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Wiesler, André – Altes Eisen (Shadowrun #56)

|“Zehn Jahre ist es her, seit Lulatsch, Clown, Grizzly und Madame Trix ihren letzten Coup gelandet haben. Und ein Jahrzehnt ist in der sechsten Welt eine lange Zeit, vor allem für die kurzlebigen Orks und Trolle. Sie haben die Straßen der ADL hinter sich gelassen, aber wie heißt es so schön: Niemand verlässt die Schatten ganz. So holt die Vergangenheit die Runner ein und lässt sie erkennen, dass sie im Jahr 2064 vor allem eines sind: Altes Eisen …“| (Klappentext)

_von Chris Sesterhenn
mit freundlicher Unterstützung unseres Partnermagazins http://www.ringbote.de/ _

_Trockene Fakten – die äußeren Werte:_

„Altes Eisen“ ist ein weiterer „Shadowrun“-Roman aus dem |Heyne|-Verlag. Wie schon so oft, passt das Titelbild nicht besonders gut zu dem Roman, aber es kommt auch viel mehr auf den Inhalt an. Die Geschichte verteilt sich in dem Taschenbuch auf 426 Seiten, was einem sehr guten Durchschnittswert entspricht.

_Worum geht es überhaupt? – zum Inhalt:_

André Wiesler präsentiert mit „Altes Eisen“ einen neuen Roman aus der Welt von „Shadowrun“. Die gesamte Handlung dreht sich um die Runnergruppe „Die Crew“, bestehend aus dem Riesen Lulatsch (Joseph), dem Troll Grizzly (Marko), den beiden Orks Trix (Helen) und Clown (Nikolai) sowie der Elfe Winter und dem Mensch Dietrich. Vor zehn Jahren gelang diesen Runnern ein großartiger Coup. Sie widmeten sich ihrem Privat- und Familienleben, zogen sich mehr oder weniger aus den Schatten zurück. Doch dann ist es nach der langen Zeit des Wartens soweit: Helen, die nach dem erfolgreichen Coup für die Crew ins Gefängnis gegangen ist, wird aus der Haft entlassen und der Zeitpunkt ist gekommen, die verbleibende Beute unter den Teammitgliedern aufzuteilen und einen Lebensabend im Wohlstand zu garantieren. Doch dann kommt alles ganz anders als geplant. Die ehemaligen Runner sind gezwungen, noch einmal zu zeigen, was die Crew wirklich vermag. Und dabei gilt es, die Schatten der Vergangenheit zu bewältigen.

_Zuckerbrot und Peitsche – Pro und Contra:_

Der Roman „Altes Eisen“ von André Wiesler präsentiert eine wirklich gelungene Geschichte. Die einzelnen Szenen sind sehr detailliert und plastisch beschrieben. Jeder Abschnitt lädt zum zügigen Weiterlesen ein, Langeweile kommt in diesem Buch nie auf. Von Kapitel zu Kapitel wechselnd, erfährt der Leser in zwei Handlungssträngen von den aktuellen Ereignissen und den Geschehnissen vor zehn Jahren. Zusammen ergibt dies auf sehr geschickte Art und Weise ein rundum gelungenes Gesamtwerk.

Die Charaktere der Geschichte waren vor zehn Jahren professionelle und sehr begabte Runner. Mit ihren Talenten und ihrer Cyberware gelingt es ihnen, einen nicht für möglich gehaltenen Raub zu begehen. Auch wenn dieser nicht hundertprozentig glatt verlief, so wartet in der „Gegenwart“ dennoch eine beachtliche Beute auf die Helden von damals. In den vergangenen Jahren wurden aus den einzelnen Teammitgliedern ein angesehener Imageberater für Metamenschen (Joseph), das Oberhaupt einer großen Orkfamilie (Nikolai), ein Häufchen Elend, welches nur von der Verpflichtung, einen Hund zu füttern, noch am Leben gehalten wird (Marko) oder eine selbstbewusste Orkfrau, die ihren Lebensabend in Ruhe verbringen will (Helen). Und dieses ‚alte Eisen‘ muss nun zeigen, was es in der Gegenwart noch alles auf dem Kasten hat.

Allein die Idee ist schon lesenswert, aber die Umsetzung macht das Ganze zu einem besonderen Lesevergnügen für „Shadowrun“-Fans und solche, die es noch werden wollen. Sehr gelungen sind die teilweise enormen Unterschiede der einzelnen Charaktere in den beiden Handlungssträngen. Es entbehrt nicht eines gewissen Humors, wenn beispielsweise der ehemalige Straßensamurai eine Waffe aufnimmt und seine Smartgun-Verbindung meldet, dass die Cyberware ein dringendes Update benötigt.

Wer unbedingt auch einen Punkt auf der Contra-Seite haben will, muss schon etwas länger suchen. Unter Umständen könnte die phasenweise etwas sehr auf Erwachsene bezogene Schreibweise nicht gerade für junge Leser geeignet sein (wobei Gewalt eher als letzter Ausweg beschrieben wird). Aber es gibt noch wesentlich schlimmere Szenen in anderen Publikationen.

_Für wen lohnt es sich? – meine Einschätzung:_

Der Roman von André Wiesler ist ein richtiges Highlight unter den Romanen aus dem „Shadowrun“-Universum. Ich kann jedem SR-Fan (und allen, die es noch werden wollen) diesen Roman nur wärmstens ans Herz legen. Der Leser erhält für sein Geld viel Unterhaltung und Kurzweil – seit langer Zeit wieder einmal ein wirklich überzeugender SR-Roman.

_Fazit:_ „Altes Eisen“ von André Wiesler bietet eine hervorragend umgesetzte Idee. Im Vergleich mit anderen Romanen aus der Welt von Shadowrun liegt dieser Roman eindeutig im oberen Bereich der Rangliste. Fans sollten sich dieses Highlight nicht entgehen lassen, daher kann ich eine uneingeschränkte Kaufempfehlung geben. Um es mit Grizzlys Worten zu sagen: „So wird das gemacht!“

David, Peter – Herr Apropos von Nichten

Schelmenroman: |aus Spanien stammende Romangattung, die im Ggs. zum Ritterroman das Leben spitzbübischer Schelme, Landstreicher und Glücksritter schildert. Die S. sind meist in der Ich-Form erzählt und tragen häufig satir. und sozialkrit. Züge| – so informiert uns der Brockhaus, und so kann man Peter Davids kleinen Geniestreich „Herr Apropos von Nichten“ kurz charakterisieren, mit dieser Ergänzung: Es ist ein Buch voll von Einfällen, Verwirrungen, Wendungen und Sarkasmen aller Art, es bringt einen zum Schmunzeln, zum Lachen, zum Mitfühlen und zum Lesen mit angehaltenem Atem; spöttisch zerstört es Illusionen über die Gerechtigkeit der Welt oder den Wert des Heldentums, und es präsentiert einen Anti-Helden reinsten Wassers.

Apropos hat’s aber auch nicht leicht. Seine Mutter schlägt sich als Kellnerin in einer heruntergekommenen Spelunke durch. Da sie einmal der Geburt eines Phönix zugesehen hat, glaubt sie, zu Wichtigem bestimmt zu sein – und als sechs Ritter sowie ein Mann im Umhang (vielleicht ein Magier) sie vergewaltigen und sie schwanger wird, glaubt sie um so heftiger daran: Ihr Sohn wird einmal … Sie geht ihrem Beruf weiterhin nach, arbeitet nebenbei auch als Hure und spart, was sie kann, um ihrem Sohn eine Zukunft zu verschaffen. Leider ist der lahm geboren, zum Glück jedoch auch mit einem scharfen Verstand gesegnet; außerdem hilft ihm Tacit, ein junger Robin Hood und Held von echtem Schrot und Korn. Aber gerade diese Freundschaft führt Apropos seine Unzulänglichkeit vor Augen, der Vergleich mit Tacit wird für ihn zur Manie.

Schlüsselstelle des Romans ist die Szene, in der aufgehetzte Bauern die junge Magierin Schari verbrennen wollen. Tacit stürzt los, sie zu retten; Apropos findet das schwachsinnig und überlegt, wie er sich aus der Sache heraushalten kann. Doch als Tacits Versuch scheitert und dieser zusammen mit der Magierin verbrannt werden soll, gibt sich der selbsternannte Egoist („Lieber zehn Minuten lang feige als ein Leben lang tot.“) einen Ruck und kauft die beiden mit Gold und einer List los; woraufhin die Gerettete dem guten Tacit erklärt, wie dämlich sie seine „Rettungstat“ fand. Trotzdem findet Apropos seine eigene Rolle erbärmlich. Und Schari, offensichtlich eine verwandte Seele, verschwindet bald wieder aus seinem Leben.

Kurze Zeit später wird Apropos’ Mutter umgebracht, was den Jungen endgültig aus der „heimischen“ Spelunke forttreibt, an den Königshof, um Gerechtigkeit zu verlangen – Ausgangspunkt einer Kette von Abenteuern, die ihn mal in die Nähe des Todes, dann wieder bis knapp vor den Thron führen … aber keine Sorge: Der Schelm bleibt ein Schelm, und das ist gut, denn von diesem Schelm lebt das Buch. Peter David schildert Apropos’ Innenleben einfühlsam und komisch zugleich, mit viel Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Selbst wenn der junge Mann mitten im Geschehen (lies: im Schlamassel) steckt, bleibt er scharfsichtiger Beobachter und scharfzüngiger Spötter: „Unsere Rösser donnerten über die Lichtung, und wir Ritter müssen einen beeindruckenden Anblick geboten haben. Nichts erregt einen wohl so sehr, wie einer Schar Ritter ansichtig zu werden, welche, wenn auch zu spät, zur Rettung heraneilen.“ Er verschont sich selbst ebenso wenig wie seine Umwelt; als er einen Mitknappen als gewissenlos charakterisiert, setzt er hinzu: „Nun gut, schlechtes Gewissen und dergleichen plagten auch mich nur selten bis nie. Aber das ließ sich doch nicht vergleichen. Bei mir stand eine bewusste Entscheidung dahinter, wohingegen Keule einfach zu dumm dafür war.“ Dergleichen bekommt man laufend zu lesen. Was Wunder, ist der Ich-Erzähler doch einer, dem das Leben meist übel mitspielt – besonders immer dann, wenn er seine erste Regel vergisst: sich niemals auf jemanden oder etwas zu verlassen. Natürlich auch nicht auf höhere Mächte. Apropos glaubt zwar an Götter, aber er kommentiert deren Walten in seinem Leben zum Beispiel so: „Ich konnte mir nur einen Grund denken, warum Runzibel mich nicht hatte hinrichten lassen: Die Götter wollten mich noch ein Weilchen länger quälen.“

Eindeutig ist Apropos kein moralisch einwandfreier, positiver Held (er ist ja nicht mal ein Held). Doch David schafft es, ihm alle Sympathie des Lesers zuzuschanzen, selbst wenn er feige oder hundsgemein handelt (was so oft nun auch wieder nicht vorkommt). Ich habe lange kein Fantasy-Buch mit einer so wirklichen Hauptfigur gelesen, und ich hoffe nur, dass der Autor seiner halben Ankündigung im Vorwort noch einen solchen Roman folgen lässt!

© _Peter Schünemann_
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Mülbe, Wolfheinrich von der – Zauberlaterne, Die

Piper legt mit diesem Roman ein kleines Juwel niveauvoller Literatur vor, das mancher vorschnell unter „Kinderliteratur“ einordnen könnte. Nun, „Die Zauberlaterne“ ist ebenso Kinderliteratur wie Harry Potter, Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ oder Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ – will heißen, das Buch hat auch für erwachsene Leser seine Reize; manch ein Vater könnte gar finden, dass es ihm selbst besser zusagt als seinen Sprösslingen, die gerade ungeduldig auf das nächste Abenteuer des berühmtesten Zauberlehrlings der Welt warten. Und ohne J. K. Rowling zu nahe treten zu wollen: An Abwechslungsreichtum der Genres, Töne und Erzählweisen übertrifft Wolfheinrich von der Mülbe sie deutlich; er beherrscht das augenzwinkernde Fabulieren eines Münchhausen ebenso wie den melancholischen Ton eines Hans Christian Andersen, die Parodie nicht schlechter als das romantische Gedicht, das Märchen meistert er genau wie die Liebesgeschichte. 1937 erschienen, im gleichen Jahr wie Tolkiens „Hobbit“, erinnert er auch an diesen; beide Bücher entstanden gewiss unabhängig voneinander, sind sich aber an fröhlichen wie traurigen Stellen mitunter so ähnlich wie eineiige Zwillinge. Und natürlich wandelt sich auch im Verlauf dieser Geschichte ein gutherziger, doch anfangs etwas träger und einfältiger junger Mann zum wahren Helden …

Das Ganze beginnt auf Burg Scharfenstein. Mutter Schute setzt ihrem Sohn Kunibert so lange mit dem ach so leuchtenden Beispiel seines Vaters zu, bis der Junge gemeinsam mit seinem Knappen Schorse, einem ungeschliffenen, aber ergebenen und gutmütigen Burschen, auf Abenteuer auszieht. Gesucht wird eine Prinzessin: Ein Königsschloss wäre ein mehr als passender Ersatz für die Burg. Als die beiden den geheimnisvollen Goldenen Ritter treffen und einen Abend auf dessen Burg verbringen, kommt Bewegung in die Sache. Der zauberkundige Beppo zeigt Kunibert in einer Vision viele phantastische Bilder – wir werden sie alle im Roman wiederfinden. Bald darauf reiten Herr und Knappe, nun endlich gut gekleidet, bestens gerüstet und mit genug Geld versehen, in der schönen und reichen Stadt Marsilia ein; König Kasimir, Herr des gleichnamigen Reiches, will seine Tochter Sonja verheiraten. Natürlich gibt es drei Aufgaben zu bestehen. Die erste meistert Kunibert relativ leicht: Er erkennt in einer Menschenmenge die bisher sorgsam verborgen gehaltene Prinzessin, da sein Herz ihn führt. Die zweite Aufgabe führt ihn lange durch viele fremde Länder und Gefahren: Da kein Hofbarbier Kasimir richtig rasieren kann, soll er das wunderbare Rasierzeug finden, das die Fee Süffisande einst ihrem Geliebten schenkte. Leider ist das Set über die ganze Welt verstreut … Und so lernt Kunibert die Länder der Araber kennen (wo der Ritterroman parodiert wird), zieht durch die Wüste (Hauff und seine Märchen lassen grüßen), durchs Königreich Lappalien (ein Leckerbissen für alle, die Bürokraten hassen), besteht gegen einen äußerst interessanten Drachen, gerät in die Fänge eines bösen Gnoms und einer falschen Schönheit (der traurige, tragische Höhepunkt des Buches) und und und …

Mülbes Einfallsreichtum kennt nahezu keine Grenzen, aber immer schimmert durch die Zeilen die Liebe zu seiner Geschichte und zu seinen Lesern hindurch, und das macht den Zauber des Buches aus. Sicher, er schwingt nicht den groben Comedy-Hammer, sein Humor ist von feinerer Art, aber gerade darum liebenswert. Kurz, hier liegt ein Buch vor, das auf eine wundervoll frische Art altmodisch ist; genau wie die oben genannten Werke. Und es ist wie diese voll von lebendigen Figuren, freundlichen und finsteren, komischen und tragischen, realistischen und fabelhaften … Als Inspiratoren für „Die Zauberlaterne“ werden im Klappentext Tucholsky und Kästner genannt, was zweifelsohne stimmt; aber hierhin gehören auch Andersen, Hauff, Hoffmann, Cervantes, Eulenspiegel und Bürger – die besten Traditionen europäischer phantastischer und satirischer Literatur haben an der Wiege dieses Buches Pate gestanden. Und wenn ich einen von Mülbes Enkeln im Geiste nennen sollte, dann fällt mir sofort dieser Name ein: Michael Ende.

© _Peter Schünemann_
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Neumann, Hans-Peter / Klotz, Udo / Riffel, Hannes (Hrsg.) – SHAYOL Jahrbuch zur Science Fiction 2004

Nach einem Jahr der Parallexistenz dreier Jahrbücher zur SF kann man deutlich die Trennungslinien zwischen den dreien ausmachen. Wo |Heyne| den Rundumschlag in Sachen SF praktiziert, wobei es jedes Mal einen thematischen Schwerpunkt gibt, und das |ALIEN CONTACT|-Jahrbuch die „Heft“-Inhalte des letzten Jahres mit Schwerpunkt auf Unterhaltung beinhaltet, also deutlichem Primärtextanteil, scheint sich das |Shayol|-SF-Jahrbuch auf die Gesamt- und Überblicksdarstellung der deutsch-sprachigen und ausgewählter Aspekte der internationalen SF zu spezialisieren; ergänzt durch die sehr ausführliche und gediegene Bibliografie.

Die Bibliografie empfand ich im letzten Jahr als nicht so bedeutend, aber diesmal muss ich gestehen, machte sie mir großen Spaß. Es ist ja tatsächlich so, dass man auch als versierter, interessierter und suchender SF-&-Phantastik-Fan kaum noch den Überblick bewahren kann. Die SF wird zunehmend in deutsch-sprachigen Ländern zum Tummelplatz der Klein-, SmallPress- und semiprofessionellen Verlage, ganz zu Schweigen vom Internet und |books on demand|. Hier findet man also eine auf Vollständigkeit getrimmte Übersicht. Das geht so weit, dass Erzählungsbände auf vereinzelte SF- oder artverwandte Storys hin untersucht werden.

Im Einzelnen bedeutet dies: Die beiden (Haupt-)Herausgeber empfanden das vergangene Jahr als Jahr der SF-Erzählung. Wobei sie auch auf die relativ zahlreichen fannischen Buchproduktionen eingingen. Diese gingen oft aus Schreibolympiaden etc. hervor. Da wurde kein Blatt vor den Mund genommen und auch darauf hingewiesen, dass viele Schreibversuche als solche erkennbar sind.

Zwei Artikel widmen sich den Neuerscheinungen in den USA 2004; einmal von einem US-amerikanischen Autor, zum anderen von Hannes Riffel. Beide sind sicher recht subjektiv und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; aber sie geben interessante Einblicke und Kauf- und Leseanregungen – für die Zukunft (so man des Englischen nicht mächtig genug ist). Da kommt einiges auf uns zu!

Das kann man von den anderen Ländern, die hier vorgestellt werden, sicher nicht behaupten. Dabei hätten sie es verdient! Gerade, was so in Polen und Russland vor sich geht, erscheint mitunter sehr interessant. Leider wird da sicher nicht viel ‚rüberwachsen. Vielleicht ja die Bücher zu dem in unseren Kinos laufenden russischen Mysterythriller. Die Bücher zu „Night Watch“ von Sergej Lukjanenkow müssen in Russland ziemlich abgeräumt haben. Ob man da hoffen kann, dass außer dem Auftakt auch die Folgebände ins Deutsche übersetzt werden? Aber wer weiß, ob dies tatsächlich eine Bereicherung darstellen würde, schließlich werden die Filme bei uns auch deshalb gezeigt, weil sie sich an die Machart ihrer Brüder im Geiste aus Hollywood annähern. Bei den Büchern vermute ich dasselbe. Aber besser als nichts. Dabei zeigt der Artikel, dass es im vergangen Jahr tatsächlich einige sehr vielversprechende Veröffentlichungen gab.

Ebenso in Polen; in Griechenland und Bulgarien aus meiner Sicht eher nicht. Die Artikel lesen sich schon ziemlich esoterisch; was es so alles gibt … Auch die Niederlande erschienen mir nicht so sehr interessant. Aber das mag Geschmackssache sein, wichtig ist es auf alle Fälle, mal zu sehen, was da so geschieht.

Bei der Häufung der Länderdarstellungen schleicht sich Routine, wenn nicht gar etwas Langeweile ein. Mehr ist tatsächlich nicht nötig, aber bitte, liebe |Shayol|-Leute, behaltet dies bei!

Die „Länderartikel“ sind allerdings auch mehr als nur Rückschauen auf 2004; sie holen meist weiter aus und zeigen die Entwicklung der SF in dem jeweiligen Land, insbesondere in jenen, von denen man ansonsten ohnehin nie viel mitbekommt.

Insgesamt zeichnen sich die Essays durch einen hohen Grad an Individualität aus; es sind oft sehr persönliche Sichtweisen, auch auf die SF-Serien in der BRD: Perry Rhodan, Bad Earth, oder der von Franz Rottensteiner, die ich wie im letzten Jahr mit großen Vergnügen las! Sein altes Motto: „Wider die verderbliche Schundliteratur!“ kommt hier immer wieder zum Ausdruck.

Gerd Frey hat wie im |Heyne|-SF-Jahrbuch wieder die wichtigsten SF-Spiele vorgestellt. Da mich das Gebiet nicht so sehr interessiert, weiß ich nicht, worin sich die beiden Artikel nun unterscheiden.

Dazu: Filmrückblick, zahlreiche Buchrezensionen, Nachrufe. Alle diese Rubriken findet man natürlich auch im |Heyne|-SF-Jahr. Ob man sich da noch etwas ausdenken könnte, um sich vom Großen Bruder zu unterscheiden? Aber vielleicht ist das auch nicht nötig, man muss sich dann eben nur entscheiden, wem man den Vorzug gibt. Eine solche Entscheidung möchte ich nicht fällen.

© _Thomas Hofmann_
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Baxter, Rob / Fitch, Bob / Johnson, Luke u. a. – World of Warcraft – The Roleplaying Game (Grundregelwerk)

|Nach dem bahnbrechenden Erfolg des Online-Rollenspiels war es nur eine Frage der Zeit, bis die D20-Ausgabe eine Neuauflage erfahren würde.|

_von Dominik Cenia
mit freundlicher Unterstützung unseres Partnermagazins http://www.ringbote.de/ _

Das alte „Warcraft“-D20-Buch war nicht mehr als ein Setting, ohne wirklichen Regelanteil. Man benötigte also die entsprechenden D20-Regelbücher, um in die Welt von Azeroth einzutauchen. Die übrigen Informationen waren über weitere Quellenbücher verteilt. Eine Reihe von weniger gelungenen Illustrationen und die manchmal etwas merkwürdige Verteilung des Quellenmaterials machten aus „Warcraft“-D20 einen Exoten, der irgendwie nicht so richtig ankommen wollte.

Diese Fehler hat man sich zu Herzen genommen und dem Regelwerk eine komplette Frischzellenkur verpasst. Auf fast 400 vollfarbigen Seiten im Hardcover präsentieren sich die neuen Regeln für „World of Warcraft“. Das Besondere: Das Buch enthält alle Grundregeln, die für D20 notwendig sind. Damit hat man mit dem Buch quasi ein komplettes, eigenes D20-Rollenspiel und nicht einfach nur eines von vielen Settings.

Die neuen Regeln sind jedoch trotz einiger Änderungen weiterhin mit den alten Quellenbücher kompatibel. Gerade das alte „Manual of Monsters“ oder das „Alliance & Horde Compendium“ sind zum Beispiel weiterhin zu gebrauchen (wobei |Blizzard| hier bereits zwei neue Bücher angekündigt hat). Inhaltlich orientiert sich das Buch aber stärker an dem MMORPG von |Blizzard|. Namen, Skills, Feats und Charakterklassen lehnen sich vom Begriff her eher an das Computerspiel als an den üblichen D20-Terminologien an.

Die alten Regeln des „Warcraft“-Rollenspiels hatten das Problem, dass die Rassen von der Stärke her unausgeglichen waren. Ein Taure mit Lvl. 10 war einfach stärker als ein Mensch auf dem gleichen Level. Unabhäng von der Klassen waren einfach die allgemeinen Startbedingen und Grundboni zu unausgeglichen verteilt. Das neue Regelwerk hat genau dieses Problem in Angriff genommen. Ab sofort ist es möglich, so genannte „Racial Levels“ aufzusteigen, also quasi Stufen innerhalb einer Rasse. Dies stellt die innere Stärke und Einigkeit dar, die ein Charakter gegenüber seines Volk hat. Ein Taure taucht damit tiefer in die spirituelle Welt seiner Ahnen ein, während ein Mensch mehr und mehr anfängt, sich mit den Werten der Allianz zu identifizieren. Dies bringt weitere Vorteile mit sich und sorgt dafür, dass die einzelnen Rassen deutlich ausgeglichener sind.

Der „Arcanist“ und der „Healer“ sind zwei neue Charakterklassen, die sich wiederum in die bekannten Schulen wie etwa „Mage“, „Warlock“, „Necromancer“ respektive „Druid“, „Shaman“ und „Priest“ unterteilen. Wer jetzt jedoch Bedenken hat, dass es nur die Charakterklassen aus dem Online-Spiel gibt, kann beruhigt sein. Auch andere Klassen wie der „Barbarian“, „Scout“ und „Tinker“ haben es in das Buch geschafft – nicht zu vergessen eine ganze Reihe von Prestige-Klassen.

Es gibt Regeln für den Einsatz von Hero Points, und die Regeln für Verwundungen und das Ableben von Charakteren wurden ein wenig überarbeitet. Da die WoW-Welt eher für ein heroisches Spiel gedacht ist, starten die Spieler schon zu Beginn mit recht mächtigen Charakteren. Auch bei der Magie wurde Hand angelegt. Durch das neue „Slot-System“ können die Spieler nun wesentlich flexibler ihre Zauber aussuchen und für jeden Tag neu festlegen.

Das wären auch schon alle Änderungen. Der Rest besteht aus einzelnen Verfeinerungen und Umformulierungen. Das etwas komplizierte Kapitel über „Technological Devices“ wurde jedoch nicht überarbeitet.

Man kann so ziemlich alle Rassen übernehmen, die für das Schicksal der Welt von Azeroth eine Rolle spielen. Nacht- und Hochelfen, Menschen, Goblins, Gnome, Zwerge, Tauren, Orks, Trolle und die „verlassenen“ Untoten stehen zur Auswahl. Natürlich bietet es sich an, vor dem Spiel festzulegen, ob man lieber auf der Seite der Horde oder der Allianz spielt. Gerade der Konflikt zwischen den beiden Gruppen macht einen Großteil des Spiels aus. Gemischte Gruppe sind zwar auch möglich, doch stellt sich dann immer die Frage, was beispielsweise ein Mensch und ein Verlassener zusammen mit einem Gnom und einem Ork vor den Toren von Stormwind machen wollen.

Neben den Regeln zur Charaktererschaffung, zur Magie, zum Kampf, zu den Skills, zur Ausrüstung und zu den Feats, bietet das Buch einen umfangreichen Regionalteil, der sich mit der Geschichte von Azeroth und den Reichen Kalimdor, Lordaeron, Khaz Modan und Azeroth beschäftigt. Kenner des Online-Rollenspiels werden sich sofort wie zu Hause fühlen, denn die Beschreibungen der einzelnen Länder decken sich 1:1 mit denen aus dem Computerspiel. Leider hat man bei der Karte und den Beschreibungen auf einen Maßstab verzichtet. Schade, denn dadurch hat man nur den relativ kleinen Maßstab aus dem MMORPG im Kopf. Nur leider passt das überhaupt nicht zu einem Pen&Paper-Rollenspiel. Denn wie soll man eine ausführliche Reise etwa durch Schnee, Eis und Kälte ausspielen, wenn man auch einfach mit dem Greif von Stormwind nach Ironforge in nur wenigen Minuten fliegen kann? Hier müssen die Macher noch ein paar Dinge ausbessern, weil das Rollenspiel sonst leicht zu einer Karrikatur des MMORPGs von |Blizzard| verkommen kann.

Gut gelungen ist das Kapitel über Alignment, Affiliation und Faiths. In der „World of Warcraft“ gibt es weder Gut noch Böse. Beide Seiten, sowohl die Horde als auch die Allianz, haben ihre Gründe, einen ständigen Kampf ums Überleben zu führen, sehen ihren Gegner aber jeweils als „Böse“ an. So können also „gute“ Charaktere von beiden Seiten sich gegenseitig bekämpfen, in dem Glauben, dass ihr Gegner das absolut Böse darstellt. Ein Paladin kann also sein äquivalentes Gegenstück, zum Beispiel einen Ork-Schamanen, ruhigen Gewissens angreifen, obwohl eigentlich beide den fast gleichen moralischen Kodex haben.

In der „World of Warcraft“ gibt es nur wenige Götter. Die so genannten „Alten“, das heilige Licht, Naturgeister und die Mondgöttin „Elune“ bilden die wenigen spirituellen Kräfte der Welt. Gerade die Orks oder die Nachtelfen ziehen ihre Religion vor allem aus der Verehrung ihrer Urahnen oder Vorfahren. Die Menschen haben eine weit philosophischere Sicht der Dinge, und die Tauren glauben daran, dass alle Elemente und Dinge der Welt einen eigenen Geist besitzen (woran die Verlassen jetzt so glauben, ist nicht genauer erklärt). Auch die „brennende Legion“ kommt nicht zu kurz, darf die meiste Zeit aber als nur als „der böse Feind“ herhalten, auf den sowohl die Horde als auch die Allianz mit Freuden einschlagen dürfen.

Das phantastische neue Layout und die Tatsache, dass es sich bei dem Buch um ein komplett spielbares Regelwerk und nicht nur ein Setting handelt, täuschen nicht über die Tatsache hinweg, dass es sich trotzdem nur um eine „verbesserte“ Neuauflage des Spiels handelt. Besitzer des alten Rollenspiels sind also nicht wirklich genötigt, das neue Regelwerk zu kaufen. Die meisten Änderungen sind natürlich sinnvoll und ausgereifter. Wer jedoch mit den bisherigen Regeln gut zurechtgekommen ist, wird auf die neuen Ideen auch nicht unbedingt angewiesen sein. Hinzu kommen ein paar versteckte Fehler im Layout. So wurden etwa einige Überschriften in der falschen Schrift platziert, was einfach unschön aussieht.

_Fazit:_ Das Buch stellt einen guten Einstieg in die Welt der Rollenspiele dar. Die Illustrationen stammen beispielsweise direkt aus dem Online-Rollenspiel, sodass vor allem Quereinsteiger, die Azeroth bisher nur vom Monitor her kennen, schnell einen Zugang zu dem System finden können. Bleibt nur die Frage, ob wir in Zukunft die gleichen „spannenden“ Quests des Computerspiels erleben dürfen. Mir persönlich graut es schon vor solchen Abenteuern wie „Fliegt mit dem Greif von Ironforge in den Wald von Elwyn und bringt mir zehn Defias-Kopftücher“. Um „World of Warcraft“-D20 richtig spielen zu können, muss man also die Abläufe des Computerspiels aus seinem Hirn verbannen. Für alte Hasen kein Problem, doch für Neueinsteiger wohl schwer zu vollziehen. Vielleicht fördert das Spiel dadurch in den falschen Händen ein wenig zu sehr das sogenannte „Powergaming“. Wobei ich das natürlich nicht hoffen will …

http://www.warcraftrpg.com/

Bionda, Alisha / Kleudgen, Jörg – Blutopfer (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 4)

Band 1: [Der ewig dunkle Traum 1899
Band 2: [Kuss der Verdammnis 1900
Band 3: [Die Kinder der fünften Sonne 1949

|1569, Atzlan|
In der aztekischen Stadt Atzlan wird ein seltsam weißhäutiges Kind geboren, welches von einer geheimnisvollen Gestalt mitgenommen wird.

|1891, London/Atzlan|
Dilara lernt auf einer Feier den Archäologen Roger Gallet kennen, dessen Spezialgebiet die Azteken sind. Gallet hat Zugang zu einem Dokument, welches von einer versunkenen Stadt berichtet, zu der er eine Expedition leiten will. Er bittet Dilara, ihn zu begleiten und die Vampirin geht nur allzu bereitwillig auf das Angebot ein. Doch in Mexiko angekommen, stellen die Abenteurer fest, dass Atzlan noch in der Blüte seiner Existenz steht. Aber die Bewohner sind Roger, Dilara und ihren Begleitern nicht gerade freundlich gesonnen. Sie werden gefangen genommen und verschiedenen Priestern für Blutopfer überantwortet. Doch wer sich hinter den Priestern verbirgt, erschüttert Dilara noch weit mehr, und eine seltsame Vertrautheit mit der Stadt der Azteken ergreift von der Unsterblichen Besitz …

|2005 London|
Dilara und Calvin gelingt es, die Schattenchronik in ihren Besitz zu bringen. Doch die Aktion ging zu reibungslos über die Bühne, so dass Dilara misstrauisch bleibt und eine Gemeinheit Antediluvians dahinter befürchtet. Darüber hinaus treibt immer noch der Wiedergänger John George Haigh sein Unwesen, und auch der Anführer der abtrünnigen Vampire, Guardian, treibt sein eigenes Spiel. Als ob das nicht genug Unsicherheitsfaktoren wären, wird Dilara von einem unerklärlichen Blut- und Morddurst erfasst – hat die Mumie, welche im British Museum ausgestellt wird, etwas mit den Vorgängen zu tun?

Mittlerweile liegt schon der vierte Band der noch recht jungen Serie vor und immer mehr Handlungsstränge und Personen kommen hinzu, verleihen der Schattenchronik immer mehr Tiefe und machen aus der Serie einen komplexen Zyklus.

„Blutopfer“ ist quasi die direkte Fortsetzung von Band 2, „Kuss der Verdammnis“, auch wenn einige Andeutungen des Buches nur nach dem Genuss des dritten Bandes völlig verstanden werden können. Aber im vorliegenden Roman wird endlich die Handlung um Roderick alias John George Haigh und Antediluvinas Pläne mit Dilara fortgeführt. Dabei ist die Handlung so temporeich in Szene gesetzt, dass man das Buch fast in einem Rutsch durchliest. Die Szenenwechsel mit der Vergangenheit tun ihr Übriges. Hier wagen die Autoren der neuen Serie ein Experiment: Zwei Handlungsstränge aus zwei verschienen Zeiten werden parallel zueinander erzählt, um zum Finale hin gekonnt zusammengeführt zu werden. Und die Rechnung geht voll auf, denn beide Geschichten sind äußerst spannend und die wechselnden Szenarien stiften keinerlei Verwirrung beim Leser, sondern animieren eher zum Weiterlesen, um so schnell wie möglich zu wissen, wie es im jeweiligen Zeitabschnitt weitergeht. Trotz des geringen Umfangs von 245 Seiten, in Anbetracht des Stoffes, den die Autoren hier verarbeitet haben, und des rasanten Schreibstils fehlt es dem Roman keineswegs an Atmosphäre.

Und der Leser wird auch nicht enttäuscht, denn einige offene Fragen werden geklärt, neue dafür aufgeworfen und vielversprechende Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Wie sich das eben für eine richtige Serie gehört. Auch so manche Überraschung erwartet den Leser, wenn er nicht den Fehler begeht, sich die Vorschau auf den fünften Band vor der Lektüre des Buches durchzulesen. Damit kommen wir gleich zur Kritik, die dieses Mal aber sehr kurz ausfallen wird. Durch die Vorankündigung wird dem Leser wirklich ein Großteil des Überraschungseffektes genommen. Wer sich das Buch noch zulegen möchte, sollte die Vorschau erst lesen, wenn er den Roman bis zur letzten Seite konsumiert hat. Das Finale selber lässt es noch mal so richtig krachen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Leider wird es dann sehr abrupt abgeschlossen, aber man darf versichert sein, dass Band 5 die Ereignisse direkt fortsetzt. Nur die Wartezeit wird sicherlich für den einen oder anderen sehr lang werden.

Ein ganz dickes Lob gebührt den Schriftstellern aber noch für ihre sorgfältige Recherche, was die alten Azteken anbelangt, denn Namen wie Tonatiuh oder Coyolxa entstammen keineswegs den kreativen Köpfen von Alisha Bionda oder Jörg Kleudgen, sondern sind vielmehr real existierender Bestandteil der aztekischen Mythologie. Und auch der Name des Urnosferatu Antediluvian ist keiner, der ausgewählt wurde, weil er so klangvoll ist, dahinter steckt wirklich Methode.

Die Innenillustrationen von Pat Hachfeld lockern das Buch wieder gekonnt an den Kapitelanfängen auf, auch wenn nicht jedes Bild meinen Geschmack getroffen hat. Das Cover dagegen passt hervorragend zum Roman, sowohl vom Motiv als auch vom Stil her.

http://www.blitz-verlag.de/

_Florian Hilleberg_

Tad Williams – Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Apocalypse Now Digital! So lässt sich der vierte Teil der „Otherland“-Tetralogie von Tad Williams, der jetzt als Abschluss des Mammut-Hörspielprojekts des HR und des |hörverlags| auf sechs CDs vorliegt, schlagwortartig beschreiben. Spektakulär stürzt der virtuelle Weltenraum in sich zusammen und für die Protagonisten kommt es zur finalen Konfrontation.

_von Bernd Perplies
mit freundlicher Unterstützung unseres Partnermagazins http://www.ringbote.de/ _

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Schumacher, Jens / Lossau, Jens – Mahnkopff-Prinzip, Das (Magic Edition, Band 4)

Ruth Feldblum ist an Leukämie erkrankt und fährt aufgrund dessen mit ihrem Mann Hajo nach Mainz, wo Ruth in der Uniklinik untersucht werden soll, um eventuell eine erfolgversprechende Therapie einzuleiten. Aber bevor es so weit kommt, verschwindet Ruth plötzlich spurlos. In seiner Sorge und Verzweiflung informiert Hajo eine gemeinsame Freundin: Ines Lettweiler, eine Gerichtsmedizinerin, die in Mainz studierte. Ein Besuch bei der Polizei ergibt wenig Neuigkeiten, außer dass in Mainz bereits mehrere Vermisstenfälle aufgetreten sind und die ersten Verschwundenen im Zustand völliger Blutleere wieder aufgefunden wurden. Zu diesem Zweck wurde eine Sonderkommission namens „Vampir“ gegründet, welche aber auf der Stelle tritt und keine nennenswerten Fortschritte macht.

Bei ihren eigenen Nachforschungen macht Ines eine bemerkenswerte Entdeckung: Alle Verschwundenen waren wie Ruth an Leukämie erkrankt. Damit erhärtet sich der Verdacht, dass Ruth ebenfalls von den Vampiren von Mainz entführt wurde. Da erinnert sich die Ärztin an eine Geschichte aus ihrer Studentenzeit, in der von einem wahnsinnigen Arzt namens Mahnkopff berichtet wird, der zur Zeit des Dritten Reiches fragwürdige Experimente an Leukämie-Patienten durchführte. Mahnkopff hatte die fixe Idee, das kranke Blut zu reinigen, indem er es den eigenen Trägern zu trinken gab. Tatsächlich wurde bei der Obduktion der gefundenen Leichen eine erhebliche Menge ihres eigenen Blutes in den Mägen gefunden. Doch Mahnkopff und seine Anhänger starben bei einem Bombenangriff im Jahre 1945. Treibt ein irrer Nachahmungstäter sein Unwesen oder hat der wahnsinnige Arzt irgendwie überlebt, um jetzt seine grauenvollen Experimente fortzuführen?

Dieses Werk beweist einmal mehr die Vielseitigkeit der Magic Edition. Im vorhergehenden Band flogen noch Saurier durch die Lüfte und jetzt entführen uns die Autoren Schumacher und Lossau nach Mainz in eine undurchsichtige Geschichte, weitab von Science-Fiction und Fantasy. Dieser beklemmende Thriller hat seine Wurzeln im Dritten Reich und den Leser erwartet ein stimmungsvoller Roman mit einer sehr dicht gesponnenen Atmosphäre, die von einem Hauch der Hoffnungslosigkeit durchzogen ist. Die Protagonisten sind keine strahlenden Helden, sondern ältere Menschen, die kein Interesse daran haben, einfach aus Jux und Dollerei Kriminalfälle zu lösen, weil sie an Langeweile leiden, sondern Menschen, die sich verzweifelt um die Frau und eine Freundin sorgen. Der Vorteil von Hajo und Ines ist ihre Unscheinbarkeit, so dass potenzielle Gegner eher dazu neigen, sie zu unterschätzen. Dass das ungleiche Pärchen bisweilen stark an Miss Marple und Mister Stringer erinnern, ist wohl nicht völlig dem Zufall zuzuordnen, wird dieser Vergleich ja von Ines selbst bemüht.
Die Schwerhörigkeit von Hajo würzt das düstere Szenario mit einer wohl dosierten Prise Situationskomik, die teilweise aber auch sehr makaber anmutet.

Besonders eindringlich sind die Traumsequenzen von Hajo geraten und auch wenn man als Leser weiß, dass es nicht die Realität darstellt, bekommt man unwillkürlich eine Gänsehaut. Der Plot der Geschichte wandelt auf den menschenverachtenden Pfaden eines Dr. Mengele und die Auflösung der Story ist ebenso überraschend wie durchdacht.

Wer Lust auf einen mysteriösen, düsteren Kriminal-Roman im Stil von „Anatomie“ hat, wird hier bestens bedient. Dieses Buch ist ein echter Geheimtipp für alle Krimi- und Gruselfans.

http://www.blitz-verlag.de/

_Florian Hilleberg_

|Unsere Rezension zu Band 1: [„Die Geisterseherin“ 1096 |

E.-E., Marc-Alastor – Kinder der fünften Sonne, Die (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 3)

Band 1: [Der ewig dunkle Traum 1899
Band 2: [Kuss der Verdammnis 1900

Dilara und ihr kleinwüchsiger Diener Cippico steigen in dem Hotel |Maison de Vervins| in Avignon ab, um ein wenig Zerstreuung zu finden. Doch der Frieden währt nicht lange, denn zum einen verschwindet die Leiche eines von Dilaras Opfern spurlos und zum anderen verlangt Antediluvian, der Ur-Nosferatu, nach seiner „Tochter“. Dilara soll nämlich für ihn ein geheimes Dokument aus den Archiven des Vatikans holen. Ihr zur Seite steht dabei die Rosenkreuzerin Gelophee Roche, vor der Antediluvian aber eindringlich warnt, denn die Rosenkreuzer sind angeblich Diener der Lichtgöttin Methalumina, welche als Todfeindin aller Vampire bekannt ist und als unbezwingbar gilt.
Gemeinsam mit Cippico und Gelophee macht sich Dilara auf den Weg nach Lugano, wo ein abtrünniger Priester leben soll, der über den Aufenthaltsort des Dokumentes Bescheid weiß. Doch kaum dort angekommen, erscheint Methalumina und es kommt zur Konfrontation mit der Lichtgöttin. Dilaras Auftrag scheint vereitelt, bevor er richtig begonnen hat, und das Schicksal der Vampirin besiegelt …

Mit dem dritten Beitrag zur Schattenchronik gibt der Autor Mark-Alastor E.-E. seinen Einstand, hat er bislang doch nur für seine eigene Serie „Geisterdrache“ im |BLITZ|-Verlag seine Spuren hinterlassen. Doch mit „Die Kinder der fünften Sonne“ beweist er, dass er auch einfühlsame, stimmungsvolle und historische Vampirromane zu schreiben versteht. Band 3 der Schattenchronik ist eine echte Gothic-Novelle der Superlative und gibt der Heldin dieser Serie, Dilara, noch mehr Tiefe und noch mehr Hintergrund. Der Roman führt die Geschehnisse aus dem zweiten Band „Kuss der Verdammnis“ nicht unmittelbar fort, denn Dilara erzählt zunächst ihrem Gefährten Calvin eine Episode aus ihrer Vergangenheit. Dies geschieht so stilecht und fesselnd, dass man sofort in die Geschichte eintaucht. Der Autor hat hervorragend recherchiert und sich darüber hinaus auch der blumigen Sprache des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts bedient, was dieses Buch zu einem besondern Lesevergnügen macht. Der Leser macht außerdem nebenbei die Bekanntschaft historischer Persönlichkeiten wie Renoir und Monet, zweier bekannter französischer Maler.

Der Diener Cippico und die Rosenkreuzerin sind schillernde und bewegende Figuren, ebenso wie ihre Gegenspieler, allen voran Antediluvian, der Ur-Nosferatu. Insbesondere den kleinwüchsigen Diener Dilaras habe ich lieb gewonnen und hoffe noch öfter von ihm zu lesen, auch wenn er bisweilen arg unter seiner temperamentvollen Herrin zu leiden hat. Die Vampirin selber offenbart dieses Mal auch ein wenig ihrer bisexuellen Neigungen und einmal mehr ihre Rücksichtslosigkeit. Stimmig vervollständigt der Autor das Bild Dilaras, das wir von Wolfgang Hohlbein und Alisha Bionda her kennen. Die Tochter Antediluvians ist keine menschenfreundliche Zeitgenossin, die sich selbstlos für Andere einsetzt, das würde auch nicht zum Charakter der Vampire passen. Doch kann sie im Gegensatz zu anderen Nosferati auch zärtliche Gefühle hegen.

Doch der Plot der Geschichte dreht sich um ein geheimnisvolles Dokument, welches in den Archiven des Vatikans schlummert. Dieses Dokument will der Ur-Nosferatu Antediluvian in die Hände bekommen und einmal mehr soll Dilara die Kastanien aus dem Feuer holen. Hier wird schon der Grundstock für die Abneigung und die Aufsässigkeit der Vampirin gegenüber ihrem Schöpfer gelegt. Zudem wird ein kleiner Vorstoß zu den Anfängen der Vampire gewagt. Auch eine mächtige Feindin der Blutsauger hat ihren ersten Auftritt: Methalumina, eine Lichterscheinung, die durch ihre bloße Anwesenheit die Vampire zu vernichten vermag. Diese Wesenheit ist weder greifbar noch wirklich einer Seite zu zuordnen, sie erscheint und verschwindet, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Und das ist auch schon alles, was von dieser Gestalt preisgegeben wird. Man erfährt weder, wo sie herkommt, noch was sie wirklich ist oder was sie beabsichtigt.

Einen weiteren interessanten und geheimnisvollen Aspekt der Geschichte bilden die Rosenkreuzer und ihre Verbindung zu Methalumina, wenn es denn eine gibt. Laut Antediluvian sind die Rosenkreuzer Diener der Lichtgöttin, doch Dilara schenkt ihrem „Vater“ schon länger keinen uneingeschränkten Glauben mehr, so dass seine Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind.

Vom Stil her liest sich der Roman flüssig und ohne unnötige Längen, auch wenn die Action recht sparsam eingesetzt wurde, was eine herausragende Eigenschaft der Serie zu werden scheint. Die Spannung baut sich schleichend und subtil auf.

Die Innenillustrationen lockern das Buch angenehm auf, auch wenn sie nicht alle meinem Geschmack entsprechen und teilweise ein wenig comichaft wirken. Das Titelbild gehört zum Durchschnitt: Es ist nicht wirklich schlecht, aber auch kein Highlight. Aber die allgemeine Aufmachung der Serie sucht ihresgleichen und ist wie immer genial. Der düstere Rahmen, die charakteristischen Fledermausschwingen auf jeder Seite und die verschnörkelte Schrift machen die Bücher der Schattenchronik zu edlen Sammlerstücken.

_Florian Hilleberg_

Bionda, Alisha – Kuss der Verdammnis (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 2)

Gute Nachrichten für die Fans von „Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik“: Die Geschichte von Dilara aus dem ersten Band der Chronik hat eine Fortsetzung bekommen. Band zwei knüpft an die Kurzgeschichte über eine junge, für ihre Zeit erstaunlich eigenständige Frau an, die im London des 17. Jahrhundert von furchteinflößenden Schattenwesen und einem mysteriösen, uralten Vampir verfolgt wird. In „Kuss der Verdammnis“ ist Dilara immer noch so eigenwillig, wie der Leser sie aus Hohlbeins Kurzgeschichte in Erinnerung hatte, jung ist sie allerdings mitnichten: Durch den Biss des Urvampirs Antediluvian ist aus der Heldin eine inzwischen 400 Jahre alte Vampirin geworden.

Alisha Bionda, die Autorin dieses Bandes, baut in ihrer Fortsetzung von Dilaras Geschichte nicht auf vordergründige Action, sondern legt großen Wert auf die Charakterzeichnung der Figuren. Mit Dilara portraitiert sie eine starke, faszinierende Frauengestalt, die gerade wegen ihrer Unsterblichkeit innerlich zerrissen ist.

Im London der Gegenwart macht sich die Heldin, die etliche gängige Klischees über Vampire widerlegt, auf die Suche nach ihrer Bestimmung und dem Sinn ihrer Unsterblichkeit. Von ihrem „Schöpfer“, dem Urnosferatu Antediluvian, entfremdet, trifft sie dabei auf zwei völlig unterschiedliche Männer, den jungen Calvin, den sie als Gefährten erwählt und den Anwalt Roderick Herrington, der selbst ein mysteriöses Geheimnis zu hüten scheint und auf Dilara eine ebenso seltsame Faszination ausübt wie sie auf ihn.

Auch bei den Nebenfiguren, vor allem bei dem sich selbst immer fremder werdenden Roderick Herrington, hat die Autorin viel Wert auf die Charakterentwicklung gelegt. Ganz nebenbei fließen dabei auch schöne Beschreibungen des heutigen London mit ein, wenn Dilara den Leser mitnimmt auf ihre Streifzüge. Doch Dilaras Reich geht über das moderne London, das wir kennen, weit hinaus und Biondas Beschreibungen des unterirdischen London, des Reichs der Vampire, atmet eine ganz eigene Atmosphäre.

Gegen Ende legt der eher ruhig beginnende Roman einiges an Tempo zu. Quälende Albträume und ein von ihr belauschtes Gespräch des Rates der Nosferati lassen Dilaras Lage langsam immer angespannter werden und zwingen sie endlich zu einer Entscheidung, die hier natürlich noch nicht verraten werden soll. Auf den letzten Seiten wird darüber hinaus eine weitere Person eingeführt, die für Fortsetzungen ebenfalls Potenzial haben könnte.

Der Roman endet mit einer Art „Cliffhanger“ und es bleiben eine Menge Fragen offen, vor allem natürlich die nach Dilaras wahrer Herkunft und Bestimmung und jener Kraft, die der Urvampir Antediluvian so an ihr fürchtet – aber der nächste Band der Schattenchronik erscheint ja in Kürze …

Anzumerken sei noch, dass wie bereits beim ersten Band die liebevolle Gestaltung des Buches überzeugen kann. Das sehr stimmungsvolle Cover hat wieder Mark Freier gestaltet und den einzelnen Kapiteln sind wieder inhaltlich passende Zeichnungen von Pat Hachfeld vorangestellt.

http://www.blitz-verlag.de

_Stefani Hübner-Raddatz_
|Verbrechen sind in der Realität selten so spannend wie in der Literatur. Das stellte Stefani Hübner-Raddatz während ihrer Zeit als Strafrichterin schnell fest. Seitdem weigert sie sich standhaft, eine klassische Juristenlaufbahn einzuschlagen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter, zwei Pferden und Katzen bei Hamburg und schreibt Kurzkrimis, Kinder- und Fantasy-Geschichten. Sie ist Mitglied bei den sisters in crime.|

Bionda, Alisha / Borlik, Michael (Hrsg.) – ewig dunkle Traum, Der (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 1)

Faszinierend vielseitig – das ist der erste Eindruck dieser morbiden Anthologie, in der die Herausgeber Alisha Bionda und Michael Borlik sechzehn Horrorgeschichten bekannter Genreautoren versammelt haben.
Unglaublich spannend – das ist der zweite Eindruck, den der erste Band der neuen Serie „Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik“ aus dem [BLITZ-Verlag]http://www.blitz-verlag.de/ hinterlässt.

Doch halt – haben Sie das gehört? Dieses Kratzen und Knirschen? Dieser schleifende Laut auf dem Boden? Das Wispern in den dunklen Zweigen? Und waren da nicht Tropfen von Blut auf dem Teppich? Dann sollten Sie dieses Buch vielleicht nicht nach Einbruch der Dunkelheit lesen, denn einige der Geschichten, wie „Das Höllenwunder“ von _Mark Freier_ (von dem übrigens auch das sehr passend gestaltete Cover stammt) oder _Barbara Büchner_s „Die Nahrung der Toten“ sind wirklich nichts für schwache Nerven.

Der Band startet mit der zunächst eher konventionell anmutenden Story „Ein besonderer Geschmack“ von _Markus Heitz_. Die Geschichte eines Dämonenpärchens auf Rachefeldzug, das aus ureigensten Motiven auch mal das Werk des Herrn tut und sich dabei einer ganz besonders „explosiven Mischung“ bedient, entwickelt allerdings beim genaueren Hinsehen einen feinen unterschwelligen Witz.

_Eddie Angerhuber_s „Das Nachtbuch“ erzählt von einem seltsamen Folianten, dem einzigen Trost einer in ewiger Nacht Gefangenen. Am Ende der Geschichte ist nichts so, wie es am Anfang schien … mehr soll hier nicht verraten werden.

Überhaupt scheinen seltsame Bücher in der Anthologie eine besondere Rolle zu spielen, schließlich verdankt die Serie einem solchen auch ihren Titel, nämlich der „Schattenchronik“, aus _Wolfgang Hohlbein_s „Schattenchronik – der ewig dunkle Traum“. Der Meister der Fantasy verwebt in der Geschichte der jungen Dilara, deren Leben kurz vor ihrer Verlobung völlig aus den Fugen gerät, geschickt Gegenwart, Erinnerungen und Visionen der Zukunft, während Dilara in den Seiten des mysteriösen, alten Buches blättert. In Gedanken durchlebt sie noch einmal die vorhergegangene Nacht, an die sie nur bruchstückhafte Erinnerungen hat und in deren Verlauf ihr Verlobter auf grauenvolle Weise zu Tode kam. Oder ist auch das nur eine der verstörenden Visionen, die mit der Schattenchronik zu tun haben und Realität und Wahnsinn ineinander fließen lassen? Gibt es Antediluvian, den uralten Vampir aus dem Buch, wirklich? Was will er von ihr und wer ist die Frau aus dem Buch, die ihr so frappierend ähnelt?
Der Leser kann Dilaras Verwirrung gut nachempfinden, denn so wie es ihr beim Durchblättern der Schattenchronik geht, fühlt man sich als Leser dieser Anthologie gelegentlich auch.

Aber auch für diejenigen, die es weniger blutig mögen, ist gesorgt. _Boris Koch_s „Heiligabend bei Manfred“ ist mit knapp zwei Seiten ein echter Quickie und beleuchtet auf heiter-witzige Weise die Frage, ob Vampire eigentlich Weihnachten feiern.

Die Geschichte der Herausgeberin _Alisha Bionda_ fällt ebenfalls aus dem Rahmen. Sie erzählt mit überraschenden Perspektivwechseln von einer obsessiven Liebesbeziehung, der nur auf den ersten Blick etwas Vampirisches anhaftet und die den Leser recht nachdenklich zurück lässt.

Auch in _Frank Haubold_s „Stadt am Fluss“ wird kein Blut vergossen, der Leser fühlt sich trotzdem bei der Fahrt des heimkehrenden Ich-Erzählers durch seine offenbar (fast) verlassene Heimatstadt auf beklemmende Weise an „Die Mächte des Wahnsinns“ erinnert. Das Gegenteil einer Coming-of-Age-Geschichte und dazu gut geschrieben.

Soliden Horror bieten die Geschichten von _Armin Rößler_ über einen Grusel-Vergnügungspark, in dem einiges realer ist, als man denken sollte, und _Dominik Irtenkauf_ und _Javier Hurtado_s „Trauerflug aus dem Süden“, in dem ein in spanischer Sprache gewisperter Hauch eine ganz besondere Rolle spielt.

_Michael Borlik_, der andere Teil des Herausgeber-Duos, geht in „Engel der Nacht“ der Frage nach, wie ein Vampir versucht, seine sterbliche Angebetete zu erobern und wie diese darauf reagiert – Romantik auf Vampirart, garantiert nicht unblutig!

Zwei weitere Geschichten verquicken das Vampirthema mit ägyptischer Mythologie, nämlich die Geschichten von _Linda Budinger_, die den Leser mit der köstlichen Idee ( hoffentlich!?) einer „Auswickelparty“ überrascht, bei welcher einem vertrockneten englischen Lord seine Faszination für Mumien zum Verhängnis wird.

_Marc-Alastor E.E._ schafft das wirkliche Kunststück, die Vorgänge bei der Vorbereitung einer Mumie aus Sicht der Mumie selbst zu schildern – sehr gelungen! Eine Geschichte, nach der man gleich im Lexikon nachschlagen würde, wie das noch mal war, mit der Mumifizierung – wenn man sich nicht gerade zu sehr gruseln würde, versteht sich.

Zwei wirkliche Highlights hält der Band für den Leser noch zum Schluss bereit. _Markus K. Korb_s „Die Brut“ erinnert von der Grundidee her an Stephen Kings „The Boogeyman“, variiert das Thema aber sehr schön auf eine Weise, die eher an Poe oder gar Lovecraft denken lässt. _Christel Scheja_s „Der Verfluchte von Tainsborogh Manor“ beschwört gekonnt die Atmosphäre jener Gothic Novels herauf, die ihre Heldin so gerne liest und erzählt auf diese Weise eine eher romantische Vampirgeschichte.

Der Band wird durch verschiedene Essays zum Thema abgerundet.

Erwähnenswert ist noch, dass alle Storys mit exklusiven, inhaltlich passenden Ilustrationen des Wolfsburger Künstlers [Pat Hachfeld]http://www.dunkelkunst.de/ versehen sind – sehr ungewöhnlich für dieses Format und für den Leser noch ein zusätzliches „Sahnehäubchen“.

Ach ja: Das Preis-Leistungsverhältnis überzeugt ebenfalls: 387 Seiten praller Horror und mehrere Stunden wohlig-gruseliges Lesevergnügen plus Hintergrund-Informationen für 9,95 Euro – was will man mehr?

_Stefani Hübner-Raddatz_
|Verbrechen sind in der Realität selten so spannend wie in der Literatur. Das stellte Stefani Hübner-Raddatz während ihrer Zeit als Strafrichterin schnell fest. Seitdem weigert sie sich standhaft, eine klassische Juristenlaufbahn einzuschlagen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter, zwei Pferden und Katzen bei Hamburg und schreibt Kurzkrimis, Kinder- und Fantasy-Geschichten. Sie ist Mitglied bei den sisters in crime.|

McGough, Scott – Outlaw (The Gathering: Kamigawa-Zyklus, Band 1)

Schon seit vielen Jahren führen die Kami, die Geister, einen Krieg gegen die menschliche und weniger menschliche Bevölkerung Kamigawas und des Königreiches Towabara. Die Lage wird immer bedrohlicher, da selbst den „Menschen“ ehemals freundlich gesonnene Geister zu mordlüsternen und blutdurstigen Wesen mutieren. Seltsamerweise scheinen es viele Kami besonders auf den kleinen Ganoven Toshi Umezawa abgesehen zu haben, welcher zurzeit eigentlich von ganz anderen Problemen geplagt wird: Er steht ganz oben auf der Abschussliste der Soratami, der Mondmenschen. Auch die Rattenmenschen haben ein Hühnchen mit ihm zu rupfen und er ist nur noch am Leben, weil er die Kanji-Magie meisterhaft beherrscht. Hilfesuchend wendet er sich an seinen Eidbruder vom Bund der Hyozan-Rächer, den monströsen Trollschamanen Hidetsugu. Dieser schickt Toshi in Begleitung seines Schülers Kobo zu den Schlangenmenschen und den kämpfenden Mönchen des Jukai, weil dort Antworten auf Toshis Fragen zu finden seien.

In den Wäldern Towabaras treffen die beiden Männer auf Prinzessin Michiko, die in Begleitung zweier Freunde aus der Festung ihres Vaters, Daimyo Konda, in der sie seit ihrer Geburt wie eine Gefangene gehalten wurde, entgegen dem Ratschlag ihrer Zofe Lady Perlenohr floh, um ihrerseits dem Treiben der Geister auf den Grund zu gehen, wobei Michiko allerdings nicht ahnt, dass während ihrer Reise Scharfohr, ein schelmischer und durchtriebener Bruder Perlenohrs, aus dem Hintergrund über ihre Schritte wacht.

Die Geschichte nimmt eine dramatische und tragische Wendung, als die Schlangenmenschen sich als bösartige Wesen erweisen, die Gruppe gefangen nehmen und in einem unheilvollen Ritual einen monströsen, übermächtigen Kami beschwören wollen. Kobo wird während der Gefangenschaft getötet, der Rest der Gruppe kann entkommen, wobei Toshi und Michiko von den anderen getrennt werden. Auf ihrer Flucht erfahren die beiden von dem augenscheinlich freundlichen Mondgeist Mochi etwas über die Gründe des Geisterkrieges, die bis in die Nacht von Prinzessin Michikos Geburt zurückreichen, und sie lernen, dass sie nur gemeinsam der Gefahr begegnen können.

Eigentlich erschöpft sich meine Beziehung zu „Magic – The Gathering“ in einer tief sitzenden Abneigung gegen dieses Trading Card Game und eigentlich kann ich japanischer Kultur im Allgemeinen – und Animes und Mangas im Besonderen – nur wenig Positives abgewinnen. Warum also sollte ich einen Roman, der diese beiden Elemente als zentrales Moment enthält, für empfehlens- oder auch nur lesenswert befinden? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil er gut ist!

Zwar ist die Grundkonstruktion der Geschichte – Prinzessin aus Elfenbeinturm will Königreich retten und braucht dazu die Hilfe eines armen Zauberers -, nicht besonders originell und außerdem erweist sich McGough stilistisch nicht unbedingt als Ausnahmetalent, aber die Geschichte ist flüssig geschrieben und die Adaption der fernöstlichen Mythologie und Begriffswelt eröffnet dem Leser herkömmlicher anglo-amerikanischer Fantasy neue Perspektiven. Anfangs gewöhnungsbedürftig, wirken die ungewohnten Begriffe niemals aufgesetzt und prahlerisch, sondern fügen sich natürlich und harmonisch in den Fluss der Geschichte vor allem dadurch ein, dass der Autor nicht alles und jedes explizit erklärt, sondern es weitgehend dem Leser überlässt, Bedeutungen aus dem Kontext abzuleiten.

Interessant, wenn auch etwas oberflächlich abgehandelt, ist das System der auf Symbolen basierenden Kanji-Magie, faszinierend ist die Darstellung der unterschiedlichsten Kami und überraschend sind die kulturellen Unterschiede bestimmter Fantasy-Archetypen, insbesondere zwischen „unseren“ eher nordisch inspirierten Trollen und dem O-Bakemono Hidetsugu. Ebenfalls abwechslungsreich und lebendig ist die Zeichnung der zahlreichen unterschiedlichen Charaktere. Auch wenn Toshi und Scharfohr – nicht Michiko – eindeutig die herausragenden Protagonisten dieser Geschichte sind, so agieren und funktionieren selbst die Träger von Nebenrollen als eigenständige Persönlichkeiten.

Fazit: Ein spannender, gut geschriebener, „reichhaltiger“ Roman, der nicht nur für Fans von „Magic – The Gathering“ interessant sein dürfte, sondern auch nicht-Karten-sammelwütigen Anhängern exotischer Fantasy einige Stunden Lesevergnügen bietet und auf jeden Fall Lust auf den nächsten Band der Trilogie, „Der Ketzer – Verräter von Kamigawa“, macht.

|Originaltitel: Magic: The Gathering – Kamigawa Cycle Book 1: Outlaw
Übersetzer: Dominik Kuhn|

© _Frank Drehmel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Leben lieben

Ein Kapitel aus Max Köhlers neuem unveröffentlichtem Roman „Leben lieben“.

Max Köhler wurde 1942 in Pilsen als Sohn eines deutsch-böhmischen Kaufmanns und einer südfranzösischen Kaufmannstochter geboren. Er studierte Malerei und arbeitete als Fotoreporter und Textredakteur bei Tageszeitungen. Seit 1988 lebt er als freier Maler in Schutterwald bei Straßburg.

http://www.koehler-max.de/

_Gott steh uns bei: ein Heimatmaler_

Professor Subers jüngster Bruder Fritz (auch schon vierundfünfzig Jahre alt) war Maler, genauer gesagt „Heimatmaler“. So wurde er jedenfalls in der Schlossenhausener Lokalzeitung genannt. Überflüssig zu sagen, dass der Professor ihn aus ganzem Herzen verachtete, weil er nicht die Kraft hatte, in einem bürgerlichen Beruf zu arbeiten.

Fritz war anfangs nicht sehr glücklich über den Begriff Heimatmaler, den ihm die Lokalzeitung übergestülpt hatte, fand sich aber später damit ab. Gegen Ende seines Lebens trug er ihn gar als Ehrentitel. Da der Zeitgeist alles verächtlich machte, was mit dem Begriff „Heimat“ zusammenhing, fühlte er sich verpflichtet, für die Heimat einzutreten. Er tat das nicht etwa, weil er seine Heimat liebte, ganz im Gegenteil, sie war ihm oft genug zuwider, aber er musste sich aus irgendeinem verqueren Oppositionszwang für alles einsetzen, wogegen die anderen waren, ohne zu begreifen, weshalb sie dagegen waren und er dafür. Fritz war etwas wirr im Kopf und, gelinde gesagt, sehr verträumt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, am allerwenigsten auf seine Bilder. Merkwürdigerweise schadete das seinen Werken nicht. Sie wirkten pointilistisch. Vermutlich war jeder Point einer seiner Konzentrationshöhepunkte.

Er war groß und hatte eine merkwürdige Art zu gehen: Sein Oberkörper blieb dabei relativ ruhig, aber krumm wie ein Fragezeichen, während er die Beine nach vorne warf, fast von sich schleuderte und sein müder verbogener Oberkörper sie ganz behutsam wieder einholte, als ob er mit seinen Beinen eine Pflicht vorgab und sein Körper keine Lust hätte, sie zu erfüllen, es dann aber doch tat, provozierend langsam wie ein renitenter Internatsschüler. Wiegend und schaukelnd eierte unser Mann vorwärts: ein arrogantes Dromedar, das seine Beine losschickte und den höckrigen Oberkörper in die kulturelle Wüste einer mittelbadischen Kleinstadt nachschleifte.

Seine ganze Körpersprache sagte: Lasst mich bloß in Ruhe, ihr seht doch, dass ich schon genug Mühe habe, mich zu bewegen, warum sollte ich also noch etwas tun, wozu ich ganz gewiss nicht in der Lage bin, denn so ungeschickt, wie ich mich bewege, erledige ich auch alles andere, verschont mich mit euren Bitten um dieses und jenes, ich schaffe es nicht.

Und tatsächlich war ihm fast alles im Leben öde Pflicht. Er konnte nicht unterscheiden zwischen Freizeit, Sport, Arbeit oder Vergnügen, ihm war alles gleich zuwider, aber er sah ein, dass er nicht den ganzen Tag im Bett liegen und lesen konnte, obwohl er dies am liebsten tat, und er sich nur von Rückenschmerzen hinlänglich aufgefordert sah, seine Liegestatt zu verlassen. Lesen im Bett war seine einzige Leidenschaft. Anfangs waren es gute Bücher gewesen, denn er hatte keinen schlechten Geschmack, was man bei diesem trägen Mann eigentlich nicht vermutetet hätte, denn auch eine so scheinbare Kleinigkeit wie ein guter Geschmack verlangt eine gewisse Anstrengung, nämlich ihn zu erwerben, aber Fritz war hier ein Naturtalent, er las von Anfang an und ohne dass ihm das einer empfohlen hätte, nur gut geschriebene Bücher. War er einmal durch Unaufmerksamkeit, Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit an ein schlechtes geraten, war er in der Regel nicht über die erste Seite hinausgekommen.

Jawohl, Weltliteratur las er, wie er sich stolz immer wieder selbst vorsagte, denn es war ja niemand da, den er darüber hätte aufklären können, weil auch das weibliche Geschlecht ihn mied wie selbstverständlich die Männer, die mit einem Geschlechtsgenossen nichts anfangen konnten, der sein halbes Leben verschlief, verlag oder verlas.

Nur gute Bücher zu lesen, hat jedoch den Nachteil, dass einem irgendwann der Stoff ausgeht, weil es nicht unendlich viel davon gibt, und so sank Fritz nach einigen Jahren Weltliteratur eine Stufe tiefer und fing an, Tageszeitungen zu lesen, weil es davon jeden Tag Nachschub gab. Er las selbstverständlich nur die besten Zeitungen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Süddeutsche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Gerade die Zürcher Zeitung machte ihm viel Freude, weil die Schweizer Wörter verwendeten, die es im Deutschen nicht gab.

Fritz amüsierte sich eine Weile mit dem Spiel, die Tendenz eines objektiven Artikels zu erraten, aber eines Tages wurde ihm dies zu langweilig und er fing an, die Lokalzeitung von Schlossenhausen zu lesen. Spätestens hier hätte er sich eingestehen müssen, dass er süchtig nach Lesestoff war, denn las einer die Heimatzeitung, der bei klarem Verstand war? Einmal wurde die Lokalzeitung aus irgendeinem Grunde nicht geliefert und er machte sich mit schweren Entzugserscheinungen über die Gebrauchsanweisung seiner neuen Kaffeemaschine her. Er las sie von sieben Uhr morgens bis etwa zwei Uhr nachmittags und danach hätte er schwören können, dass er immer noch nichts verstanden hatte.

Von einer gewissen Unruhe getrieben, wachte er jede Nacht gegen zwei Uhr auf und wartete von da an auf das Lokalblatt, das gegen vier Uhr vierundzwanzig eintraf. Er las es dann langsam, damit er möglichst viel davon hatte, angefangen von der Nachricht, dass sich die dritte Riege des Turnvereins im „Grünen Baum“ traf, bis hin zu den Sprechstunden des Oberbürgermeisters am Donnerstagabend um acht. Er verglich das Gelesene von Zeit zu Zeit mit seiner Weltsicht, die er sich als Kind durch die Lektüre der „Micky-Maus“-Hefte erworben hatte, und fasste die Diskrepanz in unnachahmlichen Aphorismen zusammen, die ihm bei schlichteren Gemütern den Ruf einbrachten, „durchzublicken“, bei den Kassiererinnen in seinem Supermarkt dagegen Unwillen hervorriefen, weil er sie zu oft wiederholte, ohne sie zu aktualisieren.

Nachdem er alles gelesen hatte, was man in Entenhausen lesen konnte, und ihm der geringe Nutzen einer aus dem Chinesischen übersetzten Gebrauchsanweisung für Kaffeemaschinen klar geworden war, sah er sich nach neuen Gewohnheiten um und stieß dabei auf den Historischen Verein. Er besuchte eine Zusammenkunft des Ausschusses für Vorgeschichte. Hier dominierte ein älterer Herr, der keinen Satz grammatikalisch richtig zu Ende bringen konnte, was auf die Dauer doch ein wenig störte, weil man gezwungen war, zu erraten, was er meinte. Das brachte zwar eine gewisse Würze hinein, weil alle versuchten, zu erraten, was der Vorsitzende gesagt hatte, aber auf die Dauer war es doch ein wenig ermüdend.

So erriet der Ausschuss für Vorgeschichte eines Tages, dass der Vorsitzende meinte, steinzeitliche Opferstätten entdeckt zu haben, weil er Vertiefungen auf großen Felsblöcken im Schwarzwald gefunden hatte, die er für Blutrinnen hielt. Andere Historiker außerhalb des Ausschusses erklärten zwar, das seien Regenrinnen, aber der Ausschuss fand Blutrinnen einfach spannender und einigte sich mit seinem Vorsitzenden auf Blutschalen. Wer geopfert hatte, wurde nicht ganz klar, vielleicht die Kelten, aber wahrscheinlich waren es doch Steinzeitleute. Was sie geopfert hatten, wurde in langen Sitzungen beschlossen, man tendierte zu Tieropfern, ohne Menschenopfer ganz auszuschließen, aber Tieropfer waren deshalb besser, weil es sich möglicherweise bei den Opferpriestern um Vorfahren des Ausschusses für Vorgeschichte gehandelt hatte und keiner rituelle Mörder zu Verwandten haben wollte.

Manche Leute in Schlossenhausen fragten sich natürlich, womit Fritz seinen Lebensunterhalt verdiente. Solche Fragen waren ihm peinlich. Er wollte nicht zugeben, dass er die meiste Zeit des Tages nur im Bett lag und las und so erfand er die Mär vom Kunstmaler, der wenig malte, weil er viel nachdachte. Er wollte niemanden erzählen, dass er von einer sektenbesessenen Tante mit einem undurchsichtigen Vorleben einige hunderttausend Euro geerbt hatte und nicht die geringste Lust verspürte, etwas Vernünftiges zu arbeiten. Das hätte im sozialistischen Schlossenhausen böses Blut gemacht. Weil ihn aber die Leute immer unverschämter nach seiner Malerei fragten, krakelte er ein paar Bilder auf Leinwand und bastelte sich eine Theorie dazu, denn man musste als Maler eine Theorie haben, so etwas wie eine Sendung oder zumindest eine Botschaft, sonst wurde man bei den Verantwortlichen der städtischen Galerie nicht ernst genommen und hatte auch im Künstlerverein einen schweren Stand; ja, man bekam nicht einmal einen Ausweis als Künstler, mit dem man Pinsel zum halben Preis kaufen konnte.

Schlau wie Fritz nun einmal war – denn die Bequemen sind auch schlau, vermutlich, weil sie ständig darüber nachdenken müssen, wie man Beschäftigung vermeidet – erfand er die Theorie, dass man als Maler keine Theorie brauchte, sondern einfach nur das malen sollte, was einem auffiel und das dann möglichst so, dass man es wiedererkennen konnte.

Natürlich ging ein Aufschrei durch die lokale Malszene. Fritz wurde auf der Stelle geächtet und war fortan kein denkender Maler mehr, sondern ein geistig beschränkter Kunsthandwerker. Die Schwierigkeiten mit der städtischen Galerie nahmen zu, was ihn aber nicht weiter störte, denn so konnte er endgültig im Bett bleiben, weil sich keiner um ihn kümmerte, mögliche Kunden mit eingeschlossen.

Aus Langeweile brach er aber eines Tages dann doch eine heftige Auseinandersetzung mit der Leiterin der Galerie vom Zaun, einer promovierten Kunsthistorikerin, die auf der Höhe der Zeit war und Fritz deshalb als parasitäres Subjekt betrachtete. Nicht etwa, weil er im Bett lag und dort nichts tat, sondern weil er ein Mann war und malte. Es gab doch so viele unterdrückte Frauen, die auch malten. Und viel besser malten als Fritz, zeitgemäßer, minimalistischer oder gestischer. Fritz war nicht nur ein parasitärer Maler, sondern malte auch noch nach Ansicht seiner Kolleginnen (die meisten waren Hausfrauen oder Lehrerinnen) viel zu hausbacken und kundenfreundlich. Sein schlimmster Fehler aber war, dass er gut malte. Das war auf keinen Fall zu tolerieren. Musste man nicht als moderner Maler auf Konventionen pfeifen? Wer ließ sich heute noch in das Gefängnis einer guten Malerei einsperren? Mit dem Gegenteil mochte Fritz aber nicht dienen, und so versank er erleichtert, weil keine Nachfrage nach seinen Bildern herrschte, wieder in die Bettkissen, rechts die „Frankfurter Allgemeine“, links Musils „Drei Frauen“ und auf dem Nachttisch Sartres „Wörter“, wovon ihm besonders die ersten drei Seiten gefielen, auf denen der Philosoph seinen Verwandtschaftsgrad zu Albert Schweitzer beschrieb. Fritz Suber hatte das allerdings schon mindestens ein Dutzend mal gelesen, was die Brillanz dieser zweiundsiebzig Zeilen doch ein wenig milderte.

Die Kunsthistorikerin war vom Oberbürgermeister eingestellt worden, weil dieser von der Vision geplagt wurde, eine Stadt von der Bedeutung Schlossenhausens müsse ein Kunstleben haben, um leitende Angestellte und Fabrikanten herzulocken. Sein Plan sah so aus: Ist Kunst da, kommen auch leitende Angestellte. Fehlt Kunst, bleibt diese wichtige Oberschicht weg und die Stadt versinkt in Dumpfheit, ganz abgesehen davon, dass er dann zu wenig Gewerbesteuer einnahm und das Rathaus nicht umbauen konnte.

Nun mochten zwar die Dumpfen in der Stadt die leitenden Angestellten nicht, weil diese in der Regel aus Norddeutschland kamen, und Norddeutsche spätestens seit Luthers Sprachgewohnheiten und dem daraus resultierenden Dreißigjährigen Krieg in Süddeutschland etwa so gern gesehen waren wie Vegetarier in einer Metzgerei.

Aber der Oberbürgermeister verstand nichts von Kunst, weil sein Vater Bote bei der Ortskrankenkasse gewesen war und einen harten Kampf um seine Existenz hatte führen müssen. Deshalb hatte er seinen Sohn auch nicht an die Kunst heranführen können. Nur der Kalender der Krankenkasse hatte im Elternhaus des Oberbürgermeisters an Malerei erinnert. Deshalb wusste der Oberbürgermeister nicht, dass ein kunsthistorisches Studium zur Beurteilung von neuen Kunstentwicklungen wenig taugt, weil ein Kunsthistoriker nur rückwärts blicken kann, wie schon der Name sagt. Das löste natürlich das Dilemma nicht: denn wen sollte er sonst die lokale und internationale Kunstszene beobachten lassen? Er kam einfach nicht auf die Idee, jemanden zu beauftragen, der etwas Geschmack hatte, denn das Beamtengesetz verlangte für eine höhere Stelle ein abgeschlossenes Studium. Es war klar, dass man guten Geschmack nicht einfach studieren konnte, noch dazu, wenn die Professoren auch keinen guten Geschmack gehabt hatten. Außerdem: Wie hätte wohl der Oberbürgermeister jemanden mit gutem Geschmack erkennen können? Da er selbst keinen hatte, konnte er auch nicht sehen, wenn jemand ihn hatte. Und wieso einer Oberbürgermeister werden konnte, der keinen Geschmack und kein Urteil besaß, führte Suber zu tiefgreifenden Überlegungen, an deren Ende die entautorisierten Eliten nach dem verlorenen Kriege standen.

Fritz schien es, als ob eine sich fortpflanzende Fernwirkung des verlorenen Krieges unsere Nation zur Mittelmäßigkeit zwingen würde. Unsere neuen Eliten wollten, so sah es Fritz, nach dem Kriege um keinen Preis der Welt mehr auffallen; nach all den „Auffälligkeiten“ des von uns angezettelten und verlorenen Weltkrieges sicher kein ganz unverständlicher Wunsch. Da unsere neuen Eliten keine Philosophen gewesen seien und auch keine Zeit zum Nachdenken gehabt hätten, seien sie auf den Gedanken gekommen, einfach das Gegenteil von dem zu tun, was die Nationalsozialisten getan hätten. Das aber hätte in eine Sackgasse geführt, weil nicht alles falsch gewesen sei, was die Braunen gesagt oder getan hatten. Wenn beispielsweise ein Nationalsozialist gemeint habe, ein Reh sei braun, könne es nach dem Krieg nicht automatisch grün werden, weil wir den Krieg verloren haben.

Hans Thoma konnte nicht deswegen zum schlechten Maler werden, weil nach dem Krieg alles anders war. Wenn man Thoma verachtete, weil die Nazis ihn verehrt hatten, beging man doch, so schien es Fritz, genau denselben Fehler wie die Nazis, die seine Malerei zur Staatskunst erhoben hatten: Nach dem Krieg gehörte es zur politischen Korrektheit in Westdeutschland, über den Heimatmaler Thoma milde zu lächeln, als habe er es nicht besser gekonnt, weil er eben ein schlichter Junge aus dem Hotzenwald gewesen sei. Keinesfalls war es erlaubt, so zu malen wie er, sonst wurde man vom Kunstbetrieb geschnitten. Das sah dem Mal- und Ausstellungsverbot der Nazis ziemlich ähnlich. Eigentlich war es nur die andere Seite derselben Medaille: „Kunst wird von Staats wegen verordnet – wer anders denkt, wird ausgegrenzt“. Man musste dankbar sein, dass man nicht in ein Arbeitslager kam, wenn man wie Thoma malte. Doch eigentlich landete man ja im Arbeitslager. Da niemand die Bilder kaufte, die im Stil von Thoma gefertigt waren, weil sie politisch unkorrekt waren, musste man letztendlich arbeiten gehen und sich um eine Stelle als ungelernter Arbeiter bemühen, da man ja nichts anderes gelernt hatte als zu malen wie Thoma. Da auf den Akademien nicht gelehrt wurde, zu malen wie Thoma, hatte man es sich wie ein dissidierender Ostblockmaler selbst beibringen müssen. Wagte man sich mit diesen Bildern an die Öffentlichkeit, wurde man zwar nicht verhaftet, aber gnadenlos ausgepfiffen. Man geriet sozusagen in die Sippenhaft des Ausgepfiffen- und Verachtetwerdens. In einem Konzentrationslager hätte man wenigstens Gleichgesinnte neben sich gehabt. Als Thoma-Nachfolger hingegen blieb einem in Westdeutschland nach dem Krieg nur die Einzelhaft der Einsamkeit.

Angefangen hatte dieses geistige Zwangskorsett mit der Gesinnungs-Schnüffelei der Entnazifizierungsbehörden, die einfach die Gesinnungs-Schnüffelei der Nazis kopierten, nur anders herum. Wer blond und blauäugig war, tat fortan gut daran, sich umzufärben, wer den Heimatmaler Hans Thoma liebte, hielt am besten den Mund.

Fritz hätte es übrigens gerne gesehen, wenn sich Ministerialbeamte oder Feuilletonisten wie Enzensberger um diese Fragen gekümmert hätten. Dass sie dazu beharrlich schwiegen, das Problem nicht aufgriffen, ja es anscheinend gar nicht erkannten (sonst hätten sie sich ja dazu geäußert, und man hätte davon gehört), ärgerte ihn maßlos.

Man ist erstaunt, dass sich ein so träger Mann wie Fritz überhaupt ärgern konnte. Ärgern verlangt doch auch einen gewissen Einsatz. Aber er konnte sich über vieles ärgern. Das steigerte sich, weil er ja mit niemanden reden konnte, zu regelrechten Wutanfällen. Sprach er dennoch einmal mit einer Zufallsbekanntschaft, hörte er nicht zu, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. So konnte es passieren, dass er mitten in einem harmlosen Gespräch plötzlich einen Wutanfall bekam, der seine Gesprächspartner erschreckte, weil sie nicht begriffen, wie er zustande gekommen war, jedenfalls nur schwer auf die gegenwärtige Situation bezogen werden konnte.

Man könnte nun auch vollkommen berechtigterweise fragen, was Fritz die Eliten nach dem Kriege angingen, er war ja weder Ministerialbeamter noch Dichter. Aber wir müssen einfach feststellen, dass er sich diese Gedanken machte. Er hatte die Angewohnheit, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen und andererseits Themen zu vernachlässigen, die eindeutig seine Sache waren, wie etwa die, höflich zu sein und sich um seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das war ja gerade der Ärger, den er in Schlossenhausen verursachte. Er fühlte sich für Dinge zuständig, für die er nicht zuständig war.

Den Oberbürgermeister und den Kulturamtsleiter von Schlossenhausen fesselte zu der Zeit, als die Frage auftauchte, was eigentlich Kunst in Schlossenhausen sei, noch ein anderes Problem, nämlich die Frage, woher sie selbst kamen. Der Oberbürgermeister wollte seinen Vater vergessen machen, weswegen er immer viel zu elegante Kleidung trug, die er für vornehm hielt, aber natürlich gerade damit auf seine bescheidene Herkunft aufmerksam machte, und der andere prahlte ständig mit seinen Ahnen, weil er wusste, dass ihm etwas fehlte, er wusste nur nicht, was es war, aber er ahnte, dass es mit seiner Herkunft zusammenhing. Jedem zufälligen Gesprächspartner erläuterte er, dass er von Luthers Schwiegervater abstamme, was ihm zwar niemand so recht glauben wollte, aber bei Aufsteigern einen großen Eindruck hinterließ, weil es sich so schwer nachprüfen ließ. Wie um alles in der Welt prüfte man nach, ob man von Luthers Schwiegervater abstammte? Kein Wunder, dass Genealogen und Wappenmacher in Schlossenhausen unerwartet Aufträge bekamen, die sie selbstverständlich zur Zufriedenheit der Auftraggeber ausführten.

Irgendwie muss der Kulturamtsleiter aber doch Angst vor ernsthaften Recherchen bekommen haben, denn nach einigen Jahren wandelte er die Geschichte von seiner Herkunft etwas ab. Sie hörte sich dann so an: Meine Vorfahren waren ausnahmslos Pfarrer. Pause. Selbstverständlich nur bis zur Reformation. Hahahaha. Diesen Sketch führte er ungefähr dreimal am Tag auf und hielt sich dabei für zurückhaltend, weil er auf die ständige Erwähnung seines Onkels verzichtete, der Bischof gewesen war und angeblich Hitler dreimal energisch widersprochen hatte.

Die Leiterin der Städtischen Galerie lobte auf Wunsch des Oberbürgermeisters einen Kunstwettbewerb aus, bei dem sie von vorneherein wusste, wer ihn gewinnen würde, nämlich Gerda Breuer, die Freundin der Frau des Oberbürgermeisters, jene schüchtern-zurückhaltende Malerin, die so breiig ausufernd malte und dabei alle Konventionen, die vor 1945 gegolten hatten, missachtete. Um auch sicherzustellen, dass Gerda den Wettbewerb gewann, stellte Kocher-Meier eine Jury zusammen, die aus dem ehemaligen Professor und einer Studienkollegin von Gerda bestand, ganz abgesehen davon, dass der Oberbürgermeister selbstverständlich auch für Breuer war, weil er ein paar Bilder von ihr erworben hatte. Er hatte sie nicht etwa gekauft, weil seine Frau die Freundin von Gerda war, nein, so weit ging sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Frau nicht, begabte Persönlichkeiten an sich zu binden, sondern weil sein Freund, der Textilunternehmer Reser, es ihm geraten hatte.

Reser verstand zwar auch nichts von Bildern, aber er hatte als Unternehmer Glück gehabt und wollte dieses Glück nun irgendwie „weitergeben“, wie er sich ständig im „Schlossenhausener Tageblatt“ ausdrückte, und dabei von wechselnden, aber immer wohlmeinenden Reportern mit den entsprechenden Fragen versorgt wurde („Sie tun ja unheimlich viel für die Kunst. Weshalb tun Sie das? Das müssten Sie doch eigentlich als erfolgreicher Unternehmer gar nicht“). Gleichzeitig wollte Reser natürlich beweisen, dass er ein vornehmer Mensch war, was sich aus seiner Tätigkeit nicht ohne Weiteres ergab, denn er sammelte in großem Stil alte Lumpen ein und ließ sie in riesigen Werken zu neuen Textilien verarbeiten. Eigentlich hätte das den Grünen in der Stadt gefallen müssen, aber ein Grüner ist auch ein Querdenker, deshalb monierten sie, dass Reser bei diesem Recycling Chemikalien verwandte. Vermutlich hätte er sich abends in eine Spinnstube setzen müssen, um aus seinen alten Lumpen neue Fäden zu ziehen. Es war schwer in Schlossenhausen, den Grünen zu gefallen. Manche versuchten es deshalb erst gar nicht. Irgendwie hatte man bei den Grünen immer das Gefühl, dass sie etwas anderes meinten, als sie beklagten. Etwa so, wie man zum Friseur geht, wenn man Krach mit seinem Vorgesetzten hat.

Reser war entzückt von Gerda. War sie nicht im besten Alter und wunderhübsch? Und so scheu! Und sie malte! Gegen die Konventionen, wie es nach dem Krieg der Brauch war! Hatte er nicht zufällig eine Menge Bilder von ihr? War sie nicht die Kunstlehrerin seiner Kinder? Gab sie ihnen nicht wunderbare Noten? Konnte sie nicht einen Kunstpreis vertragen? Würde das nicht ihren Marktwert steigern? Hatte man als erfolgreicher Unternehmer nicht die Macht und die Freude, einen Preis zu vergeben? Wozu war man schließlich mit dem Oberbürgermeister befreundet und Präsident der Industriekammer? Was ergab das alles für einen Sinn, wenn man nicht Freude daraus zog, oder, wie es Reser ausdrückte, seine geschenkte Freude an andere weitergab?

Außerdem war Gerda in derselben Partei wie der Oberbürgermeister. Da es sich um eine sozialistische Partei handelte, war ein Kampfbund gegen die konservative Reaktion unvermeidlich. Man würde es den bürgerlichen Privilegierten schon zeigen, darin waren sich alle einig, die schlecht erzogene Eltern gehabt hatten. Hatte der Vater des Oberbürgermeisters nicht auch unter den Großkapitalisten oder zumindest unter deren bösen Strukturen gelitten? Hatten diese Kapitalisten ihn nicht unterdrückt und auf Botengänge geschickt, so dass er nie die Möglichkeit hatte, Leiter der AOK-Nebenstelle Rammersweier zu werden? Obwohl er weiß Gott das Zeug dazu hatte?

Aber er, der Oberbürgermeister, hatte sich mit eisernem Fleiß aus seiner Misere des Kunstunverständnisses und schlechten Benehmens herausgearbeitet. Eiserner Fleiß, das war das Zauberwort, mit dem er es diesen Typen wie Fritz Suber, dem Maler, schon zeigen würde. Was tat Suber eigentlich den lieben langen Tag außer spinnen? Wovon lebte er? Er hatte ihm noch keine Bilder abgekauft. Tat das überhaupt jemand? Verdammter Schnösel! Tat nichts, hatte nichts, aber riss das Maul auf! Er selbst hatte sich alles erarbeitet, zwar nicht mit seinen eigenen beiden Händen, aber mit seinen eigenen beiden Gehirnhälften! Und der? Tat nichts und legte sich mit einer promovierten, fleißigen und anstelligen Kunsthistorikerin an, die er, der Oberbürgermeister, eingestellt hatte! War das nicht so etwas ähnliches wie Beleidigung? Beleidigung eines Oberbürgermeisters? Er vertrat schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch die Bevölkerung, den Souverän.

Irgendwie musste man diesem Kerl beikommen. Man könnte einfach die Zeit für sich arbeiten lassen. Irgendwann würde ihm schon die Puste ausgehen. Und wenn er Geld hatte, konnte das ja auch nicht ewig reichen. Irgendwann ging auch das größte Vermögen zu Ende. Oh, genähtes Elend! Warum hatte sein Vater kein Vermögen zusammengerafft, dann hätte er es nicht jetzt tun müssen. Obwohl ihm als Oberbürgermeister die Hände gebunden waren. Vielleicht könnte Reser? Vielleicht könnte man …

Mit der gespielten Munterkeit, wie sie Leute zuweilen an sich haben, die ihren Beruf hassen, rief Oberbürgermeister Vetter in die Telefonmuschel: „Doris, Schätzchen, könntest du mir Hans geben?“ Er legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Reser war der Richtige: Mit ihm könnte er so eine Sache durchziehen.

„Hans, du alter Drecksack, was machst du heute Abend?“
„Keine Ahnung“, sagte Reser, „vermutlich muss ich zuhause bleiben, weil ich die letzten drei Tage Termine hatte.“
„Komm doch mit deiner Frau zu uns.“
„Kann ich machen, warte mal, ich schau nur eben in den Terminkalender.“
„Brauchst gar nicht zu schauen“, frotzelte der Bürgermeister, „du hast schon einen Termin bei mir.“
„Stehen nur die Lions drin.“
„Die kannst du schwänzen. Da müsste ich auch hin.“
„Okay.“
„So um acht.“
„Gut.“
„Bis dann.“

Vetter legte auf. Seine Sekretärin stürzte herein. „Sie müssen heute Abend zur Bürgervereinigung Nord-West!“
„Nee“, sagte der Oberbürgermeister.
„Sie haben es fest versprochen“, jammerte Doris, „und ich auch, mindestens dreimal hat Kindler angerufen, ob es auch klappt“.
„Kann nix dafür.“

Vetter hob in gespieltem Bedauern die sorgfältig manikürten Finger, spreizte sie geziert und fuhr sich mit ihnen betont theatralisch durchs gefärbte Haar, wobei er den Kopf affektiert zurückwarf. Er fand es ab und zu lustig, den Neurotiker zu geben, aber Doris war heute nicht nach Lachen zumute; sie hatte diese Szene auch schon zu oft gesehen, um beeindruckt zu sein. Sie gehörte zu seinem Standartrepertoire. Außerdem fand sie, dass sich Neurotiker anders benehmen, nämlich so, wie sich der Oberbürgermeister benahm, wenn er normal war.

„Reser kommt. Er hat nur heute Zeit.“ Vetter fragte sich, wie viel sie mitgehört hatte. Nur den Anfang oder alles? Eigentlich war es ihm egal. Politik ist Politik. Das musste sie langsam wissen, dass hier Notlügen benötigt wurden.
Doris hatte das ganze Gespräch mitgehört. Sie wusste schon seit langem, dass der Oberbürgermeister log. Es machte ihr nichts mehr aus. Am Anfang hatte es sie gestört, wenn er sie mit seinem jungenhaften Lächeln anschwindelte. Heute nahm sie das mit dem selben Gleichmut hin, wie sie das Wetter hinnahm. Sie wollte auch nicht ewig seine Sekretärin bleiben. Sie hatte eine schöne Stimme, die vielleicht eine Kleinigkeit zu dünn geraten war, und sie wollte mehr Zeit mit Singen verbringen, vielleicht sogar Berufssängerin werden. Sie hatte schon eine CD aufgenommen und tingelte an Wochenenden mit lokalen Kapellen über die Dörfer. Das machte ihr viel Freude. Eigentlich lebte sie nur dafür. Der Oberbürgermeister mit seinen Terminen konnte ihr gestohlen bleiben. Irgendwie spürte er das auch. Er hatte deshalb schon seine Fühler nach Ersatz ausgestreckt, damit Doris ihn nicht mit ihrer Kündigung überraschen konnte. Denn „The Games must go on“, wie er ständig witzelte.

Doris sammelte ein paar Notizen auf dem Schreibtisch ein, überhörte die beleidigende Bemerkung Vetters („Was macht das Gezirpe, Inge?“) und ging in das Vorzimmer. Aus diesen dürren Notizen musste sie formvollendete und höfliche Briefe machen. Vetter überließ ihr viel, sogar die Formulierungen. Doris rief den Vorsitzenden der Bürgergemeinschaft Nord-West an.

„Es tut mir leid, Herr Kindler, aber der OB kann heute leider nicht kommen. Das Ministerium hat angerufen. Er muss nach Stuttgart.“
„Er hat es doch so fest versprochen“, jammerte Kindler. „Viele werden nur wegen ihm kommen. Was soll ich denen sagen?“
„Sagen Sie die Wahrheit“, grinste Doris.

Kindler schwor sich, am Abend beim OB vorbeizufahren und in seine Garage zu schauen, ob der grüne Mercedes drinnen geparkt war. Aber gleich darauf wusste er, dass er es nicht tun würde. Aber einmal würde er den Bürgermeister beim Lügen erwischen und es weitererzählen, darauf konnte sich dieser Gockel verlassen. Kindler ahnte nicht, dass die meisten in Schlossenhausen schon wussten, dass der Oberbürgermeister log. Meistens waren es nur höfliche Notlügen gewesen, aber in letzter Zeit dehnte der OB diese Notlügen ein bisschen arg weit aus. Kindler dachte an seinen Onkel, den Friseur, der dem Bürgermeister die Haare färbte. Ein Mann, der sich die Haare färbt, ist irgendwo auch ein Gauner, brummelte Kindler in sein fliehendes Kinn und machte sich auf den Weg in den Festsaal, wo er seinen Mitgliedern erklären würde, dass der Oberbürgermeister ein Arschloch sei und deshalb nicht kommen könne. An ihm blieb immer alles hängen.

|Das verwendete Bild stammt von Max Köhler.|©

Herbert, Frank – Wüstenplanet, Der (Dune 1)

Der Wüstenplanet, Dune, Arrakis … viele Namen trägt der Planet, der zum Synonym für einen mehrere Tausend Seiten umfassenden Zyklus und ein Universum, das unzählige Leser beflügelte, wurde. Mit „Dune“ gelangte Frank Herbert zu Weltruhm. Längst nicht so bekannt wie der namensgebende erste Teil des Zyklus sind die übrigen fünf Bände.

|Der junge Paul Atreides reist mit seiner Familie nach Arrakis, um dort das Lehen des Imperators in Besitz zu nehmen. Doch seine Familie wird Opfer einer Verschwörung und er muss in die Wüste fliehen. Dort trifft er auf die Fremen, die Ureinwohner von Dune. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, seine Familie zu rächen und die Kontrolle über Arrakis und damit über das bekannte Universum an sich zu reißen.|

Herbert lässt vor dem Auge des Lesers ein komplexe Gesellschaft erstehen, die unzählige Systeme umfasst. Ein vielschichtiges Geflecht herrschender Häuser, im ewigen Streit um die Macht untereinander und gegen die verschiedenen Geheimgesellschaften, Technokraten und die allgegenwärtige Gilde. Und inmitten dieser Gesellschaft befindet sich der Planet Arrakis. Der einzige Fundort der Wunderdroge, die einfach nur Gewürz genannt wird. Die lebensverlängernde Substanz, ohne die die Navigatoren der Gilde nicht durch den Warp navigieren können, machen Arrakis zum wichtigsten Planeten der Galaxis.

Obwohl „Dune“ natürlich zur klassischen SF-Literatur zählt, so zeigen sich bei genauerem Hinsehen doch viele Unterschiede. Auffällig für einen SF-Roman, aber eigentlich für den Zyklus nicht offensichtlich entscheidend, ist das Verbot aller sogenannter Denkmaschinen. Nachdem [Butlers Djihad 827 in fernster Vergangenheit durch die Galaxis fegte und alle Denkmaschinen vernichtet wurden, sind alle künstlichen Intelligenzen oder Forschungen in diese Richtung verboten. Die Antwort auf diesen Umstand besteht in der Ausbildung von Menschen mit besonderen psychischen Kräften. Ein Beispiel sind die Mentaten. Menschliche Computer, die mit Hilfe bestimmter Drogen komplexe Problemstellungen innerhalb kürzester Zeit zu lösen imstande sind.

Doch auch andere Dinge unterscheiden Herberts Werk von vielem, was andere SF-Autoren hervorgebracht haben. Herbert betreibt keine Extrapolation bestehender Trends oder Projektion irdischer Probleme in eine andere Welt. „Der Wüstenplanet“ ist vielleicht in dieser Hinsicht noch am ehesten verdaulich. Stellt er doch für den SF Fan noch am ehesten vertrautes Terrain dar. Ein Held in einer Extremsituation, der allen Widerständen zum Trotz das Unmögliche schafft. Manche haben Herbert die Fortsetzung seiner Geschichte übel genommen, doch dabei übersehen sie, dass Herbert den Wüstenplaneten nie als allein stehenden SF-Roman angelegt hatte.

In den folgenden Bänden führt Herbert mehr und mehr aus, was er (trotz des Umfangs) in „Dune“ nur andeuten konnte. Nach dem Tode des Propheten schwingt sein Sohn sich zum Gottkaiser auf. Längst nicht mehr in menschlicher Gestalt, regiert Leto II. für Jahrtausende sein Reich. Spätestens mit mit dem Tod des Gottkaisers wendet sich Herbert endgültig von zentralen Hauptpersonen ab. Zwar überleben frühe Hauptdarsteller als Klone und genetische Replikate über Jahrtausende, aber zunehmend werden sie zu Marionetten in einem Spiel der Mächte, in dem längst die Spieler die Kontrolle über ihr Spiel verloren haben.

Herbert fächert seine Geschichte in unzählige Facetten auf. Jahrtausende vergehen, ganze Planeten wandeln ihr Angesicht. Die Menschheit stürzt ins Chaos und erhebt sich wieder daraus. Manch einer verliert wohl irgendwo den Faden und wird von Herberts Vision erdrückt. So wird es für viele immer schwieriger, dem Autor zu folgen und die Ideen zu begreifen, die hier so umfangreich niedergelegt wurden. Anders als zum Beispiel bei der bekannten SF-Serie „Perry Rhodan“, ändern sich die Protagonisten dramatisch. Herbert beschreibt nicht die Abenteuer einer Person, Gruppe oder auch nur einer Gesellschaft. Nein, hier wird der totale Wandel gesellschaftlicher Strukturen über Jahrtausende und den bekannten Raum hinweg beschrieben. So ist Herberts eigentliche Hauptperson auch kein Mensch, sondern vielmehr die gesamte Menschheit in ihrer komplexen Struktur.

Sicher trifft dies nicht gerade den Geschmack der meisten SF-Fans. Wer in jungen Jahren zum ersten Mal den Wüstenplaneten liest, wird vermutlich irgendwo zwischen dem zweiten und dem fünften Band entnervt aufgeben. Wer dennoch bereit ist, sich darauf einzulassen, wird in dem gewaltigen Epos mehr finden als in jedem anderen SF-Roman. Vielleicht ist das der Grund, warum sich der Wüstenplanet auch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen noch immer solcher Beliebtheit erfreut. Die Tiefe, die Herbert in seinen Romanen erreicht, wurde auf dem Gebiet der Phantastik nur noch von sehr Wenigen, wie zum Beispiel Tolkien, erreicht. Wer aber bereit ist, sich gefangen nehmen zu lassen von den Visionen des Autors, kann sich wohl völlig in der Welt von Dune verlieren.

Für alle, die nicht ganz so weit gehen wollen, sich aber trotzdem gerne zwischen MAFEA, Tleilaxu, Mentaten und Bene Gesserit bewegen möchten, sei eine kleine Empfehlung ausgesprochen. Es erscheinen im gleichen Verlag weitere Bücher aus der Welt von Dune. Herberts Sohn Brian hat zusammen mit dem rennomierten SF-Autor Kevin J. Anderson drei weitere Bände geschrieben. Keine Fortsetzungen des Zyklus, sondern vielmehr seine Vorgeschichte. Hier dreht es sich wieder um Intrigen und Machtkämpfe zwischen Häusern und Personen. Der Leser bewegt sich also auf sicherem Boden, kann aber trotzdem versichert sein, in den vollen Genus des „Dune-Feelings“ zu kommen. Neben den „frühen Chroniken“ gibt es vom gleichen Autorenpaar auch die Vorgeschichte zur Vorgeschichte, „Die Legende“, in drei Bänden.

_Johannes Heck_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Philip K. Dick – Irrgarten des Todes

Vierzehn Personen werden von unterschiedlichen Welten aus gleichzeitig auf den Planeten Demark-O geschickt. Alle haben sich freiwillig zur Besiedlung dieser scheinbar fremden Welt gemeldet und jeder Siedler ist seines alten Lebens und seiner vorherigen Routineaufgaben überdrüssig geworden.

Doch kaum auf dem fremden Planeten angekommen, stellen die vermeintlichen Siedler fest, dass sie hier festsitzen, keiner ein rückflugtaugliches Raumfahrzeug mitgebracht hat.

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Alexandre Dumas – Die Kameliendame

_Wenn Liebe Sünde läutert_

Wer den Namen Alexandre Dumas hört, wird sicherlich sofort an „Die drei Musketiere“ oder auch „Der Graf von Monte Christo“ denken. Dieser Alexandre Dumas, der Ältere (1802-1870), hatte einen unehelichen Sohn (1824-1895), der früh Zugang zu den literarischen Kreisen von Paris genoss. 1848 veröffentlichte dieser seinen Roman „Die Kameliendame“, der ihm ebenfalls Ruhm als Autor einbrachte. Diverse Verfilmungen und nicht zuletzt die Tatsache, dass Verdi diese Geschichte in „La Traviata“ aufgriff, verhalfen dem Roman bis heute zur Popularität.

_DIE KAMELIENDAME_

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Brosnan, John – Anderwelt

Die beiden Romane von John Brosnan, die hier in einem Band erscheinen, wurden bereits 1997 unter den Titeln „Verflixt und zugehext“ und „Hokuspokus Hexenkuß“ in der |Allgemeinen Reihe| des |Heyne|-Verlags veröffentlicht. Neben der genialen Himmelsherren-Trilogie, die in der |Heyne|-SF-Reihe herauskam, sind diese beiden Bände leider die einzigen Werke Brosnans, die nach Wissen des Rezensenten auf Deutsch erschienen sind. Bedenkt man die Qualität dieser fünf Bücher, so ist dies um so bedauerlicher, denn vor allem die Trilogie um die Skylords gehörte wohl zum Besten, was die SF der 90er Jahre hervorgebracht hat.

Ganz so überragend sind die beiden hier in einem Band vorliegenden Fantasyromane zwar nicht, aber trotzdem stellen sie blendende Unterhaltungswerke dar, die sich durch frechen und despektierlichen Stil und süffisanten Humor auszeichnen. Im Gegensatz zu anderen Autoren satirischer Bücher gelingt es Brosnan aber, zudem noch eine spannende und wie aus einem Guss wirkende Geschichte zu erzählen und damit die arg dröge wirkenden Nummernrevuen mancher Kollegen zu vermeiden. Dabei pfeift der Autor völlig auf jedwede Political Correctness. Sein Held ist sogar dermaßen despektierlich, dass er sich bei einem Barbarenwettkampf, zu dem er sich gezwungen sieht, als „Travis der politisch nicht Korrekte“ anmelden will, was der Kampfrichter der primitiven Welt, in die es unseren Zeitgenosse Travis verschlagen hat, natürlich nicht versteht. Travis Begründung für seinen Namen: In seiner Welt müsse man schon verdammt heldenhaft sein, um sich als politisch nicht korrekt zu bezeichnen.

Auch sonst lässt der Protagonist verbal ganz schön die Sau raus, zumal er glaubt, sich in einer Computersimulation zu befinden. Dass ihn ein mächtiger Zauberer wirklich in die Parallelwelt namens Samella versetzt hat, will er zuerst nicht wahrhaben.

Denn eigentlich ist Travis Thompson Journalist und hatte einen Artikel über den mächtigen Gideon Leonard Prenderghast schreiben sollen. Bei Travis‘ Interview mit dem Magnaten hatte er diesen allerdings sehr undiplomatisch mit dessen dunklen Machenschaften und schmutzigen Geschäften konfrontiert, ohne zu ahnen, dass Prenderghast ein mächtiger Zauberer aus einer fernen Dimension ist.

Als Strafe findet sich der arme Travis schnell in einer barbarischen Welt voller Magie aber ohne Sanitäranlagen wieder, ausgestattet nur mit einem magischen Revolver, der ihm immerhin einige Macht verleiht. Zudem trifft er den Filmproduzenten Jack deSilva aus L. A., einen Spezialisten für trashige und manchmal auch schlüpfrige C-Filme, der es sich ebenfalls mit Prenderghast verscherzt hat und deshalb „verbannt“ wurde. Allerdings hat der mächtige Zauberer Jack zudem in einen kleinen, schmierigen, ewig Marlboro rauchenden Dämon verwandelt, was gut zu Jacks Charakter passt.

Und so steht der arme Travis plötzlich in einer fremden Welt da, die er zuerst für eine Computersimulation hält, und versucht verzweifelt den Schlüssel zu finden, der ihm die Wiederkehr in seine ursprüngliche Realität ermöglichen könnte, hat bald eine abgehalfterte Prinzessin am Bein, die ihm nur Ärger bringt und ist so richtig ratlos …

So weit, so trivial! Aber was Autor Brosnan aus dieser Ausgangssituation macht, ist aller Ehren wert. Eine schrillere Queste hat die Fantasy kaum je gesehen.

Egal, ob Travis von merkwürdigen Elfen angeschwuchtelt wird, er gegen eine Mischung aus Trollen und englischen Fußballhooligans kämpfen muss oder im zweiten Buch verzweifelt versucht, seine Heimatstadt London nach seiner Rückkehr vor der Verwüstung durch seine samellanischen Begleiter zu schützen – die beiden Romane sind durchgängig äußerst vergnüglich zu lesen.

Anderwelt ist sicherlich kein intellektueller Hochgenuss, aber spritzig und prickelnd wie eine Flasche Champagner ist die hier erzählte Geschichte zweifellos, voller Chuzpe und frech wie Oskar.

Da beginnt ein Kapitel auch schon mal mit der Einleitung: „Um genau 22 Uhr explodierte in einer Seitenstraße neben einem Platz im Londoner East End ein Huhn.“ (S. 300)

Wer sich also auf eine grelle Achterbahnfahrt einlassen möchte und wenigstens ein gerüttelt Maß Humor besitzt, dem sei das vorliegende Buch wärmstens empfohlen.

|Originaltitel: Damned and Fancy / Have Demon, Will Travel|

_Gunther Barnewald_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Kureishi, Hanif – Gabriel\’s Gift

|Hanif Kureishis Roman „Gabriel’s Gift“ (dt. „Gabriels Gabe“) erinnert in vielem und viel zu sehr an seinen Debütroman „The Buddha of Suburbia“ (dt. „Der Buddha aus der Vorstadt“, 1990) und dessen Nachfolger „The Black Album“ (dt. „Das schwarze Album“, 1995), kann deren Tiefe und Originalität jedoch nicht erreichen.|

Die Handlung ist schnell erzählt: Der Vater des 15-jährigen Gabriel verlässt seine Familie, um ziellos durch London zu streunen und in einer billigen Absteige dahinzuleben. Er zehrt von den Erinnerungen an die guten, alten 70er, in denen er umgeben von Sex, Drugs und Rock ’n‘ Roll mit der Rockband um Lester Jones tourte, bis er während eines Konzerts von seinen Plateauschuhen kippte und nach dem Ausheilen der Verletzung nicht wieder in die Band aufgenommen wurde. Gabriels Mutter ist mit ihrem Geschäft pleite gegangen und versucht nun, ihren Sohn und sich mit einem Kellnerjob über Wasser zu halten. Gabriel selbst hat eine Gabe, wie bereits der Titelt verrät: ein Zeichentalent. Indem er dieses entwickelt, arbeitet er an der Erfüllung seines Traumes, findet sein Lebensziel und seinen Platz in der Erwachsenenwelt. Der Originaltitel ist doppeldeutig – handelt es sich bei dem „gift“ nicht nur um die „Gabe“, zeichnen zu können, sondern auch um ein „Geschenk“, das für einige Verwirrungen sorgt.

Wäre da nicht Kureishis spezieller Humor (Ironie, Satire, groteske Begebenheiten), gäbe es keinen Grund, diesen Roman zu lesen, denn es scheint, als seien dem Autor die Ideen ausgegangen. „Gabriel’s Gift“ liest sich wie eine Variation der Themen, die bereits im „Buddha of Suburbia“ oder in „The Black Album“ ausgearbeitet wurden. Wieder hat Kureishi einen Initiationsroman vorgelegt, in dem ein künstlerisch begabter Jugendlicher in einer verwirrenden, rassistischen Welt, bestehend aus unterschiedlichsten Typen (Homosexuellen, Künstlern, Menschen am Rande der Existenz), seinen Platz finden und am Erreichen seines persönlichen Traumes arbeiten muss.

Wie Karim („The Black Album“) und Shahid („The Buddha of Suburbia“) kommt der Held in diesem Roman aus einem wenig intakten Elternhaus der englischen Mittelklasse. Sein Vater ist – gelinde gesagt – ein Träumer, ein Spinner, ein ewig Gestriger oder, um es mit Gabriel zu sagen: „Had he been a woman, he might have been called hysterical. Instead he was deemed ‚moody‘, which, because of its ‚artistic‘ overtones (…) suited him.“ (dt. etwa: „Wäre er eine Frau gewesen, würde man ihn als hysterisch bezeichnet haben. Stattdessen hielt man ihn für „launisch“, was ihm der ‚künstlerischen‘ Untertöne wegen genehm war.“) Seine Mutter hingegen steht mit beiden Beinen im Leben und fürchtet nichts mehr, als dass der Sohn sich wie sein Vater zum Künstler berufen fühlen und dessen Ende nehmen könnte. Dementsprechend erzählt Gabriel ihr nichts von seinem ersten Job, bei dem er ein Aktportrait des homosexuellen Barbesitzers Speedy anfertigt, wobei der Leser die gleichen Ängste ausstehen muss, die Gabriels Eltern ausstehen würden, wüssten sie, dass er so engen Kontakt mit einem von Kureishis „love vampires“ pflegt. Man erwartet förmlich, dass Speedy den blutjungen Gabriel auf der Stelle verführt, doch hier reicht die Phantasie eines Kureishi-erfahrenen Lesers über die des Autors hinaus (oder er hat sich diesen Tabubruch nicht getraut).

Interessant an der Figur das Gabriel ist dessen tiefe Verbundenheit mit seinem verstorbenen Zwillingsbruder Archie. Wohl jeder, der bereits einen lieben Menschen verloren hat, kennt das Phänomen, dass man sich hin und wieder bei einem inneren Zwiegespräch mit dieser Person ertappt. Für Gabriel ist Archie der engste Vertraute, da ihm die Eltern aufgrund eigener Probleme oft nicht zur Seite stehen können/wollen. Mit Archies Augen gelingt es ihm, seine Situation objektiver zu betrachten. In Entscheidungssituationen wird der verstorbene Bruder so zu Gabriels rationaler innerer Stimme.

Amüsieren kann sich der Leser über die Figur des „Kindermädchens“ aus dem Ostblock, das zum Glücklichsein nichts weiter braucht als ausreichende Mengen an Nahrungsmitteln und die Seifenopern im Fernsehen. Zum Schmunzeln verleitet den Leser ebenso das altkluge und dennoch pointierte Reden Zaks (Gabriels bestem Freund), dessen Vater seine Familie überraschend für einen Liebhaber verlassen hat. Witzig sind auch Szenen, in denen mit Hilfe von Musik oder Anspielungen auf Musiker über das Leben philosophiert wird.

Sein ganz persönliches fiktionales Universum unterstützt Kureishi in „Gabriel’s Gift“ mit einem „Gastauftritt“ des Charlie Hero aus „The Buddha of Suburbia“, der immer noch ein populärer Rockstar ist, mit der Erwähnung von Deedee Osgood aus „The Black Album“ und mit der Enthüllung, dass Charlies Mutter und Karims Vater dazumal eine Affaire hatten. Dadurch wirkt „Gabriel’s Gift“, obwohl es eine Fiktion ist, authentischer.

Als jedoch für den Protagonisten in „Gabriel’s Gift“ zum Schluss der gemeinhin schwer zu erfüllende Traum vom Erfolg mit der Erfüllung des Traums von einer intakten Familie zusammenfällt, gibt der Autor seine ironisch distanzierte Haltung zugunsten einer märchenhaft irrealen Zusammenführung der Elternteile auf. Möglich, dass Kureishi damit den Lesern, die ein Happyend brauchen, entgegenkommen wollte. Möglich auch, dass der Autor genug hat von offenen Enden und traurigen Geschichten wie in „Love in a Blue Time“ oder „Intimacy“ (dt. „Blau ist die Liebe“, 1997; „Rastlose Nähe“, 1998). Objektiv betrachtet, stört dieser Schluss jedoch, weil er nicht zum realistischen Stil Kureishis passt. Auch dadurch überzeugt der Roman trotz guter Figurenanlagen und witziger Dialoge nicht. Man sollte in Mußestunden lieber zu einem der anderen Werke Kureishis greifen.

_Corinna Hein_
http://www.corinnahein.net

|Eine [deutsche Broschurausgabe]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3499233118/powermetalde-21 erschien im März 2003 bei Rowohlt.|

Kureishi, Hanif – Intimacy

_The Saddest Night_

|“Intimacy“ (dt. „Rastlose Nähe“) unterstreicht Hanif Kureishis Abkehr von der postkolonialen Thematik, steht jedoch in Offenheit, Ehrlichkeit und Tiefe der Beschreibung von inner- und zwischenmenschlichen Vorgängen in der Tradition der Werke, für die er bekannt geworden ist („The Buddha of Suburbia“, „My Beautiful Laundrette“ u. a.).|

„It is the saddest night, for I am leaving and not coming back.“ (dt. etwa: „Es ist die traurigste Nacht, da ich weggehen und nicht zurückkommen werde.“), konstatiert der Ich-Erzähler zu Beginn von Hanif Kureishis kurzem Roman und macht den Leser damit zum Mitwisser seines Plans, Lebensgefährtin und Kinder zu verlassen. Beschrieben wird auf den 118 Seiten im Wesentlichen die letzte Nacht, in der Jay (ein erfolgreicher Drehbuchautor) die zurückliegenden Jahre seiner eheähnlichen Beziehung mit Susann resümiert. Liebe und Leidenschaft sind abgekühlt und einem Nebeneinanderherleben gewichen. Was die beiden Menschen noch verbindet ist die Liebe zu ihren Kindern. In Flashbacks erfährt man, dass sein Sexualleben inzwischen mit Nina stattfindet – einer jungen Frau, die gekennzeichnet wird durch ihr unbeständiges Leben, geprägt von Ziellosigkeit, wechselnden Sexualpartnern und Drogenkonsum. Die Affäre mit ihr ist zum Zeitpunkt der Überlegungen, Susann zu verlassen, bereits vorüber, hat jedoch durch das tabulose Ausleben von Erotik Wünsche in Jay geweckt, die er nicht mehr bereit ist, hintenanzustellen.

Der Leser erfährt weiterhin von einer erfolglosen Paartherapie, von anderen Lebensentwürfen – dem seines Freundes Viktor oder des Familienmenschen Asif („Wisdom is to know the value of what we have.“) – von dem Verhältnis des Erzählers zu seinen Eltern, die das „bürgerliche Glück“ einer aufrechterhaltenen Ehefassade der individuellen Selbstverwirklichung vorgezogen und zum Schluss doch zu einer neuen „intimacy“ gefunden haben. Er wird hineingezogen in eine Diskussion über Ehe, Liebe, Leidenschaft, Genderkonzepte – kurz: über das universelle Glück der Menschen. Damit sind in diesem Roman des gereiften Kureishis die Pakistanis zumindest auf ihrer Suche nach Selbstverwirklichung nicht länger anders als Engländer. Ihre Probleme, Wünsche und Träume gehen über die Identitätssuche einer hybriden Persönlichkeit hinaus.

Auch „Intimacy“ ist geprägt von Themen, die bei Kureishi immer wieder auftreten. Musik, Drogen und Fashion sind dem Leben seiner Figuren inhärent, wohl auch aus dem Grund, dass sie Kinder der 70er sind, die mit ihrer Lebensphilosophie hier durchaus kritisch betrachtet werden.

Natürlich nimmt der Autor wie üblich kein Blatt vor den Mund, wenn es um sexuelle Handlungen geht. Man erlebt den Erzähler beim Geschlechtsverkehr mit Nina und folgt ihm ins Bad, wo er sich selbst befriedigt. Freimütig und derb wird über die sexuelle Einstellung seiner Freunde geredet. „Sometimes he fucked five people in a day, shoving his arm up to the elbow into men whose faces he never saw.“

Den typisch ironischen Humor Kureishis muss man ebenfalls nicht missen, zum Beispiel wenn er beschreibt, wie verzweifelt in die Jahre gekommene Frauen versuchen, sich ihr Alter nicht anmerken zu lassen oder, wenn es statt der Frauen die Männer der 90er sind, die auf den Büropartys über nichts anderes als ihre Kinder sprechen. Doch im Wesentlichen übernimmt der Roman die Stimmung des ersten Satzes. Der Leser steht mit dem Ich-Erzähler vor den Scherben dessen Lebens und vor philosophischen Phrasen, die nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Familie zerbrechen wird. Zwei Personen müssen einsehen, dass ihre Beziehung gescheitert ist und dass sie unabhängig voneinander weiterleben müssen. Durch die Schilderung seiner Affäre mit Nina (und anderen Frauen) fühlt man sich als Leser eher bestätigt, dass es Jay vorrangig um die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse geht, obwohl er selbst meist von „Liebe“ spricht. Das Ende des Romans hebt diese Sicherheit jedoch wieder auf, denn er endet optimistisch mit einer Beschreibung eines Momentes des vollkommen Glücks, der während eines Spaziergangs erlebt wird.

|Faber und Faber| haben sich in ihrer generell relativ haltbaren Paperback-Aufmachung bei „Intimacy“ zusätzlich für einen (gelben) Schutzumschlag entschieden, der einem Buch in Fragen „Ansehnlichkeit in späteren Jahren“ durchaus zuträglich ist. Die Schrift ist weniger gedrängt als in anderen Ausgaben von Kureishis Werken. Es findet sich sogar ein üppiger Rand, auf den man seine Anmerkungen kritzeln kann.

Alles in allem – ein lesenswerter Kureishi, der mit der Neudefinierung der britischen Identität abgeschlossen hat; ein Buch, das die Qual und die Freuden von Menschen analysiert, die versuchen mit einem anderen Menschen zusammenzuleben.

_Corinna Hein_
http://www.corinnahein.net/

|Eine [deutsche Fassung]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3499229005/powermetalde-21 erschien 2001 unter dem Titel „Rastlose Nähe“ bei Rowohlt.

Besonders lohnend ist sicherlich die Geschichtensammlung [„Intimacy“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/349923193X/powermetalde-21 die im Juni 2001 anlässlich des gleichnamigen Films von Patrice Chéreau ebenfalls bei Rowohlt erschien und neben „Rastlose Nähe“ weitere Kurzgeschichten enthält, zusammen mit einem Essay und Szenenfotos aus dem Film.|

Kureishi, Hanif – Midnight all Day

_Vier blaue Stühle und ein emanzipierter Penis_

|Frage: Was haben blaue Stühle und ein Penis gemeinsam? Antwort: Sie erscheinen in Hanif Kureishis letzter Kurzgeschichtensammlung „Midnight all Day“, die dem Leser die bekannte Mischung aus Humor, Liebe, Sex, Drogen, Musik und Desillusion bietet, sowie ein kafkaeskes Schmankerl beinhaltet, das mir die Tränen in die Augen getrieben hat – vor Lachen.|

Hanif Kureishi wurde 1954 als Sohn einer weißen englischen Mutter und eines pakistanischen Vaters in London geboren. Solchermaßen prägten die Auseinandersetzung mit rassischen Vorurteilen und die Suche nach der Zugehörigkeit zu einer Nation seine Jugend. Und die frühen Werke (Theaterstücke wie „Outskirts“, 1989; Film-Skripts wie „My Beautiful Laundrette“, 1984; Romane wie „The Buddha of Suburbia“, 1990) zeigen den Autor als anglophone Stimme der asiatischen Erfahrungen in England.

In neuerer Zeit, insbesondere ab „Intimacy“ (1998), tritt die Auseinandersetzung mit Rassismus weiter in den Hintergrund seiner Werke. Seine Hauptfiguren sind zwar häufig Engländer pakistanischer/indischer Abstammung, aber sie werden nicht vordergründig in rassischen Konflikten gezeigt. Stattdessen rücken allgemein-menschliche Themen in den Vordergrund, die sich auch in „Midnight all Day“ wiederfinden lassen. „Ich glaube, es gibt Phasen im Leben eines Autors, wo er sich auf ein Thema konzentriert. Zurzeit interessiert mich die Leidenschaft zwischen Mann und Frau. Die Anziehung, die manchmal so groß ist, dass es wehtut. In festen Beziehungen ist alles gefährlich nah beieinander: Gefühle wie Liebe und Hass, Verbundenheit und Abhängigkeit, Begehren und Wut.“ meint der Autor zu seiner Abkehr vom literarischen Rebellentum der frühen Jahre, die ihm so mancher Kritiker vorwirft.

Die zehn Geschichten in diesem Buch drehen sich somit vordergründig um Liebe in ihren verschiedenen Ausprägungen. Die abgeklärte Haltung des fast 50-jährigen Autors ist dabei nicht zu übersehen. So handelt die Geschichte „Four Blue Chairs“ (dt. „Vier blaue Stühle“) von ebenjenen Stühlen, die sich ein Pärchen kauft, das kürzlich zusammengezogen ist. Beide Partner haben bereits andere Beziehungen hinter sich und sind sich nicht sicher, ob sich der neuerliche Versuch, das Leben mit einem anderen Menschen zu teilen, wirklich lohnt. Die Entscheidung für den Kauf der Stühle für die gemeinsame Wohnung fällt leicht, die Kaufhandlung ebenso. Erst der Transport der schweren unhandlichen Möbelstücke zeigt, dass dem Entscheiden und dem Tragen von Konsequenzen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade beizumessen sind. Solchermaßen wird der Stuhlkauf zu einer Metapher für das Führen von Beziehungen in unseren Tagen.

Erfreulich an dieser und anderen Geschichten des Bandes ist auch, dass Kureishis Helden fernab von idyllischer Romantik konstruiert sind: körperliche Unzulänglichkeiten paaren sich mit Hilflosigkeit, Unter- oder Überlegenheitsgefühlen und mit Angst vor Konflikten, die zum Ende der Beziehung führen könnten. Viele Protagonisten finden Erfüllung nur noch im Drogenrausch und stehen vor den Scherben ihres Lebens, wenn sie vom Trip zurück sind. Für andere wird Musik zur Ersatzreligion und zur Möglichkeit der Realitätsflucht in rauschhafte Zustände (vgl. „That was Then“, dt. „Das war früher“).

Und immer wieder – so z. B. in der Geschichte „Girl“ (dt. „Mädchen“) – werden Themen angeschnitten wie Gewalt in Familien sowie soziale Unterschiede zwischen den Menschen in der City Londons und den Vororten. Literarisch verpackt wird auch die Dekonstruktion von Mythen über die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und die theoretische Auseinandersetzung mit der Schriftstellerei.

Die Protagonisten sind jedoch trotz ihrer komplizierten Vergangenheiten, von denen sie immer wieder eingeholt werden, gezwungen, ihrer Leben vorwärtsgewandt auszurichten. „Sucking Stones“ – nennt Marcia in der gleichnamigen Geschichte den sinnlosen Zustand der Stagnation, der sonst eintritt: „We look to the old things and to the old places. […] Even when there’s nothing there we go on. But we have to find new things, otherwise we are sucking stones.“ (dt. etwa: „Wir halten an den alten Plätzen und Dingen fest. […] Selbst wenn dort nichts mehr zu holen ist, machen wir damit weiter. Aber wir müssen neue Dinge finden, sonst sind wir verdammte Steine.“)

Die Geschichte „The Penis“ (dt. „Der Penis“) sticht ähnlich wie im ersten Kurzgeschichtenband „Love in a Blue Time“ (1997) die Geschichte „The Flies“ (dt. „Die Fliegen“) durch ihre Absurdität heraus. Der Einstieg dürfte manchem Zeitgenossen aus eigener Erfahrung bekannt vorkommen: Ein Mann kehrt eines Abends sturzbetrunken von einer Party nach Hause zurück und kann sich am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern. Grotesk wird es erst, als seine Ehefrau ihn mit einem „penis – complete with balls and pubic hair“ („ein Penis – komplett mit Hoden und Schamhaar“) konfrontiert, den sie in seiner Manteltasche gefunden haben will. Einer Erklärung nicht mächtig, ist der Mann nur bestrebt, diesen Penis so schnell wie möglich loszuwerden; was ihm erst gelingt, als er ihn in mehrere Lagen Papier eingewickelt von einer Brücke wirft, wo er statt im Wasser auf einem Ausflugsdampfer landet.

Unweit von dieser Brücke entfernt wacht an ebenjenem Morgen Pornostar Doug auf und muss erschrocken feststellen, dass ihm sein bestes Stück abhanden gekommen ist. Somit seiner Erwerbsgrundlage entzogen, begibt er sich verzweifelt auf eine Kneipentour; teils um sich vollaufen zu lassen, teils um zu schauen, ob irgendwo (s)ein Penis abgegeben wurde. Schließlich entdeckt er den Flüchtigen „tall, erected and wearing dark glasses and a fine black jacket“ („groß, erigiert und mit Sonnenbrille und einer schicken schwarzen Jacke bekleidet“) in Begleitung einer Frau auf der Straße. Eine wilde Verfolgungsjagd beginnt, an dessen Ende Doug seinen Penis stellen kann. Wie die anschließende Diskussion über Ausbeutung und darüber, wer ohne wen ein Nichts ist, ausgeht und, ob Doug seinen Penis zur Rückkehr bewegen kann, erfährt man in Kureishis Kurzgeschichtensammlung „Midnight all Day“.

_Corinna Hein_
http://www.corinnahein.net

|Eine [deutsche Fassung]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3499231247/powermetalde-21 ist als „Dunkel wie der Tag“ bei Rowohlt erhältlich.|