Wolfgang Jeschke (Hrsg.) – Schöne nackte Welt. Internationale Science Fiction Stories

Classic SF of 1986: Eine der besten Jeschke-Anthologien

Dieser Heyne-Auswahlband versammelt internationale Science Fiction Erzählungen aus USA, Italien, Österreich, Jugoslawien, Polen, Ungarn und Deutschland.

Zu den Höhepunkten zählen:

• Lucius Shepards zwei Erzählungen „Der Pfad des Jaguars“ und „R & R“,
• die William-Gibson-Story „Der Wintermarkt“ sowie
• die beiden Novellen „Flucht aus Katmandu“ von Kim Stanley Robinson und
• „24 Ansichten des Berges Fuji, von Hokusai“ von Roger Zelazny, und viele mehr.

Kurzum: eine erstklassige Lese des Jahres 1986!

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Jeschke starb 2015.

DIE ERZÄHLUNGEN

1) Eric Vinicoff & Marcia Martin (USA): Der Kompromiss (1983)

Das Skript: Shiela und Louise sind lesbische Geliebte. Doch Wissenschaft und Politik haben sich verschworen, ihre Zukunft zunichte zu machen. Seit Bryant US-Präsident ist, verfolgt er Abweichler, und das sind u.a. auch Homosexuelle. Nun spielt ihm die Genforschung in die Hand: Das H-Y-Antigen soll dafür verantwortlich sein, dass die „Krankheit“ der Homo- oder Bisexualität „ausbricht“. Doch da die „Krankheit“ genetisch bedingt ist, kann sie theoretisch auch „geheilt“ werden. Shiela wird festgenommen, verurteilt und gemäß dem Bryant-Dekret in ein Behandlungszentrum verfrachtet. Die Behandlung ist schmerzhaft, das Ergebnis führt zur Entfremdung von ihrer geliebten Louise.

ENDE des Drehbuchs. Der Autor reicht es bei seinem Agenten ein, damit der es an eine Fernsehproduktionsgesellschaft verkauft. Wenige Tage später wird die Sendung ausgestrahlt und verursacht einen Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit. Unterdessen hat sich Senator Ainsley ein Bild von den Homosexuellen in deren Beratungszentrum in der New Yorker Castro Street gemacht. Den Kompromissvorschlag hat er bei Präsident Bryant eingereicht, der zu seiner Freude vorerst darauf eingeht. Natürlich muss der Kongress noch darüber abstimmen: dass künftig nur Neugeborene der Behandlung unterzogen werden. Senator Ho erinnert das ein wenig an Euthanasie…

Mein Eindruck

Selbst wenn Shielas Geschichte „nur“ ein Drehbuch ist, so spiegelt sie doch die subjektive Erfahrung einer Frau wider, die quasi von Gesetzes wegen zum Liebesentzug verurteilt worden ist. Und das ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann. Der „Kompromiss“, den Sen. Ainsley durchbringt, ist nur scheinbar besser: Die „Behandlung“ von neugeborenen bedeutet ebenso einen Freiheitsentzug wie bei Erwachsenen. Und welche Mutter würde dies ihrem geliebten Kind antun lassen?

Die Erzählung kombiniert die Außen- wie die Innenansicht der Homosexualität und ihrer Bekämpfung, deshalb kann man die Argumentation halbwegs ausgewogen nennen. Als Text ist sie einer der frühesten befürwortenden Beiträge über den Umgang mit männlicher Homosexualität in der US-amerikanischen SF. Dass weibliche Homosexualität langst akzeptiert worden war, zeigte vier Jahre zuvor John Varleys Roman „Der Satellit“ (Titan, 1980, siehe meine Rezension). Einen zentralen Teil der Handlung bilden die intensiven Sexszenen zwischen zwei Frauen.

2) Maciej Parowski (PL): Der Brunnenschacht (ca. 1983)

Die Arkturianer sind gelandet und haben die heldenhaft kämpfenden Truppen in der Festung der Stadtmitte besiegt. Hier draußen an der Peripherie, wo 18 Wohnblöcke von einem Hausmeister, unserem Chronisten, verwaltet werden, verfolgt man die Ereignisse gespannt am TV-Gerät. Die Sendung stammt von den Arkturianern. Man arrangiert sich, will seine Ruhe, zahlt die neue Mehrwertsteuer. Doch als es Winter wird, reicht den Arkturianern die Steuer nicht mehr: Warmwasser, Strom, schließlich sogar gas werden abgestellt. Es wird eisig kalt.

Was soll man machen als alles, was brennbar ist, zu verheizen? Als es ans Eingemachte, die schönen Bücher geht, regt sich Widerstand, den ein gewisser Herr Scribe, seines Zeichens erfolgloser Schriftsteller, organisiert. Er hat einen Kanon von 100 Büchern erstellt, die nicht verbrannt werden sollen und dazu noch ein Stück mit edlen Zitaten verfasst. Es wird am Lagerfeuer in der Mitte zwischen den Wohnblöcken, dem „Brunnenschacht“, aufgeführt.

Scribe wird denunziert und die neuen Herren kommen zum Hausmeister. Der meint, wenn Strom, Gas und Warmwasser wieder verfügbar würden, dann könne man gegen Scribe vorgehen. Schon das Versprechen der Herren wirkt Wunder. Auf einmal hagelt es Denunziationen – über Autoren, zu laute Sexgeräusche und vieles mehr. Schließlich wird Scribe öffentlich und im galaktischen Fernsehen per Guillotine hingerichtet, ein erhebender Anblick. Kaum wird es kuschelig warm in den Wohnungen, als weitere Verdächtige gesucht werden. Da geht noch was…

Mein Eindruck

Die Story ironisiert auf sarkastische Weise den Bedarf des „Volkes“ an „Brot und Spielen“, also Energieversorgung und Unterhaltung. Diesem Bedürfnis wird mitunter auch mal ein Schriftsteller geopfert, um die Gunst der „Invasoren“ zu erhalten. Dieser bitter-sarkastische Text prangert das Denunziantentum in der unterdrückten Bevölkerung (Polens) an und nimmt auch die Literaturszene nicht aus, die sich den neuen Herren andient. Frei nach Brecht: „Vor der Moral kommt das Fressen“ bzw. „Brot geht vor Kunst“.

Man sollte die Aussage vor dem Hintergrund des Aufstandes auf der Danziger Schiffswerft unter Leitung von Lech Walesa beurteilen. Diese erfolgreiche Rebellion läutete das Ende des sozialistischen Herrschaft Jaruzelskis ein. Nur wenige Jahre danach begann in der UdSSR Michail Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika, die zum Untergang des alten Apparatschiksystems führten. Es wurde mittlerweile durch die Herrschaft der Oligarchen ersetzt. Nicht gerade ein großer Fortschritt.

3) Eckhard & Annette Kühn (D): Check (1986)

Der Systemtechniker Walten Burger wird von Terras Raumflugbehörde losgeschickt, um auf dem Planetoiden Cesta die Station auf Funktionstüchtigkeit zu prüfen. Dabei stößt er auf ein Fremdwesen, das offenbar seine Gedanken lesen kann und ihn ein wenig an der Nase herumführt. Es legt Wert auf die Tatsache, dass es sich um eine „sie“ handelt. Ihre Rasse sei viel älter als die der Menschen, die geradezu junge Hüpfer seien. Anhand seiner Reaktionen will sie eine Seminararbeit für ihr Studium anfertigen und daheim abliefern.

Burger kehrt wohlbehalten nach Hause zurück und tut so, als wäre nichts gewesen. Vorsichtshalber lässt er sich vom Psychotherapeuten prüfen und sich einen Kuraufenthalt verschreiben.

Mein Eindruck

Diese angeblich humorvolle Alien-Story entbehrt erstens jeder Motivation: Warum sollte uns ein betagter Techniker diesen Bericht auftischen, der mehr an die Abenteuer des Piloten Ijon Tichy in den „Sterntagebüchern“ von Stanislaw Lem erinnert? Auch an Belanglosigkeit ist diese Begegnung kaum zu übertreffen, da es keinerlei Konflikt gibt, sondern lediglich einen Boy-meets-Girl-Plot, bei dem sich der Prüfende als das zu Überprüfende entpuppt – das Mädchen. (Ist das schon pfiffig?) Kurzum: Nicht nur eine überflüssige Geschichte, sondern auch eine, die an unbekannten bayerischen Ausdrücken wie „Farigölli“ und mangelhafter Zeichensetzung leidet.

4) Peter Meleghy (D): Die dritte Haut (1986)

In zwei Briefen an einen unbenannten Parteisekretär berichten zuerst ein gewisser Jacque Dupont de la Valois von den Vorgängen in jenem berüchtigten Haus in der Pariser Rue Morgue 27, wo sich gewisse betrübliche Todesfälle ereignet haben (von denen ein gewisser Poe ausführlichst berichtete). Valois findet das Haus als eine Art organisches Wesen vor, das in ständigem Umbau begriffen ist. Sein Führer trägt eine Motorradbrille – es ist Poe – und seine Mundwinkel reichen bis zu den Ohren, wie bei einem Frosch. Außerdem schleppt er einen Schlauch mit sich herum, über den er ständig stolpert.

Sie gelangen zu einer Kuppel, die mindestens 250 Meter hoch ist. Schon wieder erklingt hier Mozart. An einer Begrenzungsmauer lehnen junge Nutten mit hochgestellten Bein. Valois empört sich, vergeblich. Im verborgenen Zentrum des unheimlichen Hauses stößt der Besucher auf zwei Glaskuppeln, in denen ein Mann und eine Frau zu sehen sind. Der Mann ist ein geschäftiger Kaufmann oder Wissenschaftler, die Frau eine Zigeunerin, die Klavier spielt. Sie hebt sogleich an zu tanzen, aber derart lasziv, dass ihr Schoß zum Zentrum des Hauses zu werden scheint. Nach dem Höhepunkt fällt sie in sich zusammen wie ein Lumpenbündel…

Mein Eindruck

Mal was Neues von Poe! In einem sehr symbolistischen Text inszeniert er die Rue Morgue als lebendige Pumpstation schwarzen Blutes für den Rest der Stadt Paris. Jeder Organismus wie etwa der Führer – Poe selbst – ist an das Innere des organischen Hauses angeschlossen. Und Poe deutet an, dass auch der Besucher, ein gewisser Valois, bereits diesem Schicksal erlegen sei. Es gibt kein Entkommen vor dem schwarzen Blut der Melancholie, die das Haus in der Rue Morgue verbreitet, in Paris und in alle seine Bewohner.

5) Ervin Gyertyán (HU): Kaufhaus Printemps Parisien (1983)

Im Kaufhaus Printemps Parisien ist eine neue Abteilung eröffnet worden: die für Kyberneroten. Modelle beiderlei Geschlechts stehen in fünf Konfektionsgrößen zum Verkauf bereit, vom Volks-Kyberneros bis zum Repräsentativmodell, mit dem man einen Gesellschaftsabend bestreiten könnte. Der Andrang ist ganz erheblich, aber nicht jeder wieder ein Modell KAUFEN. Manchmal geht eben probieren über studieren, besonders wenn man, wie jener Student, knapp bei Kasse ist. Und ein gewisser Herr hat es gar nicht auf die Roboter, sondern auf die menschliche Verkäuferin derselben abgesehen – seine stürmischen Avancen führen sogar zum Erfolg.

Welche psychologischen Untiefen jedoch beim Kauf von zwei Modellen der Luxusklasse lauern, zeigt sich beim Ehepaar Boudrillat. Madame hat offenbar die Hosen an und verguckt sich den Kyberneros Hugo, mit seiner eleganten Männlichkeit, die, wie sie testen lässt, auch zuzupacken weiß. Leider hat sie Änderungswünsche, die die Maßabteilung nur für einen überhöhten Aufpreis zu erfüllen bereit ist. Als sie zurückkehrt, ist ihr Hugo vergeben. Und ihr Göttergatte hat sich bereits eine kleine, knuddelige Rose spendiert. Na, die kann was erleben! Um Handumdrehen fliegen die Fetzen – und das ist sicher erst der Anfang der Kybererotik…

Mein Eindruck

In dieser unterhaltsamen Studie des ungarischen Autors wird die Einführung von Liebesrobotern Anlass zu einer bürgerlichen Gesellschaftskomödie. Sie wirkt ebenso wie der Schauplatz wie eine Vignette aus der zeit des Pariser Fin de siècle um 1890. Zum Glück werden die Roboter nicht mehr wie weiland Jules Vernes Maschinen mit Dampfkraft betrieben, sondern mit Elektromotoren.

Wo diese Technik auf die menschlich-allzumenschlichen Verhältnisse des Herzens trifft, entzündet sich ironischer Humor – und heftiges Drama, wie man an Madame Boudrillats Zickenkrieg ablesen kann. Bürgerliche Leser dürfen schmunzeln, Fans von Cyberpunk – siehe den nächsten Beitrag wenden sich gähnend ab.

6) William Gibson (USA): Der Wintermarkt (1986)

Casey ist ein besonders guter Programmierer, doch er leidet an einem gebrochenen Herzen. Sein guter Freund Rubin, eine Art digitaler Schrottkünstler, hat eines Nachts Lise aufgelesen, eine Frau, die über ein Exoskelett verfügt, um sich überhaupt bewegen zu können, und sie Casey zugeführt. Das Außenskelett steuerte sie allein mit Willenskraft (und einer guten Portion Aufputschmittel namens Whizz) über eine Nerven-Elektro-Schnittstelle. Fasziniert nahm Casey sie heim und verbrachte eine Nacht mit ihr: Sie stöpselten sich zusammen und erlebten die Welt des jeweils anderen.

Dadurch kam Casey auf die Idee, dass Lise doch mal Songs über ihr Leben schreiben könnte. Diese Songs ergänzte Casey mit Software, die ihre Lebenserfahrung im Exoskelett wiedergab. Nun konnte sich die hungrige und enttäuschte Jugend der Welt diese Rundumerfahrung reinziehen. Lise wurde für kurze Zeit zum gefeierten Medienstar, Casey wurde reich, doch dann ging sie am Whizz zugrunde. Doch Rubin hat Trost: Lise habe sich in einem sauteuren Mainframe-Computer abspeichern lassen. Ob Casey sie dort wohl mal besuchen wolle?

Mein Eindruck

„Wintermarkt“, eine typische Cyberpunk-Story aus seinem Sprawl-Zyklus, wirkt wie eine Vorstudie zu Gibsons Roman „Idoru“ über virtuelle Kunst und Künstler („idoru“ = Idol). Eine elegischer Grundton durchzieht die Story, doch zeichnet Gibson das Bild einer Lowlife & Hitech-Kultur der nahen Zukunft, die äußerst glaubwürdig erscheint, selbst heute noch, da seine Visionen Realität werden. Und die Mainframes sind immer noch sauteuer. Dafür sorgt schon IBM.

7) Ernst Petz (Österreich): Schöne nackte Welt oder die Verfügbarkeit freiwilliger Kriegsschauplätze (1986)

Zwei galaktische Völker, die leguanartigen Tonglids und die käferartigen Kronks, haben so lange Krieg gegeneinander geführt, dass die meisten Rassenangehörigen inzwischen invalide sind. Aber der Krieg an sich, die Aufregung, das Drama, fehlt ihnen. Daher haben sich je ein Psychopharma-Psychologe auf einem Mond der Menschen eingefunden, den ersehnten krieg im Körper bzw. dem Gehirn eines Freiwilligen stattfinden zu lassen. Der chemisch induzierte Krieg wird per EEG in die Sendeanlage übertragen, quasi als Live-TV-Show.

Mein Eindruck

Was wäre das für eine schöne Welt, unsere, wenn die Kriege nur noch psychisch stattfänden, und zwar im Gehirn von Freiwilligen, die sich der Medizin zur Verfügung stellen? Nicht nur die Umwelt würde von Explosionen, Giften und Abfall verschont werden, sondern es kämen auch praktisch keine Teilnehmer zu Tode. Dieser Idealzustand, vor 33 Jahren entworfen, ist mittlerweile fast verwirklicht. Zwar nicht in Körpern, aber doch in Computern und den angeschlossenen Netzwerken und IT-Systemen: im Cyberspace.

Die Story ist eine Abfolge von immer absurder werdenden Schlachten oder wenigstens Auseinandersetzungen, bis hin zur Parodie auf das Nibelungenlied, auf den Nationalmythos Österreichs bei der Abwehr der zwei türkischen Invasionen und dergleichen. Zwischendurch wird auch der Haushalt des Träumenden zum Kriegsschauplatz, ebenfalls eine satirische Zuspitzung eines Ehestreits. Für manchen Leser, der für österreichischen Humor empfänglich ist, ist die Geschichte unterhaltsam, wenn nicht sogar amüsant. Der Rest der Leserschaft fragt sich wohl stirnrunzelnd, was bitteschön ein „Unterläufel“ (S. 174) sein soll.

8) Lucius Shepard (USA): R & R (1986)

David Mingolla ist einer der US-amerikanischen Soldaten von menschlichem Durchschnitt, der versucht, die Hölle des Krieges in Zentralamerika zu überleben. Seine Kumpel versuchen, mit Drogen vollgepumpt und im Direktkontakt mit ihrer Elektronik ihrer Waffen, der Realität zu entkommen, doch sie gleichen eher Kampfmaschinen als Menschen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Hass und zwischen Mythos und Realität lösen sich auf – alles wird möglich, alles ist relativ.

Was von den Soldaten übrigbleibt, falls sie die sinnlosen Gefechte und Massaker an der Zivilbevölkerung überleben, sind leergebrannte Zombies. Sie werden nie mehr fähig sein, in ein normales bürgerliches Leben zurückzukehren, es sei denn, sie springen rechtzeitig ab und desertieren. David Mingolla aber desertiert nicht, sondern schlägt sich durch. Bis er schließlich zu seinem Entsetzen herausfindet, dass der Krieg nur die Fortsetzung einer jahrhundertelangen Blutfehde zweier verfeindeter mittelamerikanischer Familien ist, zwar mit anderen Mitteln, aber immerhin: Die Weltmacht USA ist nun als Handlanger von Provinzfürsten mit privaten Rachegelüsten bloßgestellt. Ob er das wohl der „Lügenpresse“ verraten darf?

Mein Eindruck

Shepards Interesse gilt nicht so sehr den (waffen-) technischen, militärischen oder wirtschaftlich-sozialen Aspekten dieses speziellen Krieges, den er schon 1984 in seiner Story „Salvador“ verarbeitete. Es geht um die Psyche, die sich in diesem Hexenkessel verändert – bis zur Unkenntlichkeit. Hier findet der amerikanische Traum sein Ende: im Dschungel, im Drogenrausch, im Kampf mit einem Jaguar, unter dem Einfluß eines Voodoo-Magiers, kurz: im Herzen der Finsternis, wohin sich nur Wahnsinnige oder Verzweifelte hinwagen. Die Novelle „R&R“ (Abkürzung für „Rest & Recreation“ (= Fronturlaub), aber auch für „Rock & Roll“) erhielt mehrere Preise und wurde in der SF kontrovers diskutiert.

9) Roger Zelazny (USA): 24 Ansichten des Berges Fuji, von Hokusai (1985)

Eine ältere Amerikanerin namens Mari, die sich „Mrs. Smith“ nennt, pilgert auf dem berühmten Tokaido-Weg rund um den Fujiyama von Herberge zu Herberge. Dabei ist sie sehr darauf bedacht, ihre Identität auf irgendeine Weise preiszugeben. Selbst eine harmlose Eintragung ins elektronische Gästebuch einer Herberge weiß sie mit ihrem elektronisch verstärkten Wanderstab wirkungsvoll zu vereiteln. Trotz oder wegen ihres Versuchs, mit dem Cyberspace Kontakt aufzunehmen, erscheinen elektronische Geister, sogenannte „Epigonen“. Ihr Stock macht auch diesen den Garaus: Ihre elektronische Gestalt erleidet einen Kurzschluss.

Vorsichtig wandert sie weiter, mit einem Auge den majestätischen Vulkankegel im Auge, mit dem anderen die Umgebung. Als ein Wasserflugzeug auf einem nahen See landet und der Pilot mit einem Fernglas die Gegend absucht, ahnt sie, dass man sie dennoch aufgespürt hat. Sie versteckt sich, weil sie sich illegal in Japan befindet. Nach fünfzehn Jahren wieder einmal…

Vor fünfzehn Jahren lebte sie mit dem genialen japanischen Programmierer Kit zusammen und erwartete von ihm ein Kind. Diese Tochter, Kendra, gebar sie jedoch in den USA. Um ihretwillen ließ sie Kit und seine Arbeit im Stich. Es war ja gerade seine Arbeit, die das Zusammenleben mit ihm so gefahrvoll machte: Er speiste seinen Geist in die Netzwerk der Welt und verfolgt sie noch heute, um sie bzw. ihren Geist bei sich zu haben. Und wer weiß? Es könnte zum Zusammenbruch der globalen Netzwerke führen. Kein Wunder, dass gewisse Leute Mari im Verdacht haben, etwas mit dieser digitalen Invasion zu tun gehabt zu haben.

Mount Fuji wurde vom berühmten Maler Hokusai 36 Mal gezeichnet, und 24 dieser Zeichnungen befinden sich in Maris Rucksack. Darunter ist auch das Bild der Riesenwelle, die den kleinen Fischer verschlingen will. Sie hat vor, diese 24 Stationen abzuklappern und so einen Feind anzulocken, den sie überwinden will. Was ihr nicht klar ist: Das Buch mit den Hokusai-Drucken war ihr von Kit geschenkt worden. So weiß er ziemlich genau, wann sie an welcher Station des Tokaido-Wegs sein wird.

An einem Shinto-Tempel wird eine Rauchzeremonie mit 108 Stäbchen zelebriert, die Pilger schauen zu, die meisten ergriffen. Nicht so Mari, auch nicht der unbekannte Mann, der sich in die Menge geschmuggelt hat. Sie meint, sich an sein Gesicht erinnern zu können, doch jedes Mal wendet er sich ab. Erst um Mitternacht kommt er zu ihrem einsamen Lagerfeuer im Wald. Es ist Boris Kotusow, ein einstiger Widersacher. Noch heute erinnert sie sich, wie ihm vor rund 15 Jahren die Zähne einschlug. Ist er gekommen, sie zu töten?

Mein Eindruck

Kit hat seinen Geist ins Internet eingespeist und treibt dort sein Unwesen, an jedem verfügbaren Computerterminal. Im Grunde handelt es sich also um eine Geistergeschichte. Sogar H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos wird (ab S. 357) bemüht, um das versunkene R’lyeh zu beschwören, wo der Gott unter dem Meer auf sein Erwachen lauert. Mit diesem Kniff gelangte diese lange Novelle von 130 Seiten in eine weitere Anthologie, die den Titel „Cthulhu 2000“ trug (dt. als „Spur der Schatten“ bei Bastei-Lübbe veröffentlicht).

Aber es ist die lange Abfolge wunderschöner Landschaftsszenen in Kombination mit den Fujiyama-Holzschnitte, die die vorliegende Ausgabe zu einem Lesevergnügen macht. Mari verliert sich jedoch nicht in philosophischen oder literarischen Anspielungen (von Rilke bis Alain-Fournier), sondern einen heimlichen Plan, um ihren digitalen Verfolger Kit zur Strecke zu bringen. Zwielichtige Gestalten folgen ihr: zwei Mönche, eine Fotograf und diverse „Epigonen“. Doch die finale Konfrontation mit Kits geist ist unvermeidlich. Nach einem letzten Action-Showdown mit den Mönchen und dem Fotografen starrt sie Kit in das besitzergreifende Gesicht – und bietet sich ihm als trügerischen Köder an…

10) Lucius Shepard (USA): Der Pfad des Jaguars (The Jaguar Hunter, 1985)

Esteban ist vierfacher Vater und mit der einst schönen Incarnación verheiratet. An seinem Nachnamen „Caax“ ist er leicht als Indianer zu erkennen, und das bereitet ihm eine Menge Probleme: In der modernen hispanischen Gesellschaft von Puerto Morada auf Yucatán wird er verachtet und ausgenutzt. So etwa von dem Krämer Onofrio: Estebans Frau hat bei dem Händler einen Fernseher auf Pump gekauft und will die Raten nicht zahlen. Jetzt muss Esteban den Kopf dafür hinhalten.

Onofrio lehnt es ab, den Fernseher zurückzunehmen, sondern verlangt von Esteban, einen Jaguar zu töten, der schon sieben Jägern zum Verhängnis geworden ist, ein echter Killer. Esteban hat von dem Jaguar gehört – bis vor vier Jahren war es sein Beruf, Jaguare zu jagen und sie mit seiner speziellen Methode zu erlegen. Bevor er ja sagt, treibt er den Preis gehörig hoch. Als er Incarnacíon die bezahlte Rechnung vorlegt, verzieht sie keine Miene. Vielleicht hofft sie bereits, nach seinem Tod könne sie eine bessere Partie machen als einen Indio.

Estebans Vater hat ihn eindringlich davor gewarnt, sich mit schwarzen Jaguaren anzulegen. Diese bezögen ihre magische Kraft vom Mond und würden jeden Jäger überlisten. Doch Esteban macht sich trotzdem auf den Weg nach Barrio Carolina, eine seit 1947 von der United Fruit Company verlassene Siedlung, die sich nun Onofrio unter den Nagel reißen will. Jaguare würden hier nur stören.

Doch neben Jaguarspuren taucht auch eine schöne junge Frau auf, die sich Miranda nennt und wie Esteban dem Stamm der Patuca angehört. Sie ist so betörend, dass der Jager ihr seine Jagdmethode erklärt. Sie warnt ihn, den Jaguar in Ruhe zu lassen. Nach ihrem Verschwinden wird ihm klar, dass sie eine Todesbotin sein muss. Noch ahnt er nicht, dass der Jaguar und die Frau ein und dasselbe sind. Sie bietet ihm an, ihr ins Reich der Götter zu folgen, denn hier halte ihn nichts mehr.

Als er neun Tage mit ihr verbracht hat, tauchen Onofrio und Raimundo auf, um sich nach seinem Erfolg zu erkundigen. Doch das Treffen endet mit einem Toten und damit, dass Onofrio die Soldaten – allesamt Patucas – holen wird. Die Lage wird für Esteban und den Jaguar immer unhaltbarer…

Mein Eindruck

Shepard versteht es meisterhaft, die mittelamerikanische Szenerie des Dschungels und die Charaktere zum Leben zu erwecken. Dabei verschränkt er die profane Welt des spanischen Honduras mit der magischen der Patuca-Indios, bis es zum entscheidenden Konflikt kommt, in dem Esteban die finale Wahl treffen muss. Was ihm dabei hilft, ist die tiefe Einsicht in die magische, unerklärliche Seite des Lebens.

11) Gianni Montanari (Italien): Staatliches Fleisch (1978)

Die Siedler auf dem neuen Planeten haben schwere Verluste erlitten. Die Epidemien waren ja schon schlimm genug. Aber auch die einheimischen Würmer, die ihnen als Nahrung dienen, kommen bei jedem Regen, jedem Erdbeben zu tausenden aus dem Boden, um sie anzugreifen. Die letzten 51 Siedler haben sich in eine schützende Höhle zurückgezogen.

Aber Duca, seine Frau Irene und ihr gemeinsamer Sohn haben sich abgesondert und sind in einen tieferen Schacht in einer Nebenhöhle geflohen. Dort hält Duca einen Speer aus Quarz bereit zur Verteidigung. Doch er leidet unter schweren Kopfschmerzen, als wolle etwas in seinen Kopf eindringen. Wie unter Hypnose klettern er und Irene, die das Kind hält, tiefer in den Schacht. Dort stoßen sie auf Würmer…

Das im Orbit kreisende Raumschiff der Kolonisationsbehörde hat die Vorgänge innerhalb des Siedlungsexperiments sorgfältig beobachtet. Die Menschen wurden dort ausgesetzt und mit Krankheitserregern infiziert, um herauszufinden, ob das Heilmittel, das die Würmer enthalten, wie man kürzlich entdeckte, auch tatsächlich auch auf ihrer eigenen Welt wirksam ist.

Allerdings findet gerade eine kleine Palastrevolution an Bord statt: Der Zweite Offizier mit dem bezeichnenden Namen Vulture enthebt den Kommandanten wegen Erfolglosigkeit seines Amtes. Er macht Druck und will Ergebnisse sehen. Doch seine medizinische Abteilung weigert sich, konkrete Aussagen zu machen. man müsse noch warten. Doch Geduld ist nicht Vultures Stärke. Als die beiden Objekte in die tieferen Schächte steigen, lässt er ihre implantierten Sprengkapseln aktivieren…

Mein Eindruck

Zweifellos ist das eine der zynischsten Siedlergeschichten in der gesamten SF. Die ahnungslosen Versuchskaninchen in der Siedlung sind nur Mittel zum Zweck der Kolonialbehörde, und Vulture ist genau der Richtige, um der Siedlung den garaus zu machen. Dass dabei ein kleines Kind in die Hände der Würmer fällt, nachdem seine Eltern (Duca und Irene) getötet worden sind, fällt ihm dabei nicht auf. Und wenn doch, würde es ihn nicht stören. Vulture erinnert an Baron Harkonnen, der keine Gnade kennt, wenn es um die Beschaffung von Spice geht. Denn: „Das SPICE muss fließen!“

12) Christian Lautenschlag (D): Tiger (1986)

Eine Gruppe von möglicherweise humanoiden Höhlenbewohnern wird ständig von einem Tiger dezimiert. Obwohl die Geburtenrate hoch ist, wird den Bewohnern doch klar, dass sie keine Chance haben, wenn sie den Tiger nicht töten. Eine der verehrten Mütter bietet sich als Köder an, nachdem sie eine Axt gefertigt hat. Als der Tiger erneut angreift, schlägt sie zu.

Doch ihr Schicksal ist besiegelt. Zuvor konnte sie einem ihrer Kinder eine Idee vermitteln: Wie wäre es, in einer etwas größeren Nussschale über den See an ein anderes, sicheres Ufer zu fahren?

Mein Eindruck

Auf nur wenigen Seiten gelingt es dem Autor, mit seiner Geschichte eine ganze Gemeinschaft humanoider Figuren zum Leben zu erwecken. Sie werden geboren, sie machen Liebe, sie haben Angst und sie verspüren Wut auf den Tiger. Obwohl die Vielzahl der Namen nicht leicht zu merken ist, so ragen doch die Hauptfiguren immer wieder heraus. An ihrem Schicksal kann der Leser anteilnehmen.

Die Story reicht zwar längst nicht an die Romane „Die Erben“ von William Golding oder „Der Tanz des Tigers“ von Björn Kurtén heran, aber sie geht in die richtige Richtung. Und sie ist weit entfernt von albernen Neandertal-Parodien, wie sie gewisse US-Autoren ablieferten.

13) Damir Mikulcic (Jugoslawien): Prokionische Kirschen (1983)

Ein zwölfjähriges Mädchen schreibt im Jahr 2282 in sein Tagebuch. Am nächsten Tag habe sie Geburtstag, und ihr zu Ehren hätten ihre Eltern prokionische Kirschen aufgetischt, an denen sie sich kaum sattessen kann. Denn auf sie haben die Kirschen eine einzigartige Wirkung: Sie kann dadurch die unglaublichsten Farben sehen.
Das wollen auch Wissenschaftler vom Prokion untersuchen und laden sie und ihre Eltern auf ihre Welt ein. Wer weiß, was dann passiert? Hier findet das Mädchen heraus, dass die Kirschen auf Bäumen wachsen, die sehr elend aussehen und traurige Musik verströmen. Tatsächlich kann sie den Schmerz, den die Bäume wegen der geraubten Kirschen leiden, mitempfinden. Man erklärt sie für verrückt und sediert sie.

Als sie wieder auf der Erde erwacht und schließlich Gelegenheit findet, in ihr Tagebuch zu schreiben, notiert sie, dass sie nie wieder prokionischen Kirschen essen werde. Denn das wäre ja quasi Kannibalismus…

Mein Eindruck

Was zunächst nach eine psychedelischen Phantasie mit synästhetischen Eindrücken klingt (Geschmack wird zu Farben, Optik zu Musik usw.), entpuppt sich als Öko-Tragödie: Weil sich das Mädchen in die Lage der Kirschbäume versetzen kann, merkt sie, dass hier eine ökologische Katastrophe im Gange ist – und verweigert fortan den Genuss der speziellen Kirschen, selbst wenn ihr dadurch ein synästhetischer Genus entgeht.

Die 1983 erstveröffentlichte Geschichte war nie aktueller als heutzutage. Viele Menschen müssen sich in ethischer Hinsicht entscheiden, ob sie die Massentierhaltung und -tötung billigend in kauf nehmen – oder aus vegetarische Ernährung umsatteln.

14) Orson Scott Card: Sonate ohne Begleitung (Unaccompanied Sonata) (1979)

Christian Haroldson wächst im perfekten Staat auf. Schon im zarten Alter von sechs Monaten stellen die Ärzte an ihm ein musikalisches Hörvermögen fest, und mit zwei Jahren ist er soweit, dass er in einer Hütte im Wald sich selbst überlassen werden kann: Das Wunderkind soll mit seinem Allround-Instrument die Geräusche der Natur zum Anlass nehmen, eigene Stücke zu komponieren. Er ist ein Macher, während alle anderen entweder Wächter oder Untergebene sind. Er ist also privilegiert – unter einer Bedingung: Er darf sich nicht von anderen Machern beeinflussen lassen.

Genau das passiert. Als er von einem hartnäckigen Zuhörer wider besseres Wissen eine Aufnahme von einem Typen namens Bach bekommt, hört er nur noch diese. Fortan meiden seine eigenen Kompositionen Choräle und Fugen – und das wird bemerkt. Die Strafe ist hart: Er geht aller Privilegien verlustig und wird LKW-Fahrer für eine Bäckerei. Doch es dauert nur wenige Monate, bis er in Joes Grill Bar an einem alten, verstimmten Klavier zu hören ist. Seine Anhängerschaft findet seine Lieder schräg, aber traurig und irgendwie schön. Als dem Wächter dies zu Ohren kommt, verliert Christian seine Finger.

An der nächsten Station seines Leidenswegs komponiert er Lieder, die er in einem Trupp Straßenarbeiter erfindet und die sich in Windeseile über das ganze Land verbreiten. Als dies sein Wächter zu hören bekommt, fällt die Strafe aber ganz anders aus, als Chris erwartet hat…

Mein Eindruck

Der Autor kam auf die Idee zu dieser schönen Erzählung, als er sich fragte, was er täte, wenn man von ihm verlangen würde, das Schreiben aufzugeben. Sein Alter Ego Christian durchläuft eine Leidensgeschichte, doch er gibt seine einzigartige Gabe nicht auf und verändert so seine Mitmenschen.

Die denken zwar, sie seien glücklich, wie der Staat es verlangt, doch merken sie auch, dass die Traurigkeit von Christians Lieder ebenso glücklich machen kann. Seltsame Sache, finden die Wächter, das muss aufhören. Das Ende vom Lied: Sie machen Christian zu einem der Ihren. Ob das wohl ein kluger Schachzug war?

15) Kim Stanley Robinson (USA): Flucht aus Katmandu (Escape from Kathmandu) (1986)

Unter den vielen Träumern, Aussteigern und Idealisten, die sich in den achtziger Jahren in Nepal herumtrieben, finden sich auch die zwei Helden George Fergusson und Fred Fredericks, die sich als Trekking-Führer ihren Lebensunterhalt verdienen. In vier Abenteuern lässt uns der Autor an ihrem Leben teilhaben. In „Flucht aus Katmandu“ retten sie einen leibhaftigen Yeti davor, in einem Privatzoo als Versuchskaninchen zu enden, indem sie ihn als USA-Tourist, dem US-Präsident Jimmy Carter die Hand schüttelt, ausgeben und außer Landes schmuggeln.

Mein Eindruck

In der grandios-verrückten Novelle erheitern der trockene Humor, witzige und spritzige Einfälle den Leser auf nahezu jeder Seite. Der Autor öffnet dem Westler die Augen für eine Welt, die fernab für die meisten von uns, noch als Plätz für Träume dienen kann. Da ist wohl jemand von einer Himalaya-Tour zurückgekommen, hat seinen Rucksack in die Ecke geschmissen, den Dreck aus seinen Haaren geschüttelt und uns von einem Flecken Erde erzählt, der seine Unschuld zu verlieren droht. Er berichtet von den mühsamen Reisen, den eigentümlichen Bewohnern, der uns völlig fremden Nahrung und schließlich auch von der zweifelhaften Errungenschaft der nepalesischen Feldlatrine.

16) Ralph Tegtmeier (D): Ein müdes Programm (1986)

Die Produktionsgesellschaft von GALAGAX hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat in dieser Ecke der Galaxis den Urknall dreimal simuliert und schließlich auf Planet 4 die Evolution eingeführt. Inzwischen kann sich das Ergebnis sehen lassen: Die Humanoiden machen ganz schön Action und haben schon zwei Weltkriege hinter sich gebracht. Dennoch macht der Aufnahmeleiter Ärger und putzt sein 20-köpfiges Team herunter: Die Biovielfalt sei erbärmlich.

Der Zweck der Veranstaltung namens Evolution sei ja, der Firma FLYING DISK den begehrten Live-Effekt zu liefern, vor dessen Hintergrund sie ihre Produkte, eben die Tellerhüpfer für die ganze Familie, vorführen könne. Die Botschaft laute: „Sicher fliegen mit FLYING DISK!“ und zwar in jeder Galaxis. Wenn dann die Humanoiden Tellerhüpfer über ihren Köpfen sähen, umso besser.

Leider gibt es eine schlechte Nachricht: Das Projekt läuft höchstens noch hundert Jahre – und dann werden alle gefeuert, auch die Statisten…

Mein Eindruck

Der satirische Text inszeniert die Weltgeschichte als PR-Gag. Spezialeffekte wie etwa der Urknall, UFO-Landungen und diverse Weltkriege – alles schön und gut, um die intergalaktische Zuschauergemeinde zu unterhalten und in den Werbepausen für Tellerhüpfer alias Fliegende Untertassen zu werben. Die Absetzung dieses „müden Programms“ verheißt nichts Gutes für die Macher, von den Versuchsobjekten auf Planet P4 ganz zu schweigen.

Die Übersetzungen

S. 16: „eine Neigung zu[r] abnormer Geschlechtsidentität“: Das R ist überflüssig.

S. 27: „Medizin[i]er“. Das I ist überflüssig.

S. 30: „HILFSZENTRUM CASTRO STREET. Senator starrte zuerst auf das Schilf (!)…“ Es sollte wohl besser „Schild“ heißen. New York City ist ja nicht die Pampa.

S. 56: „schwubbrig, wie mir war…“ Ein unüblicher Ausdruck für das heute verbreitete „schwummrig“ (und nicht etwa „schummrig“!).

S. 62: „Ich hätte mich mit der Kom[b]ination deines Vorgängers…“ Das B fehlt.

S. 62: „Farigölli meiner Kleinsten“. Unbekannter Ausdruck, wird nicht erklärt.

S. 81: „Der Kunde (…) bekam[en] sofort einen Leih-Kyberneros…“ Die Endsilbe -en ist überflüssig, denn der Singular braucht beim Verb keinen Plural, schönen Dank auch.

S. 112: „…wirft sich zwischen die beiden[s] und…“ Das S ist überflüssig.

S. 174: „Unterläufel“: unbekannter und erklärter Ausdruck.

S. 338: „Shingon-Tempel“ statt „Shinto-Tempel“ (wie auf S. 351).

S. 343: „Das Boot wird von den kleinen Toden geschaukelt…“ statt „Wellen“.

S. 346: „Was sucht er in meinen Zügen?“ Da es sich um eine Pilgerfahrt zu Fuß handelt, ist nicht von Eisenbahnzügen die Rede, sondern eher von Gesichts-zügen. Ein Fremder mustert die Erzählerin.

351, letzte Zeile: „Christenkriche“ statt „Christenkirche“.

S. 370: „Ygg[d]rasil“: Das D fehlt.

Unterm Strich

Langer Rede kurzer Sinn: Die US-amerikanischen Beiträge sind erstklassig – und bekamen in vielen Fällen mindestens eine Auszeichnung des Genres, so etwa den HUGO Award oder NEBULA. Die gesamteuropäischen Beiträge unterscheiden sich davon sowohl in der Güte als auch der Qualität. Es scheint eine völlig andere Tradition von Erzählkunst und -haltung unter europäischen Autoren zu geben als in den USA. Die Unterschiede herauszuarbeiten, überlasse ich gerne den Literaturwissenschaftlern.

Auffällig ist, dass zahlreiche europäische Texte – von Petz über „Prokionische Kirschen“ und „Kaufhaus Printemps Parisien“ bis zu Tegtmeier – einen satirisch-kritischen Ansatz hat. Die Kritik wird mehr oder weniger gut versteckt, aber manchmal auch mit der Keule geschwungen. Am nächsten kommt dieser Haltung noch der amerikanische Beitrag von den Vinicoffs über die chemische und genetische Behandlung von Homosexuellen unter einem autoritären Regime.

Einen beeindruckend einfühlsamen Beitrag konnte ich in „Tiger“ von Chr. Lautenschlag entdecken, einem Autor, der mir regelmäßig in Jeschkes Anthologien auffiel. Ziemlich das Gegenteil ist die Fortführung von Poes „Die Morde in der Rue Morgue“ als symbolistische Architektur-Oper in „Die dritte Haut“. Das unheimliche Haus in der besagten „Spitalgasse“ (wie manche betagte deutsche Übersetzung suggestiv formulierte, als sei ein Leichenschauhaus nichts anderes als ein Hospital) verbreitet seine Alpträume über die ganze Stadt, quasi also eine unterschwellige Versorgung mit Alpträumen.

Solche gruseligen Szenarien werden durch die Ablösung konterkariert, die meist in einem heiteren Beitrag besteht, sei es „Kaufhaus Printemps“ oder „Flucht aus Kathmandu“. Insgesamt erweist sich so die Auswahl als Wechselbad der Stimmungen. Zumindest aber hat sie ein festes Zentrum, nämlich Roger Zelaznys Novelle über eine Pilgerfahrt rund um den Berg Fuji. Garniert von 24 der 36 Fuji-Zeichnungen Meister Hokusais erzählt die Novelle von der Rettung der Welt vor dem Geist im Cyberspace mithilfe von weiblicher List. Was könnte es Nobleres oder Interessanteres geben?

Nur für die zahlreichen Druckfehler gibt es ½ Punkt Abzug.

ISBN 3453313755

Taschenbuch: 640 Seiten
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 9783453313750

www.heyne.de

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