Wolfgang Jeschke (Hg.) – Science Fiction Story Reader 20. Erzählungen

Klassische Phantastik, darunter zwei US- Meisterwerke

In dieser Anthologie sind 13 SF-Erzählungen internationaler AutorInnen sowie zahlreiche deutschsprachige Gedichte vereinigt, darunter:

– Gene Wolfes Novelle „Sieben amerikanische Nächte“ (rund 70 Seiten);
– sowie Kate Wilhelms Novelle „Ein Untier an der Angel“ (ebenfalls rund 70 Seiten) und
– Erzählungen von Autoren aus der UdSSR, aus Deutschland, CSSR, Frankreich, Italien und Thailand.

Die 13 ist diesmal keine Unglücks-, sondern eine Glückszahl. Denn mit Gene Wolfe und Kate Wilhelm sind zwei innovative Schwergewichte der US-Phantastik vertreten.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb anno 2015.

Die Erzählungen

1) Karl Wrchowetzky (CSSR): Morgen wird die Kiste gebracht

Lange Zeit hat der Mieter seine Nachbarin angehimmelt, ihren südlichen Akzent bewundert. Er hat ihre Herrenbekanntschaften mitverfolgt, die nächtlichen Gelage, die Abgänge, einmal sogar in einer großen Kiste. Nun endlich rafft er all seinen Mut zusammen, klopft bei ihr und fragt sie nach der Zeit. „Endlich“, freut sie sich, „wurde aber auch Zeit!“ Sogleich kredenzt sie ihm einen feinen Trank, der ihn wie alle seine Vorgänger in ein Schwein verwandelt…

Mein Eindruck

Die Zauberin Kirke lebt. Man muss nur genau hinschauen: Sicherlich gibt es auch in der Nachbarschaft des Lesers eine Frau, deren Wohnung nur von größeren Kisten verlassen wird, aber nicht von männlichen Besuchern. Besonders pikant: Der Protagonist wirft sich vor, in der Schule nicht aufgepasst und nichts gelernt zu haben. Tja, und deshalb hat er eben nicht gemerkt, was für ein Typ Frau Fräulein Helia Kirke wirklich ist.

2) Anna Rinonapoli (Italien): Nächtliches Ministerium

Die Extraterrestrier greifen die Erde an! Nach der Schlacht bei den Asteroiden haben sie den Vertrag gebrochen und ihre Schlachtschiffe in Stellung gebracht. Hauptmann Vladimyr Clarcke hat die Nachricht bereits vor 20 Tagen ans Ministerium durchgegeben, mit höchster Dringlichkeit, und seitdem nichts mehr davon gehört. Auch seine zwei Kollegen, die er vorschickte, gingen im Ministerium spurlos verloren.

Deshalb begibt er sich heute selbst in die Höhle des Löwen, um dem General, dem Direktor, nein, dem Minister höchstpersönlich die Meldung zu übergeben. Nachdem er bei einem psychologischen Eignungstest (Kaninchen im Labyrinth usw.) durchgefallen ist, weil er das rote Formular in den Schlitz für gelbe Formulare (oder umgekehrt) steckte, hat er das schier unglaubliche Glück, seine Kollegen Charrier und Juarez wiederzufinden.

Sie brauchen den ganzen Tag, um mit Chuzpe und Unverschämtheit – ja, unter Vorspiegelung falscher Fakten! – das Vorzimmer des Ministers zu erreichen. Inzwischen ist die Nachtschicht eingerückt und hat die Amtszimmer besetzt. Mit Schützenhilfe eines Ersten Sekretärs, der kaum noch etwas zu verlieren hat, weil ihm seine Pension bald sicher ist, rücken sie ins Zimmer des Nachtministers vor: Der Rüssel mitten im Gesicht sieht seltsam aus, und sein menschlicher Vorgänger hat das Zeitliche gesegnet, aber das kann den neuen Nachtdirektor nicht davon abhalten, die drei Astronauten zu empfangen und ihre Akte zu begutachten.

„20 Tage!“, ruft er aus. Doch das ist kein Anlass, die Bürokratie abzuschaffen, o nein, es ist vielmehr Anlass, die Bürokratie auf den Rest der Galaxis auszuweiten. Denn von Ministerien, die derart langsam arbeiten, haben die Extraterrestrier nichts zu befürchten, ganz im Gegenteil…

Mein Eindruck

Die an Kafka erinnernde Handlung ist natürlich pure Satire. Die Aliens können sich in Sicherheit wiegen, solange es solche Bürokratien und Ministerien gibt. Die Autorin greift natürlich den aufgeblähten Beamtenapparat an, der trotz Einführung des Computers noch langsamer arbeitet als zuvor, denn es gibt einen simplen Trick, Computerarbeit ineffektiv zu machen: Man erhöht die Zahl der Mitarbeiter und der Formulare. Tja, und im äußersten Notfall, falls wider Erwarten doch mal etwas klappt, gibt es noch die Psychologische Abteilung…

3) Jörg Weigand: Shira

Die Erdregierung hat Frank Delatty schanghait und ihn auf einen gottverlassenen Planeten verfrachtet, wo er als Vorgeschobener Beobachtungsposten (VOB) den Raumsektor eines Blauen Riesensterns kontrollieren soll. Das Leben dort wird von nur von einem bestimmt: Monotonie. Bis etwas in der 22. Woche passiert.

Eine Wolke am Himmel! Frank traut seinen Augen kaum. Aus der Wolke wird eine Wolkendecke und aus dieser ein Gewitter. Der Regen benetzt das kahle Land und ein Klumpen erhebt sich aus der Einöde. Nach ein paar Tagen ist daraus ein Baum geworden, der eine einzige Blüte treibt. Sie ist rosa, gibt einen betörenden Duft ab und – spricht telepathisch mit Frank. „Ich bin Shira, und du?“

Fortan unterhalten sich Frank und Shira – die das Oberkommando der Raumflotte schön grüßen lässt – per Gedankenaustausch. Eines Tages gesteht ihr Frank seine Liebe, denn er ist froh, dass er jemandem zum Reden hat. Doch sie fragt: „Was ist Liebe?“ nach einigem Überlegen antwortet Frank: „Wenn man jemanden zum Sterben gern hat.“ Das wird er schon bald unter Beweis stellen müssen…

Mein Eindruck

Einerseits ist dies eine Liebesgeschichte der romantischen Art, andererseits auch eine Öko-Story: Franks VOB-Welt bringt nur alle 30 Jahre eine solche Blüte hervor. Von daher mangelt es eindeutig an Forschungsdaten. Die Ärzte, die Franks Leiche finden, wundern sich nur kurz über das „Unkraut“, das sie unter seiner Leiche finden. Doch auch sie sind keine Ökofreaks: Unkraut kommt ihnen ganz normal vor.

Das Szenario erscheint heute anachronistisch. Franks Job würde heute längst von einer KI erledigt werden, die in einem Roboter steckt. Der würde wohl von erotischen Blüten wohl kaum telepathische Liebeserklärungen erwarten.

4) Dmitri Bilenkin: Die Schattenseite der Vollkommenheit (UdSSR)

Chefingenieur Katzler traut seinen Augen nicht: Auf der Übersichtsanzeige seines Raumschiffsantriebs tauchen immer mehr rote Punkte auf, die auf Fehler hinweisen! Dabei ist das Schiff nagelneu, ebenso die beiden Antriebsmodule, und alle Reparaturen werden von kleinen Bots erledigt. Er schaltet auf Reserve um – schon nach kurzer Zeit bietet sich ihm das gleiche, bestürzende Bild. Wie kann das sein?

Er muss in jedem Fall Kapitän Tosorov Bericht erstatten. Bei diesem befindet sich der Bordphilosoph Basargin, mit dem Katzler schon bei Frühstück über das Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Krankheit – Katzler fürchtet Viren – unterhalten hat. Dieser klärt ihn über eine gewisse Dialektik in der Natur und Wissenschaft auf, die bei perfektionierten Systemen auftritt. Entweder entwickelt das System eine höhere Komplexität oder fällt in einer Zustand niedrigerer Komplexität zurück, die wie Primitivität aussieht.

Fazit: Katzler wird wohl oder übel mit dem Zuwachs an roten Punkten leben müssen. Letzten Endes ist er es, der über Wohl und Wehe des Schiffes entscheiden muss.

Mein Eindruck

Wie der Übersetzung abschließend in einer Fußnote anmerkt, geht die von Basargin benutzte Extrapolation auf die „Dialektik der Natur“ von Friedrich Engels zurück, stammt also aus dem 19. Jahrhundert. Engels behauptete, dass die von Hegel ersonnene Dialektik nicht nur auf die Gesellschaft anwendbar ist, sondern auch auf die Natur und Wissenschaft & Technik. Der Autor Bilenkin ergänzt diese These, dass die Evolution – sowohl in Natur wie in der Technik – gleichzeitig (!) sowohl pro- als auch regressive Tendenzen aufweist.

Die größte Schwäche der Erzählung, nämlich der Mangel an Handlung, wiegt diese intellektuelle Qualität fast wieder auf.

5) Shaikupt: Aus dem Herzen der Galaxis zur Erde (Thailand)

Auf einer Welt im herzen der Galaxis findet der junge O-El seine Seelengefährtin und ehelicht A-Ryl, mit dem Segen der Ältesten. Doch sie haben eine Pflicht zu erfüllen: Sie müssen Welten finden, die sich dem galaktischen Imperium anschließen können und wollen. Alsbald fliegen sie mit ihrem Raumschiff hinaus zu den äußeren Spiralarmen der Galaxis.

Der dritte Planet einer gelben Sonne scheint intelligentes Leben zu beherbergen. Doch als sie sich nähern, verlaufen alle Kontaktversuche im Sande. Diese Wesen, deren Flugzeuge gerade aufsteigen, scheinen die telepathische Kommunikation nicht zu beherrschen. Als die anderen auf sie Raketen abfeuern, können die beiden Gefährten alle bis auf eine mit Gedankenkraft abwehren. Sie stürzen ab.

Als O-El erwacht, ist sein Körper zwar intakt, doch A-Ryl antwortet nicht. Seine erste Reaktion ist Wut, und die Erdlinge sterben wie die Fliegen unter seinem Gedankenpuls. Soll er auch den Rest der Weltbevölkerung vernichten? Welchen Sinn hätte? Daher zieht O-El die andere Konsequenz…

Mein Eindruck

Die beiden Gefährten sind zwar Götter, doch ironischerweise sehr anfällig für Selbsttäuschungen. Zunächst erkennen sie nicht, dass andere Lebensformen auch andersartige Kommunikationsformen entwickelt haben könnten. Zweitens, dass dort, wo schon Götter herrschen, kein Platz für neue ist – diese werden vernichtet. Drittens kann sich O-El nicht zur Verständigung durchringen, sobald er erkennt, dass er die Hälfte seiner Seele, nämlich A-Ryl, verloren. Dumm gelaufen! Auf solche dämlichen Götter können wir gut verzichten.

6) Rainer-Michael Rahn: Der Glückliche

In einer total kontrollierten Umgebung und Gesellschaft erhält Anno ein Glückwunschschreiben vom Kommissariat für Wunsche: Er sei der Glückliche des Jahres. Ihm würden alle Wünsche erfüllt werden. Dass dies im Gegensatz zum ersten Eindruck kein schlechter Scherz ist, findet Anno schnell heraus, dann soll er sich persönlich zum Superkommissar im Hauptquartier begeben.

Oben auf dem Dach des Hauptquartiers hypnotisiert der Superkommissar seinen Besucher, um ihn ein paar Tests zu unterziehen. Ist Anno überhaupt geeignet, um als Galionsfigur in einem nationalen Video aufzutreten? Rasch zeigt sich, dass Anno sein Alter Ego in allen drei Videoprojektionen ablehnt. Er muss aus der Hypnose geweckt werden. Als er darauf besteht, hinter den Monitor zu schauen, sind die psychologischen Folgen verheerend…

Mein Eindruck

Die Erzählung ist inhaltlich wie ästhetisch ähnlich einfach gestrickt. Als Big Brother – anno 1982 nur noch zwei Jahre entfernt – den Protagonisten beglückt und missbrauchen will, zeigt sich die ganze Perfidie eines auf Fake-Marketing und Totalkontrolle basierenden Gesellschaftssystems. Dass Anno (beinahe) darauf hereinfällt, liegt am Fehlen einer vermittelnden und aufklärenden Instanz, die wir immer noch als freie journalistische Presse kennen (aber wie lange noch?). Annos Abenteuer erscheint heute als pillepalle angesichts der realen Manipulationsmöglichkeiten des Internets und der sozialen Medien.

7) Oliver Behnssen: 4 Gedichte

„Für einen beliebigen berühmten Staatsmann“
„Frieden: Utopia?“
„Sonnenbestattung (für Jules Vernes)“ (sic!)
„Konkrete Utopie (Mensch und Maschine“

Mein Eindruck

Die vier Gedichte sind recht verschieden in Stil, Thema und Aufbau. Wo „Staatsmann“ noch einen Appell, auch angesichts der „Informationsüberflussgesellschaft“ locker zu bleiben und aufs Land zu ziehen, formuliert, da zweifelt „Konkrete Utopie“ an künftiger Technologie, die aber mittlerweile real ist: Eine Brille, die den Lokführer vor dem Einschlafen warnt und bewahrt. Sie ist real, sofern man der TV-Reklame glauben darf, in deutschen Pkw.

Frieden ist in der Taube symbolisiert – warum nicht auch in einem Stern, fragt der Autor. Dass er aber den Namen des Autors „Jules Vernes“ mit einem überflüssigen S versieht und diesen Fehler auch noch in dem Schiffsnamen „Juliette Vernes II“ wiederholt, vermochte ich nicht nachzuvollziehen. Dass dieses Schiff ein Bote der Liebe ist, finde ich sympathisch, warum es aber bei Nichtauffinden des Liebsten in eine schier ewige Ellipsenbahn um die Sonnenliebe einschwenken sollte, bevor es „aschenlos“ endet (es verglüht nicht etwa in der Sonne), leuchtet mir aber nicht ein.

8) Irmtraud Kemp: Paulette

Die New Yorker Erzählerin nimmt die Gelegenheit wahr, ein paar Wochen bei ihrer Freundin Carol Adams auf dem Lande in den Catskill Hills zu verbringen. Schon auf der Hinfahrt fällt ihr ein kleines weißes Landhaus in Garefield auf. Es soll angeblich der Familie McGarcy gehören, doch bei einem ersten Besuch erweist es sich als verlassen, unverschlossen und sogar teilweise verfallen: Der Küchenboden ist in den Keller gestürzt, so verfault war das Holz. Als letzten Eindruck nimmt sie eine alte Puppe aus der Kaiserzeit mit.

Dieses Bild zeiht unsere Erzählerin wieder zu dem Haus zurück – und dort entdeckt sie ein junges Mädchen, das sich Mary-Anne nennt. Aber die Dame darf sie gerne Annie nennen. Annie wartet auf das Eintreffen ihrer Familie und ihrer Kusine Nicole. Die habe eine Puppe namens Paulette. Die Dame ist erstaunt, als sie merkt, dass die Beschreibung von Paulette genau auf die Puppe passt, die sie beim Besuch zuvor gesehen hatte. Einen Besuch später verrät Annie der Dame, dass Nicole gestorben sei.

Ihrer Freundin Carol erzählt sie jetzt erst von Annie, den McGarcys und einem Mädchen namens Nicole, das gestorben sei. Carol ist erstaunt und verweist alle Behauptungen ins Reich der Märchen. Es ist klar, dass man mit ihr nicht über dieses Thema sprechen kann. Die Zeit des Urlaubs ist bald vorüber. Zum Abschied besucht die Dame Annie ein letztes Mal. Annie vertraut ihr an, dass sie froh sei, dass Nicole tot sei, denn jetzt habe sie Paulette, die Puppe, ganz für sich allein…

Mein Eindruck

Sobald Carols Eltern zurückgekehrt sind, wird unserer Chronistin klar, dass Annie nicht existiert – es gab mal ein solches Mädchen in den 1920er Jahren, doch das war in jenem Haus so traurig, dass seine Eltern nie wiederkamen. Diese einfühlsam und geschickt erzählte Geistergeschichte steht ganz in der Tradition der von M.R. James wiederbelebten Geistergeschichte: Ein vergangenes Unglück wird wieder in Erinnerung gerufen, aber nur demjenigen, der dafür besonders empfänglich ist. Die Erzählerin ist solch eine empathisch begabte Person.

Insgesamt handelt die Geschichte nicht nur von der Wahrnehmung eines Geistes, sondern vor allem von dem, was Annie zu sagen hat: Wie sie die Puppe Paulette so sehr haben wollte, dass sie sogar ihre Kusine Nicole den reißenden Fluten eines Baches überantwortete. Es geht also sowohl um Gier und Besessenheit. Diese Obsession hätte noch weitere, viel weiter zurückliegende Opfer fordern können, doch diesen Teil hat die Autorin wohlweislich weggelassen. Sie verliert lediglich ein paar Worte über Nicoles Mutter, die Französin Francoise, der Annie mit Fremdenhass begegnet.

Keine Geistergeschichte ohne schaurige Pointe! Sobald sie zu Weihnachten wieder in New York City ist, erhält unsere Erzählerin ein mysteriöses Päckchen, dem ein Zettel beiliegt. Die kurze Notiz ist mit A. unterzeichnet. Dreimal darf man raten, was sich in dem Päckchen befindet…

9) Gene Wolfe (USA): Sieben amerikanische Nächte (Seven American Nights)

Dies sind die Tagebuchnotizen Nadan Jafarzadehs, überbracht von Hassan Kerbelai, der sie Nadans Schwiegermutter in spe übergibt. Der persische Dichter Nadan Jaffazadeh besucht Ende des 21. Jahrhunderts die amerikanische Ostküste und quartiert sich in einem „guten“ Hotel in Washington, D.C., ein. Schon die Einfahrt in den Hafen verhieß nichts Gutes: Das Wasser war senfgelb. Auf den Straßen treibt sich Gesindel herum, und die Hotelleitung warnt ihn ausdrücklich davor, in den Park zu gehen. Aber Nadan ist ja hier, um kulturelle Eindrücke aus erster Hand zu sammeln, insbesondere was Architektur, Kultur und Leute angeht. Also geht er ins Theater um die Ecke.

Dort verliebt er sich in die Schauspielerin Ardis Dahl, die die junge Unschuld spielt. Er bekommt heraus, wo sie wohnt. Doch als man ihm den Zutritt zum Haus verwehrt, wird er von einem halbmenschlichen Wesen angesprungen. In letzter Sekunde streckt er es mit seiner Laserpistole nieder. Als er später zu der Stelle zurückkehrt, ist das Wesen verschwunden.

Im Bemühen, Ardis seine Verehrung zu bezeigen, gerät er an den Schauspieler Bobby O’Keene, der ein zwielichtiger Charakter zu sein scheint. Als Nadan glaubt, der Mann wolle sein Notizbuch rauben, schlägt er ihn nieder und verursacht so einen Menschenauflauf. Die Polizei besteht darauf, Bobby mitzunehmen, obwohl sich Nadan sehr für ihn einsetzt, denn wer soll nun Bobbys Rolle auf der Bühne übernehmen?

Ardis dankt ihm seinen freundschaftlichen Einsatz, indem sie in ihm Hoffnung weckt, seine Liebe habe bei ihr Chancen. Er ist ein solcher Romantiker, dass er den Hintergedanken erst später mitbekommt: Sie will ihn für eine Expedition ins Hinterland einspannen, um dort zu plündern und das Beutegut über ihren Vater, einen Antiquar, zu verscherbeln.

Er hat nichts dagegen einzuwenden, auch wenn Bobbys und Ardis‘ Geschäftspartner wenig vertrauenerweckend wirken – er hatte sie schon auf dem Schiff gemieden. Die letzte Nacht vor der Abreise verbringt Nadan bei Ardis, doch ein unglücklicher Zufall enthüllt ihm, was sie in Wahrheit ist…

Mein Eindruck

Die Erzählung erinnert ein wenig an Mark Twains scharf beobachtende Reiseberichte wie etwa „Durch Dick und Dünn“, die gespickt sind mit – meist ironischen – Anekdoten über Land und Leute. Auch Nadan versucht objektiv zu sein, doch seine Beobachtungen eines verfallenen, vergifteten, von Kranken, Krüppeln und Mutanten bewohnten Amerika sind nicht dazu angetan, beim Leser Stolz oder Mitgefühl auszulösen. In den Parks und Friedhöfen treiben sich Räuber und wilde Hunde herum, wenn nicht sogar Schlimmeres. Die Polizei ist ein einziger Mischmasch aus Behörden, so dass jede Anfrage in einem kafkaesken Dickicht zum Erliegen kommt.

Die romantische Verehrung des Dichters für eine Schauspielerin ist ebenfalls ein alter Topos aus dem 19. Jahrhundert – man denke nur an „Die Kameliendame“. Nadans Urteilsvermögen ist geschliffen an persischer Tradition, doch seine Meinung ist etwas völlig anderes: Er hält sich ans Gebot der Höflichkeit, das Touristen im Ausland befolgen sollten. Schließlich kann er nicht ablehnen, als man ihm die Rolle eines Mitwirkenden im Stück „Mary Rose“ anträgt, und er schlägt sich dabei wacker.

Recht eigenartig mutet hingegen Nadans Einfall an, eines von sechs Schokoladeneier mit einer halluzinogenen Flüssigkeit zu tränken und sich so dem Spiel des Zufalls auszuliefern. So kann er sich zumindest einreden, sich die Bestie, die ihn am Dahl-Haus anfiel, nur eingebildet zu haben. Das aber geht in der Nacht der Wahrheit, als er Ardis‘ wahres Wesen erkennt, nicht mehr.

Was ist nun von alldem zu halten, fragt sich die Schwiegermutter und berät sich mit Nadans lieber Verlobten Jasmin, die er doch so schmählich betrogen zu haben scheint. Vielleicht ist all dies nur Geflunker, und die amerikanische Bundespolizei hat darin herumgepfuscht. Wer weiß? Wer will es überhaupt so genau wissen?

10) Henning Heske: 4 Gedichte

„Steine des Lichts“
„Strahlen von Musica“
„Kreuz des Fliegens“
„Parseksteine“

Mein Eindruck

In allen vier Gedichten spielen Raumschiffe und Astronauten eine Rolle, doch wichtiger sind ihre menschlichen Erfahrungen. Formal frei komponiert, entführen die Gedichte den Leser in offene Räume, in denen Wunder warten. Bemerkenswert fand ich aber, dass das Raumschiff „Ikarus IV“ heißt. Solche Namen wurden v.a. in der DDR oder der Sowjetunion verwendet, wobei man aber sagen muss, dass der Verweis auf die „Ikarus“-Sage ein eher unglücklicher für ein Raumschiff ist.


11) Kate Wilhelm (USA): Ein Untier an der Angel (With thimbles, with forks, and hope, 1981)

Charlie war jahrelang Polizist in New York City, ist aber wegen Alpträumen mit seiner Frau Constance, einer Psychologin, aufs Land gezogen. Beide sind ja erst 50, und seit ihre Tochter Jessica auf dem College studiert, gehen sie ihren Neigungen nach. Dazu gehört auch, dass Charlie als Ex-Cop als eine Art Detektiv arbeitet. Diesmal für eine Lebensversicherungsgesellschaft.

Deren Chef hat Hinweise darauf erhalten, dass ein gewisser Lou Bramley sich in Kürze umbringen und es dabei wie einen Unfall aussehen lassen wolle. Der hat aber eine Lebensversicherung über einen halbe Million abgeschlossen, die seine Frau ausgezahlt bekäme, natürlich um die Familie zu ernähren. Das Tragische: Bramley ist ein Computerfachmann, der eine Schwachstelle in einem angeblich sicheren System aufgedeckt hat. Solch ein Mann ist Gold wert, und er habe viele Angebote bekommen, aber alle abgelehnt. Es wäre also sehr schade um ihn – und dass die Versicherung die Prämie nicht auszahlen will, versteht sich von selbst.

Charlie und Constance fliegen nach Florida, wo Lou Bramley in einem schicken Hotel logiert. Constance ist erstaunt, wie schwer sie an ihn herankommt – er wird quasi von einer anderen Frau belagert. Diese June Oliveira scheint einen psychischen Bann auf Bramley auszuüben. Dieser Bann funktioniert zu Constances Erstaunen auch bei ihr: Statt die beiden auf der Terrasse anzusprechen und zu trennen, geht sie lieber weiter – und sich fast einen Sonnenstich. Constance hat die Fähigkeit der Vorahnung und warnt Charlie: Das ist eine höchst gefährliche Frau. Aber was führt sie im Schilde?

Durch brillantes Teamwork gelingt es den beiden Amateurdetektiven, Bramley loszueisen, so dass Constance separat mit ihm sprechen kann. Er hat seinen Selbstmord minutiös geplant, doch sie kann ihm einen alternativen Plan vorschlagen. Mit Charlies Hilfe können sie Bramleys Zukunft und das seiner Familie retten, doch June Oliveira erweist sich als wahre Klette: Sie nimmt nun insgeheim das Ehepaar ins Visier.

Um sich zu entspannen, übernehmen Charlie und Constance das Ticket für eine Angeltour auf dem Meer. Dino ist der Kapitän der Jacht, mit der die Tour angeboten wird. Dass sich so ein einfacher Typ ein derart schniekes Schiffchen leisten kann, indem er Angler kutschiert, kommt Charlie spanisch vor. Steckt etwa Rauschgiftschmuggel dahinter? Dino nimmt die beiden an Bord, erwähnt aber beiläufig, dass es noch einen dritten Passagier gebe.

Am nächsten Morgen dann die Überraschung: June Oliveira ist an Bord. Schon bald beginnen die Dinge schiefzugehen. Der Kapitän geht über Bord, der Motor fällt mitsamt dem Funkgerät aus – und es wird Nacht auf See. Nun sind sie der Hexe ausgeliefert. Oder doch nicht?

Mein Eindruck

Wie so häufig hat Kate Wilhelm auch mit dieser Erzählung ein schönes Beispiel für einen übernatürlichen Krimi abgeliefert, der in einem Thriller-Finale gipfelt. Das übernatürliche Element stellt die rätselhafte June Oliveira dar, doch an dieser Stelle soll nicht über ihr Motiv verraten werden.

Das eigentliche Thema ist nämlich nicht, wer welche übersinnlichen Kräfte ausübt, wer mit welchem Recht und welchen Mitteln dagegen vorgeht. Anfangs sind Charlie und Constance der festen Überzeugung, sie hätten das Recht auf ihrer Seite und seien somit die Guten. Der Kampf, den sie mit allen Mitteln gegen June führen müssen, erzeugt in ihnen jedoch berechtigte Zweifel. Sie setzen alle fiesen Tricks ein, die sie, wie Charlie, von echten Verbrechern wie etwa Brandstiftern erlernt haben oder die ihnen spontan einfallen. Doch angesichts der Gefahr, die von June ausgeht, scheinen diese Mittel berechtigt zu sein. Keiner würde ihnen später glauben, außer den Artgenossen Junes.

Würde man diese skrupellose Haltung auf die Behörden und Organe einer Regierung übertragen, so müssten den Bürgern schwere Zweifel kommen, ob die gewählten Volksvertreter und die von ihnen eingesetzten Mittel noch moralisch vertretbar seien. So war es in der Watergate-Affäre, die eine ganze Generation mit Paranoia gegenüber ihrer Regierung erfüllte. So war es in der Wikileaks-Affäre, als irakische und andere US-Gefängnisse von Militär und CIA als Folterkammern bloßgestellt wurden.

12) Billie Sanders: 2 Gedichte

„Gestern – heute – morgen“

Eine Reise durch die Zeit: vom gestrigen Paradies über den heutigen Stadtpark in die morgige Glaskuppel, die das Ich reflektiert, verhöhnt und einsperrt.

„Einzug“

Gott zieht in seine neugeweihte Kirche ein: leider gibt es ganz verschiedene Klassen von Gläubigen. Die bekehrten Heiden müssen sich mit einer Fototapete begnügen. Alles nur schöner Schein?

Mein Eindruck

Beide Gedichte verfügen über einen kritischen Ansatz, wenn auch in ganz unterschiedlicher Stoßrichtung. Wieso Gott in diesem SF-Reader auftaucht, wissen nur die Götter.

13) Jörn Bambeck: Prinz Eisenherz

Anno 2032. Maras Beziehung zu Sten ist in die Brüche gegangen, und weil er schon wieder eine Neue hat, ist ihr Herz schwer verwundet. Ihre beste Freundin Ruth empfiehlt ihr einen Therapeuten. Schon nach wenigen Gesprächen ist sie rettungslos in ihn verliebt. Dabei betreut er, wie sie durchs Fernglas von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachten kann, auch andere Frauen und Paare. Als sie ihm ihre Liebe gesteht, sagt er, dass er bereits eine andere liebe – „zur rechten Zeit“. Was soll das denn heißen?

Mara geht wieder, aber sie hat Verdacht geschöpft. Wer ist denn diese andere, die er angeblich liebt? Sie besorgt sich ein Fernglas und die Wohnung gegenüber seiner Praxis, legt sich auf die Lauer. Nacht um Nacht vergeht, bis endlich der Vollmond sein Licht in den hintersten Winkel seiner Praxis fließen lässt – und dort sieht sie ihn…

Mein Eindruck

Das Datum 2032 ist nicht zufällig gewählt, falls sich der Leser gewundert haben sollte. 99 Prozent der Handlung könnten genauso gut in Sigmund Freuds Praxis in Wien oder London spielen. Wäre er nicht allseits als verheiratet bekannt und mit einer großen Kinderschar gesegnet gewesen, hätte sich der Couch-Papst wohl auch nicht vor Verehrerinnen retten können. Doch Mara muss ja ausgerechnet an einen Roboter geraten… Ist sie jetzt von ihrer Liebe kuriert?

14) Frank Scheurer: Ersatz (Gedicht)

Es gibt Ersatz für alles: Kaffee, Butter, Milch, Eier. Bald auch fürs Leben.

Mein Eindruck

Die Extrapolation des Trends, alles zu ersetzen, ist mittlerweile fast eingetreten. Denn die obige Liste ist immer noch unvollständig und wird immer länger.

15) F.J. Samedy: Das zweite Paradies

Eduard Gottlob Schmitz erlebt eine wunderbare Simulation in der Zelle, die das Ministerium für psychologische Aufmunterung (MFPA) ihm bereitgestellt hat. Der Arbeitslose kann sich einen schönen Tag machen: Im Jahr 1997 lebt er in einem Smart Home, muss nur vier Stunden arbeiten und wird abends mit dem besuch einer Frau belohnt. Dass alles nicht so recht seinen Wünschen entspricht, ist einprogrammiert. Allzu perfekt darf die Zukunft auch wieder nicht sein, haben die Psychologen des MFPA gesagt, sonst wirke das zweite Paradies unglaubwürdig.

Mein Eindruck

Smart Homes sind mittlerweile ebenso selbstverständlich wie Heimarbeitsplätze. Zwar werden die Smart Homes leicht gehackt, und die Heimarbeiter helfen beim Stellenabbau, aber die Regierung verkündet stetig sinkende Arbeitslosenzahlen. Und sobald die weiblichen Erotik-Roboter, wie in den USA bereits geschehen, intelligent und lernfähig sind, steht auch der Abendunterhaltung nichts im Wege. Man sieht: Aus der einstigen Satire ist mittlerweile Realität geworden.

16) Horst Mehler: Kosmische Mission

Das Wesen von einem anderen Stern benutzt einen Psychomaten, um den Geist eines Läufers aus dessen Körper zu entfernen und dessen Platz einzunehmen. Der Sieg im Wettlauf ist ihm gewiss. Doch kurz darauf passiert etwas Unvorhergesehenes: Er landet im Körper von E.T.A. Hoffmann, der zu dieser Zeit in Berlin wohnt und mit einer drallen Schönheit verheiratet ist.

Er treibt Possen, bis er eines Tages in einem der literarischen Salons auf einen Artgenossen trifft: Friedrich de la Motte Fouqué nennt sich dieser Körper, doch der geist kommt eindeutig von seinem eigenen Stern. Die Erschütterung ist gewaltig und Hoffmann erfüllt Fouqués dringliche Bitte so viel zu schreiben wie möglich.

Allerdings ändern sich die Zeiten, und Hoffmann wird aufs Polizeirevier in Berlin vorgeladen. Der Polizeimeister bewegt sich wie ein Automat, stellt aber bohrende Fragen nach Hoffmanns Identität. Auch darauf hat Fouqué eine Antwort: Der Polizeimeister werde von einem Angehörigen einer konkurrierenden Rasse beseelt. Sein Rat daher: Hoffmann müsse „sterben“. Sprach’s und verschwand.

Nun ist guter Rat teuer: Das Wesen braucht einen neuen Wirtskörper. Da fällt sein Blick auf sein arg vernachlässigtes Eheweib – und dessen immer noch ungefüllten, schönen Leib…

Mein Eindruck

Der Stil dieser Alien-Erzählung ist der einer Pastiche auf den Hoffmannschen Stil: voller Ausrufezeichen. So entsteht der Eindruck, als würde sich der Erzähler viel zu wichtig nehmen. Der Sinn des Ganzen ist ebenfalls recht unverständlich, bis dann Fouqué mit der Sprache herausrückt: Der Sinn der Alien-Invasion mit der feindlichen Übernahme bestimmter menschlicher Körper ist die Gründung einer neuen ästhetischen Bewegung in Deutschland, die sich als „Romantik“ in die Literaturgeschichte einschreibt. Brentano, Kleist, Tieck und wie sie alle heißen – alle wurden von Aliens übernommen.

Kein Wunder also, dass äußerst merkwürdige Erzählungen, Stücke und sogar Opern entstanden, die dem Klassizismus Hohn sprachen, den Schiller und Goethe vertraten. Dass die ganze Sache vielleicht auch ganz banale wirtschaftliche Gründe haben könnte – zumindest bei Hoffmann und Kleist -, darüber wird natürlich kein Wort verloren. Wie auch immer: Die Romantik ist ein Himmelsgeschenk. Und wer weiß: Hoffmanns Transplantation in sein eigenes Kind führte wohl dazu, dass die Romantik auf genetischem Wege weitergeführt worden ist.

17) Daniel Walther: Sonnenwende – An den Toren von Obriariatan (Frankreich, 1979)

Ein Mann unbestimmter Herkunft liegt neben einer Frau friedlich am Strand, als Reiter einer Armee auftauchen und sie nach dem Weg zur Festung fragen. Er gibt dem Soldaten die gewünschte Antwort, und die Reiter verschwinden. Als er nach einem kurzen Tauchgang zurückkehrt, ist die Frau weg und fremde Reiter in weißen Uniformen dringen in die Stadt ein, die sich merkwürdig verändert hat. Sein eigenes Haus ist mit einem großen, roten Kreuz markiert, so dass er lieber vorübergeht. Da seine Papiere in dem Haus sind, kann er sich nicht ausweisen, wird als Spion verhaftet und eingesperrt. Er schützt Amnesie vor.

Sein Wärter ist ein Menschenfreund, aber der Leutnant ist es nicht. Der Soldat, den der Gefangene als den Soldaten am Strand wiedererkennt, ist eine Art Gotteskrieger. Alle, die nicht seines Glaubens sind, sind gegen ihn und müssen folglich getötet werden. Die Hinrichtung soll am Mittag auf den Zinnen der Festung Obriariatan stattfinden. Obriariatan bedeutet „die letzte Stadt“, weiß der Todgeweihte. Doch bevor die Schüsse fallen, stürzt er sich von den Zinnen in die Tiefe – wieder ins Meer. Aber wo bzw. wann wird er diesmal ankommen?

Mein Eindruck

Auf eine sehr traumartig verschlüsselte Form entwirft der politisch engagierte Autor eine Alternativwelt, in der sein angeblich so idyllisches Land (Sommer, Sonne, Strand und Frau) von fanatischen Gotteskriegern erobert und die Bevölkerung, die sich nicht sofort unterwirft, gnadenlos hingerichtet wird. Alle sind wie in einer Legende oder einem Märchen ohne Namen (selbst in „Aschenputtel“ und „Dornröschen“ reicht es, wenn der Prinz „der Prinz“ ist und nichts weiter). Daher kann „die letzte Stadt“ stellvertretend für alle Endzeitorte stehen.

Dieses religiös-militärische Szenario erinnert an deutsch-die französische Besatzungszeit während des 2. Weltkriegs, doch unter dem Vorzeichen eines Religionskrieges. Für die französischen Juden war es bestimmt einer, denn sie wurden alle deportiert und in KZs ermordet. Die Embleme der Gotteskrieger bzw. Kreuzritter sind der Fantasy entnommen: Ein goldener Hippogryph, der eine gelbe Schlange zertritt. Es könnte genauso gut ein St. Georg-Ritter sein, der einen Drachen tötet. Die Embleme sind austauschbar geworden – hier passen sie zu der Überzeitlichkeit des Märchens oder Traums.

Die Übersetzungen

S. 58: „gestatten Sie ein[e] indiskrete Frage…“: Das E fehlt.

S. 290 & 293: „Rouge et Noir[e]“. „Rot und Schwarz“, Titel eines Romans von Stendhal (ca. 1830). Das E ist meines Wissens nicht korrekt, denn „schwarz“ heißt im Frz. „noir“. Stendhal taucht auch an anderer Stelle in dieser Erzählung auf – ein Fingerzeig für den Leser?

S. 291: „Sie betrachtet ihr Spiegelbild, seziert es wie eine Maske, etwa[s] Fremdes.“ Das S fehlt.

Unterm Strich

Die beiden ausgezeichneten Novellen von Kate Wilhelm und Gene Wolfe rechtfertigen den Erwerb dieses Erzählbandes vollauf. Sie bestreiten mit ihrem exzellenten Stil, ihrer ernstzunehmenden Aussage und ihrem hohen Unterhaltungswert exakt 40 Prozent des Umfangs. Sie sind also ein richtiges Schwergewicht – verdientermaßen, wie ich finde.

Die restlichen 60 Prozent bestreiten internationale Autoren, unter denen die unter Herbert W. Franke noch präsenten Briten auffallend fehlen. Zum Ausgleich hat Herausgeber Jeschke deutsche Talente ausgewählt. Das eindrucksvollste ist mit Sicherheit die ausgezeichnete Erzählerin Irmtraud Kremp mit ihrer Gruselgeschichte „Paulette“. Sie könnte damit in der Tat dem Großmeister M.R. James das Wasser reichen, denn sie folgt dessen Vorgaben in allen Punkten. Ebenso gewichtig ist Daniel Walthers Schreckensvision eines Religionskrieges.

Unter den restlichen Beiträgen herrscht häufig Ironie als Stilmittel vor, um einen Sachverhalt oder eine extrapolierte Entwicklung anzuprangern, etwa in „Nächtliches Ministerium“, „Shira“ oder „Aus dem Herzen der Galaxis zur Erde“.. Den kleinen Rest bestreiten Gedichte, die häufig in die gleiche Kerbe hauen: ein kritischer Ansatz, in SF-Ambiente oder Zukunft verlegt. Auf diese Weise sind alle Beiträge für diese Auswahl qualifiziert.

Man könnte sich angesichts von Gruselgeschichten wie „Ein Untier an der Angel“ und Paulette“ schon fragen, ob der Titel dieser Anthologie noch gerechtfertigt ist: ein Story-Reader ja (plus Gedichte), aber „Science Fiction“? Es war daher folgerichtig, dass Jeschke dieser Anthologie später umbenannte: „Internationale Erzählungen“.

Taschenbuch: 352 Seiten
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 9783453309319

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