der überlebenden Drachenflieger, der aus der Chaga kam, zu interviewen. Das Interview schockt die Welt. Er wurde von der Alien-Chaga nicht nur ernährt und gewärmt, er verwandelt sich selbst allmählich in eine Chaga-Lebensform! Die Leute fragen sich, ob das Chaga eine Bedrohung oder am Ende gar ein Geschenk ist – die erste Transformation der Menschheit oder ihr Tod? Es wird spannend, je mehr weite Teile Zentralafrikas das Chaga verschlingt. Auf ironische Weise wird hier die Terraformung eines Planeten auf die Erde angewandt – kein angenehmes Gefühl für die Betroffenen.

Der hier abgedruckte Romanauszug schildert eine individuelle Expedition hinein in die Chaga und endet in einer romantisch-tragischen Liebesgeschichte.

Mein Eindruck

Die Hauptfiguren sind realistisch und vielseitig gezeichnet, allen voran Gaby, die jägerhafte Reporterin, die bis zur Spitze ihres Senders aufsteigt, nur um dann fallengelassen zu werden. Sie verliebt sich in den Erforscher der Chaga, Shepard, und entdeckt unter der Erde Kenias ein sehr hässliches Geheimnis – dort werden Chaga-Opfer getestet, Telepathen, Schnell-Alternde usw.

Auch die kleineren Figuren unter der einheimischen Bevölkerung Kenias sind auffallend und mit Sorgfalt gezeichnet. Hier ersteht vor dem geistigen Auge eine umfassende und vielschichtige Kultur der nahen Zukunft, uns Westeuropäern fast ebenso „alien“ wie das Chaga. In „Zum Kilimandscharo“ hat McDonald erstmals gute Action-Szenen geschrieben, so etwa die Flucht vor den UNO-Truppen, bis Gaby und ihr Kamerateam in das Chaga flüchten müssen. Das macht die Lektüre absolut mühelos und sehr unterhaltsam.

30) Mauren McHugh: Schutzhaft (Protection, 1992)

Nach der Zweiten Depression (die erste war in den 1930er Jahren) haben die Vereinigten Staaten den Sozialismus eingeführt. Leider gibt es in der Übergangsphase noch etliche Personen, die der Umerziehung und Besserung bedürfen. Janee Scott aus Cleveland ist so eine Person: eine Kleinkriminelle ohne abgeschlossene Schulbildung. Zur Umerziehung wird sie ins Lager Protection irgendwo in der Trockenzone von Kansas deportiert.

Ein Verlassen des Lagers ist nur unter Lebensgefahr möglich, wenn überhaupt: Jeder Versuch endet in einem Nervenanfall. Wahrscheinlich ist der im Nacken implantierte Chip für das Auslösen des Stromfeldes verantwortlich. Dennoch denkt Janee unablässig daran, wie sie hier rauskommt – oder wie sie zumindest überlebt.

Schon im Bus zwischen Zug und Lager setzt sie sich neben das ideale Opfer: einen Politischen namens Paul. Paul war früher, irgendwo im Osten, Geschichtslehrer. Mehr will er nicht sagen. Aber er redet geschwollen daher über Sozialismus, Feudalismus, Kapitalismus. Janee kennt sich mit Überlebensregeln aus, er mit Systemregeln. Er bringt sie soweit, dass sie über Systemregeln nachdenkt. Denn die Zwangsarbeit, das Nähen von Quiltbezügen, ist eine Kollektivarbeit, bei der derjenige belohnt wird, der die Quote schafft oder übererfüllt (man denke an das System in der DDR). Es wird aber derjenige auf halbe Ration gesetzt und somit zum Tode verurteilt, der die Quote nicht erfüllt. Weil aber die Quote ständig erhöht wird, gibt es immer größere Unterschiede in der Leistung – mit entsprechenden Opfern.

Ist das nun der Sozialismus, fragt Janee sich und Paul. Oder ist das noch Kapitalismus? Es dauert eine ganze Weile, bis sie kapiert, wie das System in Wahrheit wirklich funktioniert – doch da ist es für Paul bereits zu spät …

Mein Eindruck

Dies ist die einzige Geschichte dieses Bandes, die in gesprochener Umgangssprache erzählt wird, also recht vulgär und alles andere als grammatisch korrekt. Umso authentischer wirkt das, was Janee über sich und das Lager erzählt. Die Tradition dieser Bekenntnisliteratur ist lang, aber nicht in der Zukunftsliteratur. Dort reicht sie nur zurück bis Thomas M. Dischs Romane „334“ bzw. „Angoulême“.

Allenfalls noch „Charly / Blumen für Algernon“ von Daniel Keyes kommt in den Sinn, wenn es um Berichte aus dem sozialen bzw. psychologischen Experimentierlabor geht. In der Mainstreamliteratur kommt hingegen kein Leser an „Walden“ von Henry David Thoreau vorbei, einem Experiment in Eigenständigkeit und Autarkie in den Wäldern Amerikas. Eigenständigkeit ist dabei gleichzusetzen mit politischer Selbstbestimmung und Autonomie, ganz im Sinne der US-Verfassung.

Janees Schicksal ist aber das genaue Gegenteil und darum für US-Leser umso schockierender. Sozialismus auf amerikanischem Boden? Unfassbar! Und doch lief es schon bei der ersten Großen Depression in den 1930er Jahren, als die Wirtschaft nach dem Börsencrash am Boden lag (so wie heute wieder), auf staatlichen Sozialismus hinaus: Arbeitsprogramme usw. Paul, Janees Freund, erwähnt sozialistische Experimente im 19. Jahrhundert, die allesamt scheiterten, meist unter religiöser Regie. Die Autorin erteilt also dem Leser eine – leicht verständliche – Lehrstunde in Systemtheorie. Und erzählt in einem Ambiente wie aus Henri Charrieres „Papillon“, ist das durchaus anrührend und erschütternd.

Die Übersetzungen

Die Übersetzungen sind sehr unterschiedlich. Mitunter merkt man ihnen deutlich die Entstehungszeit in den fünfziger oder sechziger Jahren an. Durchweg ist die Qualität recht hoch, obwohl ich sicherlich einiges zur Ausdrucksweise und dem Stil anzumerken hätten. Druckfehler finden sich ebenfalls, aber es sind derart wenige, dass sich ihre Aufzählung nicht lohnt. Man kann also von einem Qualitätstextkonvolut sprechen.

Unterm Strich

Dieser Jubiläumsband zum 40-jährigen bestehen der SF-Reihe des Heyne-Verlags widmet sich ganz der KURZGESCHICHTE. Die zwölf wichtigsten SF-ROMANE wurden bereits abgefeiert. 30 chronologisch sortierte Storys aus den Jahren zwischen 1949 und 1992 (in Übersetzung erst 1996) liefern eine breite Palette an Richtungen, die sich in der Entwicklung des Genres ergeben haben.

Auffällig ist die fast völlige Abwesenheit von naturwissenschaftlich orientierter Zukunftsliteratur, wie sie etwa Heinlein, Benford und Niven produzierten. Es entspricht vielmehr Jeschkes Vorliebe, dass die Inhalte sich mit gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen und psychologischen Fragen beschäftigen. Es sind zwar Spitzenautoren vertreten, aber keineswegs mit ihren Bestsellern, sondern mit eher abgelegenen, ausgefallenen Erzählungen. Clarke ist nicht mit „Wachtposten“ vertreten, der Urzelle zu seinem Roman „20011 – Odyssee im Weltraum“, und auch nicht mit „Begegnung mit Medusa“, einer Hard-SF-Story.

Der ikoniklastische Autor Piers Anthonyträgt mal wieder eine ganz schön erotische Story bei; das passt ins Bild. Bradbury ist mit einer Story aus den „Mars-Chroniken“ vertreten, das war klar, aber die Hauptfigur ist keiner der Pioniere und Siedler von der Erde, sondern eine Ureinwohnerin des Roten Planeten, und Ylla weist eine ganz andere Sensibilität auf als etwa Eroberer von der Erde. Sicher, es gab und gibt politisch engagiertere Erzählungen in der SF, wie etwa von Bruce Sterling, der hier mit „Spider Rose“ vertreten ist. Aber der Schwerpunkt liegt eben nicht auf Politik, sondern auf Gesellschaft. Den Unterschied zeigt keine Story deutlicher als „Schutzhaft“ von McHugh.

Vergleicht man die vorliegende Auswahl mit den letzten SF-Jahresbänden und Anthologien, die Jeschke herausgeben durfte, so wird deutlich, dass die letzten Beiträge in diesem Band möglicherweise deutsche Erstveröffentlichungen sind. Dazu zählen McHughs Novelle ebenso wie Haldemans „Passagen“ und Egans „Liebkosung“, nicht jedoch McDonalds Novelle „Zum Kilimanjaro“. Letztere erschien im SF-Auswahlband 1993 und ging in den Roman „Chaga“ ein, den Heyne verlegte – einer der schönsten Beiträge dieses Bandes. Die Silverberg-Story erschien im SF-Jahresband 1991 – siehe dazu meinen Bericht.

Für 15 D-Mark konnte man nichts falsch machen, ganz recht. Es ist, als bekäme der SF-Einsteiger drei SF-Jahresbände zum Preis von zweien. Sie wären zu heutigen Bedingungen gar nicht mehr zu produzieren. Und falls doch, dann zu einem exorbitanten Preis jenseits der 50 Euro. Und in den modernen Antiquariaten finden sich überall preisgünstige Angebote von „Fernes Licht“.

Taschenbuch: 1051 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453171176

www.heyne.de

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