Yrsa Sigurðardóttir – Schnee

Geister-Tragödie am Island-Gletscher

Was zwang die Freunde, sich mitten im harten Winter im isländischen Hochland zu bewegen, in Dunkelheit und Schneestürmen? Und warum verließen sie das kleine Obdach, das sie hatten, kaum bekleidet und den harten Bedingungen vollkommen ausgeliefert? Ein Rettungsteam wird in die abgeschiedene Gegend geschickt, um nach den Vermissten zu suchen. Währenddessen gehen an der einsam gelegenen Radarstation in Stokksnes seltsame Dinge vor sich. Nichts ist so, wie es scheint: Sei es die Blutlache, die im unberührten Schnee fernab der Zivilisation entdeckt wird, oder der kleine Kinderschuh, der Jahrzehnte nach der Vergrabung wiedergefunden wird …

Angesiedelt in der grandiosen isländischen Landschaft, beschreibt Yrsa Sigurdardóttir überzeugend, wie das Gehirn uns in Ausnahmesituationen täuschen kann. (Verlagsinfo)

Die Autorin

Vilborg Yrsa Sigurðardóttir (* 24. August 1963) ist eine isländische Schriftstellerin.

Werke

Serie mit Þóra Guðmundsdóttir

2005 Þriðja táknið.
deutsch: Das letzte Ritual. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-17132-6.
2006 Sér grefur gröf.
deutsch: Das gefrorene Licht. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-17599-4.
2007 Aska.
deutsch: Das glühende Grab. Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-596-18140-7.
2008 Auðnin.
deutsch: Die eisblaue Spur. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-18343-2.
2009 Horfðu á mig.
deutsch: Feuernacht. Fischer, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-596-18870-3.
2011 Brakið.
deutsch: Todesschiff. Fischer, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-596-19493-3.

Serie mit Kommissar Huldar und Psychologin Freyja

2014 DNA.
deutsch: DNA. btb Verlag, München 2016, ISBN 978-3-442-75656-8.
2015 Sogið.
deutsch: SOG. btb Verlag, München 2017, ISBN 978-3-442-75664-3.
2016 Aflausn.
deutsch: R.I.P. btb Verlag, München 2019, ISBN 978-3-442-75665-0.
2017 Gatið.
deutsch: Abgrund. btb Verlag, München 2020, ISBN 978-3-442-75847-0.
2018 Brúðan.
2019 Þögn

Andere Islandkrimis

2010 Ég man þig.
deutsch: Geisterfjord. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19273-1.

2012 Kuldi.
deutsch: Seelen im Eis. Fischer, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-596-19533-6

2013 Lygi.
deutsch: Nebelmord. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-596-03065-1

Kinderkrimi

2003 Biobörn.
deutsch: Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-85439-4.
(Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Gegenwart

Johanna und Thorir bilden einen kleinen Suchtrupp, der bei einer Berghütte nach einer verschollenen Wandergruppe suchen soll. Unten in Höfn vermissen sie zwei Pärchen Städter und den einheimischen Wissenschaftler Haukur, der die unerfahrene Gruppe offenbar in die Berge gefahren und den Rest des Weges zu der Berghütte geführt hat.

Überall liegt Schnee, außer an einer Stelle, an der ein Rentiergeweih aus der Oberfläche ragt. Irgendetwas daran weckt Johannas Neugier. Als sie im Schnee gräbt, stößt sie auf das Gesicht einer toten Frau. Das starre Auge versetzt ihr einen Schock. Thorir ruft Hilfe und die Polizei. Unter den Polizisten ist Johannas Mann Geir, doch er darf sich nicht dem Verdacht der Befangenheit aussetzen. Schmerzhaft vermisst sie seinen Beistand, während die Männer sie ständig mit Fragen löchern.

Als die Leiche geborgen und auf eine Trage gelegt wird, kann Johanna verwundert sehen, dass sie nur Unterwäsche trägt. Und ein Messer umklammert Eine Selbstmörderin? Dann werden mithilfe einer Drohne zwei Zelte entdeckt, doch beide sind leer. Die drei Bewohner sind die gesuchten Wanderer, doch alle sind halbnackt, als wären sie in Panik aus den Zelten geflohen. Natürlich sind sie in kürzester Zeit im Wintersturm erfroren. Man kann die Panik in der aufgerissenen Augen sehen…

Unterdessen

An der NATO-Radarstation Stokksnes, die sich auf einer windigen Landspitze hoch über den Klippen befindet, gehen seltsame Dinge vor sich, findet der 55-jährige Wartungstechniker Hjörvar. Er liebt zwar die Abgeschiedenheit dieses Ortes, aber Anrufe aus dem Nichts und Stimmen an der Türsprechanlage – das geht doch zu weit. Er verschweigt dies vor seinem Kollegen Erlingur, seinen Vorgänger Ivar kannte. Es handelt also nicht um den Geist seines in den Klippen verunglückten Vorgängers, sondern um eine Kinderstimme. Kisi, Hjörvars zugelaufener Kater, faucht und macht einen Buckel. Als Erlingur fort ist, entdeckt Hjörvar eine Unregelmäßigkeit in den Signalen und Geräuschen, die die rotierende Antenne und die sie umgebende Kuppel von sich geben. Etwas ist da, was da nicht hingehört. Hjörvar geht nachschauen…

Eine Woche zuvor

Dröfn ist die Frau von Tjörvi, einem Paar aus der Stadt, das sich auf einen schicken Ausflug in die Berge am Vulkan Vatnajökull gefreut hat. Als sie die Berghütte, zu denen sie der Wissenschaftler Haukur geführt hat, offen und verlassen vorfinden, verfliegt die Vorfreude auf ein warmes Obdach. Aber es wird bereits dunkel – nach einer durchzechten Nacht sind sie zu spät aufgestanden. Haukur hat Dröfn, Tjörvi und das andere Paar, Bjolfur und und Agnes, deswegen erst zusammengestaucht, sie dann aber doch mitgenommen.

Sein Ärger auf das Stadtvolk ist noch nicht verraucht, denn er wollte ihnen bloß einen Gefallen tun – er bekommt keinen Cent für diese Tour. Aber Bjolfur ist nicht nur Werbefachmann, sondern auch ein verhinderter Schauspieler, und seiner Überredungskunst ist es zu verdanken, dass Haukur sie überhaupt mitgenommen hat. Haukur hatte nur kurz erwähnt, er müsse in die Berge, um an einem Messgerät Messdaten zu erfassen, die er für seine Doktorarbeit brauche. Nun hat er diese blutigen Amateure am Hals.

Wenigstens konnte er Bjolfur dazu überreden, dass die Leute zwei Zelte kauften. Denn die Hütte ist nur eine Zwischenstation; das eigentliche Ziel ist die Messstation am Gletscherrand einen Tagesmarsch entfernt. Dort würden sie im Zelt übernachten müssen – mitten im Winter keine Kleinigkeit.

Die von amerikanischen Militärs erbaute Berghütte namens Thule macht nicht nur einen verlassenen Eindruck, weil die Tür offen ist – es gibt auch Kleider ohne Besitzer: Sie haben eine Strickmütze gefunden und jetzt den dazu passenden Anorak. Welcher Irre würde schon in dieser Eiseskälte seine Kleider ausziehen, fragt sich Dröfn bedrückt. Das Fehlen von Fenstern hebt ihre Stimmung ebenso wenig. Nur mit Mühe schaffen es die Männer, eine Gasflasche anzuschließen und die Hütte zu heizen. Die Spaghetti sind schnell verdrückt und an Weingenuss wagt keiner zu denken. Alle kriechen rasch in ihre warmen Schlafsäcke.

Dröfn erwacht aus ihrem Schlummer, weil sie eine leise Stimme hört. Also ist Agnes schon aufgestanden, um Kaffee zu kochen, freut sie sich. Doch als sie die Küche betritt, ist diese dunkel und leer. Sie dachte, sie hätte eine Frau gehört, die immerzu sagte: „Mach auf, mach auf!“. Es ist Haukur, der ihren Bericht völlig ernstnimmt. Ja, hier sei einmal eine einheimische Frau von ihrem eifersüchtigen Ehemann mitten im Winter ausgesperrt worden und erfroren. Der Verrückte hatte sie verdächtigt, ihn mit einem der Soldaten zu betrügen. Völliger Blödsinn natürlich, aber die Frau starb trotzdem.

Wenig später bricht die Gruppe nach dem Frühstück auf zum Rand des Gletschers, um dort zu zelten. Dröfn hat das Gefühl, dass ihnen ein unsichtbarer Schatten folgt, zusammen mit einem einsamen Rentier…

Salvör

Hjörvar hat einen Bruder namens Kolbeinn, der vor einem halben Jahr, nach dem Tod des gemeinsamen Vaters, das Haus verkauft hat, in dem nun ein Ehepaar wohnt. Die Frau hat ihn angerufen, um ihm etwas zu geben: Sachen, die sie auf dem Dachboden und in einem Grab im Garten gefunden hätte. Die Brüder sind von ihrem Vater, einem Seemann oder Fischer, stets kühlbehandelt, so dass es ihn nicht Bohne interessiert, was Vater ihm hinterlassen hat. Aber das hier ist anders: ein Kinderschuh mit einem eingestickten Namen: Salvör.

Ein Mädchenname. Hatten sie etwa eine Schwester, von der ihnen ihre Eltern nie etwas sagten? Der Großvater berichtet ihm mehr: Ja, Salvör war ihrer beider Schwester gewesen, aber sie vor rund 50 Jahren mit sechs oder sieben Jahren. Ihr Tod habe die Eltern verändert, so dass sie Salvörs Brüder anders aufzogen. Sie sei ein sehr schwieriges Mädchen gewesen, denn sie schrie oft und laut. Aber den Grund dafür fand niemand heraus.

Nun steht Hjörvar auf Bitten seines Bruders, der ihm dies alles erzählt hat, vor Salvörs Grab auf dem Friedhof von Höfn. Es ist erstaunlicherweise viel besser gepflegt als das seines Vaters, das unter einer Schneedecke komplett begraben ist. Eine Lichterkette aus LED-Lampen umkränzt Salvörs Grabstein – ebenso wie das der daneben begrabenen Frau. So viel Schmuck und noch dazu kein halbes Jahr alt – was sollte das? Der neue Pfarrer tritt zu ihm, um ihn zur Messe einzuladen, aber viel interessanter ist, was er über das Grab zu sagen weiß: Die Frau im Grab daneben pflegte es jeden Sonntag. Sie war keine Verwandte oder so, aber laut Pfarrer ging es ihr wesentlich besser, wenn sie sich um Salvörs Grab kümmerte.

Als er geht, kann Hjörvar dieses Bedürfnis verstehen. Denn in seinem Kopf hallen Salvors Schreie gellend nach…

Mein Eindruck

Dies ist kein Krimi, sondern in weiten Teilen Weird Fiction, also eine Geistergeschichte. Die Erzählerin setzt immer noch auf den Erzählstil, der ihr der Gespenstergeschichte angemessen erscheint: lange Kapitel, die zahlreiche Fragen streifen und eine ganz bestimmte Stimmung aufbauen. Die Stimmung soll den Leser erstens das Gruseln lehren, zweitens zum Mitfühlen mit den tragischen Figuren, etwa Dröfn, verführen. Meistens klappt das, aber der Haken ist, dass sich diese Technik durch ständige Wiederholung zu einem lästigen Manierismus auswächst, bis der Leser genug davon hat, ständig mitfühlen und gruseln zu müssen statt eine Lösung all dieser Rätsel angeboten zu bekommen. Kurz vor dem Schluss dachte ich „zur Hölle mit der Stimmung!“

Unverhoffte Lösungen

Das war vielleicht ein Fehler, denn in allerletzter Sekunde gelingt es der Autorin, in nur drei Kapiteln alle Fragen zu beantworten. Es lohnt sich also, bis zur letzten Zeile durchzuhalten! Wie so oft spielt die Frage der Identität eine entscheidende Rolle, um das Geschehen zu verstehen. Der Leser tut gut daran, alle Identitäten in dieser Erzählung infrage zu stellen. Gewitzt ist jedoch, dass sich der Täter gar nicht als der Schurke im Stück versteht, sondern als ein Spieler, der nur seinen Vorteil sucht. Diese Strategie erweist sich für andere als tödlich.

Die kalte Hand der Vergangenheit

Dass sich jedoch das Schicksal Hjörvars an irgendeinem Punkt durch einen Sturz in das Klippenloch erfüllen, ist schon meilenweit vor der eigentlichen Szene abzusehen. Dazu muss man wirklich kein Krimikenner zu sein, sondern jemand, der weiß, worauf es in Geistergeschichten ankommt: Gerechtigkeit. Der Clou besteht nun darin, dass auch Hjörvar sich keines Verbrechens an Salvör bewusst ist – bis eine Reihe von Fotos aus der Vergangenheit seine verschüttete bzw. verdrängte Erinnerung wie ein Schatzkästlein aufschließt – mit fatalen Folgen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist ohne Druckfehler gut zu genießen, doch manchmal vergreift sich die Übersetzerin im stilistischen Register. Sie sagt dann „schmeißen“ statt „werfen“ und dergleichen. Umgangssprachlicher Jargon ist inzwischen zwar hoffähig, doch muss ein Stil einheitlich sein, sonst fallen Ausrutscher wie dieser unangenehm auf.

S. 116: [Der Kater Kisi] „mauzte“ statt zu maunzen oder zu miauen. Vielleicht kann er nur Isländisch.

S: 136: (Johanna denkt:)„Wie lächerlich angesichts dessen, was die Wanderer ertragen mussten.“ Die Vorzeitigkeit wird missachtet: Die – inzwischen toten – Wanderer existieren auf einer früheren Zeitebene als Johanna, die sie sucht. Um die Vorzeitigkeit auszudrücken, müsste es korrekt: „…dessen, was die Wanderer hatten ertragen müssen“.

S. 302: „Ihr eigenes Handy war so gut wie leer.“ Ein weiteres Beispiel für die zuweilen saloppe Ausdrucksweise der Übersetzerin. Nicht das Handy ist leer, sondern dessen Akku-Ladung.

Unterm Strich

Dies ist kein Kriminalroman oder Thriller, sondern eine Geistergeschichte, also Weird Fiction. Dieser Wechsel des Genres verlangt vom Leser eine gewisse Umstellung. Auch die Tonlage ist eine völlig andere als im Krimi. Hier wird in jedem der relativ langen Kapitel eine Stimmung erzeugt. Dies besteht entweder im Gruseln oder im Mitempfinden der Tragödie, die sich am Gletscher ereignet. Dennoch kommt der Leser nicht umhin, ein paar unerklärliche Logiklöcher in der Handlung zu entdecken: Das ist Absicht. Es sind genau diese Lücken, die Spannung erzeugen sollen. Bei mir hat dieses Verfahren nicht geklappt, und auch die gewünschte Stimmung kam bei mir nicht auf.

Die erwähnten Lücken werden jedoch in den letzten drei Kapiteln alle gefüllt, mal auf erwartete Weise (Hjörvars Schicksal erfüllt sich), mal unerwartet, weil der Täter zwei falsche Identitäten angenommen hatte. Und wo kam auf einmal die polnische Arbeiterin Wiktoria auf den Berg am Gletscher? Sie hat mit dem Erzählstrang um Dröfns Wandergruppe nicht das Geringste zu tun.

Dem Leser kann man nur raten, bis zum Schluss durchzuhalten, auch wenn es besonders im letzten Drittel schwerfällt, wenn die Handlung sich auf allen drei Ebenen im Kreis zu drehen scheint. Ich beispielsweise musste erst einmal drei andere Thriller bzw. Krimis lesen, um den Frust, den „Schnee“ bei mir erzeugt hatte, zu kompensieren. (Die anderen Krimis stammen von Michael Connelly und Ace Atkins, der mit Nr. 50 einen weiteren kompetenten SPENSER-Krimi abgeliefert hat.) Es könnte sich durch diese Enthüllungen lohnen, den Roman noch einmal zu lesen, quasi in neuem Licht.

Die Übersetzung war zu großen Teilen akzeptabel, aber manchmal auch zu salopp formuliert. Dafür ziehe ich Punkte ab.

Unterm Strich

Taschenbuch: 352 Seiten
Originaltitel: „Bráðin“
Aus dem Isländischen übersetzt von Tina Flecken.
ISBN-13: 9783898133883

https://www.penguinrandomhouse.de/Verlag/btb/2000.rhd

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)