Reto Wehrli – Verteufelter Heavy Metal (Erweiterte Neuausgabe)

Reto Wehrli hat sich nunmehr mit der überarbeiteten Zweitausgabe seines Buches „Verteufelter Heavy Metal“  selbst übertroffen und sich ein eigenes Denkmal gesetzt. Über 700 Seiten voll akribischer Recherchenarbeit, die in ebenso sorgfältig formulierten Thesen zu Ende gedacht werden. Reto Wehrli legt definitiv kein dröges Sachbuch vor, sondern eine umfassende Aufbereitung des Zeitalters der harten Musik, beginnend im Blues und endend in den Brachialgenres der gegenwärtigen Zeitgeschichte.

_Der Autor:_

Reto Wehrli, lizenzierter Experte der Allgemeinen Psychologie, begann sich bereits sehr früh, Mitte der Achtzigerjahre, mit der Materie der aufbrausenden Metalszene zu beschäftigen. Obwohl er selbst von sich behauptet, kein Metalfan zu sein, oder zumindest einer, der in der Entwicklung der Szene Ende der Siebziger / Anfang der Achtziger stehen blieb, verfolgte er dennoch die Verwurzelungen und Verselbstständigungen der Szene beziehungsweise ihrer Subgenres mit großem Interesse. Seit jener Zeit wartete der Autor nur darauf, dass irgendjemand eine wissenschaftliche Aufbereitung des Themas auf den Markt bringt. Doch die Zeit verstrich und nichts passierte. Also ging Wehrli seinen akademischen Weg und nahm nach Aneignung der wissenschaftlichen Konzepte und Mittel die Sache selbst in die Hand. Ergebnis war das im August 2001 veröffentlichte Sachbuch „Verteufelter Heavy Metal“, das allerorts gute bis überschwängliche Kritiken einheimsen konnte. Bereits Monate vor der eigentlichen Zeitplanung war die Erstausgabe restlos vergriffen, wodurch sich Wehrli nach Rücksprache mit seinem Verleger an eine tiefreichend überarbeitete Version des Erstlings machte.

_Die Struktur:_

Alles hat seinen Anfang, so auch die Musikrichtung, die wir alle so inständig lieben. Wehrli strukturiert sein Werk „Verteufelter Heavy Metal“ eng nach der Zeitgeschichte des harten Rock. Dabei werden die begründenden Genres wie der Blues mit in die Entstehungsgeschichte einbezogen, die sich fortlaufend als Selbstgänger erweisen sollte. Wehrli arbeitet im ersten Drittel detailliert die Motivation der Szene auf, die die Entwicklung einer solchen global minderheitlichen Subkultur überhaupt erst ermöglichte. Dabei werden die wichtigsten Eckpfeiler und Daten des Genres genau unter die Lupe genommen, zu denen mit Sicherheit die Bandgründung von BLACK SABBATH, die NWoBHM (New Wave of British Heavy Metal) oder die Kirchenbrände in Norwegen Anfang der Neunzigerjahre gehören.

In diesem Zusammenhang lässt Wehrli die Botschaften der Künstler, wie auch die oftmals von Kritikern hineininterpretierten Botschaften nicht unbeachtet. Vielmehr geht er sehr tief reichend auf diesen doch eklatant bedeutsamen Aspekt der Heavy-Metal-Geschichte ein. Zensur wird zu einem großen Thema und die konservative Opposition gegen die Metalströmung zu einem Schwerpunkt des Buches. Katholische Traditionalisten, evangelische Fundamentalisten, Zeugen Jehovas, aber auch die Apostel bundesdeutscher Sittenwächter werden aufgrund ihrer oftmals – peinlicherweise für sie auch hinreichend belegten – ignoranten Haltung gegenüber einer Popkultur mit umfassenden Kapiteln bedacht. Dabei kommen auch die bedauernswerten Beispiele des Heavy Metal – wie die thüringische (pseudosatanistische – die Band ABSURD) und norwegische Strömung (die Kirchenbrände) der beginnenden Neunzigerjahre – zum Tragen, die fernab allen plakativ zur Schau getragenen Okkultismushangs, der Musik eine neue, schädigende Seite hinzufügten. Somit spannt Wehrli seinen Bogen von den BEATLES und dem mit ihnen verbundenen Aufkeimen des Rock ’n‘ Roll bis hin zum NS-Black-Metal und beleuchtet dabei nicht nur spektakuläre, juristisch belegbare Oberflächenprozesse, sondern auch Präzensur durch die Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten.

Dem Thema „sublime Botschaften“ und „backward masking“ (Einbau rückwärts abgespielter Sprechtexte in Rocksongs) widmet Wehrli ein komplettes Kapitel und gibt einen kurzen Überblick über die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die es zu dem Thema gibt. Einen sehr spannenden Bereich bearbeitet Wehrli im anschließenden Teil seines Werkes, der Auseinandersetzung mit den bisher erschienen Lektüren wider den Heavy Metal. Gnadenlos und teilweise augenzwinkernd deckt der Schweizer Fehler der jeweiligen Autoren auf, die manchmal sogar zur Verbreitung irgendwelcher Albenklappen- oder Bookletttexte führten, die weltweit überhaupt nicht existieren. An dieser Stelle sei nicht zu viel erwähnt. Es entbehrt aber nicht einer gewissen Heiterkeit, wie die teils hanebüchenen Aussagen der federführenden Wortgeber der jeweiligen Antigruppierungen geschichtlich belegbar demontiert und entblößt werden.

Der Ansatz des Sittenschutzes nebst Falldarstellungen und die damit einhergehende Zensurthematik bildet einen weiteren Schwerpunkt. Zunächst geht Wehrli die Problematik anhand einiger globalen Beispiele an und vertieft diesen Aspekt dann in gezielt ausgewählten Fällen, die Zusammenhänge zwischen Heavy Metal, Sex, Gewalt und Satanismus suggerieren. Er arbeitet dabei flächendeckend, bedenkt solch unterschiedliche Künstler wie JERRY LEE LEWIS, IRON MAIDEN oder SLAYER wertfrei, jedoch nicht, ohne vielerorts auf die Unlogik der jeweiligen Zensuransätze hinzuweisen.

Wehrli beschränkt seine Recherchen dabei nicht auf einen bestimmten Kontinent, sondern widmet eine besonders ausgiebige Besprechung dem europäischen Markt und dessen schwermetallischen Aushängeschildern. So werden natürlich, aber nicht ausschließlich, plakative Schockbands wie ROCKBITCH oder BELPHEGOR unter die Lupe genommen. Wehrli widmet sich schlussendlich auch polarisierenden Künstlern wie zum Beispiel ROBBIE WILLIAMS, den FANTASTISCHEN VIER oder RAMMSTEIN, die nur wenig oder gar nichts mit Heavy Metal zu tun haben.

_Fazit:_

Es ist wirklich kein leichtes Unterfangen, die schreiberische und recherchierte Dichte dieses Werkes umfassend darzustellen. Reto Wehrlis „Verteufelter Heavy Metal“ ist mit Sicherheit nicht nur die ausgiebigste Auseinandersetzung mit dem Thema Heavy Metal, sondern auch die weitreichendste Argumentationshilfe für all diejenigen, die sich manchmal mit den stereotypen Vorwürfen jedweder Sittenwächter konfrontiert sehen. Wehrli arbeitet die einzelnen Fallbesprechungen umfassend auf, setzt die Denkansätze des vordergründig wertfreien Jugendschutzes in Verbindung mit den Resultaten der jeweiligen Rechtsprechung und deckt dabei mehr als einmal unlogische und unpassende Handlungen internationalen Rechts auf. Desweiteren ergänzt der Autor seine immens erfolgreiche Erstauflage mit kulturwissenschaftlichen Querbezügen, bei denen sich vor allem der Schwerpunkt Japan als sehr interessant herausstellt, schlägt Brücken zu anderen Medien und wirft dabei auch weit reichende Blicke auf Splattermovies und japanische Mangas.

Zudem verwendet Wehrli zahlreiche Fotographien und Lyrics, die im direkten Zusammenhang mit den jeweiligen Themenschwerpunkten aufgearbeitet werden. Abgerundet wird das Werk durch eine Diskographie der im Buch genannten Bands.

Es bleibt am Ende ein rundum gelungenes Werk, das hoch informativ die Geschichte des Heavy Metal aufarbeitet und sich liebevoll detailgetreu mit ihr auseinandersetzt. „Verteufelter Heavy Metal“ ist die Grundlage und das definitive Standardwerk zum Thema Musikzensur.

Das Beste an Wehrlis Buch ist aber die Aussicht, dass der Autor auch weiterhin am Ball bleiben wird, um das Thema Heavy Metal noch intensiver auszuleuchten. Man merkt ihm regelrecht an, dass er sich in das Metier hineingefressen hat. Somit haben alle Fans dieser Musikrichtung wenigstens einen Wortführer, der sich würdig mit der Materie beschäftigt. Doch eines sollte der Schweizer wohl besser unterlassen: Die Seitenzahl wie bei der jetzigen Neuauflage (fast) verdoppeln. Bei 1400 müsste nämlich auch ich an den Grenzen der Aufnahmefähigkeit die Segel streichen …

Taschenbuch: 741 Seiten
www.telos-verlag.de