Morgan, Richard – Skorpion

_Ein Leben nach Takeshi Kovacs._

Nach „Das Unsterblichkeitsprogramm“, „Gefallene Engel“ und „Heiliger Zorn“ hat sich Richard Morgan abermals dafür entschieden, aus dem Universum auszubrechen, das er für seinen Helden Takeshi Kovacs geschaffen hat. Stattdessen schickt Morgan mit „Skorpion“ einen genetisch modifizierten Supersoldaten auf die Jagd nach Seinesgleichen und verteilt Seitenhiebe an jegliche Form von Bigotterie und Scheinheiligkeit.

_Vom Ende allen Skrupels._

„Dreizehner“ schimpfen sie ihn, eine genetische Abnormität, gezüchtet für den Krieg, völlig ohne Skrupel, aufgeputscht mit sämtlicher Biotechnik und fast unbesiegbar. Eigentlich hätte Carl Marsalis froh über diese Unbesiegbarkeit sein können, wäre nicht die Politik auf die Idee gekommen, sich ihrer gezüchteten Werkzeuge zu entledigen, indem sie sie unter Registrierungszwang stellte. Fortan ist jeder Mensch der „Variante Dreizehn“ meldepflichtig und wird aufs schärfste bewacht. Marsalis darf sich etwas größerer Freiräume erfreuen, allerdings zu dem Preis, dass er abtrünnige Vertreter seiner „Gattung“ aufspüren und an seine Regierung verraten muss. Nach einem dieser Schlachtfeste allerdings landet Marsalis im Gefängnis und die Regierung will nichts mehr von einer Zusammenarbeit mit diesem Dreizehner wissen …

Sevgi Ertekin bekommt es derweil mit einem anderen Fall zu tun: Ein Raumschiff vom Mars verliert die Kontrolle und kracht ins Meer, sämtliche Besatzungsmitglieder sind aufs Scheußlichste verstümmelt – aufgefressen, wie es scheint – und einer der Passagiere ist verlorengegangen; ausgerechnet ein Vertreter der Variante Dreizehn. Es wird zur obersten Priorität für Ertekin, nach dem Entflohenen zu suchen, besonders, da dieser damit anfängt, scheinbar wahllos Morde zu begehen. Und was wäre besser geeignet, um einen Dreizehner zu fangen, als ein Exemplar seinesgleichen, das gerade nach einem Blutbad im Gefängnis gelandet ist und bereits sämtliche Hoffnung auf Freiheit aufgegeben hat?

Scott Osborne indes fühlt sich in seiner aktuellen Situation nicht recht wohl. Er ist aus Jesusland abgehauen, einem strikt abgetrennten Mikrostaat, der seinem Namen alle Ehre macht und Bigotterie in Reinkultur ausübt. Scott hat illegal in einer Biotech-Anlage angeheuert und spürt, wie ihn der Werteverfall mitnimmt, stärker, als er das befürchtet hätte: Er fängt an zu fluchen, beginnt andere Frauen zu begehren und sehnt sich mit der Zeit fast nach der religiösen Klarheit von Jesusland. Diese Klarheit wird ihm allerdings geboten, als ein Verrückter in die Anlage eindringt und dort ein Blutbad anrichtet. Scott bleibt am Leben, mit ihm eine Kollegin. Er sei auserwählt worden, vertraut sie ihm an, er soll den Fremden auf seiner Mission unterstützen. Denn dieser Fremde ist niemand anderer als der auferstandene Jesus Christus, mit dem Knüppel in der Hand, um das jüngste Gericht einzuberufen und die Welt von der Sünde zu befreien.

_Schleichfahrt durch den Faktendschungel._

Richard Morgan hat in „Skorpion“ ein Universum erschaffen, das einen mit Details geradezu erschlägt. Die Regierungslandschaft wird dem Leser vorgestellt, die Tatsache, dass sich die Nationen aufgespalten haben, dass es eine Menge von Instanzen gibt, die sich gegenseitig um Zuständigkeiten prügeln, und dass überall in diesem Universum Konfliktherde brodeln. Die eigentliche Hauptfigur des Romans, Carl Marsalis, bekommt diese Konflikte sehr deutlich zu spüren, ist er doch ein Spielball der politischen Mächte, der irgendwann fallengelassen wird. Aber auch Sevgi Ertekin, die Polizistin, hat unter diesen Konflikten zu leiden, hat sogar ein schweres Trauma davongetragen, das sie im Laufe des Romans vor schwere Prüfungen stellen wird. Ähnlich ergeht es Scott Osborne, dem abtrünnigen Jesusländer, der sich plötzlich mit einer rachsüchtigen Reinkarnation von Jesus Christus konfrontiert sieht und seinen alten Glauben in sich erwachen spürt.

Die Wege dieser drei Parteien kreuzen sich natürlich, ist doch das, was sie verbindet, der Kern dieses Romans und das entscheidende Geheimnis, das es herauszufinden gilt. Schade nur, dass sich die komplexe Story viel zu oft in den Details verliert. Morgan hatte schon immer eine Vorliebe für ausgefeilte Arrangements, aber in „Skorpion“ überspannt er den Bogen deutlich. Natürlich werden Figuren lebendiger, je tiefer man sie zeichnet, je genauer man ihre Vergangenheit kennt, aber auch hier geht Morgan mit einer Detailversessenheit vor, die dem Leser viel Geduld abverlangt. Sevgi Ertekin etwa stammt aus der Türkei, ist Muslimin und hat viele Konflikte mit ihrem Vater ausgetragen. Der Glaube war einer der vielen Zankäpfel, und so erfährt der Leser, wie der muslimische Glaube in dieser Zukunft beschaffen ist, welche Hauptrichtungen es gibt, welche Randströmungen, sogar, wie die Hauptvertreter jener Splittergruppen heißen und gegebenenfalls wo, wann und wie sie in Erscheinung getreten sind.

Natürlich trägt das zur Tiefe des Universums bei, aber Morgan verliert dabei den eigentlichen Handlungsstrang aus den Augen – und der Leser gleich mit. Irgendwann verliert man den Überblick und muss sich den roten Faden in dem Dauerbeschuss aus Fakten selbst herausarbeiten. Es gibt Nebenhandlungen, in diesen Nebenhandlungen gibt es nochmals Nebenhandlungen, und auch wenn manches davon für die Auflösung des Romans wichtig ist, muss der Leser immer mehr Informationsballast schleppen, der die 827 Seiten zu einer echten Durststrecke werden lässt.

Trotzdem schreibt Morgan noch so drastisch wie eh und je; er lässt Blut spritzen, Knochen brechen, Schädel zerplatzen und beschränkt sich in der Darstellung sexueller Zweisamkeit nicht auf verklemmte Betbuben-Metaphorik. Auch hat er sein Händchen für Bildsprache nicht verloren und scheint sich originelle Metaphern geradezu aus dem Ärmel zu schütteln.

Dennoch kommt „Skorpion“ nicht in Fahrt. Die Story, die Figuren und das Universum sind einfach so mit Fakten angefüllt, dass die Story kaum vorankommt. „Skorpion“ ist komplex, aber auch anstrengend, anspruchsvoll, aber auch träge. Das wäre alles zu verkraften, wenn die tatsächliche Handlung etwas hermachen würde, aber stattdessen verkommt der anfangs so spannende Kriminalfall um den Raumschiffkannibalen zu einer oft ermüdenden Reise in die Vergangenheit der Figuren; die anfängliche Faktentiefe entpuppt sich zu einer Wüste voller staubtrockener Informationen, aber ohne Spannung. Dieser Info-Overkill geht so weit, dass die Auflösung des Romans einen Bremsweg von über zweihundert Seiten hinlegt, und wenn dann endlich alle Fäden entwirrt vor einem liegen, brummt einem erst mal ordentlich der Schädel und man ist froh, dass man das Buch zuschlagen kann.

Nein, leider kann ich keine Empfehlung für „Skorpion“ aussprechen, zu zerfasert ist die Story und zu ermüdend die Odyssee bis zur letzten Seite. Gesellschaftskritisch gibt es nichts Neues zu bestaunen, und auch sonst bietet „Skorpion“ nur wenige Lichtblicke, die dem Science-Fiction-Fan ein Glänzen in die Augen zaubern. Nun gut, aber auch ein Richard Morgan darf sich ein paar schwächere Momente gönnen, und so müssen wir Fans einfach darauf warten, dass er wieder zu seiner alten Stärke zurückkehrt.

|Originaltitel: Black Man
Übersetzt von Alfons Winkelmann
Taschenbuch, 832 Seiten|
http://www.heyne.de
http://www.RichardKMorgan.com

_Richard Morgan auf |Buchwurm.info|:_
[„Das Unsterblichkeitsprogramm“ 464
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