Wolfgang Jeschke (Hg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1994

Classic SF: Von Madonnen und Anubis

Mit seinen preiswerten Jahresbänden bedankt sich der Heyne Verlag bei seinen Lesern. Im Unterschied zu früheren Science Fiction-Jahresbänden wird 1994 nicht mehr gekennzeichnet, ob eine Story ausgezeichnet wurde, sei es mit dem HUGO oder dem Nebula, jeder Beitrag steht für sich. Es sind beiträge von Brian Aldiss, Michael Flynn, Robert Silverberg, John Barnes, Alan Brennert, Ian McDonald und Kim Stanley Robinson.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Brian W. Aldiss: „Die Madonna der Zukunft“

Die Anthologie eröffnet der britische Autor Brian W. Aldiss mit seiner Erzählung „Die Madonna der Zukunft“. Bei dieser „Madonna“ handelt es sich um eine mittelalterliche Ikone, auf der sie mit dem Jesuskind dargestellt ist. Mr. Brunell, der Ich-Erzähhler, sucht ausgerechnet im Kriegsgebiet von Ossetien/Georgien nach der Kirche, in der er sie vermutet – und findet. Nur muß er sie noch außer Landes schaffen, was ihn beinahe das Leben kostet, denn die verrückten, rivalisierenden Kriegslords des Gebietes halten ihn für einen Spion. –

Die Ikone ist für Aldiss das Symbol für die wechselvolle Geschichte der kaukasischen Region, stets umkämpft, ein Zankapfel des Nationalstolzes. Dieser Nationalismus flammt in der postkommunistischen Ära auf und wird von Waffenhändlern und anti-islamistischen Amerikanern gleichermaßen geschürt – um den Preis zahlreicher Menschenleben. Eine sehr pessimistische und blutige Story, die stark an der entsprechenden Realität orientiert ist..

2) Michael F. Flynn: „Ein anderes Wort für Rose“

Ein Geheimbund der „Verbündeten“ scheint in den Verlauf der Geschichte zu steuern. Als Sarah Beaumont ebenfalls zu diesem Freimaurer-ähnlichen Club stößt, hat sie bereits einen Menschen getötet und sieht sich Nachstellungen und Morddrohungen ausgesetzt. Man legt ihr nahe, ihre Identität zu wechseln (vgl. Titel). Zuvor jedoch muss sie in sich gehen und zieht sich in eine einsame Berghütte zurück. Sie findet heraus, was sie will und dass das Hauptquartier des Geheimbunds von Unbekannten beobachtet wird.

Was hier so zusammenhanglos anklingt, erscheint auch beim Lesen aus dem größeren Zusammenhang eines Romans herausgerissen, ein Fragment. Das ist nicht besonders nett dem Leser gegenüber: Ständig tauchen Verweise über nicht geschilderte Ereignisse und Leute auf. Zwar sind Sarah und ihre Beziehung zum Geheimbund interessant präsentiert, doch ein frustriertes Gefühl bleibt.

Da lob‘ ich mir die alten Meister! Ihre Stories haben Hand und Fuß.

3) Robert Silverberg: „Das hunderttorige Theben“

In dieser Novelle landet ein Zeitreisender des 28. Jahrhunderts mit einer Mission im alten Ägypten. Er soll zwei vermisste andere Zeitreisende aufspüren und zurückbringen. Zunächst erleidet er aber einen heftigen Kulturschock. Theben ist ja keine Filmkulisse. Da ihn die zwei Gesuchten in der Metropole sofort entdeckt haben, landet Edward Davis erst einmal als Sklave in der Totenstadt bei den Einbalsamierern.

Dies ist mit wunderbar schwarzem Humor und größter Detailkenntnis geschildert. Mit Hilfe seiner Geliebten kann er wieder Kontakt mit seinen Gesuchten aufnehmen: Sie sind beide arrivierte Staatsdiener und kennen den Thronfolger Echnaton. Leider weigern sich die beiden zurückzukehren, was nur eine Konsequenz zuläßt: Damit kein Spähtrupp aus der Zukunft sie holt, muss auch Edward in Ägypten bleiben – kein so übles Schicksal, wie er findet.

4) John Barnes: „Canso de Fis de Jovent“ …

…ist ein Kapitel aus seinem Roman „Eine Million offener Tore“, der später ebenfalls bei Heyne erschien. Der Titel bedeutet in der ausgestorbenen Sprache von Aquitaine in Südwestfrankreich: „Lied vom Ende der Jugend“. Und in der Tat bereitet die diplomatische Mission, auf die der Held der Erzählung geschickt wird, das Ende seiner romantisch-galanten Duelle mit seinen Jugendgefährten.-

Barnes weiß diesen Prozess sehr detailgenau und stimmungsvoll, ja liebevoll und elegisch zu schildern. Eine beeindruckende, erinnerungswürdige Erzählung.

5) Alan Brennert: „Die Pilgerseele in Dir“

In dieser Erzählung findet der Wissenschaftler Kevin sowohl den Weg zu seiner Frau zurück, die sich ein Kind wünscht, als auch zu seiner wahren Identität, von der nichts ahnte. Im Feld seines Holoautomaten taucht das Abbild einer längst verstorbenen Seele auf, Nola, und er verfolgt gebannt, wie sie binnen eines Tages um ein Jahrzehnt altert. Sie verlieben sich in einander, doch muss er ihr erzählen, dass er verheiratet ist, und sie erinnert sich, mit Robert verheiratet gewesen und schwanger gewesen zu sein. Durch sie lernt Kevin die Freude an einem Kind kennen. Die echte Nola starb im Kindbett, doch die Holo-Nola stellt Kevins Ehe wieder her. Und sie grüßt seine wahre Identität: der wiedergeborene Robert…

Obwohl die Holo-Technik in keinster Weise die Reinkarnation ermöglicht und der Autor folglich spekuliert, verliert diese Erzählung auf der Ebene des Gleichnisses nichts von ihrer Schönheit und Bedeutung.

6) Ian McDonald: „Die beste Verteidigung“

Der Autor Erzählung schildert auf knappstem Raum eine Begebenheit, die in dem fiktionalen Zeitraum nach der Landung von 8 Millionen Shi’an-Aliens auf der Erde spielt. Eine junge Shi’an, Doia, wird von fünf jungen Briten vergewaltigt. Der junge schwarze Anwalt Lyndon Badou übernimmt Doias Verteidigung. Doch Shi’ans werden nicht in jedem Land der Erde als Menschen betrachtet, sondern mitunter als Tiere. Und das Gesetz kann nur schützen, was für Menschen gilt: Die Shi’ans müssen niederste Jobs annehmen. Die Vergewaltiger kommen mit einer milden Strafe davon, argumentierend, dass Doia sie mit ihren Pheromonen angeheizt habe. Doch Badou wird eines Besseren belehrt: Die Sexualität/Anatomie der Shi’an lässt es nicht zu, dass sich eine Shi’an-Frau, selbst wenn sie in der Brunft ist, gegen ihren Willen zum Sex zwingen lässt – das geht nur bei Menschenmännern. Die Vergewaltigung traf daher die gesamte Shi’an-Rasse – eine neue Sünde.

McDonalds Erzählung ist zugleich knallhart realistisch und psychologisch vertiefend – Kennzeichen eines guten und stilvollen Erzählers. Seine Aussage trifft das Gewissen des Lesers sehr zielsicher.

7) Kim Stanley Robinson: „Eine kurze, heftige Erschütterung“ (A short, sharp shock)

In seiner langen Novelle erzählt der Autor die Odyssee eines jungen Mannes, Thel, durch eine Welt, in die er wie Jonas in den Wal gefallen ist – unter Wasser. Die Welt besteht aus zwei Ozeanen, die lediglich von einem hohen Felskamm getrennt werden. Auf diesem Felsgürtel um die Welt wohnen nur wenige menschliche Wesen, doch die Gratkönige sind zu fürchten: Sie versklavten Thels Schicksalsgenossin, die namenslose „Schwimmerin“, bis er sie wieder befreit. Auf der Flucht schieben ihn die Zauberer von Oia durch ihren magischen Spiegel, so daß er seine Reise Jahrhunderte in der Zukunft fortsetzen kann.

Zusammen mit der Schwimmerin landet Thel per Spiegel in weiteren Epochen und Landstrichen, mal glücklich, mal nicht. Schließlich beginnt alles wieder von vorn.

Mein Eindruck

Dieses Garn scheint gar kein Robinson-Roman zu sein, sondern erinnert an den mythenwirkenden Silverberg, an den skurrilen Jack Vance, an den satirischen Swift und den selbständigen Robinson Crusoe. Und es könnte durchaus als geologischer Bericht durchgehen, in Auftrag gegeben von den legendären Weltschöpfern, die sehen wollten, ob Schönheit ohne Liebe existieren kann.

Die Schönheit ist in der Gestalt der Welt, doch Liebe scheinen nur Thel und seine Gefährtin zu kennen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wandern sie noch heute. (Dieser Kurzroman wurde als ACE Double veröffentlicht, was wohl seine Endlosstruktur erklärt. Die andere Hälfte des Doppelromans bildete Jack Vances preisgekrönte Novelle „The Last Castle“.)

Unterm Strich

Die Qualität der Beiträge liegt 1994 über dem Durchschnitt, und die meisten sind sehr lang, bis zu 115 Seiten. Auffällig ist das Fehlen weiblicher Autoren in dieser Auswahl. Auf jeden Fall bieten die Beiträge einen guten, qualitativ hochwertigen Einstieg in das Genre. Besonders gut gefiel mir die Novelle von Robert Erzählung – die alten Meister sind eben doch die größten Könner.

Taschenbuch: 576 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 9783453072640

www.heyne.de

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