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Thompson, Craig – Blankets

Smells like teen spirit – „Blankets“ ist eine autobiographisch gefärbte Geschichte. Craig Thompson wurde 1975 geboren und erzählt seine Jugendgeschichte in Wisconsin, Anfang der 90er Jahre. Es ist die Zeit von |Nirvana|, die Zeit der ersten Partys, die Zeit des ersten Joints und der ersten Liebe. Doch an Craig zieht vieles davon mehr oder weniger spurlos vorbei. Er scheint ein Mensch ohne rechte Leidenschaft zu sein. Er ist ein Außenseiter, der sich stets zurückzieht und in irgendeiner Ecke auf seinem Notizblock vor sich hinzeichnet, während seine Mitschüler sich mal wieder über seinen Haarschnitt lustig machen.

Craig hat keine Freunde und auch das Leben in seinem Elternhaus ist nicht wirklich die reinste Freude. Die Thompsons sind strenggläubige Christen und spätestens seit der Ära George W. Bush weiß man auch hierzulande, wie man sich strenggläubige Christen im Mittleren Westen der USA vorzustellen hat. Craig und sein Bruder Phil werden christlich-fundamentalistisch erzogen (Gewalt ist okay, aber Sex ist böse!).

Craigs Kindheit ist keine leichte, aber er macht niemandem einen Vorwurf dafür. „Für meine Familie, in Liebe“ steht als Widmung auf der ersten Seite. Eine Widmung, die einen seltsamen Kontrast zu den Szenen aus Craigs Kindheit bildet. Durch die Intensität der Zeichnungen und die bildhafte Art Gefühle darzustellen, wirkt Craigs Kindheit besonders bedrückend und trist. Craig steht schon in jungen Jahren mehr oder weniger am Rand, kann sich weder zu Hause noch in der Schule wirklich heimisch fühlen und flüchtet sich in seine Träume. Gemäß seiner christlichen Erziehung hat Craig schon in jungen Jahren mit seinem Leben mehr oder weniger abgeschlossen und hofft stattdessen darauf, dass im Himmel alles besser wird.

Als ein winterliches (natürlich christliches) Ferienlager ansteht, ist die Situation wieder die Gleiche: Craig bleibt außen vor, steht als Beobachter abseits, während die anderen Snowboarden und Sprüche über ihre Fortschritte beim weiblichen Geschlecht klopfen. Und doch wird in diesem Ferienlager alles anders für Craig. Er, der Außenseiter, trifft andere Außenseiter und ist zum ersten Mal in seinem Leben nicht allein. Und dann wäre da noch Raina aus Michigan. Sie sorgt für einige Turbulenzen in Craigs ansonsten so unspektakulären Leben. Sie verbringen viel Zeit zusammen, funken offensichtlich auf einer Wellenlänge und bleiben auch über das Ferienlager hinaus in Kontakt. Zwischen dem schüchternen Craig und der bezaubernden Raina entstehen die zarten Bande einer tiefen Freundschaft, die auch über die Distanz zwischen Wisconsin und Michigan Bestand hat.

Als dann Craigs Eltern auch noch wundersamerweise erlauben, dass er Raina in Michigan besucht, beginnen die zwei schönsten Wochen seines bisherigen Lebens. Raina weckt ungeahnte Gefühle in Craig und die zwei Wochen im verschneiten Michigan sind wie einer der Träume, die er immer gehegt hat. Doch auch die zwei Wochen sind irgendwann vorbei und Craig muss wieder zurück in das provinzielle Wisconsin …

Die Geschichte einer ersten Liebe, die mehr erahnt, als wirklich ausgelebt wird, vor dem Hintergrund einer christlich-fundamentalistisch geprägten Erziehung in der tiefsten amerikanischen Provinz – das ist der Kern von „Blankets“. Thompsons Zeichnungen stecken so voller Leben, die Geschichte wird so ehrlich und offen erzählt, dass man sie mehr fühlt als liest. „Blankets“ geht einem wirklich nah, und das schon nach wenigen Seiten. Kein Wunder, dass Thompson für sein Werk schon so manchen Kritikerpreis abstauben konnte. Jüngst folgte im Rahmen der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt die Auszeichnung als Comic des Jahres – völlig verdient, denn „Blankets“ dürfte eine der wichtigsten Underground-Comic-Veröffentlichungen des letzten Jahres sein.

Und das obwohl (oder gerade weil?) der Comic dem Äußeren nach recht schlicht gehalten ist. Einfache, skizzenhafte Schwarz/Weiß-Zeichnungen, wenig Text, teilweise großformatige Szenen, mal ganz realistisch, mal emotional und abstrakt. Thompson ist sicherlich einer der wenigen Comiczeichner, die mit ganz wenigen Strichen komplexe Emotionalitäten darstellen können, egal ob er seine Gefühle für Raina zeichnet oder sein Verhältnis zum christlichen Glauben visualisiert.

Thompsons Gespür für Bilder weiß zu fesseln, aber man muss es mit eigenen Augen gelesen/gesehen haben, um es wirklich zu begreifen. Ist man erst einmal eingetaucht in die Atmosphäre, die Geschichte, die Figuren, kommt man so schnell nicht mehr davon los. Und gerade weil Thompsons Zeichnungen so intensiv und ausdrucksstark sind, könnte man gleich vorne wieder anfangen zu lesen, wenn man am Ende angekommen ist. Man kommt von „Blankets“ einfach nicht los, so faszinierend intensiv ist die Welt, die Thompson mit so wenigen Strichen aus dem Hut zaubert.

Allein in der Textur der Striche tauchen bei „Blankets“ so facettenreiche Emotionen auf, eine so erstaunliche Tiefe, dass man nur staunen kann. Mal wirken die Bilder ganz weich und zärtlich, mal wütend und aggressiv und mal tieftraurig und unsicher. Schwarz/Weiß-Zeichnungen sind in der Beziehung wesentlich ausdrucksstärker und emotionsgeladener als die kolorierten Zeichnungen der Hochglanz-Comics vom Kiosk. Die Gesichter, die Thompson zeichnet, sind einfach und mit wenigen Strichen skizziert. Umso erstaunlicher, dass er es schafft, diese Gesichter so intensiv mit Emotionen auszustatten. Die Eigenarten und die Grundstimmung jeder Figur werden schon nach wenigen Szenen deutlich und nach ein paar Seiten sind sie einem richtiggehend vertraut.

Die Geschichte, da sie nun einmal als Comic erzählt wird, wirkt viel direkter und unmittelbarer und dadurch letztendlich auch nachhaltiger. Gerade als Medium für autobiographische Themen scheint sich der Comic außerordentlich gut zu eignen (weitere Beispiele wären „Maus“ oder „Barfuß durch Hiroshima“). Gefühle werden durch die Zeichnungen (besonders auch durch die für Underground-Comics oft typische, etwas skizzenhafte Darstellung) viel plastischer und besser bzw. schneller begreifbar. Der Comic stellt Dinge dar, die sich mit Worten nur schwer beschreiben oder erklären lassen. Er vereinfacht.

Was einem in der zeichnerischen Darstellung bei „Blankets“ einleuchtend und durch und durch nachvollziehbar erscheint, lässt sich, obwohl man genau spürt, was der Autor ausdrücken will, kaum adäquat mit Worten wiedergeben. Der Comic hat mit seiner visuellen Herangehensweise einen ganz anderen Ansatzpunkt beim Leser als ein Roman. Ein Umstand, der besonders auch bei „Blankets“ sehr deutlich wird und wohl der wichtigste Grund dafür ist, dass einem die Geschichte so nah geht. Als Roman erzählt, wäre sie vermutlich nicht halb so fesselnd. Daraus entsteht letztendlich eine scheinbare Widersprüchlichkeit: Der Comic vereinfacht einerseits, übermittelt andererseits aber komplexere Dinge, als man ihm zutraut – einfach, weil er direkter ist.

Die Geschichte selbst hat, abgesehen von Craigs Besuch bei Raina, einen eher episodenhaften Charakter. Thompson skizziert Bruchstücke seiner Kindheit, die zusammengesetzt ein Bild des Menschen zeichnen, der später im Ferienlager Raina kennen lernt. Auch die späteren Ereignisse werden eher episodenhaft dargestellt. Craigs Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder wird ebenso beleuchtet wie die Weiterentwicklung im Elternhaus. Auch Craigs Verhältnis zum christlichen Glauben wird immer wieder thematisiert und bildgewaltig dargestellt. Thompson erzählt die Geschichte als eine wirklich runde Sache. Man schlägt am Ende zufrieden, aber auch wehmütig das Buch zu. Anfangs- und Endpunkt, der gesamte Handlungsbogen – alles wirkt geradezu perfekt und bis ins Detail stimmig.

Dass seine Geschichte mit recht wenigen Worten auskommt, ist sicherlich auch seinem zeichnerischen Talent zuzuschreiben, aber dass die wenigen Worte, die er wählt, jedes Mal den Nagel auf den Kopf treffen und für jede Szene wie geschaffen sind, das offenbart auch ein gewisses Erzähltalent. Die Liebesgeschichte von Craig und Raina ist so erfrischend ehrlich und unkitschig erzählt, dass einem bei der Lektüre richtig warm ums Herz wird. Nichts wirkt überzeichnet oder gekünstelt, nichts wirkt aufgesetzt oder unpassend – man muss einfach glauben, dass die Geschichte bis ins kleinste Detail so und nicht anders passiert ist. Sie wirkt so offenherzig, frei von der Leber weg erzählt, dass man wirklich spüren kann, wie die erste Liebe sich anfühlt – mit dem Schmerz, der dazu gehört.

„Blankets“ bewegt nicht nur auf visueller, sondern auch auf erzählerischer Ebene. Die Geschichte geht einem nah, die Figuren wirken unglaublich lebensecht und Craig Thompson erzählt die Geschichte einer bedrückenden Kindheit und der ersten großen Liebe vor dem Hintergrund einer streng christlichen Erziehung offen, ehrlich und mit abgeklärtem Blick. Definitiv der beste Comic, den ich seit langem gelesen habe.

Ich halte nun wirklich nichts von übertriebener Lobhudelei, geize üblicherweise mit einer persönlichen Höchstwertung und hasse Empfehlungen, die Bücher als sogenannte „Pflichtlektüre“ abstempeln, aber in diesem Fall kann ich nur den Imperativ verwenden: UNBEDINGT LESEN!

Und das meine ich sogar ernst. Auch die vermeintlichen Comic-Hasser sind angesprochen! Eigentlich jeder, der Lust auf ein Buch randvoll mit großen, ehrlichen Gefühlen und die Muße, sich darauf einzulassen, hat …

|“Alles, was im Leben schief geht in dieser Geschichte von Familie und erster Liebe funktioniert als Kunstwerk tadellos. Mr. Thompson hält sich angenehm zurück, während er uns langsam mit seinem Können überwältigt. Seine Erzählkunst, sein Gespür für Worte, Bilder und beredtes Schweigen, fesselt beim Lesen und wirkt lange nach. So etwas nenne ich Literatur.“| Jules Feiffer (Pulitzer-Preisträger)

Leseproben unter [www.speedcomics.de]http://www.speedcomics.de

Sage, Angie – Septimus Heap – Magyk

Im Fahrwasser von „Harry Potter“ erleben Fantasybücher für Kinder einen Boom, den man vor einigen Jahren wohl kaum für möglich gehalten hätte. Alles, was nur irgendwie mit Magie und Zauberei zu tun hat, erlangt in der Kinderbuchsparte hohe Aufmerksamkeit und hat Bestsellerpotenzial. Beispiele sind die Verkaufsschlager „Eragon“ und [„Bartimäus“. 353 Nun gesellt sich eine neue Fantasyfigur dazu, die bei ihrer Erstveröffentlichung in den USA glatt Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times erstürmte: „Septimus Heap“. Auch „Septimus Heap – Magyk“ hat Hitpotenzial und das nicht nur, weil es sich um den ersten Teil einer Trilogie handelt, sondern auch, weil die Autorin Angie Sage hier eine recht eigenständige und absolut kindgerechte Fantasywelt erschaffen hat.

Septimus Heap ist der siebte Sohn eines siebten Sohnes und das ist etwas ganz Besonderes, denn als solcher verfügt er über besondere magische Kräfte. Doch Septimus Heap wurde bereits am Tag seiner Geburt ein tragisches Schicksal zuteil. Als vermeintlich toten Säugling entführt die Oberhebamme ihn. Seine Familie glaubt auch Jahre später noch, dass der Junge am Tag seiner Geburt gestorben ist. Sein Schicksal bleibt verborgen.

Doch am gleichen Tag wurde in der Burg noch ein Kind geboren, das ein ebenso tragisches Schicksal erleidet: Die Tochter der Königin, deren Mutter am Tag der Geburt ermordet wird. Das Kind wird dank der Geistesgegenwart der beim Mord anwesenden Zauberin Marcia Overstrand verschont. Sie versteckt das Kind, das wenig später von Silas Heap, dem Vater von Septimus, gefunden wird. Die Zaubererfamilie Heap nimmt das Kind unbekannter Herkunft bei sich auf.

Zehn Jahre nach dem Mord an der Königin haben längst andere das Sagen im Land und die junge Jenna Heap, wie die Königstochter mittlerweile heißt, ist in Gefahr. Der Oberste Wächter, der die Macht an sich gerissen und die Zauberei verboten hat, ist auf der Suche nach dem Kind der Königin. Er weiß, dass es lebt, und dank einer Spionin weiß er nach zehn Jahren endlich auch wo. Die Familie Heap ist in großer Gefahr. Marcia, die mittlerweile zur Außergewöhnlichen Zauberin und damit zur wichtigsten Zauberin im Land aufgestiegen ist, nimmt sich der Sache an und bringt zusammen mit Silas das Königskind in Sicherheit. Für Jenna, die Familie Heap und Junge 412 von der Jungarmee, dem Marcia während ihrer Flucht das Leben rettet, beginnt damit ein aufregendes und ereignisreiches Abenteuer außerhalb der Burgmauern …

„Septimus Heap“ ist in vielerlei Hinsicht eine recht klassische Fantasygeschichte. Es gibt die altbekannte Schwarz/Weiß-Skizzierung der Welt, mit guter und böser Magie. Es gibt den altbekannten Kampf zwischen den guten (vertreten von Marcia Overstrand) und den dunklen Mächten (vertreten von DomDaniel, dem dunklen Magier und seinen Helfershelfern rund um den Obersten Wächter). Ähnlich wie beim „Herr der Ringe“ überschattet eine dunkle Bedrohung die Welt. Die dunklen Mächte strecken ihre Finger nach der absoluten Herrschaft aus.

DomDaniel thront über all dem als dunkler Mythos und ähnelt damit der Figur des Voldemort aus den „Harry Potter“-Büchern. Es findet sich so manche Parallele zu bekannten Fantasyerzählungen, und als Leser mag man erst einmal laut aufstöhnen, als Junge 412 während der abenteuerlichen Reise mit Marcia und den Heaps ganz zufällig auf einen mysteriösen magischen Ring stößt. Dennoch, „Septimus Heap“ als Abklatsch erfolgreicher Fantasyromane zu sehen, täte der Sache großes Unrecht.

Angie Sage schafft eine Welt, die recht eigenständig wirkt. Anders als bei „Harry Potter“ ist Sages Welt in sich geschlossen. Es besteht keinerlei Bezug zum Hier und Jetzt. Die Welt wirkt eher wie etwas Vergangenes. Manche Schilderungen erinnern an mittelalterliche Geschichten, insbesondere die Schilderungen des Lebens innerhalb der Burgmauern. Sage serviert also quasi ein Mittelalter mit einer saftigen Prise Magie.

Was man als Leser von vorneherein nicht vergessen darf ist, dass „Septimus Heap“ ein Kinderbuch ist. Wenn man die Handlung als Erwachsener relativ leicht durchschaut, dann kann man das schwerlich der Autorin ankreiden, nur weil sie, anders als beispielsweise J. K. Rowling, eine recht eng umrissene Zielgruppe hat. Wer mit einer Harry-Potter-Erwartungshaltung an die Lektüre von „Septimus Heap“ geht, der könnte somit enttäuscht sein, aber das macht das Buch nicht schlechter. „Septimus Heap“ ist eben ein „echtes“ Kinderbuch und damit auch wirklich in erster Linie für Kinder zwischen 10 und 12 Jahren geeignet.

Die Sprache ist recht einfach und leicht verständlich gehalten. Sage erzählt aber nicht nur kindgerecht, sondern auch auf sehr liebevolle Art und mit einem Augenzwinkern. Immer wieder regen Szenen zum Schmunzeln an, immer wieder erheitert Sage den Leser mit kleineren Tollpatschigkeiten der Figuren, mit witzigen Wendungen der Geschichte und einer feinen Prise Ironie.

Gleichzeitig entwickelt das Buch (zumindest für die junge Leserschaft) auch eine gewisse Spannung. Die Flucht von Marcia, Silas, Junge 412, Jenna und ihrem Halbbruder Nicko ist schon recht spannungsgeladen. Die Verfolger sind ihnen dicht auf den Fersen. Das Tempo der Handlung wird dadurch stetig angeheizt. Auch wenn der Handlungsverlauf für den erwachsenen Leser eher wenige Überraschungen bietet, so dürfte das Buch für Kinder durchaus fesselnd sein.

Wenn ich so an meine eigenen Kindertage zurückdenke, bin ich mir sicher, dass ich „Septimus Heap“ geliebt hätte. Es ist phantasievoll, gewitzt und spannend zugleich und damit für den kindlichen Leser hochgradig unterhaltsam. Hätte es das Buch damals schon gegeben, Angie Sage hätte gute Karten gehabt, Astrid Lindgren in meiner persönlichen Gunst den Rang abzulaufen.

Was „Septimus Heap“ obendrein so gelungen abrundet, sind die Figuren. Sage spickt ihre Handlung nicht nur mit einer intensiven Atmosphäre und phantasievollen Einfällen, sondern erschafft auch Figuren, die dem Leser schnell ans Herz wachsen. Von den Hauptfiguren geht viel Sympathie aus, die den Leser ansteckt. Man fiebert dadurch mit den liebevoll skizzierten Hauptfiguren mit. Liebenswert kehrt Sage die Macken der einzelnen Figuren heraus, besonders bei Marcia Overstrand und Silas Heap, und so, wie man über die Figuren schmunzelt, fühlt man auch mit ihnen.

Man kann „Septimus Heap – Magyk“ letztendlich gleichzeitig als Einzelwerk betrachten wie auch als Auftakt zu einer Trilogie. Die Handlung ist in sich relativ abgeschlossen, wenngleich der neugierige Leser natürlich wissen will, wie sich die Figuren weiterentwickeln und wie die Geschichte weiterverläuft. Man gewinnt halt nicht nur die Hauptfiguren lieb, sondern auch all die phantasievollen Geschöpfe, die in Angie Sages Welt sonst noch so herumgeistern: fleißige, gewissenhafte Botenratten, gutmütige Boggarts, pflichtbewusste, loyale Panzerkäfer und gemütliche, handzahme Steintiere.

Alles in allem ein gelungenes und phantasievolles Kinderbuch, das sich nicht hinter anderen Fantasywerken im Kinderbuchbereich zu verstecken braucht. Angie Sage weiß den Leser zu unterhalten. Die Figuren sind allesamt sympathisch (logischerweise abgesehen von den Bösewichten) und Sages Erzählstil ist leicht verständlich, aber auch mit einer gewissen Portion Witz ausgestattet. Fazit: schöne, kindgerechte Fantasyliteratur für Kinder und Junggebliebene, die neben anderen Werken wie [„Eragon“, 1247 „Harry Potter“ und Co. durchaus ihre Daseinsberechtigung hat. Wenn einem solche Bücher in die Hände fallen, möchte man gerne noch einmal Kind sein.

Website zum Buch: [septimusheap.de]http://www.septimusheap.de

Yves Jansen – Platzeks Häutung

Für viele mag Goethes „Faust“ eine recht angestaubte Angelegenheit sein. Dass sich aus dem Stoff eine lesenswerte Lektüre zaubern lässt, die gar nicht mal anstrengend sein muss, belegt Yves Jansen mit seinem Debütroman „Platzeks Häutung“.

Erik Platzek ist ein mittelmäßiger, eher unscheinbarer Mensch. Von der Ehefrau verlassen, lässt er seine Zahnarztkarriere hinter sich, um fortan in einer mitteldeutschen Kleinstadt als Buchantiquar zurückgezogen vor sich hin zu leben. An Wochenenden gönnt der Eigenbrödler sich immer wieder mal ein entspannendes Wochenende im Luxushotel „Baseler Hof“. Genau dort verbringt er eines Tages eine wilde Nacht mit der mysteriösen Lilith. Zu dem schüchternen Mittvierziger mag das so gar nicht passen.

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Goebel, Joey – Vincent

|Per aspera ad astra| – sinngemäß: ohne Leid kein Preis. Kunst kommt von Können, sagen die einen. Grundlage künstlerischen Schaffens ist das Leiden, sagen andere. Leid als Quelle der Inspiration. Für Vincent, die titelstiftende Hauptfigur in Joey Goebels Roman „Vincent“ (Originaltitel: „Torture the artist“), sieht so der Alltag aus. Goebels Roman überspitzt das Treiben der Unterhaltungsindustrie auf der Suche nach einem Weg zurück zu Kunst und Qualität.

Foster Lipowitz ist ein alter Medientycoon. Als Vorstandsvorsitzender des größten globalen Unterhaltungskonzerns hat er jahrzehntelang die Menschheit mit seichten Belanglosigkeiten in Form von Musik, Filmen und Fernsehserien überschüttet. Der oberflächliche Müll der Unterhaltungsindustrie, die immer gleich klingenden Popsongs, der immer gleich aussehenden Popsternchen und die sinnentleerten Leinwandspektakel aus Hollywood haben ihn reich gemacht. Doch vom Krebs gebeutelt, plagen den Mann auf dem Totenbett Gewissensbisse.

Nichts von dem, das er geschaffen hat, ist wirklich von Wert, nichts ist es wert, dass sich die Nachwelt daran erinnern wird, nichts hat die Kulturlandschaft wirklich bereichert. Aber Lipowitz hat einen Plan und die Macht, das zu ändern. Und so hebt Lipowitz ein neues Projekt aus der Taufe: New Renaissance. Das Ziel: Aus hochbegabten Kindern werden Künstler herangezogen, die wahre Meisterwerke erschaffen. Mit ihnen will Lipowitz Qualität und Kunst wieder dem unkritischen und anspruchslosen Mainstream zugänglich machen. Unterhaltung soll wieder niveauvoller werden.

Doch um wirklich große Kunst zu schaffen, müssen die Künstler leiden, denn woher sollen sie sonst ihre Inspiration nehmen. Und so stellt Lipowitz dem jungen Vincent, seinem vielversprechendsten Schüler, Harlan als Manager zur Seite. Der ist fortan als dunkler Schutzengel dafür verantwortlich, dass Vincent ordentlich was zu leiden hat. Dank Harlans gutem, aber stets fürsorglichem Händchen im Quälen und dank Vincents ausgesprochen großartiger Fähigkeiten im Leiden scheint das Projekt ein voller Erfolg zu werden.

Je mehr Vincents Leben in Kummer und Traurigkeit versinkt, desto brillanter wird seine Kunst. Seine Songs werden Hits, seine Fernsehserien Quotengaranten. Bei so viel Leid einerseits und so viel Erfolg andererseits ist das Leben für Vincent ein Wechselbad der Gefühle. Wie soll er dabei sein eigenes Glück verwirklichen? Hat das überhaupt eine Chance?

„Vincent“ ist ein Roman, der sich nicht so leicht in eine Schublade stopfen lässt. Ein eigenwilliges Buch, das sich jeder Kategorisierung zu widersetzen scheint. Die Marketingstrategen in den Chefetagen der Unterhaltungsindustrie, die Goebel mit seinem Roman kräftig aufs Korn nimmt, würden sein Buch wohl als „Tweener“ abstempeln. Ein Buch, das irgendwo einsam zwischen allen Zielgruppen umhertreibt. Keine Chance, so etwas zu vermarkten.

„Vincent“ ist von allem ein bisschen. Ein großer Löffel Satire, eine Prise Utopie, ein Spritzer thrillerhaftes Drama, abgeschmeckt mit einer Messerspitze Herz-Schmerz. „Vincent“ ist ein Roman, der sich jeglichem Vergleich zu entziehen scheint und der auf seine Art einzigartig ist. Nicht zuletzt auch deswegen ist die Lektüre ein ausgesprochener Genuss.

Wer vom Fernsehen enttäuscht ist, wer lieber Stille erträgt als das ewig gleich klingende Radiogedudel und wer im Kino beim Besuch des Action-Blockbusters des Jahres nur müde gähnt, der dürfte sich in „Vincent“ verstanden fühlen. Endlich mal ein Buch, das schonungslos und unterhaltsam den Finger in die Wunde der modernen, globalisierten Unterhaltungsindustrie legt. Alle, denen der Mainstream zuwider ist, werden ihre Abneigungen gegen Pop und Kommerz in diesem Buch manifestiert finden.

Auch Joey Goebel scheint einer dieser Mainstream-Verachter zu sein. Seinen ganzen Frust über die Belanglosigkeiten der Unterhaltungsindustrie scheint er in dieses Buch gelegt zu haben. Gnadenlos zieht er über Popkultur und Fernsehlandschaft her, verreißt Musiker und Fernsehshows und lässt dabei einen gnadenlosen Realitätsbezug erkennen. Diese Aufgabe fällt im Roman meist Harlan zu. Harlan scheint das fiktive Pendant zu Joey Goebel zu sein, was sich auch schon anhand biographischer Parallelen offenbart. Beide touren in jungen Jahren mit einer Band durch den Westen der USA. Beiden bleibt der musikalische Durchbruch verwehrt.

Harlan ist nach seinen ersten Gehversuchen als Musiker von der Unterhaltungsindustrie zutiefst enttäuscht. Seine Plattenkritiken für ein Musikmagazin fallen immer so brutal negativ aus, dass sein Arbeitgeber ihn schließlich feuert. Genau deswegen werden die Macher von New Renaissance auf ihn aufmerksam. Hier bekommt Harlan endlich die Chance, sich seinen Idealen entsprechend zu verwirklichen – als Don Quijote der Unterhaltungsindustrie. Natürlich bringt das moralische Bedenken mit sich. Die Förderung eines begabten Künstlers mag ein noch so edles Ziel sein, die Mittel von New Renaissance sind mehr als fragwürdig.

Harlan mag dafür eingestellt worden sein, Vincent zu quälen, dennoch kümmert er sich stets fürsorglich um den jungen Nachwuchskünstler. Das Verhältnis der beiden hat dadurch einen recht merkwürdigen Charakter. Man schließt Harlan als Leser dennoch ins Herz. Er ist sympathisch und man versteht ihn irgendwie. Harlan ist die eigentliche Hauptfigur. Er erzählt die Geschichte aus seiner Sicht.

Vincent bleibt mehr oder weniger blass. Eine gewisse Distanz bleibt zwar zu beiden Figuren bestehen, da auch Harlan sich nicht bis in den letzten Winkel seiner Seele schauen lässt, doch während man für Harlan in seiner Zwickmühle als Handlanger der Unterhaltungsindustrie und als Retter der Kultur noch Sympathie empfinden kann, bleibt Vincent ein wenig fremd und abstrakt. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Man kennt genügend leiderprobte Künstler, um sich ein Bild von ihm zu machen. Das Kurt-Cobain-Bild auf dem Buchdeckel ist da nur eine mögliche Assoziation, die sich aufdrängt.

Zu Beginn mag man „Vincent“ in erster Linie für eine Satire halten. Der Roman hat seine unverkennbar humoristischen und sarkastischen Seiten. Wenn Harlan in der Chefetage des weltweit wichtigsten Medienkonzerns durch die Fernsehkanäle zappt und gnadenlos über alles herzieht, was dort zu sehen ist, während ihm gegenüber die Menschen sitzen, die genau diesen Unsinn verzapft haben, so ist das schon ganz besonders erheiternd.

Aber darüber hinaus ist „Vincent“ auch die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen Künstler und Mentor, eine Geschichte um wahre Kunst und echte Künstler und nicht zuletzt ein Drama um Liebe, Schwermut, Verlust, Enttäuschung und Ausbeutung. „Vincent“ ist ein Roman, der wunderbar vielschichtig ist, der gleichermaßen unterhält und nachdenklich stimmt, der zum Lachen ermuntert und den Leser rührt.

Dass diese Mischung so gut aufgeht, ist besonders auch Goebels Stil zu verdanken. Ein wenig nüchtern mag er manchmal wirken. Immer wieder streut er Briefe ein oder E-Mails und Texte, die Vincent geschrieben hat. Wie Beweismittel in einem Gerichtsverfahren führt er diese Textschnipsel in seine Erzählung ein, die dadurch einen ganz eigentümlichen und authentischen Charme erhält. Als würde Harlan seine Beichte ablegen. Figuren werden immer wieder anhand ihrer Lieblingsband, ihrer Lieblingsfernsehsendung und ihres Lieblingsfilms vorgestellt und es ist erstaunlich, wie viel das über die jeweiligen Personen aussagt. Hier und da könnte Goebel seinen Stil sicherlich noch weiter verfeinern, aber auch so weiß er schon zu gefallen. Außerdem ist der Mann erst 25, was für die Zukunft noch auf einiges hoffen lässt.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Vincent“ ein außerordentlich erfrischendes und unterhaltsames Buch ist. Eine originelle Geschichte, die sehr gelungen mit einer Mischung aus Satire und Dramatik umgesetzt wurde. Für mich zählt das Buch schon jetzt zu den Toptiteln des Jahres. Joey Goebel ist ein Autor, den man sich ruhig merken sollte.

Lolly Winston – Himmelblau und Rabenschwarz

Der Tod ist gemeinhin eine ernste Angelegenheit – todernst sogar. Ein Buch, das sich der „Trauerarbeit“ einer Witwe widmet, muss folglich eine tieftraurige, trockene und gleichsam tränenfeuchte Angelegenheit sein. Aber muss es das wirklich? Dass ein Roman um Tod und Verlust durchaus leichtfüßig, unterhaltsam und witzig sein kann, beweist die Amerikanerin Lolly Winston mit ihrem Debütroman „Himmelblau und Rabenschwarz“.

Sophie Stanton ist 36, als ihr Mann Ethan an Krebs stirbt. Sie ist am Boden zerstört, fällt in eine tiefe Sinnkrise und hat Schwierigkeiten, die einfachsten Dinge des Alltags zu bewältigen. Freunde und Familie versuchen sie aufzubauen, schließlich geht das Leben weiter, doch Sophie mag das nicht glauben und droht zu verzweifeln.

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Hall, Sarah – Elektrische Michelangelo, Der

Sarah Hall ist international noch ein eher unbeschriebenes Blatt, in ihrer britischen Heimat wird sie allerdings schon als die |“vielversprechendste neue Stimme der englischen Literatur“ (The Independent)| gefeiert. Ihr Romandebüt „Haweswater“ wurde mehrfach ausgezeichnet und ihr Zweitwerk „Der Elektrische Michelangelo“ wurde 2004 gar für den Booker-Preis nominiert.

Cyril Parks ist der titelstiftende „Elektrische Michelangelo“. Anfang des letzten Jahrhunderts wächst Cy im Seebad Morecambe Bay an der englischen Nordwestküste auf. Seine Mutter führt direkt an der Bay ein Hotel, das überwiegend von lungenkranken Arbeiter aus den nahe gelegenen Industriestädten frequentiert wird. Cy, der schon immer ein talentierter Zeichner war, tritt in jungen Jahren eine Lehre bei Eliot Riley an. Keine gewöhnliche Lehre, schließlich dürfte Tätowierer kein anerkannter Ausbildungsberuf sein. Riley ist ein begnadeter Künstler, aber auch ein notorischer Trinker und ein draufgängerischer Querulant, der keinen guten Ruf genießt. Nur als Tätowierer ist seine Reputation tadellos.

Als Cys Mutter stirbt, nimmt Riley den Jungen ganz unter seine Fittiche. Cy lernt in dieser Zeit viel über die tiefen Abgründe des Lebens und die hohe Kunst des freihändigen Tätowierens. Als Riley dann in den 30er Jahren stirbt, packt Cy die Koffer und schifft sich nach Amerika ein. Sein neues Zuhause wird Brooklyn, der kunterbunte Schmelztiegel New Yorks. Als Tätowierer kommt Cy schon bald auf Coney Island unter, eine eigene Welt, wo das Können eines guten Tätowierer ein gefragter Dienst ist. Auf Coney Island herrscht der ewige Jahrmarkt vor den Toren New Yorks, mit Karussells und Freakshows, mit Zirkus und Hot Dogs.

Hier geht Cy seiner Arbeit nach, tätowiert Meerjungfrauen und Herzen auf Oberarme und trinkt abends im Varga, der Kneipe mit den siamesischen Kellnerinnen, einen Drink – bis die mysteriöse Zirkusakrobatin Grace mit einem äußerst ungewöhnlichen Auftrag an ihn herantritt und Cy sich in sie verliebt …

Schon inhaltlich erzählt Sarah Hall eine Geschichte, wie man sie nicht alle Tage vorgesetzt bekommt. Die Lebensgeschichte eines Tätowierkünstlers ist schon für sich genommen ein literarisch eher seltenes Vergnügen. Halls Figuren stehen fast allesamt am Rande des Gesellschaft. Menschen, die von der Masse belächelt werden, weil sie auf merkwürdige Art anders sind. Hall führt eine Reihe skurriler Figuren in die Geschichte ein. Der eigenbrötlerische Querulant Eliot Riley ist nur einer von ihnen. Auf Coney Island, im Trubel des ewigen Jahrmarkts, lernt Cy noch einige andere wunderliche Typen, allesamt Randerscheinungen der Gesellschaft, kennen. Da wären beispielsweise die siamesischen Zwillinge hinter dem Tresen des Varga, die an der Hüfte zusammengewachsen sind, da wäre das geradezu riesenhafte Pärchen Arthur und Claudia (er Tätowierer, sie Gewichtheberin) und da wäre die geheimnisvolle Grace, die ihre spärliche Wohnung mit ihren Pferd Maximus teilt.

Sarah Hall versteht es, den Leser größtenteils aufgrund ihrer Figurenbeschreibungen bei der Stange zu halten. Spannung im eigentlichen Sinn baut sie kaum auf. Sie unterhält den Leser einzig mit ihren sprachlichen Mitteln und der Figurenzeichnung. Und das ist absolut nicht langweilig. Cy wächst dem Leser schnell ans Herz und auch die übrigen Figuren gehen einem so schnell nicht aus dem Kopf.

Hall widmet sich einem faszinierenden Ausschnitt vom Rande der menschlichen Gesellschaft und erzählt dabei eine Geschichte, die dennoch mitten aus dem Leben gegriffen scheint. Halls Figuren haben Ecken und Kanten. Sie mögen noch so kurios erscheinen und noch so sonderbar wirken, sie wirken dennoch echt. Jeder trägt seine eigene dunkle Seite in seiner Seele, jeder Charakter hat ausgeprägte helle wie dunkle Züge. Die Figuren, die als ganz wesentlicher Bestandteil die Geschichte tragen, sind einer der unumstößlich positiven Aspekte des Romans.

Coney Island mit seinen merkwürdigen Freakshows, die stets darauf bedacht waren, die Andersartigkeit der Darsteller auf dem Silbertablett zu präsentieren, war zur damaligen Zeit für die Menschen ein Fenster zu weiten Welt. Man sah dort Dinge, die man sonst nirgends zu sehen bekam, von Missgebildeten bis zu Kleinwüchsigen. Man konnte staunen und sich ekeln, so dass von der ganzen Insel auch etwas Faszinierendes ausging. Im Zeitalter des aufkommenden Fernsehens und mit zunehmender Abstumpfung der Betrachter, wurden in den 50ern auch nach und nach die Attraktionen von Coney Island eingemottet. In der Rückschau betrachtet, sind sie ein faszinierendes Phänomen, das ein wunderbares Setting für einen Roman bildet und dessen Sarah Hall sich hier bedient.

Eine ähnliche Faszination geht vom Tätowieren an sich aus. Cy ist zu einer Zeit aufgewachsen, als höchstens Seeleute und zwielichtige Gestalten Tätowierungen trugen. Die Kunst, die Cy erlernt, hat einen verruchten, dunklen Charakter, der eine gewisse Faszination abstrahlt. Hall beobachtet das bunte Treiben im Tätowierstudio von Eliot Riley, erzählt kuriose Geschichten um Tätowierungen und Tätowierte, Geschichten zwischen Schönheit, Schmerz und Leidenschaft.

Doch nicht nur die Geschehnisse auf Coney Island und im Tätowierstudio von Morecambe Bay sind interessant erzählt, auch Cys Kindheit ist erzählerisch eine sehr gute Leistung. Der Grund liegt vor allem in Sarah Halls herausragender sprachlicher Fingerfertigkeit. Virtuos jongliert sie mit Worten und zeichnet im Kopf des Lesers farbenprächtige und plastische Bilder – ähnlich unauslöschlich, wie die Bilder, die Cy seinen Kunden mit der Nadel in die Haut ritzt.

Unumstößlicher Mittelpunkt der Geschichte ist Cy. Weitestgehend geht es um seine Arbeit. Sein Gefühlsleben verläuft eher unspektakulär. Er ist ein Einzelgänger, der nicht viele Kontakte pflegt. Eine solche Hauptfigur mag im ersten Moment etwas langweilig wirken, aber Cy geht seinen Weg und der Leser nimmt daran Anteil. Mit dem ersten Auftauchen von Grace kriegt die Geschichte dann genau das, was ihr bisher fehlte. Cy verliebt sich in sie und sie wird innerhalb der Handlung zu seinem Gegenpol. Sie bleibt stets geheimnisvoll, scheint etwas Magisches an sich zu haben, das nicht nur Cy fasziniert, sondern auch den Leser.

Etwas überraschend entwickelt sich der Roman auf den letzten 70 Seiten. Plötzlich kippt die Handlung, tragische Ereignisse nehmen ihren Lauf und erzeugen eine ganz eigene Spannung, die die Handlung zuvor nicht hatte. Es ist ein sehr deutlicher Bruch und im ersten Moment ist man versucht, ihn als unpassend zu schelten. Je näher dann allerdings das Finale rückt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass das Buch genau so eine Wendung vielleicht auch braucht. Der Bruch in der Handlung hat einen gewissen Schockeffekt, aber er hat auch auf Figuren und Handlung genau diese Wirkung und es ergeben sich daraus Dinge, die man bei den Figuren anfangs nicht für möglich gehalten hätte.

Am Ende sind es alle großen menschlichen Gefühle, die der Roman in sich vereint, und das hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. In „Der Elektrische Michelangelo“ spiegeln sich viele Facetten von Liebe, Schmerz und Lebensphilosophie, sowie die dunklen und auch die hellen Seiten der menschlichen Seele wider. Der Roman bekommt dabei trotz seiner kuriosen, „unnormalen“ Figuren etwas Universelles und schafft es deswegen auch, den Leser zu berühren. Letztendlich sind die Typen aus den Freakshows auf dem Jahrmarkt und die tätowierten Sonderlinge auch nur Menschen wie du und ich …

Bleibt unter dem Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Sarah Hall zeichnet sich durch einen wunderbaren, geradezu virtuosen Umgang mit Worten aus. Geschickt zeichnet sie mit Worten lebhafte Bilder und lässt die Lektüre zu wahrem Kopfkino werden. Liebevoll entwirft sie skurrile, aber liebenswürdige Figuren mit Ecken und Kanten, die so wirken, als wären sie direkt aus dem Leben gegriffen. Sie spiegelt die Facetten der menschlichen Emotionen wider und gibt ihrem Roman damit trotz der „Randgruppenthematik“ einen universellen Anstrich. Und zu guter Letzt widmet sie sich auch der geheimnisvollen Frage, was an in die Haut gestochenen Bildern so besonders und faszinierend ist.

http://www.liebeskind.de/

Pearl, Matthew – Dante-Club, Der

|“Hier sei jedweder Argwohn weggebannt,
Und jede Feigheit sterb‘ an diesem Orte.
Wir sind zur Stelle, die ich dir genannt,
Hier wirst du jene Jammervollen schauen,
Für die das Heil des wahren Lichtes schwand.“|
(Dante – „Göttliche Komödie“)

[Dante]http://de.wikipedia.org/wiki/Dante__Alighieri hat mit seiner „Göttlichen Komödie“ ein eindringliches Höllen-Szenario heraufbeschworen, das nicht nur zur damaligen Zeit bleibenden Eindruck hinterließ. Die „Divina Commedia“, Dantes Lebenswerk, mit dem er Jahre seines Lebens verbrachte, ist nicht im heutigen Sinne eine Komödie, sondern eher ein Werk, dem es an einem tragischen Helden mangelt und das deswegen zu seinem Titel kam.

Dante beschreibt in seiner 1321 vollendeten „Göttlichen Komödie“ seine Reise (die er angeblichen im Jahr 1300 persönlich und tatsächlich angetreten haben will) durch die drei Reiche der Toten: die Hölle (Inferno), das Fegefeuer (Purgatori) und das Paradies (Paradiso). Dort begegnet Dante vielen berühmten Persönlichkeiten. Dantes Reisebegleiter durch die neun Kreise der Hölle und das Fegefeuer ist der römische Dichter Vergil.

Dantes Werk, das mittlerweile als absoluter Klassiker der Weltliteratur anzusehen ist, dürfte schon die Phantasie so mancher Autoren beflügelt haben. Einer, der das Thema Dantes in einen überaus spannenden historischen Thriller verpackt hat, ist der Amerikaner Matthew Pearl. Matthew Pearl entpuppt sich schon beim Blick auf seine Biographie als prädestiniert für einen solchen Roman, gingen seinem Debütroman „Der Dante Club“ doch wissenschaftliche Arbeiten über Dante voraus, die von der |Dante Society of America| ausgezeichnet wurden.

_“Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren“_

Boston 1865: Der Dichter Henry W. Longfellow arbeitet an der englischen Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Woche für Woche trifft er sich zusammen mit den übrigen Mitgliedern des frisch gegründeten Dante Clubs zum Diskutieren und Korrigieren seiner jüngst übersetzten Passagen. Zum Dante Club zählen neben Longfellow der Dichter und Harvardprofessor James Russell Lowell, der Autor und Professor für Anatomie Dr. Oliver Wendell Holmes, der alternde Reverend Greene und der einflussreiche Verleger J. T. Fields – allesamt Dante-Verehrer, die versuchen, Dantes Lebenswerk der amerikanischen Bevölkerung gegen die heftigen Widerstände aus Bostons traditionalistischen akademischen Kreisen zugänglich zu machen.

Gleichzeitig macht sich ein Unbekannter daran, Dante auf seine ganz eigene Art zu „übersetzen“ – wesentlich plastischer als es in der Studierstube Longfellows geschieht, aber dafür auch umso blutiger. Ein Serienmörder setzt eiskalt und geradezu detailbesessen die in Dantes „Inferno“ beschriebenen Höllenqualen in die Tat um. Einflussreiche Persönlichkeiten fallen seinen grausamen Taten zum Opfer und während die Stadt in Angst und Schrecken erzittert, ist die Polizei ratlos und tritt auf der Stelle.

Nur die Mitglieder des Dante Clubs durchschauen das Muster der Taten. Doch wie kommt der Täter an sein Wissen über Dante und das „Inferno“, wo die „Göttliche Komödie“ doch noch gar nicht übersetzt ist? Longfellow und seine Kollegen machen sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem unbekannten Dante-Kenner …

_“Dahin, wo Stille lautem Tosen wich,
Und dorthin, wo nichts leuchtet, schritt ich weiter.“_

|“Raffinierte Handlung, klassische Motive, gelehrte Figuren … dieses Buch muss man einfach lieben!“| Mit solch überschwänglichen Worten lobt Dan Brown, Autor von [„Sakrileg“, 184 Matthew Pearl als |“den leuchtenden neuen Stern am Literaturhimmel“|. Etwas übertrieben mag das klingen, aber bei genauerer Betrachtung bleibt einem kaum eine andere Wahl, als Dan Brown, zumindest mit Blick auf den Roman, beizupflichten. „Der Dante Club“ ist in der Tat ein Thriller, der im Gedächtnis haften bleibt und der aufgrund seiner Vielschichtigkeit Eindruck schinden kann.

Pearls Roman liegt eine große Kennerschaft der historischen Umstände zugrunde. Seine Hauptfiguren sind reale historische Figuren und die Tatsache, dass Pearl englische und amerikanische Literatur in Harvard und Yale studiert hat, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Mann weiß, wovon er spricht. Die Mitglieder des Dante Club (allesamt historische Figuren der amerikanischen Literatur) wirken allesamt sehr plastisch. Auch das gesellschaftliche Leben in den gelehrten Bostoner Kreisen sowie insbesondere das Innenleben des akademischen Apparates der Eliteuniversität Harvard werden sehr lebendig geschildert.

„Der Dante Club“ ist ein Sammelsurium vieler historischer und literaturgeschichtlicher Aspekte, die die Thrillerhandlung bereichern. Der Roman entwickelt dadurch neben einem spannenden Thrillerplot auch eine beachtliche Tiefe. Der Leser nimmt nach der Lektüre Wissen mit, das er vorher eventuell noch nicht hatte. Eine spannungsgeladenere und fesselndere Einführung in Dantes „Göttliche Komödie“ wird man wohl kaum finden, als man sie von Pearl präsentiert bekommt.

Während seine historisch verbrieften Protagonisten Zigarre rauchend vor dem knisternden Kamin über Leben und Wirken Dantes diskutieren und ihre Interpretation seiner „Göttlichen Komödie“ zum Besten geben, wird ganz nebenbei auch der Leser immer tiefer in den Plot hineingezogen. Pearl gelingt der Balanceakt zwischen der Vermittlung historischer und literarischer Hintergründe und einem nervenaufreibenden Thriller. Das Ergebnis ist gehaltvolle Spannungslektüre, an die man gerne zurückdenkt.

Dabei muss man Pearl als Leser zugegebenermaßen eine gewisse Aufbauphase für Hintergründe, Plot und Figuren zugestehen. Nach dem ersten Höhepunkt des „Eröffnungsmords“ widmet sich Pearl erst einmal ausgiebig seinen Protagonisten und dem Zwist zwischen den obersten Harvardvertretern und dem Dante Club um die Veröffentlichung der Übersetzung der „Göttlichen Komödie“. Mit dem nächsten Mord zieht Pearl dann kontinuierlich die Spannungsschraube an. Der Dante Club beginnt mit ersten Nachforschungen, die die Spannung stetig ansteigen lassen und in ein Finale münden, das in einem dramatischen Wettlauf zwischen dem Mörder und seinen Häschern gipfelt, und allerspätestens dann kann man das Buch nicht mehr zur Seite legen.

Der Leser tappt bei der Lösung weitestgehend im Dunkeln. Die Morde werfen eine Vielzahl offener Fragen auf und die Lösung, die Pearl am Ende präsentiert, beantwortet sie durchaus zufrieden stellend. Er setzt im Finale ein riesiges Puzzle zusammen, in dem jede Komponente des Romans ihren Platz findet. Jede Facette der Geschichte bekommt dabei ihre Bedeutung und man kommt nicht umhin, die Konstruktion des Plots zu loben. Pearl lässt sich so leicht nicht in die Karten gucken und hält dadurch die Spannung bis zum Finale aufrecht.

Was den Roman neben seinen realen historischen Hauptfiguren und dem Bezug zu Dantes „Göttlicher Komödie“ so interessant macht, ist die Atmosphäre des Jahres 1865. Boston ist gebannt von den Eindrücken des Sezessionskrieges, stetig strömen mehr irische Einwanderer in die Stadt und der öffentliche Nahverkehr kommt mit fortschreitender Geschichte durch eine grassierende Pferdeseuche fast vollständig zum Erliegen. Solche historischen Rahmenbedingungen prägen die Atmosphäre des Romans und sind die besondere Würze des Plots.

Sprachlich ist das Ganze recht leicht verdaulich. Pearls Stil lädt dazu ein, das Buch binnen kurzer Zeit zu verschlingen. Was den Lesefluss hin und wieder allerdings etwas ins Stocken bringt, ist das Fehlen von Absätzen. So nimmt man radikale Handlungssprünge teils nicht auf den ersten Blick wahr, einfach, weil der Text nach einem Zeilenumbruch einfach weiterläuft. Ob das ein Problem speziell dieser Ausgabe ist oder ein ganz allgemeines, vermag ich nicht zu beurteilen.

Auch der zeitliche Rahmen insgesamt droht einem während der Lektüre ab und zu mal ein wenig abhanden zu kommen. Pearl liefert insgesamt einfach zu wenig Indizien, anhand derer der Leser sich den gesamten zeitlichen Rahmen vor Augen führen kann, und so ist man manchmal überrascht, dass zwischen verschiedenen Ereignissen viele Tage oder nur wenige Stunden liegen. Aber das ist ein eher kleiner Schönheitsfehler, der lediglich zu Abzügen in der B-Note führt.

_“Nie ruht der Höllenwirbelwind vom Toben
Und reißt zu ihrer Qual die Geister fort“_

Alles in allem ist „Der Dante Club“ ein Roman, der sehr positiv im Gedächtnis bleibt. Der Plot ist sauber konstruiert, die Atmosphäre des Jahres 1865 wirkt sehr lebendig, ebenso wie Pearl seine historisch real existenten Protagonisten sehr glaubwürdig zum Leben erweckt. „Der Dante Club“ ist in jedem Fall ein Buch, das nicht nur unterhält, sondern dem Leser auch noch Wissen mit an die Hand gibt. Wer vorher noch nicht viel über Dante und seine „Göttliche Komödie“ wusste, erhält dank Pearls so unterhaltsam eingewobener Hintergründe zu diesem Thema eine ganz ordentliche Einführung.

Somit liefert Matthew Pearl mit seinem Debütroman außerordentlich lehrreiche und fesselnde Spannungslektüre ab. Wer „Die Einkreisung“ von Caleb Carr mochte, der wird Pearls „Dante Club“ lieben, denn Pearl erzählt straffer und weniger langatmig als Carr, aber ganz gewiss nicht weniger spannend: historisch, lehrreich, raffiniert und fesselnd.

[Die deutsche Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“ bei Wikipedia]http://de.wikisource.org/wiki/Dante__-__Goettliche__Komoedie

Website zum Roman: [thedanteclub.com]http://www.thedanteclub.com

[Unsere Rezension der Hörbuchfassung 406

Gaiman, Neil / McKean, Dave – Wölfe in den Wänden, Die

Neil Gaiman ist ein faszinierend vielseitiger Autor. Er schreibt für Erwachsene wie auch für Kinder, er schreibt Romane, Bilderbücher und Comics und zeichnet sich dabei immer wieder durch eine blühende Phantasie aus. Skurrile Figuren, sonderbare Halbwelten, irgendwo zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit – das sind Gaimans unverkennbare Stärken.

Auch „Die Wölfe in den Wänden“ passt da ins Konzept und ist doch ein gänzlich eigenständiges Werk: Ein Bilderbuch, das dank der Illustrationen von Dave McKean ein so schöner visueller Augenschmaus ist, dass man es gerne mehrmals zur Hand nimmt, auch wenn die Geschichte schnell erzählt ist.

Lucy lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem alten Haus. Immer wieder hört sie aus den Wänden merkwürdige Geräusche und glaubt zu wissen, wer dafür verantwortlich ist: Wölfe, die in den Wänden wohnen. Natürlich glaubt ihr niemand. Was soll dort schon durch die Wände krabbeln? Mäuse vermutlich, schlimmstenfalls Ratten, aber doch keine Wölfe!

Doch eines Nachts wird die Familie eines Besseren belehrt und es passiert genau das, was Lucy befürchtet hat: Die Wölfe kommen aus den Wänden. Die Familie flieht in Panik in den Garten, fügt sich ohne Widerspruch in ihr Schicksal und überlässt den Wölfen das Feld. Jedes Kind weiß schließlich, dass alles vorbei ist, wenn die Wölfe aus den Wänden kommen. Nur Lucy ist nicht bereit, das lieb gewonnene Heim aufzugeben. Sie will nicht tatenlos mit ansehen, wie die Wölfe die Herrschaft über das Haus übernehmen. Also schmiedet Lucy einen Plan …

„Die Wölfe in den Wänden“ klingt zunächst einmal wieder nach einem Märchen mit typisch Gaiman’schem Gruselfaktor. Ähnlich wie bei [„Coraline“,]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1581 steht im Mittelpunkt der Handlung ein kleines Mädchen, das sich dem Schrecken in den eigenen vier Wänden stellt. Scheinbar furchtlos stellt sich Lucy den Wölfen entgegen, ähnlich furchtlos, wie Coraline den Kampf mit der falschen Mutter aufnimmt. Doch während Coraline sich auf ein Kräftemessen mit ungewissem Ausgang einlassen muss, ist das Problem für Lucy schnell beseitigt, nachdem es erst einmal angegangen wird.

„Die Wölfe in den Wänden“ ist eben nur ein 56-seitiges Bilderbuch und kann somit kaum die erzählerische Komplexität eine Romans erreichen. Gaiman erzählt von Lucys Kampf gegen die Wölfe in wenigen, aber durchaus einprägsamen Worten. Auch wenn sich die Geschichte auf den ersten Blick nicht unbedingt durch eine erzählerische Tiefe auszeichnet, so liegt in den wenigen Seiten mit den intensiven Bildern und den punktgenauen Sätzen dennoch eine unverkennbare Botschaft, aus der der Leser seine Lehren ziehen kann.

Während Lucys Eltern sich in ihr Schicksal fügen, ohne etwas gegen die Invasion der Wölfe unternehmen zu wollen, während sie sich erst gar keine Hoffnungen machen, die enttäuscht werden könnten, weil ja alle sagen, dass es sich nicht lohnt, sich Hoffnungen zu machen, zeigt Lucy, dass man mit Mut und Tatendrang etwas bewegen kann. Sie zeigt, dass sich bestimmte ideelle Werte nicht so einfach ersetzen lassen, dass es sich lohnt, um das zu kämpfen, was einem am Herzen liegt.

Bilder und Text vermitteln die enthaltene Botschaft sehr eindringlich. Die sprachlichen und die visuellen Mittel fügen sich sehr überzeugend zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Es ist nicht die erste Zusammenarbeit von Neil Gaiman und Dave McKean, und dass die beiden sich sehr gut ergänzen, macht „Die Wölfe in den Wänden“ zu einem besonderen Lesevergnügen.

McKeans Zeichnungen sind gleichzeitig sonderbar realistisch und plakativ. Gesichter wirken ein wenig zweidimensional, teilweise blass oder gar leer, dennoch wird Lucys Angst vor den Wölfen, die sie in den Wänden hört, greifbar. Einzelne Bildbestandteile sind Fotos entliehen und sie geben den Zeichnungen ihren teils sonderbar realistischen Charakter. Unterbrochen wird dieser Stil immer wieder von wüsten Schraffuren, die den Ausbruch der Wölfe begleiten. Die Farben sind insgesamt eher düster gehalten, so dass die Geschichte durchaus eine unheimliche und finstere Seite entwickelt. McKeans Stil ist schon eigenwillig und von einer Art, die den Grusel der skurrilen Halbwelten im Stile eines Neil Gaiman sehr gut ergänzt.

Was bei der Lektüre indes nicht so ganz klar wird, ist die Zielgruppe des Buches. Von der Einfachheit der Texte und der Botschaft der Geschichte ausgehend, ist „Die Wölfe in den Wänden“ durchaus eine kindgerechte Erzählung. Sie enthält sicherlich einige Szenen, bei denen so manches Kind sich fürchten mag, ist aber insgesamt nicht ganz so gruselig wie „Coraline“, das Gaiman ebenfalls für Kinder geschrieben hat. Der Verlag hält sich mit Altersangaben bedeckt und bietet bei einer Orientierung somit keine Hilfestellung, dennoch erscheint mir „Die Wölfe in den Wänden“ eher als ein Märchen für Kinder, das auch Erwachsene lesen können, als dass es auf eine ältere Zielgruppe zugeschnitten ist.

Etwas bedauerlich bleibt, dass das Lesevergnügen aufgrund der Kürze der Geschichte so schnell vorbei ist. Das ist umso bedauerlicher, wenn man den doch sehr hohen Preis von € 18,- für dieses dünne Büchlein im Hinterkopf behält. Der dürfte vermutlich dafür sorgen, dass „Die Wölfe in den Wänden“ einen geringeren Bekanntheitsgrad erlangen wird, als das Buch eigentlich verdient hätte.

„Die Wölfe in den Wänden“ ist ein schönes, faszinierendes, eigenwilliges und skurriles Bilderbuch. Ein Märchen mit dem gewissen Etwas und eine Geschichte, die eine unverkennbare Botschaft transportiert. Ein Büchlein, das gleichermaßen für Kinder wie für Erwachsene geeignet ist, und eine Geschichte, über die man am Ende nachdenken und reden kann. Nur schade, dass das Buch aufgrund des hohen Anschaffungspreises wohl höchstens eingefleischte Gaiman-Fans erreichen wird. Wirklich schade, eigentlich.

Fuchs, Kirsten – Titanic und Herr Berg, Die

Eine „Amour fou“ in Zeiten sozialer Kälte verspricht der Klappentext zu Kirsten Fuchs‘ Debütroman „Die Titanic und Herr Berg“. Radikal soll er sein, erotisch und hart am Abgrund. Das trifft im Groben und Ganzen durchaus zu, erfordert bei näherer Betrachtung aber noch einiges an Differenzierung.

Fuchs erzählt die Geschichte einer Liebesbeziehung: Tanja (vermutlich Mitte 20 – so ganz deutlich wird das nicht), Sozialhilfeempfängerin, unkonventionell und weltverklärend, lernt beim Behördengang Peter kennen, der auf der anderen Seite des Sozialamtsschreibtisches sitzt. Peter ist 42, zweifach geschieden, zweifacher Vater, beziehungsunfähig und von der beruflich bedingten Überdosis Wirklichkeit abgestumpft.

Tanja ist sofort hin und weg von Peter, sieht ihn als ihren Mann fürs Leben an. Peter lässt sich darauf ein, will aber von Liebe gar nichts wissen. Während sie in die Beziehung immer mehr Hoffnungen steckt, ist sie für ihn eine rein sexuelle Angelegenheit und zumindest in der Hinsicht stimmt die Gleichung – beide fühlen sich wahnsinnig stark zueinander hingezogen.

Doch je länger die Beziehung dauert, desto mehr ist Tanja sich ihrer Sache sicher, dass Peter ihr Ein und Alles ist und sie zusammen den Rest ihrer Lebens verbringen werden. Doch was soll daraus werden, wo Peter von Beziehungen doch gar nichts wissen will?

Schon der etwas unkonventionelle Titel deutet an, dass „Die Titanic und Herr Berg“ kein Roman von der Stange ist. Sprachlich verspielt und so phantasievoll wie die weibliche Hauptfigur erscheint der Roman somit auch auf den ersten Seiten. Kirsten Fuchs‘ Stil ist sehr eigenwillig, verspricht zunächst aber ganz erfrischende und unterhaltsame Lektüre. Spielerischer Umgang mit Satzbau und Formulierungen, ein sehr deutlicher Hang zu Wortspielereien und Doppeldeutigkeiten mit einer gewissen Portion Witz – man ist anfangs wirklich versucht zu glauben, dass „Die Titanic und Herr Berg“ ein toller Roman sein könnte.

Doch leider täuscht der erste Eindruck. Obwohl ich Bücher mit Sprachwitz und Doppeldeutigkeiten mag, und obwohl ich auf den ersten Seiten noch das eine oder andere Mal über Kirsten Fuchs‘ bildhafte Sprache geschmunzelt habe – mit der Zeit wurde die Lektüre immer anstrengender. Anfangs freut man sich durchaus noch über gelungene Sätze wie diese hier: |Ich habe am häufigsten in meinem Leben das Wort „ich“ gesagt und das Wort „und“. Ich sage sehr oft „ich“. Das ist mein Lieblingssatzanfang. Ich, ich, ich bin nicht eloquent. Ich bin der Mittelpunkt meines Mittelpunktes und definiere an mir angepflockt wie eine Ziege einen kleinen Radius um mich herum.| (S. 8)

Je weiter sich die Geschichte allerdings hinzieht, desto zäher wird leider auch die Lektüre. Kirsten Fuchs‘ sprachliche Mittel wirken mit der Zeit ermüdend. Ihr Satzbau wirkt ein wenig gekünstelt, manchmal ein wenig wie mit der Brechstange zurechtgebogen und bemüht um jeden noch so kleinen Wortwitz. Darunter leidet des Öfteren der Lesefluss. Die künstlerische Verspieltheit, die anfangs noch so erfrischend wirkt, mündet immer mehr in eine träge, schwere Künstlichkeit. Man gewinnt den Eindruck, dass die Autorin sich mitsamt ihrer Figuren hinter einem Wall gekünstelten, anstrengenden Satzbaus verschanzt und den Leser nicht an sich heranlässt. Die Figuren bleiben genauso blass und fremd, wie die sprachliche Frische schon nach wenigen Kapiteln verpufft.

Fuchs hält ihre Figuren auf Distanz zum Leser. Man kommt einfach nicht an sie heran, kann sie schlichtweg nicht verstehen und somit auch absolut nicht mit ihnen mitfiebern. Sie bieten nur wenige Identifikationspunkte. An Peter kann man noch so manches nachvollziehen, aber in Tanja gipfelt die Kluft zwischen Leser und Figuren sehr deutlich. Man erfährt zu wenig über sie. Trotz der gewählten Sichtweise des ständig wechselnden Ich-Erzählers, der mal aus Peters und mal aus Tanjas Perspektive berichtet, gelingt es kaum, sich ein nachhaltiges Bild von Tanja zu machen. Erst spät erzählt Kirsten Fuchs etwas aus Tanjas Leben, so richtig begreifbar wird die Figur dadurch zu diesem späten Zeitpunkt aber auch nicht mehr. Eine Sozialhilfeempfängerin, die den 100-Euro-Schein, den ihr ihre Freundin reicht, einfach aus dem Autofenster flattern lässt, die sich mitten im Winter in der leeren Straßenbahn bis auf den BH auszieht – da hapert es einfach ganz grundsätzlich an der Greifbarkeit der Figur. Man kann über sie rätseln, aber man kann sie nicht verstehen.

Peter wirkt daneben schon menschlicher. Während Tanja weltfremd und absonderlich erscheint, nichts in ihrem Leben geregelt bekommt, wenn nicht einer ihrer Freunde für sie die Dinge in die Hand nimmt, steht Peter mit beiden Beinen auf dem Boden. Er steht schon ein bisschen zu sehr auf dem Boden der Tatsachen, denn irgendwo im Laufe seines bisherigen Lebens scheint ihm da etwas ganz Grundsätzliches verloren gegangen zu sein. Seine Grundeinstellung ist eine eher pessimistische, sein Selbstwertgefühl nicht der Rede wert und sein Alltag eher trostlos. Aber zumindest kann man ihn halbwegs verstehen.

Letztendlich ist der Gegensatz zwischen den Hauptfiguren einer, der Potenzial für eine spannungsreiche Liebesgeschichte bietet. Aber dieses Potenzial nutzt Kirsten Fuchs leider nicht so geschickt aus, wie man es tun könnte. Da die Sprache eine Distanz zum Leser schafft, die Figuren dadurch nicht mitzureißen wissen, kommt auch der spannungsreiche Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren nicht so stark zum Tragen. Schade eigentlich.

Da Kirsten Fuchs viel Gewicht auf sprachliche, sich verflüchtigende Effekte legt, kann auch die restliche Geschichte nicht so recht zünden. An manchen Stellen wirkt das Geschriebene geradezu belanglos (|“Erst ist Montag und dann ist Dienstag. Und welch ein Wunder, dann ist Mittwoch.“| S. 43, |“Die Mülltonnen stehen noch da, wo die Mülltonnen immer stehen.“| S.74). Teilweise ist es aber weniger das Beschriebene, was stört, sondern mehr die Art, wie es geschrieben ist.

Anstrengend umständlicher Satzbau und eine Grammatik, die manchmal zum Haareraufen ist. Dass man beispielsweise in einem Satz nach „brauchen“ den Infinitiv mit „zu“ bildet, scheint Kirsten Fuchs entweder nicht zu wissen oder kategorisch zu ignorieren. Vielleicht soll es auch nur die grammatikalische Unwissenheit ihrer Hauptfigur Tanja ausdrücken, wer weiß. Auch ansonsten stolpert man immer wieder über einen Satzbau, für den einem jeder Deutschlehrer die Ohren lang ziehen würde: |“Holger meinte, es sei billiger, ich würde die Rückfahrkarte in Prag kaufen, aber wenn das Geld alle ist, kann sein, es reicht nicht mehr für eine Rückfahrkarte.“| (S. 208) Und so wird das Buch mit zunehmender Seitenzahl stetig anstrengender und ermüdender und der Leser mit der Zeit ein wenig genervt. Die Lektüre von „Die Titanic und Herr Berg“ erfordert nicht nur Geduld, sondern auch Durchhaltevermögen.

Das Ganze gipfelt dann in einem Finale, das uns für all das mühsam aufgebrachte Durchhaltevermögen leider noch nicht einmal anständig entschädigt. Nachdem ich das Buch am Ende zugeschlagen hatte (und zumindest über diesen Umstand doch recht glücklich war), saß ich noch eine ganze Weile mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn da. Das Fragezeichen wich aber auch später keiner Erkenntnis.

Tanja beweist in dem Buch mehrfach, dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und eine ganz gute Lügnerin ist. Insofern wird leider auch nicht deutlich, welche Teile der finalen Handlung man nun ernst nehmen kann bzw. muss und welche nur ihrer Phantasie entsprungen sind. Tanja verabschiedet sich aus der Handlung, ohne auch nur einen Funken Sympathie erzeugt zu haben und ohne auch nur eine Winzigkeit verständlicher geworden zu sein. Und auch Peters Abgang bleibt seltsam diffus.

Alles in allem habe ich das Buch am Ende ziemlich enttäuscht aus der Hand gelegt. Nach einem recht vielversprechenden Start entwickelt sich Fuchs‘ Schreibstil zunehmend anstrengend und ermüdend. Die Figuren wissen nicht mitzureißen und bleiben dem Leser fremd und auch der Schluss lässt den Leser verwirrt und unzufrieden zurück. Ein Buch, das eine Handvoll schöner Momente aufweist, die einen zum Schmunzeln bringen, und das immer dann, wenn Kirsten Fuchs die Geschichte einfach mal ohne viel sprachliche Künstlichkeit laufen lässt, ganz ordentlich in Fluss kommt, aber über diese paar hellen Momente hinaus leider doch eher düster im Gedächtnis bleibt. Schade eigentlich, denn Potenzial wäre da gewesen.

Farmer, Nancy – Skorpionenhaus, Das

Eine düstere Version der Zukunft skizziert Nancy Farmer in ihrem Roman „Das Skorpionenhaus“. Fortschreitende biotechnologische Entwicklung, Klonen, Organhandel, ausbeutende Gesellschaftsstrukturen, Umweltverschmutzung und ungerechte politische Machtstrukturen thematisiert Farmer in ihrer Geschichte und legt damit den Finger in die Wunden unserer Zeit. „Das Skorpionenhaus“ wirft für ein Jugendbuch überraschend viele Fragen und Gedanken auf, ist vielschichtig und komplex und obendrein spannend. Kein Wunder, dass ein solches Werk nicht unbemerkt bleibt. In den USA konnte Nancy Farmer den |National Book Award| einstreichen, hierzulande gab’s noch den renommierten deutschen Jugendbuchpreis „Buxtehuder Bulle“ obendrauf.

„Das Skorpionenhaus“ erzählt die Geschichte von Matt Alacrán. Matt ist kein gewöhnliches Kind. Matt ist ein Klon des Drogenbarons und Diktators Matteo Alacrán, auch El Patrón genannt. El Patrón hat an der Grenze zwischen Atzlan (heute wohl eher unter dem Namen Mexiko geläufig) und den USA ein eigenes Imperium aufgebaut. Im Volksmund heißt sein Land Opium und der Name ist Programm. El Patrón beliefert von seinen Ländereien aus die ganze Welt mit Opium und hat damit ein Vermögen verdient. Als Patriarch ist El Patrón gefürchtet und an Macht hat er nichts eingebüßt, auch wenn er mittlerweile über 140 Jahre alt ist.

In diesem Land wächst Matt auf und hat als Klon ein schweres Leben. Niemand respektiert ihn; wo er hinkommt, löst er bestenfalls Missfallen, schlimmstenfalls gar Ekel aus. Viele zählen ihn eher zum Vieh, als dass sie einen Mensch in ihm sähen. Nur einer hält zu ihm: El Patrón, der den Jungen hütet wie seinen Augapfel. Kontakt hält er außerdem zu der kleinen María, die ihn zwar auch nicht unbedingt als Menschen ansieht, ihn aber wenigstens zu respektieren scheint.

Je älter Matt wird, desto mehr hinterfragt er seine Existenz. Hat er eine Seele? Kommt er in den Himmel, wenn er stirbt? Als El Patróns Gesundheitszustand sich verschlechtert, findet Matt heraus, was der Sinn seines Lebens ist und er hat nur eine Chance: Flucht. Doch die Grenzen werden von der brutalen Farmpatrouille bestens bewacht. Hat Matt eine Chance?

Die Thematik, die Nancy Farmer in ihrem Roman anschneidet, birgt einige Brisanz. Farmer wirft eine Haufen ethischer Fragen auf. Das Klonen ist ein Aspekt davon, aber längst noch nicht das Ende vom Lied. Die Bewirtschaftung von El Patróns Farm erfolgt recht altmodisch, in Handarbeit. Doch es sind keine Menschen, die diese Arbeiten übernehmen, sondern „Migits“. Die „Migits“ sind willenlos gemachte Menschen, denen ein Computerchip eingepflanzt wurde. Ihre Fähigkeiten sind eng begrenzt, aber sie führen jeden Befehl aus und empfinden weder Hunger noch Müdigkeit. „Migits“ werden als ebenso verabscheuungswürdig angesehen wie Klone, und Matt wird oft auf eine Stufe mit ihnen gestellt.

So hat Matt sichtbare Schwierigkeiten, seine eigene Existenz zu definieren. Er ist den Menschen bis ins Detail ähnlich, soll aber dennoch nicht mehr als ein „Migit“ sein. María sieht ihn in etwa auf einer Stufe mit ihrem Schoßhund Fellball und auch dieser Vergleich kann für Matt nur neue Fragen aufwerfen. Während beispielsweise Charlotte Kerner, die sich in „Blueprint“ ebenfalls auf Ebene eines Jungendbuches mit dem Thema Klonen befasst, eher die Probleme der persönlichen Abgrenzung zwischen dem Klon und seinem älteren Ebenbild in den Mittelpunkt rückt, geht es bei Nancy Farmer eher darum, wie der Klon sich gegenüber den normalen Menschen definiert. Für Matt stellt sich das Problem der Abgrenzung seiner eigenen Persönlichkeit zu El Patrón gar nicht erst.

Während bei „Blueprint“ das Klonen eher aus narzisstischen Motiven vollzogen wurde, sind die Gründe bei Nancy Farmer wesentlich pragmatischer. Es geht um das Bereithalten von Ersatzteilen im Falle einer gesundheitlichen Reparaturbedürftigkeit, und bis Matt dies erfasst hat, scheint es schon fast keine Rettung mehr für ihn zu geben. Sein verzweifelter Versuch, seinem vorbestimmten Schicksal zu entrinnen, macht den wichtigsten Teil der Spannung des Romans aus.

Doch Klonen, Gentechnik, Organhandel sowie deren moralische Fragwürdigkeit sind nicht die einzigen Punkte, in denen „Das Skorpionenhaus“ nachdenklich stimmt. Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen sind genauso wie die politischen Machtverhältnisse in vielen Punkten fragwürdig. Ausbeutung von Arbeitskräften, Flüchtlinge, die zu Sklaven werden, und Kinderarbeit sind in Nancy Farmers Welt an der Tagesordnung. Auch die Umwelt ist arg in Mitleidenschaft gezogen. Flüsse sind verseucht, ganze Meeresbuchten ausgetrocknet, Chemieabfälle sorgen für Probleme – in gewisser Hinsicht ist Farmers Szenario ein Produkt, das aus dem Hier und Jetzt resultiert und damit indirekt die Probleme unserer Zeit anprangert.

Das mutet allesamt sehr düster an. Eine Zukunft, in der das Negative überwiegt, wird zu einem beklemmenden Szenario ausgestaltet. Doch Farmers Zukunftsvision ist nicht durchweg pessimistisch. Inmitten all der fragwürdigen und schlechten Gegebenheiten ist auch immer wieder Platz für Wärme, Hoffnung und zwischenmenschliche Begegnungen. Auch Matt wird geliebt – besonders von Celia, die ihn aufgezogen hat, aber ebenso von Tam-Lin, der Matt von El Patrón als Leibwächter zur Seite gestellt wird (selbstverständlich aus rein egoistischen Gründen) und von María.

Matt verliert geliebte Menschen und schließt Freundschaften. Und schließlich erfährt er, was es heißt, Verantwortung übernehmen zu müssen. In Matts Brust schlagen zwei Herzen – das eine, das El Patrón folgen möchte und nur an den eigenen Vorteil denkt, und das andere, das zu lieben fähig ist, das ehrlich und fair ist. Matt ist somit auch als Figur durchaus vielschichtig skizziert. Und damit steht er nicht allein. Auch die meisten anderen Figuren in Farmers Welt von morgen wirken facettenreich und glaubwürdig. Sie sind nicht plump schwarz/weiß gezeichnet. Gut und Böse werden nicht ganz klar umrissen, Klischees nicht plump breitgetreten. „Das Skorpionenhaus“ ist damit ein Roman, der nicht nur aufgrund des beklemmenden, düsteren Szenarios in Erinnerung bleibt, sondern auch dank der recht vielschichtig angelegten Figuren.

Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, „Das Skorpionenhaus“ käme mit der berühmten, gefürchteten moralischen Keule daher, doch das täuscht. Farmer belehrt den Leser nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sie prangert nicht laut an und sucht keine Schuldigen. Sie skizziert einfach eine düstere Utopie, formuliert eine Weltsicht aus Matts Perspektive, teilt dem Leser seine Gedanken mit und lässt diesen selbst die offensichtlichen Schlüsse daraus ziehen.

Und das macht sie auf durchaus spannende Art und Weise. Über die Welt hinter den Grenzen von Opium streut sie immer nur Andeutungen aus. Sie macht den Leser stets neugierig und krönt das Ganze mit einem Sahnehäubchen sich kontinuierlich steigernder Spannung. Ein wenig zu einfach mag es gegen Ende hin erscheinen, wie manche unüberwindbar scheinenden Probleme im Handlungsverlauf gelöst werden, aber dennoch liest sich „Das Skorpionenhaus“ gerade zum Ende hin absolut fesselnd.

Sprachlich ist das Buch leicht verständlich geschrieben. Einfacher, klarer Satzbau, der stets kurz und prägnant bleibt, so dass der Roman einerseits tatsächlich Jugendbuchniveau hat, andererseits aber dennoch auch Erwachsenen Freude bereiten dürfte. Der Verlag empfiehlt das Buch für Kinder ab 12 Jahren, aber das bedarf sicherlich einer weiteren Differenzierung. Der Roman wirft so viele ethische und moralische Fragen auf und ist teilweise so düster angelegt, dass sicherlich nicht jedes Kind dieser Altergruppe ohne zusätzliche Unterstützung gleich gut damit umgehen kann. In jedem Fall ist es ein Buch, über das sich anschließend zu reden lohnt.

Alles in allem weiß Nancy Farmer mit „Das Skorpionenhaus“ zu gefallen. Sie hat ein vielschichtiges und nachdenklich stimmendes Buch vorgelegt, das ein düsteres Zukunftsszenario zeichnet, in dem trotz all der negativen Entwicklungen noch Platz für positive Werte wie Freundschaft und Menschenwürde ist. So schafft Farmer es nicht nur zu unterhalten, sondern auch noch eine Botschaft zu übermitteln. Das Resultat ist ein spannender Roman mit interessanten und größtenteils sehr glaubwürdigen Figuren, der noch eine ganze Weile im Gedächtnis haften bleibt.

Perry, Anne – Feinde der Krone

Die Inspektor-Pitt-Reihe von Anne Perry nimmt mittlerweile schon recht voluminöse Ausmaße an. „Feinde der Krone“ ist der 22. Band der Reihe und schließt sich direkt an die finalen Ereignisse des Vorgängerbandes [„Die Verschwörung von Whitechapel“ 1175 an. Vorkenntnisse sind also durchaus empfehlenswert, auch wenn Perry gelegentlich auf Vorangegangenes zurückgreift, um den roten Faden herzustellen.

Eines der Grundelemente der Inspektor-Pitt-Reihe ist eine Verschwörergruppe namens „Der innere Kreis“. Gut getarnt, sitzen Vertreter dieser Gruppe in den allen Bereichen von Verwaltung, Justiz und Gesellschaft und streben als oberstes Ziel eine Beseitigung der Monarchie an, um sich selbst zur regierenden Macht des britischen Empires aufzuschwingen. Der Titel des vorliegenden Bandes „Feinde der Krone“ deutet schon an, dass diesem Thema auch hier wieder eine tragende Rolle zukommt.

In „Die Verschwörung von Whitechapel“ gelang es Inspektor Pitt, das Bestreben des Inneren Kreises, die Krone zu stürzen, zu vereiteln. Am Ende wurde der vermutlich wichtigste Mann der Verschwörergruppe, Charles Voisey, in den Adelsstand erhoben – eine bittere Pille für jemanden, der so vehement gegen die Monarchie arbeitet. Für Pitt war es die einzige Möglichkeit, Voisey unschädlich zu machen.

Doch der holt nun mit seinem frisch erworbenen Adelstitel zum Gegenschlag aus. Er kandidiert für die Unterhauswahl und will nun auf diesem Wege die Ziele des Inneren Kreises verwirklichen. Pitt wird im Auftrag des Sicherheitsdienstes darauf angesetzt, Voisey im Auge zu behalten und zu verhindern, dass dieser mit Hilfe krimineller Machenschaften und Intrigen die Abstimmung vor seinem Gegenkandidaten, dem Liberalen Aubrey Serracold, gewinnt.

Als dann die berühmte Spiritistin Maude Lamont ermordet aufgefunden wird, ist es wiederum Pitt, der mit den Ermittlungen betraut wird. Als Pitt herausfindet, wer die Gäste von Lamonts letzter Séance waren, vermutet er gleich einen Zusammenhang zu Charles Voisey und dem Inneren Kreis, denn die letzten Gäste waren Rose Serracold, die Gattin von Voiseys Gegenkandidat und General Kingsley, der in Leserbriefen ein glühender Verfechter von Voiseys Anliegen zu sein scheint. Doch wer war der dritte Gast an diesem Abend, der in Maude Lamonts Notizbuch nur durch ein Symbol verewigt ist? Pitt versucht es herauszufinden und kommt dabei einem Skandal auf die Spur. Doch seine Zeit wird knapp, denn mit jeden Tag rücken die Unterhauswahlen ein Stückchen näher …

Wieder einmal nimmt Anne Perry sich in ihrem Roman zwei Themenkomplexe vor, die innerhalb der Handlung in einem Zusammenhang stehen. Die Verschwörung um den Inneren Kreis, die sie mit Fortschreiten der Romanreihe immer weiter ausbaut, und einen Mordfall, in dem Pitt ermittelt und der innerhalb des Buches abgeschlossen wird. Der Innere Kreise ist, ebenso wie die in jedem Band wieder auftauchenden Hauptfiguren, der rote Faden der Reihe. War der Zusammenhang zwischen den beiden thematischen Ebenen Kriminalfall und Verschwörung in „Die Verschwörung von Whitechapel“ noch ein recht nachvollziehbarer, deutlicher und ausgewogener, so wird er in „Feinde der Krone“ zunehmend abstrakter und dadurch leider auch nicht unbedingt überzeugender.

Pitt stellt sofort einen Zusammenhang zwischen dem Mord an der Spiritistin und Charles Voiseys Bestrebungen, einen Unterhaussitz zu ergattern, her. Für den Leser wird dies nicht unbedingt bis ins letzte Glied nachvollziehbar erklärt. Der Zusammenhang bleibt recht diffus und Pitts Erklärungsversuch weitestgehend spekulativ und abstrakt. So kommen auch die Ermittlungen in der Mordsache nicht so recht voran. Perry wendet sich zwischendurch immer wieder anderen Handlungsfäden und Personengruppen zu. Sie berichtet von Dinners der feinen Gesellschaft, die im Vorfeld der Wahlen von eben diesem Thema beherrscht werden. Damit gibt sie zwar sehr nachvollziehbar die politische Stimmung Englands zur damaligen Zeit wieder und macht ihren Roman gerade auch aus historischer Sicht interessant, dennoch gerät der Kriminalfall neben diesen Ausführungen manchmal schon ein wenig ins Hintertreffen.

Mit fortschreitenden Ermittlungen konzentriert Perry sich zunehmend auf den etwas mühsam bemühten Zusammenhang zwischen dem Mordfall und dem Inneren Kreis. Der Innere Kreis beginnt die Handlung zu dominieren. Alles läuft auf ein Duell zwischen Pitt und Voisey hinaus, der nach seiner Niederlage in „Die Verschwörung von Whitechapel“ darauf aus ist, es Pitt heimzuzahlen. Der Mord an der Spiritistin wird dabei schon fast ein wenig nebenbei aufgeklärt. Nachdem es Kapitel für Kapitel zunächst kaum voranging, nehmen die Dinge zum Ende hin einen recht rasanten Verlauf. Der anfangs noch etwas schleppende Spannungsbogen kommt dann ganz ordentlich in Fahrt, so dass die Lektüre zumindest im letzten Buchdrittel doch noch recht fesselnd verläuft.

Doch das macht den etwas schleppenden Start nicht vergessen. So abrupt wie „Die Verschwörung von Whitechapel“ endete, so abrupt beginnt „Feinde der Krone“. Die beiden Bände scheinen in der Tat darauf ausgelegt zu sein, dass man sie direkt nacheinander liest. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass Annes Perry das Niveau des Vorgängerromans nicht zu halten vermag. Hier wirken die verschiedenen Handlungsebenen etwas unausgewogen, so dass auch der Spannungsbogen sich nicht so kontinuierlich aufstrebend entwickelt, wie man es beim Vorgängerroman erlebt hat.

Ein Grund dafür ist auch der etwas farblos bleibende Erzählstrang um Pitts Familie. Vor allem Pitts Frau ist in der Inspektor-Pitt-Reihe immer eine wichtige Zutat gewesen. Sie trug auf ihre Art zu den Ermittlungen bei, hatte sie doch Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen, die Pitt selbst verschlossen blieben. In „Feinde der Krone“ tritt sie zusammen mit den beiden Kindern und dem Hausmädchen Gracie alleine die Urlaubsreise nach Devon an, auf die auch Pitt eigentlich mitkommen sollte. Nur gelegentlich blendet Perry diesen Handlungsstrang ein, und so richtig zu Ende geführt wird er gar nicht erst. Die Figuren rund um Inspektor Pitt – in „Die Verschwörung von Whitechapel“ noch ein echter Pluspunkt – verschenken hier ein Menge Potenzial, indem sie kaum zum Tragen kommen.

Das erweckt den Eindruck, als müsse Anne Perry ähnlich wie andere nicht minder aktive Vielschreiber auch, der Vielzahl ihrer Romane allmählich Tribut zollen. Bei dem Tempo, in dem Perrys Romane auf den Markt drängen, ist es kein Wunder, dass irgendwann auch in Sachen Qualität Einbußen zu erwarten sind. Sie scheint durchaus ehrgeizige Ziele zu haben, indem sie Kriminalfall, Verschwörung sowie gesellschaftliche und politische Zeitstudie vermischt, aber in diesem Fall fehlt der Mischung einfach die Ausgewogenheit.

Was die Lektüre immerhin noch ganz angenehm macht und dafür sorgt, dass man das Buch dennoch ohne Mühe zu Ende bringt, ist neben der einfließenden Zeitstudie auch Perrys Schreibstil. Perry kommt weitestgehend ohne Action aus und hält den Leser dank ihrer routinierten Erzählweise auch so bei der Stange. Ihr Stil ist nicht sonderlich ausschmückend, aber auch nicht zu nüchtern. Schlichte Kost, die sich leicht und flüssig konsumieren lässt. Sicherlich nichts Herausragendes, aber dennoch äußerst solide Unterhaltungsliteratur.

Alles in allem kann „Feinde der Krone“ nicht so ganz die Erwartungen erfüllen, die der Vorgängerroman „Die Verschwörung von Whitechapel“ geweckt hat. Etwas unausgewogene Erzählebenen und ein Kriminalfall, der im Laufe der Handlung ein wenig ins Hintertreffen zu geraten droht, trüben genauso die Freude wie liebgewonnene Hauptfiguren, deren Anteil an der Handlung einfach zu mager und zu wenig überzeugend ausfällt. Zwar durchaus solide Kost für Freunde historischer Krimis, da eben auch die historischen Schilderungen des viktorianischen Zeitalters sehr lesenswert sind, aber man hat von Anne Perry eben auch schon Besseres gelesen.

Mosse, Kate – verlorene Labyrinth, Das

Um den Heiligen Gral ranken sich vielen Geschichten. Alles Mythen und Legenden, die zu den vielfältigsten Spekulationen einladen. War der Heilige Gral der Kelch, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat? Ist er ein greifbarer, real existierender sakraler Gegenstand oder verbirgt sich dahinter eine tiefere Symbolik, die für etwas ganz anderes steht? Ist der Heilige Gral gar der Stein der Weisen, der ewiges Leben und Glückseligkeit verspricht? Der Heilige Gral ist noch immer ein großes Rätsel, das auf seine Entschlüsselung wartet.

Dass dieser Themenkomplex mit seinen vielen offenen Fragen und Legenden einen ausgezeichneten Stoff für spannende Romane hergibt, wird sich spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg von Dan Browns Verschwörungsthriller [„Sakrileg“ 184 herumgesprochen haben. Monatelang Platz 1 der Bestsellerlisten – das weckt vermutlich sowohl bei Autoren als auch bei Verlagen das Bedürfnis, Herrn Brown als Nummer 1 im lukrativen Verschwörungsthrillersektor zu beerben. Kein Wunder also, dass mittlerweile immer mehr Spannungsromane, die Historie, Mythos und Thriller verknüpfen, auf den Markt drängen.
So auch die Engländerin Kate Mosse, die mit ihrem Roman „Das verlorene Labyrinth“ ein vielversprechendes Debüt abgeliefert hat. Welche Hoffnungen man im Hause |Droemer| an dieses Werk hängt, zeigt nicht nur die liebevolle Aufmachung des Buches, sondern auch die aufwendig gestaltete und äußerst informative Website zum Buch: [http://www.das-verlorene-labyrinth.de.]http://www.das-verlorene-labyrinth.de

Alles beginnt damit, dass Alice Tanner, die aufgrund ihrer Freundschaft zu der Archäologin Shelagh O’Donnell für ein paar Tage an einer Ausgrabung im Languedoc mitarbeitet, einen spektakulären Fund macht. In einer versteckten Höhle findet sie zwei Skelette und einen steinernen Ring mit einer Labyrinthgravur. Das gleiche Labyrinth entdeckt sie in der Höhle auch als Wandmalerei. Alice hat gleich ein ungutes Gefühl dabei. Sie ahnt, dass sie etwas gefunden hat, das besser im Verborgenen geblieben wäre, doch dazu ist es nun zu spät.

Die Polizei riegelt die Ausgrabungsstätte ab, und als dann auch noch Paul Authié auftaucht und alles auf etwas ruppige Art in die Hand nimmt, so dass selbst der diensthabende Inspektor Noubel machtlos ist, ist sich Alice sicher, dass hinter der Höhle und dem Ring ein großes Geheimnis schlummert. Auf eigene Faust stellt sie ein paar Nachforschungen an und begibt sich damit in große Gefahr …

Dies ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Im zweiten Erzählstrang betrachtet der Leser den gleichen Ort, aber zu einer anderen Zeit. Es ist das Jahr 1209, ein Jahr, nachdem Papst Innozenz III. zum Kreuzzug gegen die [Katharer]http://de.wikipedia.org/wiki/Katharer im Languedoc aufgerufen hat. Zu dieser Zeit lebt die junge Alaïs in Carcassonne. Sie ist die Tochter von Bertrand Pelletier, der als Intendant im Dienste von Vicomte Trencavel steht, der im Frühjahr 1209 mit letzter Kraft einen Angriff der Kreuzritter durch Verhandlungen abzuwenden versucht.

In dieser heiklen Situation wird Bertrand Pelletier an eine weitere Pflicht erinnert, auf die er vor Jahren einen Eid geschworen hat. Er hütet ein Buch mit fremdartigen Zeichen, dessen Geheimnis um jeden Preis gewahrt werden muss. Es ist eines von drei Büchern der Labyrinth-Trilogie. Als Pelletier zu befürchten hat, dass ihm seine Loyalität zu Vicomte Trencavel keine Gelegenheit geben wird, seine zweite Pflicht zu erfüllen, zieht er Alaïs ins Vertrauen. Für sie beginnt ein Leben voller Intrigen, Gewalt und Leidenschaft, und sie versucht standhaft, das ihr anvertraute Geheimnis zu bewahren, in dessen Kern sich alles um den [Heiligen Gral]http://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger__Gral dreht …

Die Mischung, die ein grober Handlungsabriss von „Das verlorene Labyrinth“ offenbart, erscheint auf den ersten Blick recht vielversprechend und schon der Handlungsrahmen, den Kate Mosse als Grundlage ihres Romans nimmt, ist relativ komplex. Es erscheinen unheimlich viele Figuren auf die Bildfläche, und so braucht der Roman eine ganze Weile, bis die Atmosphäre sich so richtig entfaltet und die Bühne für das große Stück bereitet ist. Versteht sich von selbst, dass man für eine Geschichte, die in zwei so unterschiedlichen Epochen spielt und so viele Figuren und Ereignisse vereint, eine gewisse Aufbauphase benötigt. Doch auch die hat durchaus schon ihren Reiz, wenngleich sie nicht frei von Makel ist.

Mosse springt stetig zwischen den beiden Zeitebenen hin und her, wobei die Häufigkeit der Sprünge mit wachsender Seitenzahl zunimmt. Anfangs ist man noch geneigt zu vergessen, dass es noch einen anderen Erzählstrang gibt, wenn sich Mosse über hundert Seiten der Geschichte der jungen Alaïs widmet. Zum Ende hin gehen die Sprünge dann so schnell, dass man nägelkauend weiterblättert und vor Spannung fast platzt. Mosse baut die Spannung ganz langsam und kontinuierlich auf, ohne dass es zwischendurch langweilig wird, denn bis die Spannung so richtig prickelnd und unerträglich wird, bekommt man stückchenweise einen historischen Roman vorgesetzt, der durchaus zu unterhalten weiß.

Mosse legt ein recht großes Gewicht auf die Atmosphäre. Sie widmet sich ausgiebigen Beschreibungen des mittelalterlichen Lebens in [Carcassonne,]http://de.wikipedia.org/wiki/Carcassonne__%28Frankreich%29 stets Alaïs als Mittelpunkt der Handlung im Auge behaltend. Einzige Schwäche, die insbesondere im mittelalterlichen Handlungsstrang auffällt, ist die Figurenzeichnung. Je weniger Gewicht Mosse auf den Spannungsbogen legt, desto mehr Raum bleibt den Figuren, und was sie in diesem Punkt auftischt, mag hier und da einfach nicht so recht schmecken. Teilweise sind die Figuren einfach zu klischeehaft skizziert. So fehlt die Tiefe, und die Handelnden zu durchschauen, gelingt recht schnell.

Der Gipfel der Klischeehaftigkeit sind Alaïs und ihre ältere Schwester Oriane. Die beiden sind in ihrer Gegensätzlichkeit ganz plump schwarz-weiß gezeichnet. Alaïs ist die gutherzige, edle, mutige Tochter, die den Vater ehrt, aus Kräutern Tinkturen braut, um den Kranken zu helfen und sich nicht zu schade ist, sich auch mal unter das gemeine Volk zu mischen. Oriane ist das Gegenteil. Eine durchtriebene Schlange, die stets nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist und sich beim Spinnen ihrer Intrigen ihrerseits nicht zu schade ist, dies auch mal auf Kosten der eigenen Familie zu tun.

So eine klischeehafte Gut/Böse-Skizzierung hätte vielleicht nicht unbedingt sein müssen. Sie bleibt in jedem Fall als unschöner Makel in einem ansonsten recht atmosphärisch und überzeugend inszenierten Mittelalterplot zurück. Die Spannung und Ungewissheit, die der Kreuzzug gegen die Katharer in das Leben in Carcassonne bringt, wird sehr schön greifbar. Mosses Beschreibungen sind sehr plastisch, ihr Stil hin und wieder ausschmückend, aber nicht hochtrabend. Alles in allem sehr flüssig lesbar, trotz Dialogen, die in einzelnen Worten hier und da mal auf Französisch und Okzitanisch wiedergegeben werden.

Während der mittelalterliche Handlungsstrang den Eindruck eines packend inszenierten historischen Romans vermittelt, setzt der Gegenwartsplot in erster Linie auf Thrillerelemente. Dass an Alices Leichenfund in der Höhle etwas merkwürdig ist, wird sofort klar, und so zieht Mosse in diesem Handlungsstrang den Spannungsbogen sinnigerweise gleich etwas straffer auf und heizt die Spannung durch immer wieder eingestreute Cliffhanger und Perspektivenwechsel an. Verfolgungen, anonym zugeschobene Hinweise und ein Mord – Mosse spickt die Thrillerhandlung mit allerhand spannungssteigernden Elementen. Alice fühlt sich verständlicherweise verfolgt, und die Suche nach der Wahrheit hinter dem Fund in der Höhle entwickelt sich mehr und mehr zu einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Alice nicht weiß, wem sie vertrauen kann und wem nicht. So ein Stoff hat „Pageturner“-Potenzial.

Doch auch der Gegenwartsplot kommt nicht ganz ohne Schelte aus. Was die Freude trübt, ist der etwas überstrapazierte Faktor Zufall. Es passiert nicht nur einmal, dass man über die Art und Weise, wie Mosse Verknüpfungen zwischen den Figuren herstellt, die Stirn runzeln mag. Manche Zufälligkeiten erscheinen einfach zu groß, fast schon wie mit der Brechstange herbeigeführt, als dass die Konstruktion der Geschichte bis ins Detail überzeugen könnte.

All das ist in der Praxis allerdings schnell vergessen, wenn Mosse im letzten Buchdrittel die Spannungsschraube dann so richtig anzieht. Die Ereignisse beginnen sich zu überschlagen und man hat als Leser allerhand zu tun, alle Ereignisse auf die Schnelle zu sortieren. Dennoch bleibt der Roman trotz der zahlreichen Figuren und Handlungsebenen gut überschaubar. Gewisse Dinge erscheinen für den kritischen Betrachter obendrein nicht wirklich unvorhersehbar. Mich persönlich hat die Auflösung somit auch nicht wirklich überrascht, wenngleich das Ende hochgradig spannend ist und man kaum eine Chance hat, das Buch zur Seite zu legen. Etwas kitschig mutet dann allerdings der Epilog an, der dem Finale die Krone aufsetzt. Was Mosse hier an Kitsch aus der Kiste zaubert, hätte auf den letzten Seiten dann vielleicht doch nicht mehr sein müssen.

Was sicherlich zwiespältige Meinungen hervorrufen wird, sind die eingestreuten mystischen Elemente. Immer wieder hat Alice Visionen, immer wieder gehen ihr fremde Erinnerungen durch den Kopf. Mosse setzt bei ihren beiden Hauptfiguren sehr stark auf Gemeinsamkeiten, die über die Zeit hinweg bestehen und eine Zusammengehörigkeit andeuten, die darin gipfelt, dass am Ende in beiden Handlungssträngen der Showdown am gleichen Ort stattfindet. Gerade diese Erinnerungsfetzen und Visionen mit ihrem übersinnlichen Touch werden nicht jedem gefallen – mir auch nicht unbedingt. Bei einer Thematik, die sich im Kern aber ebenfalls um einen Mythos wie den Heiligen Gral dreht, kann man solche mystischen Elemente dennoch halbwegs verzeihen.

Bleibt am Ende ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Dan Brown wird durch seine debütierende Kollegin Kate Mosse ganz sicher nicht vom Sockel gestoßen. „Sakrileg“ bleibt innerhalb des Genres und gerade auch mit Blick auf die artverwandte Thematik unerreicht. „Das verlorene Labyrinth“ liest sich zwar durchweg spannend, kann einige Schwächen aber nicht verbergen.

Dennoch lässt einen die nervenaufreibende Spannung während der Lektüre einige Schwächen erst einmal im Geiste beiseite schieben. Die Mischung aus historischem Roman und modernem Mysterythriller ist temporeich und macht trotz der Schwächen die ganze Zeit über Spaß. Die Thematik rund um den Heiligen Gral ist sicherlich nicht die Neuerfindung des Rades, aber dennoch interessant genug, damit sich daraus lesefreundliche Unterhaltungslektüre wie „Das verlorene Labyrinth“ zaubern lässt. Bleibt zu hoffen, dass Kate Mosse die Schwachstellen ihres Debütromans für die Zukunft ausmerzt. Vielleicht kratzt sie dann ja etwas erfolgreicher am Denkmal des Genreaushängeschilds Dan Brown. Potenzial wäre noch da.

Neil Gaiman – Coraline – Gefangen hinter dem Spiegel

Wie gut, dass ich dem im Klappentext abgedruckten Rat von Lemony Snicket nicht gefolgt bin, sonst hätte ich eine wirklich schön schaurige Märchengeschichte verpasst. Lemony Snickets Rat sieht übrigens folgendermaßen aus: |“Wenn Sie nicht in Kürze zitternd vor Angst mit dem Daumen im Mund unter dem Bett kauern wollen, sollten Sie dieses Buch langsam und vorsichtig zurücklegen.“| Gleich vorab bemerkt, ich habe weder mit dem Daumen im Mund unter dem Bett gekauert, noch das Buch brav zurückgelegt. Und mit den Folgen meines wagemutigen Handelns kann ich auch durchaus gut leben. Also, alles gar nicht so schlimm, wie’s auf den ersten Blick erscheinen mag.

Neil Gaimans kleines Büchlein „Coraline“ dreht sich um die wundersamen Erlebnisse des kleinen Mädchens Coraline. Zusammen mit ihren Eltern ist sie in ein neues Haus umgezogen, in dem neben der jungen Familie noch ein verschrobener älterer Herr mit einem Mäusezirkus und zwei etwas beleibte, ehemals schauspielernde, ältere Damen wohnen. Es ist die Zeit der Sommerferien und während Coralines Eltern zu Hause ihrer Arbeit nachgehen, erkundet Coraline das Grundstück, bis ihr ein paar Regentage einen Strich durch die Rechnung machen.

Coraline erkundet also fortan die Wohnung und stößt dabei auf eine vermauerte Tür. Als die Mauer dann eines Nachts plötzlich verschwunden ist, schreitet Coraline hindurch und entdeckt eine Art Parallelwelt. Die Welt hinter der Tür sieht aus wie die Wohnung ihrer Eltern. Selbst Mama und Papa trifft sie dort an, auch wenn sie ein wenig verändert aussehen und statt Augen schwarze Knöpfe tragen. Die andere Mutter umgarnt sie und versucht sie zum Bleiben zu überreden. Coraline wird das alles mit der Zeit aber zu unheimlich und so kehrt sie in die richtige Welt zurück.

Als sie dort ankommt, muss sie feststellen, dass ihre richtigen Eltern verschwunden sind. Als sie zufällig in den Spiegel im Flur blickt, sieht sie dort ihre Eltern, gefangen hinter dem Spiegel, festgehalten von der anderen Mutter. Und so kehrt Coraline zurück in die Welt hinter der vermauerten Tür, um ihre Eltern zu finden. Eine äußerst schwierige Aufgabe steht ihr bevor, denn die andere Mutter will Coraline um jeden Preis für sich behalten. Sie ist hungrig nach Coralines Seele.

Schon der Untertitel des Buches („Gefangen hinter dem Spiegel“) offenbar eine sehr deutliche literarische Parallele. Mit der Figur der Coraline hat Neil Gaiman eine moderne Alice geschaffen. Die Parallelwelt hinter der vermauerten Tür ist Gaimans Pendant zu Lewis Carrolls Welt hinter dem Spiegel, durch den Alice steigt. Auch die dortige Welt scheint zunächst oberflächlich betrachtet mit der realen Welt identisch zu sein und Alice wird nach und nach mit den Unterschieden konfrontiert. Für Coraline ist die Situation ähnlich. Auch ihr erscheint die Welt hinter der Tür zunächst so wie die davor, doch schnell zeigt sich, dass sie nichts anderes als ein der Wirklichkeit nachempfundenes Trugbild ist.

Ähnlich neugierig und scheinbar furchtlos, wie Alice die Welt im Spiegelland erkundet, erforscht auch Coraline ihre neue Umgebung. Sie scheint sich kaum zu fürchten, Neugier und Forscherdrang siegen über die Angst. Ein wenig übermenschlich wirkt sie in ihrer Selbstsicherheit, was sicherlich in der eher oberflächlichen Figurenzeichnung und der Kürze der gerade einmal 175 Seiten langen Erzählung begründet liegt. Natürlich hätte eine etwas ausgefeiltere Skizzierung der Hauptfigur der Geschichte etwas mehr Tiefe verliehen. Würde Coraline etwas menschlicher erscheinen, wäre die Geschichte sicherlich noch einen Tick mitreißender und fesselnder, aber das ist ein eher kleiner Schönheitsfehler.

Das eigentlich Faszinierende an Gaimans Roman ist die Welt, die er erschaffen hat. Die Welt, die Coraline hinter der vermauerten Tür entdeckt, ist ein Abbild der Realität, die als nichts anderes als eine Falle fungiert. Die andere Mutter hat es auf Coralines Seele abgesehen. Warum das so ist, wird nicht deutlich und ist eigentlich auch bedeutungslos, aber Coraline ist nicht das erste Kind, das in ihre Falle tappt. Als Coraline in der Parallelwelt gefangen ist, trifft sie auf die seelenlosen Überreste anderer Kinder. Mit der bösen Frau, die kleine Kinder entführt, greift Gaiman zu einem geradezu klassischen Märchenelement und fügt es überzeugend in seine Erzählung ein.

Als die andere Mutter merkt, dass ihr stetiges Umgarnen nicht gerade auf fruchtbaren Boden fällt und Coraline cleverer und misstrauischer ist als erwartet, nimmt auch die von der anderen Mutter erschaffene Welt immer dunklere Züge an. Gaiman inszeniert ein raffiniertes Spiel zwischen der falschen Mutter und Coraline und reichert das Ganze mit einer Prise Horrorelemente an. Da wäre der golemartige Mensch im Keller des Hauses, die küchenschabenessende andere Mutter, eine Wohnung voller fledermausartiger Hunde, die von der Decke hängen. Gaimans Inszenierung ist schon ausgesprochen phantasievoll ausgeschmückt, obwohl sie sich auf den eng begrenzten Raum des Hauses beschränkt, und macht gerade auch wegen dieser Elemente Spaß. „Coraline“ ist letztendlich eine Geschichte, die einen Märchenplot mit Gruselelementen verbindet, und genau das ist Gaiman mit seinem Roman sehr gut gelungen.

Ursprünglich erschien die deutsche Ausgabe von „Coraline“ 2003 im |Arena|-Verlag und wurde dort als Buch für Kinder ab zehn Jahren deklariert. Tatsächlich deutet schon Gaimans Schreibstil an, dass sich „Coraline“ durchaus auch an eine jüngere Leserschaft richtet, ohne sich dem erwachsenen Leser zu verschließen. Die Bildhaftigkeit von Gaimans Sprache dürfte sich auch von Kindern durchaus gut erfassen lassen, macht aber Erwachsenen ebenso Freude.

Ob das Buch aber wirklich unbedingt für Kinder empfehlenswert ist, ist eine Frage, die die Meinungen spalten dürfte. Für Zehnjährige, die Gruselgeschichten gewohnt und entsprechend hart im Nehmen sind, mag das Buch in Ordnung sein, aber für andere Kinder sei da eher zur Vorsicht geraten. „Coraline“ ist eben nicht ganz ohne und wer ein zartes Gemüt hat, der sollte vielleicht wirklich lieber den Rat von Lemony Snicket befolgen und das Buch langsam und vorsichtig wieder zurücklegen.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Coraline“ eine schöne kleine Portion Gruselmärchen für zwischendurch ist. Gaiman stellt einmal mehr sein Talent als phantasiebegabter Erzähler unter Beweis und liefert mit seinem Roman eine moderne Gruselvariante von Lewis Carolls Kinderbuchklassiker „Alice im Spiegelland“. „Coraline“ ist so angelegt, dass sowohl junges als auch älteres Lesepublikum Freude an dem Buch haben dürften. Dass die Figuren eher oberflächlich gezeichnet sind und die Geschichte dadurch vielleicht nicht so mitreißend ist, wie sie eventuell sein könnte, lässt sich in Anbetracht des Märchencharakters und der Kürze der Geschichte durchaus verzeihen.

Taschenbuch: 176 Seiten
Originalausgabe: Coraline, Harper Collins 2002
Aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Krutz-Arnold

Goga, Susanne – Leo Berlin

Historische Krimis haben immer ihren ganz eigenen Reiz. Die Kombination aus Krimihandlung und historischen Hintergründen bereichert den eigentlichen Plot und lässt die Geschichte ganz allgemein vielschichtiger erscheinen. Dies trifft auch auf Susanne Gogas Debütroman „Leo Berlin“ zu.

Angesiedelt ist die Handlung im Berlin der zwanziger Jahre. Wir schreiben das Jahr 1922: Beginnende Inflation, das aufgeheizte politische Klima der Weimarer Republik, tristes Hinterhofleben der Arbeiterklasse im Gegensatz zu eleganten Villen der Oberschicht – eine kontrastreiche und spannende Epoche der Geschichte. Zu dieser Zeit ermittelt Kommissar Leo Wechsler in einem Mordfall. Der Wunderheiler Sartorius, der Patienten aus den besten Kreisen behandelte, wird tot in seiner Wohnung aufgefunden – erschlagen mit einer Buddhafigur aus Jade.

Bei den Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Wunderheiler kein unbeschriebenes Blatt war. Er „therapierte“ eine Reihe von Patienten mit Kokain. Ob hier der Grund für den Mord zu suchen ist? Wechslers Nachforschungen führen ihn in die Wohnzimmer der feinen Gesellschaft, doch die Ermittlungen treten eher auf der Stelle.

Als wenig später im Scheunenviertel eine in die Jahre gekommene Prostituierte ermordet wird, wird der Fall Sartorius zunächst einmal beiseite geschoben. Wechsler und seine Kollegen ermitteln in den dunklen Straßen des Viertels und suchen in den Kokainhöhlen und Rotlichtkaschemmen nach Anhaltspunkten. Wieder einmal scheinen alle Spuren ins Nichts zu führen. Ob ein Zusammenhang zwischen den beiden Mordfällen besteht? Eigentlich abwegig, aber Wechsler zweifelt …

„Leo Berlin“ ist ein Roman, den man schon auf den ersten Seiten lieb gewinnt. Mit Leo Wechsler präsentiert Susanne Goga eine Hauptfigur, die gleichermaßen sympathisch wie interessant ist. Wechsler ist achtunddreißig Jahre alt und Witwer, mit zwei Kindern, von denen das älteste acht ist. Wechsler lebt in einem tristen Wohnblock in Moabit, kann die Familie aber mit seinem relativ sicheren Polizistengehalt trotz der wirtschaftlich unsicheren Zeiten ordentlich ernähren. Seit dem Tod seiner Frau lebt seine Schwester Ilse bei ihm, die sich Sorgen macht, dass das Leben vollends an ihr vorbeizieht, während sie Leos Kinder hütet und ihm den Haushalt macht. Private Probleme sind da vorprogrammiert.

Wechsler ist ein vielseitig interessierter Mann. Beruflich ist er für seine Hartnäckigkeit berüchtigt, im Privaten gilt sein Interesse der Kunst. Wechsler wirkt lebensnah und ist eine echte Bereicherung für den Roman. Gogas Bild der Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre wird vor allem durch die privaten Erlebnisse von Leo Wechsler getragen. Sein Leben in Moabit, seine gesamte familiäre Situation ist die Projektionsfläche der historischen, gesellschaftlichen Hintergründe und damit eines der wichtigsten Elemente des Romans.

So wie bei Protagonisten ähnlich angelegter historischer Krimis, wie z. B. der Inspektor-Pitt-Romane von Anne Perry oder der Fandorin-Reihe von Boris Akunin, gehen Figurenskizzierung und zeitlicher, historischer Kontext Hand in Hand. Geschichte zum Mitfühlen sozusagen. Die Figur des Leo ist obendrein interessant genug, um ausbaufähig zu sein, und tatsächlich scheint Susanne Goga bereits einen zweiten Leo-Wechsler-Krimi zu planen. Gut so, denn „Leo Berlin“ macht durchaus Lust auf mehr.

Faszinierend ist nicht nur die Hauptfigur an sich, auch das Wechselspiel zwischen den einzelnen Figuren ist überzeugend. Die familiären Spannungen zwischen Leo und Ilse machen den Roman auf der einen Seite interessant, das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Leo und seinem Kollegen von Malchow auf der anderen. Von Malchow ist ein Gegenpol zu Leo. Während Leo eher aus ärmeren Verhältnissen stammt, ist von Malchow adeliger Herkunft, was zur damaligen Zeit im Polizeidienst offenbar nicht ungewöhnlich war.

Von Malchow trägt seine adelige Herkunft recht aggressiv zur Schau und sorgt damit im Arbeitsalltag für einige Turbulenzen. Sein politisches Denken bestimmt sein Auftreten und immer wieder provoziert er den eher gemäßigten Leo Wechsler mit seinen rechtsnationalen Ansichten. So gibt es auch auf der Arbeit einiges an Zündstoff, und die politische Situation der Weimarer Republik wird sehr gut in die Geschichte einbezogen.

Doch „Leo Berlin“ ist nicht nur eine interessante Studie der zwanziger Jahre, auch die Spannung kommt nicht zu kurz. Dabei ist der Leser den Ermittlern stets einen Schritt voraus. Goga wechselt immer wieder die Perspektive und teilt dem Leser in eingeschobenen Absätzen immer wieder die Gedanken des Täters mit. So kann der Leser schon herausfinden, wer der Täter ist, bevor die Geschichte zur Hälfte erzählt wurde. Doch dieser Umstand entpuppt sich kaum als Spannungskiller.

Goga rückt das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Ermittlern und Täter in den Mittelpunkt. Man weiß als Leser, dass der Täter noch auf einen weiteren Schachzug aus ist, und so werden die Ermittlungen zu einem Lauf gegen die Zeit. Spannend bleibt die Geschichte damit bis zum letzten Moment, zumal Goga es versteht, beide Ebenen der Hauptfigur Leo Wechsler interessant verlaufen zu lassen – die private genauso wie die berufliche. Auch der Täter ist unkalkulierbar genug, um die Spannung aufrecht zu erhalten.

Sprachlich liest sich das Ganze sehr angenehm und unterhaltsam. Gogas Stil ist recht einfach gehalten und lässt sich locker und flott herunterlesen. Eingestreute Dialoge mit Berliner Akzent sorgen für das nötige Lokalkolorit. Sowohl die Figuren als auch die Zeit werden damit für den Leser schön plastisch. „Leo Berlin“ ist ein rundum schön zu lesender Unterhaltungskrimi. Wahre geschichtliche Ereignisse werden mit der Handlung verwoben, was den Roman umso authentischer erscheinen lässt.

Alles in allem, weiß Susanne Goga mit ihrem Debütroman recht ordentlich zu überzeugen. Sie lässt gute Recherchearbeit erkennen und mixt aus Fakten und Fiktion einen schmackhaften, gut bekömmlichen Cocktail aus Krimi und sensibler Zeitstudie. Die Figuren wirken lebendig, die Handlung ist spannend und der Leser kann sich dank der so stimmig in die Handlung eingewobenen Studie der zwanziger Jahre wunderbar in die damalige Zeit versetzen.

Die zwanziger Jahren sind schon ein recht interessantes Jahrzehnt, zumal sie nicht sonderlich oft als Stoff für Romane der jüngeren Literatur herhalten müssen. Leo Wechsler kann es dabei durchaus mit viel gelesenen Kollegen wie Fandorin aufnehmen, denn die Geschichte rund um seine Ermittlungsarbeit und sein Familienleben ist spannend und atmosphärisch dicht erzählt. Schöne, erfrischend abwechslungsreiche Krimikost mit gut skizzierten Figuren, von denen man durchaus noch mehr erfahren möchte. Aber vielleicht werden wir das ja schon in absehbarer Zeit. Wünschenswert wäre es in jedem Fall.

Jones, Edward P. – bekannte Welt, Die

Zehn Jahre hat Edward P. Jones sein Romandebüt „Die bekannte Welt“ vorbereitet. Nun erntet er die Früchte dieser langjährigen Arbeit. „Die bekannte Welt“ war kaum erschienen, da sorgte das Buch auch schon für Furore, nicht zuletzt aufgrund der brisanten Thematik. 2004 heimste Edward P. Jones den Pulitzerpreis ein, in diesem Jahr folgte der IMPAC Award 2005. Reichlich Vorschusslorbeeren, die eine entsprechend hohe Erwartungshaltung wecken.

„Die bekannte Welt“ spielt Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA. Für die meisten Schwarzen endete in Virginia die ihnen bekannte Welt an der Grundstücksgrenze der Plantage, auf der sie arbeiteten. Was dahinter lag, war unbekannt, fremd und Stoff für Träume. So erging es auch Henry Townsend in jungen Jahren. Er wuchs als Sklave auf der Plantage von William Robbins auf. Sein Vater ist einer der Schwarzen, die es geschafft haben. Aufgrund seiner außerordentlichen Begabung in der Verarbeitung von Holz, verdient er sich etwas dazu und spart genug an, um zunächst sich selbst, dann seine Frau Mildred und zuletzt seinen Sohn Henry freizukaufen.

Henry steht fortan auf eigenen Füßen und er macht etwas daraus. Schon bald hat Henry, dank der Unterstützung durch William Robbins, der ihn fast wie einen Sohn behandelt, seine eigene Plantage – mit seinen eigenen Sklaven. Aus heutiger Sicht wirkt es geradezu absurd, dass ein Schwarzer, noch dazu ein ehemaliger Sklave, selbst zum Handlanger der Sklaverei wird, für Henry ist es weder ungewöhnlich noch verwerflich. Zusammen mit seiner Frau Caldonia bewirtschaftet er seine Plantage mit einer stetig größer werdenden Schar Sklaven. Doch das Glück ist nicht von Dauer. Henry stirbt relativ jung, seine Frau Caldonia steht fortan allein vor der Aufgabe, die Plantage am Laufen zu halten. Dennoch kann sie nicht verhindern, dass sich Chaos auf der Plantage einschleicht. Caldonia drohen die Zügel zu entgleiten …

„Die bekannte Welt“ ist weniger eine geradlinig erzählte Geschichte, sondern vielmehr das vielschichtige und groß angelegte Portrait einer ganzen Epoche. In diesem Portrait spiegelt sich eine Phase der Aufbruchstimmung wieder. Immer mehr Sklaven erlangen die Freiheit, auf den ersten Plantagen kommt es zu Aufständen und der Krieg zwischen Süd- und Nordstaaten liegt genauso wie das offizielle Ende der Sklaverei nicht mehr in weiter Ferne. Innerhalb dieser Epoche hat Jones sich ein dunkles und relativ unbekanntes Kapitel herausgefischt: freie Schwarze, die selbst zu Sklavenhaltern werden.

Jones fängt diese Phase der Geschichte ein und skizziert sie anhand einer so großen Vielfalt von Figuren, dass er sogar ein Namensverzeichnis für sinnvoll erachtet hat. Und das ist durchaus angebracht. Jones präsentiert dermaßen viele Figuren, dass man als Leser schon Acht geben muss, dass man nicht den Überblick verliert. So verlangt der Roman ein recht hohes Maß an Aufmerksamkeit, belohnt den Leser aber eben auch mit einem faszinierend breit gefächerten Bild der damaligen Zeit. Jones zeigt alle Seiten auf: Sklaven und Sklavenhalter, Weiße und Schwarze, Freie und Unfreie, Gesetzeshüter und Sklaveneinfänger, Rechtschaffende und Gesetzlose.

Jones Roman weist schon eine beachtliche Tiefe auf. Trotz der Vielzahl der Figuren schafft er es, dem Leser Handlungen und Handelnde nahe zu bringen. Das Innenleben der Protagonisten wird größtenteils recht deutlich, was in Anbetracht der Fülle an Figuren schon beachtenswert ist. „Die bekannte Welt“ ist ein Roman, der uns tief in das Geschehen zieht und eine recht dichte Atmosphäre aufweist, ohne wirklich Spannung zu bieten. Die damalige Zeit wird greifbar und der Roman wirkt insgesamt sehr plastisch in seinen Schilderungen.

Was Jones‘ Erzählweise besonders auszeichnet, ist sein großer Weitblick. Immer wieder streut Jones ein, was aus handelnden Nebenfiguren später einmal wird. Das ist eine Mischung aus Preisgeben und Andeuten, die zum portraitierenden Charakter des Buches beiträgt und dabei hilft, die damaligen Ereignisse in ihrer Bedeutung zu ermessen. Das ist einerseits sehr schön, denn man spürt beim Lesen immer wieder, dass unter der Oberfläche dieses Romans etwas ganz Großes atmet, aber das kann nicht über Schwächen hinwegtäuschen, die ein wenig die Freude trüben.

Jones springt innerhalb der Handlung unglaublich viel hin und her. Ausgehend von Henrys Tod, zieht er seine Geschichte auf und blickt sowohl auf zurückliegende Ereignisse wie auch auf zukünftige. Zusammen mit der Vielzahl an Figuren ergibt das den Effekt der zeitweiligen Desorientierung. Ich habe mich beim Lesen ab und zu mal gefragt, an welcher Stelle der Chronologie sich die Geschichte eigentlich gerade befindet. Manchmal neigt man bei der Lektüre ein wenig dazu, den zeitlichen Rahmen aus den Augen zu verlieren, einfach weil Perspektive und Figuren stetig wechseln.

Teilweise hatte ich obendrein das Gefühl, dass Jones in seiner weitblickenden, stets vorausschauenden Erzählweise ein wenig zu weit geht. So kommt es beispielsweise vor, dass während einer Unterhaltung zwischen zwei Figuren immer wieder auf bestimmte zukünftige Ereignisse eingegangen wird. Eine Figur sagt einen Satz, anschließend lässt Jones den Blick in die Zukunft schweifen, als nächstes gibt eine andere Figur eine Antwort auf den vorangegangenen Satz, während Jones gleich darauf wieder in die Zukunft springt. Diese Wechsel mitten in den Dialogen haben den etwas unangenehmen Nebeneffekt, dass sie die Geschichte zerstückeln. Ohne etwas gegen Zeitsprünge zu haben, sind mir Zeitwechsel dieser Art einfach zu abgehackt. Sie trüben die Atmosphäre und in meinen Augen hätte Jones gut daran getan, von solchen Spielereien die Finger zu lassen.

Recht unscheinbar ist Edward P. Jones in seiner ganzen Erzählart. Sprachlich wirkt der Roman sehr unauffällig und schlicht, geradezu einfach. Jones erzählt sehr zurückhaltend und bringt trotz dieser sehr einfachen Art seine Figuren recht gut zur Geltung. Er gibt ihnen viel Raum sich zu entfalten. Sie bilden den unumstrittenen Mittelpunkt der Geschichte. Sie wachsen einem im Laufe des Romans durchaus ans Herz und wirken so durch und durch menschlich, dass man sie fast für echt halten möchte.

Jones zeichnet ein lebhaftes Bild einer Epoche, in dem auch Platz für viele kritische und nachdenklich stimmende Zwischentöne ist. Allein die Tatsache, dass Henry Townsend, die zentrale Figur der Geschichte, ein Schwarzer ist, der selbst Sklaven hält, zeigt schon, dass Jones (ebenfalls Afroamerikaner) durchaus auch zur Kritik an der eigenen Rasse fähig ist.

In der Handlung tauchen einige freie, teils sklavenhaltende Schwarze auf, die einem zu manchen Punkten der Handlung das Gefühl geben, dass die Hautfarbe vielleicht doch keine so große Rolle spielen mag, wie es uns die reale Geschichte eigentlich gelehrt hat – zumindest solange man frei ist. Aber diese Flausen weiß Jones einem auszutreiben. Knallhart holt er den Leser auf den Boden der Tatsachen zurück und zeigt, wie sehr die Hautfarbe doch alles dominiert und liefert mit seinem Roman letztendlich Material für interessante Gedankenspielereien. Jones zwingt den Leser dazu, die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu verändern. Schon deswegen wird man das Buch nach der Lektüre noch eine ganze Weile im Gedächtnis behalten.

Was die historischen Hintergründe anbelangt, so wird es schwierig, wirklich stichhaltige Informationen zu finden. Die Frage, ob es damals wirklich schwarze Sklavenhalter gab oder nicht und wenn ja, wie viele, lässt sich kaum befriedigend beantworten – kein Wunder also, dass Jones selbst zehn Jahre in die Recherche investiert hat, bevor er sich daran machte, seine Geschichte innerhalb von sechs Monaten aufzuschreiben. Er selbst bezeichnet den Roman vielsagend als „historisch stichhaltig aber zu 98 Prozent erfunden“.

Alles in allem schlägt man das Buch am Ende mit etwas gemischten Gefühlen zu. Man spürt beim Lesen, dass unter der Oberfläche von Jones‘ Debütroman etwas Großartiges schlummert, aber es dringt nicht immer bis an die Oberfläche und ist nicht immer ganz leicht zu erfassen. Der Erzählfluss wird immer wieder für Rück- und Vorblenden unterbrochen, was in einigen Momenten etwas abgehackt wirkt und es dem Leser erschwert, die Chronologie im Auge zu behalten. Jones‘ Stil wirkt einfach und nüchtern, hin und wieder funkelt in manchen Absätzen aber auch eine gewisse Poesie auf.

Die Vielfalt der Figuren wirkt zunächst etwas unübersichtlich, ist aber vielleicht auch gerade deswegen in der Lage, ein weitreichendes Bild der damaligen Zeit zu skizzieren. Nicht immer bis in den letzten Winkel fesselnd, aber dennoch ist „Die bekannte Welt“ eine Geschichte, die man mit großem Interesse weiterverfolgt. Jones‘ Weitblick in erzählerischer Hinsicht und die Tiefe der Erzählung ganz allgemein ermuntern zum stetigen Weiterlesen. Jones skizziert ein groß angelegtes Gemälde einer ganzen Epoche, das vor allem wegen seiner nahe gehenden Figuren im Gedächtnis bleiben dürfte.

McLiam Wilson, Robert – Eureka Street, Belfast

Rob, bist du das? Ich hatte kaum zwei Sätze gelesen, schon fühlte ich mich stark an Rob, den Plattenladenbesitzer aus Nick Hornbys „High Fidelity“, erinnert. Kritischer Blick auf den Buchdeckel. Nein, kein Hornby. Also doch nicht Rob, auch wenn die ersten Sätze aus „Eureka Street, Belfast“ auch von ihm stammen könnten: |“Es war an einem späten Freitagabend, vor sechs Monaten, sechs Monate, seit Sarah weg war. Ich saß in einem Pub und plauderte mit einer Kellnerin namens Mary. Sie hatte kurzes Haar, einen sehr runden Arsch und große, traurige Kinderaugen. Ich kannte sie gerade mal drei Stunden und kriegte schon die Zweijahreskrise.“|

Der Mann mit der Zweijahreskrise ist Jake. Von der Freundin verlassen, lebt er allein mit seinem Kater in Belfast und geht miesen Jobs nach, für die er eigentlich überqualifiziert ist. Seit er von seiner Freundin verlassen wurde, die es in Nordirland nicht mehr ausgehalten hat, hat er kein gutes Händchen mehr in Bezug auf Frauen. Die meisten Annäherungsversuche enden entweder damit, dass er beschimpft oder verprügelt wird oder beides.

„Eureka Street, Belfast“ erzählt die Geschichte von Jake, allerdings nicht nur die Geschichte von Jake. Im Grunde geht es um eine Clique schräger Vögel, von denen einer Jake ist. Ein anderer schräger Vogel und Jakes bester Freund ist Chuckie. Chuckie ist ein Spinner, ein Phantast. Er ist dreißig, hat aber noch immer kein eigenes Geld verdient. Dennoch träumt er davon, reich zu werden, und wie durch ein Wunder kommt der Träumer schon bald seinem Ziel ein Stückchen näher, als er merkt, dass er die verrücktesten Ideen zu Geld machen kann.

|“Als Chuckie noch arm war, waren auch seine Tagträume eher bescheiden gewesen: ein Auto, ein leichter Job, oraler Sex mit Filmstars, den Mädchen von der Wettervorhersage und Gameshowmoderatorinnen. […] Jetzt aber träumte Chuckie davon, das Sozialministerium und die Royal Ulster Constabulary aufzukaufen. Vor allem aber träumte Chuckie davon, Irland aufzukaufen. Er sah die Anzeige des Immobilienmaklers für die Irland-Auktion schon vor sich: Schönes altes Land, kürzlich geteilt. Politisch leicht reparaturbedürftig. Sofort zu verkaufen.“|

Zugegeben, sowohl Chuckies Träumereien als auch seine „Projekte“ muten etwas absurd und merkwürdig an, dennoch verleihen sie dem Buch einiges an Witz. Chuckies Aufstieg vom armen Schlucker zum Selfmade-Man hat schon etwas unglaublich Skurriles. Dennoch wird er, teils durch seinen geschäftlichen Aufstieg, teils durch seine Liebe zu Max, einer Amerikanerin, im Laufe des Buches langsam erwachsen.

Jake dagegen scheint immer wieder auf der Stelle zu treten. Gerade anfangs konnte ich mich nie so recht entscheiden, ob ich ihn mögen soll oder nicht. Einerseits ist er ziemlich rücksichtslos und gleichgültig, andererseits zeigt er auch immer mal wieder, dass unter der harten Schale ein weicher Kern steckt und dass er doch vernünftigere Ansichten hat, als man ihm zunächst zutraut.

Besonders deutlich wird dies immer wieder in seinen politischen Auseinandersetzungen mit Aoirghe, einer ebenso überzeugten wie radikalen Republikanerin. In diesen Momenten kommt, wie an vielen anderen Stellen auch, immer wieder der Nordirlandkonflikt zum Tragen. Jake ist Katholik, Chuckie Protestant. Die beiden haben keinerlei Probleme mit der religiösen Gesinnung des anderen. Für sie zählt die Freundschaft mehr als republikanische oder unionistische Interessen.

Dass eine solche Haltung in Belfast nicht selbstverständlich ist, zeigt sich immer wieder sehr deutlich an den teils wirklich absurden Auswüchsen, die der Nordirlandkonflikt im Alltag annimmt. Sei es der Friedenszug von Belfast nach Dublin, der gegen den ständigen Bombenterror auf der Bahnstrecke protestieren will und seine Fahrt prompt wegen einer Bombendrohung abbrechen muss, oder die haarsträubenden Gespräche, die Jakes Arbeitskollegen mit ihm führen, in dem Glauben, er wäre wie sie Protestant. An solchen Punkten stimmt einen das Buch immer wieder nachdenklich, auch wenn in den Worten des Autors oft ein Prise Sarkasmus mitschwingt.

Was an „Eureka Street, Belfast“ besonders fasziniert, sind die Beschreibungen des alltäglichen, ganz normalen Wahnsinns zwischen Bombenterror und UVF- bzw. IRA-Slogans. |“Du hast die Fahnen gesehen, die Schrift auf den Wänden, die Blumen auf dem Pflaster. Das hier ist eine Stadt, in der die Menschen bereit sind, für ein paar bunte Stofffetzen zu töten und zu sterben. Das sind die Normen zweier Völker, die ein vier- oder achthundertjähriger nationaler und religiöser Unterschied spaltet.“|

Es ist schon schockierend und faszinierend zugleich, wie sich unter solchen Bedingungen etwas wie Alltag einstellen kann. Jake und seine Freunde scheinen aus dem Chaos inmitten all des Terrors das Beste zu machen. Der Terror ist allgegenwärtig, und dennoch scheint er weder Chuckie noch Jake sonderlich zu beeindrucken. Der Alltag läuft weiter: |“Es war natürlich nichts Ernstes. Ein stinknormales Belfaster Bombenattentat. Nicht viel zu erzählen. Niemand ist gestorben, niemand hat geblutet. Nichts Besonderes. […] Was war uns denn schon passiert? Seit wann macht einer Piep, wenn’s bei den Nachbarn knallt?“|

Die fast schon spielerische Art, mit der Autor Robert McLiam Wilson den Terror teilweise bis ins kleinste Detail beschreibt, und die Art, wie er anschließend wieder zur Tagesordnung übergeht, hat schon etwas Schockierendes und Brutales. Dadurch wird deutlich, wie das Leben der Menschen in Belfast inmitten des Terrors abläuft. Auf jede Bombe folgt auch wieder Alltag. Für die Menschen, die nicht in so einem Konflikt aufgewachsen sind, undenkbar. Doch auch Kritik schwingt in vielen Beschreibungen Wilsons von Belfast mit: |“Man hat Erde ins Meer gekippt, und darauf wurde Belfast gebaut. Morast, Neuland. Die Stadt ist eine Düne, ein Widerlager. Die Einheimischen sagen, sie sei dem Wasser entstiegen wie ein Gott, die Wahrheit aber ist, man hat sie ins Meer gekippt, doch sie ist nicht versunken.“

Viele der Szenen des Buches spielen in den ärmeren Stadtteilen von Belfast, wo die Extremisten beider Seiten noch die Zügel in der Hand halten. Eine Stadt zwischen Ausnahmezustand und Alltag. Menschen zwischen Aufruhr und alltäglichem Trott. So in etwa sieht das Bild aus, das Wilson von Belfast zeichnet. Eine Stadt, wie es in England oder Irland viele gibt, und dennoch ist alles anders.

Der Klappentext versteht Wilsons Sicht der Stadt als Liebeserklärung an Belfast und tatsächlich scheint es stellenweise so zu sein. Inmitten all des Terrors schafft er es, Belfast mit seinen Bewohnern immer wieder von einer faszinierenden, fast liebenswürdigen und menschlichen Seite zu zeigen.

„Eureka Street, Belfast“ scheint irgendwie immer zwischen Dramatik und Leichtigkeit hin und her zu pendeln. Es gibt genauso viele Szenen zum Schmunzeln, wie es Augenblicke zum Innehalten und Nachdenken gibt und Momente, die einen schockieren. Die Story hat viel „Drive“, entwickelt sich flott und mit einem durch ständige Perspektivenwechsel angeheizten Tempo.

Gesamturteil: Lesenswert, um es kurz und knackig auf den Punkt zu bringen. „Eureka Street, Belfast“ vereint schräge Figuren, alltägliches Leben und den Herzschlag einer vom Terror geplagten Stadt. Und Robert McLiam Wilson versteht sich genug aufs Geschichten erzählen, dass er daraus ein wirkliches mitreißendes Buch macht.

Joseph Conrad – Herz der Finsternis

Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ lässt sich sicherlich zu den Literaturklassikern zählen. Geschrieben 1899, wird das Werk auch heute immer wieder neu verlegt, gelesen, adaptiert, neuinterpretiert und verfilmt. Mit der Ausgabe vom Juni 2005 legt der |dtv| nun eine komplette Neuübersetzung von Conrads bekanntestem Werk vor.

„Herz der Finsternis“ ist eine klassische Rahmenerzählung. Kapitän Marlow ist mit ein paar anderen Männern an Bord einer Hochseeyacht auf der Themse unterwegs. Sie warten auf die einsetzende Flut und während sie warten, beginnt Kapitän Marlow eine Geschichte zu erzählen, die vor Jahren passierte und die er seitdem im Stillen mit sich herumgetragen hat.

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Huston, Charlie – Gejagte, Der

Gut ein Jahr ist es her, dass Charlie Hustons Romandebüt [„Der Prügelknabe“ 1469 auf den deutschen Markt kam. Nun folgt mit „Der Gejagte“ die Fortsetzung der rasanten Flucht des sympathischen Verlierertypen Hank Thompson – kein bisschen weniger actionreich als der erste Teil und auch kein bisschen unblutiger.

Etwa drei Jahre sind vergangen, seit Hank Thompson mit viereinhalb Millionen Dollar im Gepäck die Flucht von New York nach Mexiko gelang. Es sind nicht seine viereinhalb Millionen Dollar, wohlgemerkt, sondern die mehrerer mittlerweile toter Gangster aus New York. In dem Zwist zwischen russischer Mafia, korrupten Polizisten und Gangstern, der um das Geld entbrannt war, geriet Hank damals zwischen die Fronten – nur weil er so nett war, ein paar Tage auf die Katze seines Nachbarn Russ aufzupassen. Am Ende ist es Hank, dem mit dem Geld die Flucht gelingt.

Seit drei Jahren lebt Hank, der meistgesuchte Mann Amerikas, also nun schon in Mexiko. Er hat ein bescheidenes kleines Häuschen am Strand und verbringt die meisten Tage bei seinem Freund Pedro in der Strandbar. Kurzum: Hank genießt das Leben. Als dann aber plötzlich in Pedros Bar ein Typ mit russischem Akzent auftaucht, holt Hank die Vergangenheit wieder ein.

Hank muss feststellen, dass sein geheimes Leben in Mexiko aufzufliegen droht und so tritt er erneut die Flucht an. Er geht zurück in die USA, doch kaum hat er amerikanischen Boden betreten, beginnt die wilde Jagd von vorne. Wieder sind unterschiedliche Parteien hinter dem Geld her und wieder zieht Hank eine Schneise der Verwüstung hinter sich her – quer durch die USA …

Bereits Hustons Debütroman „Der Prügelknabe“ verkaufte sich gut. Die Kritiker waren voll des Lobes und die Filmrechte sind bereits nach Hollywood verkauft. Der nun vorliegende zweite Teil von Hustons als Trilogie angelegter Geschichte steht dem in nichts nach. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist wieder Hank. Besonders im ersten Roman baut Huston Hank als eine sympathische Figur auf. Ein Verlierer, mit dem es das Leben nicht immer gut meint und mit dem man mitleidet und mitfiebert. Hank wirkte in seiner ganzen Art glaubwürdig und menschlich, da konnten alle Geschehnisse um ihn herum noch so abgefahren sein.

Es ist schon in „Der Prügelknabe“, als Hank eine Grenze überschreitet, die auch in seiner Figurenzeichnung zu einer Veränderung führt. Ab einem gewissen Punkt nimmt Hank die Geschichte selbst in die Hand und verliert dabei seine Unschuld. Am Ende gehen sechs Leichen auf sein Konto und Hank ist nicht mehr derselbe wie vorher. Diese Entwicklung führt Huston auch im zweiten Band konsequent weiter. Hank hat sich verändert, er ist härter geworden und wenn er Gewalt anwenden muss, um mit heiler Haut davonzukommen, dann tut er das eben – eine reine Zweckmäßigkeit. Ein paar Punkte büßt er dadurch auf der Sympathieskala zwar ein, aber dennoch wirkt die Veränderung glaubwürdig, denn letztendlich geht es Hank immer noch um nichts anderes, als darum, sich und seine Lieben vor weiterem Unheil zu bewahren. Hank ist im zweiten Band abgebrühter und härter. Ein Resultat seiner Erlebnisse aus dem ersten Band.

Auch Huston hat sich im weiteren Verlauf der Geschichte entwickelt. Der erste Roman wirkte vom Stil her schon selbstbewusst und gewitzt. Auch das entwickelt er im zweiten Band konsequent weiter. Die schwarzhumorige Seite seiner Erzählung weiß er stärker zu unterstreichen. Wo Hank hinkommt, da gibt es immer eine Eskalation der Situation. Alles läuft gegen ihn, ständig gerät er an die falschen Typen und alles endet im Chaos. Wie ein roter Faden zieht sich das durch die gesamte Handlung und je mehr Hank daran verzweifelt, desto komischer wirkt all das auch. Huston baut einen ganz unterschwelligen, schwarzen Humor in die Geschichte ein, so dass der Roman zu einem wahren Lesevergnügen wird.

Was zum Lesevergnügen ebenso beiträgt, ist Hustons Erzählstil. Die Geschichte wirkt sehr plastisch, der Drehbuchautor Huston lässt im Kopf des Lesers die Handlung wie einen rasanten Actionfilm ablaufen: schnelle Schnitte, rasante Wortwechsel, kurze prägnante Sätze. Ein Roman, der sich binnen kürzester Zeit verschlingen lässt. Man kann sich schon beim Lesen des Buches „Der Gejagte“ ganz wunderbar als Film vorstellen und das, obwohl Huston sich zu keiner Zeit mit ausschweifenden Beschreibungen aufhält. Atmosphäre und Figurenzeichnung entfalten sich bei ihm auch schon mit wenigen Worten ganz hervorragend.

„Der Gejagte“ ist genau wie „Der Prügelknabe“ im Grunde ein Actionfilm im Buchformat. Huston legt ein hohes Tempo für seine rasante Odyssee quer durch Amerika vor und heizt schon mit diesem hohen Erzähltempo die Spannung an. Dominiert wird der Spannungsbogen stets von einer Frage: Wie kommt Hank da bloß mit heiler Haut wieder heraus? Diese Frage brennt einem vom ersten bis zum letzten Kapitel unter den Nägeln. Wirklich beantwortet wird sie aber vermutlich erst im dritten Teil der Trilogie.

Parallelen zum Actionfilm gibt es nicht nur aufgrund des hohen Erzähltempos und des Gegenstands der Handlung. Auch sprachlich trifft dieser Vergleich zu. Die Dialoge sind immer wieder ein wenig vulgär. Es wird viel geflucht und in gangstermäßigem Slang schlau dahergeredet, Drogen werden konsumiert (und das nicht zu knapp), Personen mit Schusswaffen bedroht. Es geht insgesamt schon recht ruppig zu und die handelnden Protagonisten sind alles andere als zimperlich im Umgang miteinander. Dementsprechend verläuft auch „Der Gejagte“ nicht ohne reichlich Blutvergießen und wie auch schon im Auftaktroman der Trilogie geht es in den Schilderungen nicht immer ganz appetitlich zu. Hustons Trilogie ist also nicht unbedingt für zartbesaitete Gemüter und lässt sich innerhalb des Thrillergenres eher in der Hard-Boiled-Ecke positionieren.

Ein paar Worte noch zur Kontinuität: Für Quereinsteiger ist „Der Gejagte“ nicht unbedingt zu empfehlen. Wer das Buch liest, sollte möglichst auch die Kenntnisse aus dem ersten Teil haben. Huston baut zwar Rückblenden auf den ersten Roman ein, aber die können nicht dazu dienen, einem Quereinsteiger zu vermitteln, was im ersten Teil alles passiert ist. Dafür geschieht in der Geschichte einfach zu viel. Vielmehr rufen sie dem Leser ins Gedächtnis, was im ersten Teil besonders wichtig war. Also bitte die Trilogie möglichst komplett und in vorgesehener Reihenfolge lesen. Nach dem ersten Band will man ohnehin wissen, wie’s weitergeht und so kommt man kaum umhin, sie nicht komplett zu lesen.

Auch die Ausgangssituation, die Huston für den dritten Teil der Trilogie schafft, ist sehr vielversprechend. Die Geschichte entwickelt noch eine gänzlich neue Richtung, die im dritten Teil sicherlich die Hauptrolle spielen wird.

Fazit: Was Huston mit „Der Prügelknabe“ so erfrischend und rasant angefangen hat, führt er mit „Der Gejagte“ konsequent fort. Stilistisch bemerkt man eine gewisse dezente Weiterentwicklung. Hank Thompson bleibt als Protagonist außerordentlich interessant. Obwohl er abgebrühter und härter geworden ist, behält er seine sympathische, menschliche Seite – eine Figur, mit der man mitfiebert und mitleidet. Der Roman an sich ist ein rasantes, actiongeladenes und schwarzhumorig angehauchtes Lesevergnügen und ausgezeichnetes Kopfkino. Da darf man mit Spannung erwarten, wie Huston die Geschichte im abschließenden dritten Teil auflösen wird.

Reed, Kit – Körperkult

Jung, schlank, schön – das Idealbild des Menschen der oberflächlichen, modernen, globalisierten Gesellschaft. In gewisser Weise trifft das schon heute zu, wenngleich mehr im Seifenopern-Leben der TV-Landschaften als in der Realität. In besonderem Maße trifft es auf die Menschen in Kit Reeds visionären Zukunftsroman „Körperkult“ zu.

_Dein Körper ist ein Tempel!_

„Körperkult“ wirft einen Blick auf das Amerika der möglicherweise nicht mehr allzu fernen Zukunft. Die Religionen versinken in der Bedeutungslosigkeit. Die Menschen glauben nicht mehr an Gott, sondern an Schönheit und Jugend. Der Körper ist der Tempel, in dem dieser neue Glaube zelebriert wird. Oberster Prediger der Glaubensgemeinschaft ist Reverend Earl Sharpnack – ein charismatischer Redner, der mit Fitnessclubs, Diätprodukten und Schlankheitskuren Milliarden scheffelt und sich ein gigantisches Imperium geschaffen hat.

Die Menschen eifern alle denselben Idealen nach: Schlank wollen sie sein, schön, gut gekleidet und auf ewig jung. Wer nicht in dieses Raster passt, wer von der Schönheitsnorm abweicht, bekommt die Folgen bitter zu spüren. Dicke werden in den Untergrund verbannt, Magersüchtige werden in geschlossenen Anstalten wieder auf Normgewicht gebracht, gut betuchte Übergewichtige erkaufen sich einen Platz in Sylphania, einem riesigen Wüstencamp, wo die Menschen gemeinschaftlich abnehmen und sich auf ein „Leben nach dem Fett“ vorbereiten.

Reed stellt in ihrem Roman mehrere Menschen vor, die ihre ganz eigenen Probleme mit dem aufgezwungenen Idealbild haben. Da wäre zum einen die 16-jährige Annie, die ihre Magersucht so lange geheim halten kann, bis ihre Eltern sie eines Tages erwischen. Da ihr Vater diese Schande möglichst schnell beseitigt sehen möchte, ruft er die „Guten Schwestern“ herbei, die Annie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in eines ihrer Klöstern bringen. Die Guten Schwestern sind ein obskurer Nonnenorden und Teil von Reverend Earls Imperium. Übergewichtige und Magersüchtige werden in ihren Einrichtungen weggesperrt, ohne Chance auf ein Entrinnen. Annies Geschwister, die Zwillinge Betz und Danny, sind nicht bereit das hinzunehmen und machen sich zusammen mit Annies Freund Dave auf die Suche nach dem Kloster, in dem Annie festgehalten wird.

Eine gänzlich andere und dennoch sehr ähnliche Geschichte erzählt Jeremy. Der reiche aber übergewichtige Geschäftsmann hat sich für viel Geld einen Platz in Sylphania erkauft, um dort abzuspecken. Als er dort ankommt, stellt er schon bald den erschreckenden Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit fest. Das Leben in dem Camp in der Wüste ist hart. Es gibt kaum etwas zu essen und Jeremy wird harte Arbeit abverlangt. Seine Aussichten auf eine „Erlösung im Leben nach dem Fett“ schmelzen schneller dahin als die Pfunde auf seinen Hüften. Unzufriedenheit macht sich breit. Und er ist nicht der Einzige, der mit der Zeit immer mehr das Bedürfnis hat, den falschen Propheten Earl Sharpnack von seinem Sockel zu reißen. Es formieren sich Kräfte, die einen Aufstand herbeiführen wollen …

_Globalisierte Seifenopernrealität_

Auf den ersten Blick scheint „Körperkult“ sich in eine Reihe mit Globalisierungssatiren wie [„Logoland“ 96 von Max Barry stellen zu können. Die Thematik ist ähnlich. Es geht um die globalisierte Gesellschaft von morgen. Während „Logoland“ einen Schwerpunkt auf den Markenterror setzt, geht es bei „Körperkult“ um die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die auf Äußerlichkeiten mehr Wert legt als auf Persönlichkeit und Charakter. Eine gesellschaftliche Tendenz, die sich auch heute schon, geschürt durch die Scheinrealität des Fernsehens, erkennen lässt.

Reed skizziert vor diesem Hintergrund ein Szenario, das von der satirischen Überspitzung lebt. In vielen Aspekten unterscheidet sich die Welt von „Körperkult“ nicht großartig von unserer. Der Grad der Technisierung entspricht in etwa heutigem Standard, so dass Reeds Utopie in Teilbereichen durchaus bodenständig und zeitgemäß wirkt. Alle Dinge, die sich um Schönheit, Essverhalten und Alter drehen, wirken dagegen schon recht schräg.

Es herrscht ein aus heutiger Sicht absolut überzogenes Figur- und Fitnessbewusstsein vor. Fast-Food-Ketten gibt es zwar immer noch, aber dort sündigen kann natürlich nur, wer anschließend im Fitnessstudio Buße tut. Das sind für sich genommen noch die harmloseren Auswüchse von Reeds figurbewusster Gesellschaft und es gibt auch heute schon genug Menschen, deren Denkweise ähnlich (wenngleich weniger radikal als bei Reed) erscheint. Allein der Blick auf die Milchprodukte eines durchschnittlichen Kühlregals im Supermarkt suggeriert auch heutige schon ein Mantra, das ebenso gut von Reverend Earl stammen könnte: Fett ist böse! Selbst wenn es nur die 3,5 Prozent der Vollmilch sind. So unglaublich die Geschichte von „Körperkult“ auch zunächst klingen mag, so ganz unvorstellbar erscheint sie nicht.

Radikaler wird Reeds Utopie, wenn sie ihren Blick auf die Menschen richtet, die es nicht schaffen, die aufgezwungene Norm zu erfüllen. Die Klöster der „Guten Schwestern“, hermetisch abgeriegelt von der Gesellschaft, wirken wie ein Zwischending aus Gefängnis und Krankenhaus. Wer hier fliehen will, hat schlechte Karten und wird obendrein brutal bestraft – das bekommt auch Annie zu spüren.

Sylphania setzt dem noch eins drauf. Ein riesiges Camp mitten in der Wüste. Wer sich hier mit viel Geld einen Platz zum Abspecken sichert, haust in einem verrosteten Wohnwagen, wird wie ein Gefangener behandelt und hat nur geringe Aussichten, jemals davon erlöst zu werden. Wer hier nicht abspeckt, hat weder einen Chance auf Verbesserung seiner Situation noch auf Freiheit. Es gibt eine strengere Hierarchie, die Reverend Earl medienwirksam in seinen wöchentlichen TV-Shows in Szene setzt. Die, die es schaffen, von ihren überflüssigen Pfunden erlöst zu werden, werden zu so genannten Engeln befördert, ziehen in das fürstliche Clubhaus ein, genießen Hummer zum Frühstück und das von Reverend Earl stets propagierte „Leben nach dem Fett“. Sylphania ist in Erscheinungsbild und Organisation noch einen Tick radikaler als die Klöster der „Guten Schwestern“. Das Ganze erinnert an eine Mischung aus Internierungslager und „Big Brother“.

Das wirkt für sich betrachtet schon recht abgedreht, dennoch erschien mir Reeds Roman nicht ganz so bitterböse, wie es beispielsweise Max Barrys „Logoland“ ist. Die Grundidee überzeugt zwar durchaus, dennoch weiß Reed ihre Geschichte nicht ganz so gut zu verkaufen wie Max Barry. Letztendlich gibt es vier verschiedene Erzählstränge: die Suche der Zwillinge nach Annie, Annies Erlebnisse bei den „Guten Schwestern“, Jeremys Erlebnisse in Sylphania und die Suche von Annies Mutter nach ihrer Tochter. Gerade der zuletzt genannte Erzählstrang wirkt wenig überzeugend. Annies Mutter wird für den Leser nicht so recht greifbar. Sie bleibt ein wenig fremd und wie der Erzählstrang am Ende mit den übrigen verknüpft wird, erscheint schon ein wenig holprig.

Auch die eine oder andere Frage, die mehr oder weniger ungeklärt im Raum zurückbleibt, trübt am Ende ein wenig die Freude. Der bereits im Klappentext versprochene Aufstand tritt erst auf den letzten 50 der insgesamt 381 Seiten ein und verläuft weniger radikal als man von einer „bitterbösen Satire“ (Zitat Klappentext) eigentlich gerne erwarten möchte. Insgesamt bleibt das Ende, das Reed mit einigen offen in den Raum gestellten Fragen dem Leser allein überlässt, ein wenig schwammig und unbefriedigend.

Auch mit Blick auf die Erzähltechnik bleibt ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Reed wechselt nicht nur immer wieder die Handlungsebenen, sie wirkt auch in ihrem Erzählstil teils etwas sprunghaft. So tauchen unvermittelt immer wieder Passagen auf, die direkt an den Leser gerichtet sind und sich auch in der Anrede direkt an ihn wenden. So ganz stimmig mit dem übrigen Text wirkt das leider nicht immer. Auch der eingebaute Wechsel der Erzählperspektive im Jeremy-Erzählstrang überzeugt nicht wirklich. Alles, was der Leser über Jeremy erfährt, wird in Form seiner eigentlich in Sylphania verbotenen Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert. Die sonst neutrale Erzählperspektive wechselt hier immer zu einem Ich-Erzähler. Als es dann allerdings auf den Showdown zugeht, wechselt auch dieser Erzählstrang in die neutrale Erzählperspektive, was etwas unglücklich wirkt.

Die Figurenzeichnung überzeugt mal mehr, mal weniger. Manche Figuren laden zum Mitfiebern ein, andere lassen einen weitestgehend kalt. Jeremy und Annie werden am eindringlichsten geschildert und hinterlassen auch den meisten Eindruck, während die Zwillinge und Dave schon etwas blasser bleiben. Annies Mutter dagegen wirkt etwas deplaziert und der ganze Erzählstrang um sie herum wie Füllwerk.

Der Spannungsbogen wird durch ständige Perspektivenwechsel bestimmt. Der Leser begleitet mal die eine Figur, dann wieder eine andere. Dabei schafft Reed es oft, den Leser neugierig darauf zu machen, wie es in den anderen Teilen der Handlung weitergeht. An manchen Stellen nutzt Reed aber auch die Perspektivenwechsel mit ihrem Potenzial zur Spannungssteigerung nicht aus. Die spannendsten Erzählstränge sind logischerweise die, die von ständigen Fluchtgedanken geprägt sind, wie es bei Jeremy und Annie der Fall ist. Besonders diese beiden Erzählstränge tragen im Wesentlichen die Spannung weiter, während die übrigen Handlungsteile nicht immer durchgängig spannend sind.

Alles in allem bleibt am Ende ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Die Grundidee der Geschichte, das Gesellschaftsbild, das Reed in ihrem Roman skizziert, wirkt absolut überzeugend und macht den Roman durchaus lesenswert. Die Art, wie Reed mit ihrem Bild des vom Schönheitswahn getriebenen Amerika auf satirische Art Denkanstöße zur heutigen Gesellschaft liefert, weiß durchaus zu überzeugen. Über ein paar Schönheitsfehler der Erzählung kann diese Tatsache allerdings nicht ganz hinwegtäuschen. Die Erzähltechnik wirkt manchmal ein erzwungen und auch die Balance zwischen den einzelnen Erzählebenen wirkt nicht immer solide. Eine Reihe unbeantworteter Fragen aus dem Handlungsverlauf geben ebenso zu denken wie das offene, unbefriedigende Ende.

Fazit: Nicht immer hundertprozentig schlüssig und erzählerisch souverän, aber schon aufgrund des entworfenen Szenarios dennoch lesenswert.

Peace, David – 1974

„Red Riding Quartet“ nennt David Peace seine Tetralogie, die sich um das England der 70er und frühen 80er Jahre dreht. „1974“ ist deren erster Teil, der international viel Beachtung fand und von der Presse als eines der spektakulärsten Debüts der letzten Jahre gefeiert wird. „1974“ ist ein unglaublich harter Brocken – schwer verdaulich einerseits, absolut atemberaubend andererseits. Ein Krimi, der so düster und desillusionierend ist, dass es schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Der Dezember 1974 ist ein harter Monat für den neuen Gerichtsreporter der Yorkshire Post in Leeds, Edward Dunford. Kaum hat er seinen Job angetreten, stirbt zunächst sein Vater. Doch auch beruflich kommt einiges auf ihn zu: Ein junges Mädchen, Clare Kemplay, wird vermisst gemeldet und wenige Tage später grausam zugerichtet und ermordet aufgefunden.

Dunford recherchiert in dem Fall, knüpft Beziehungen zwischen diesem Mord und zwei weiteren spurlos verschwundenen Mädchen. Er sucht nach Verbindungen zwischen den drei Fällen und sticht mit seinen Nachforschungen in ein Wespennest. Als dann auch noch Dunfords Kollege Barry Gannon bei einem „Autounfall“ ums Leben kommt, steht er plötzlich mitten in einem undurchsichtigen Dickicht aus Korruption und Vertuschung, in das nicht nur die Ermittlungsbehörden verstrickt sind, sondern auch einige hochrangige Persönlichkeiten der Stadt …

Aus der Masse der Kriminalromane sticht David Peace mit seinem Werk deutlich hervor. Bei Peace läuft vieles entgegen der gängigen Klischees. Hier sind die Polizisten die Bösen und die Journalisten die Guten, die ohne Furcht nach der Wahrheit suchen. Zeitlich überschneidet sich der Roman mit einem dunklen Kapitel in der Geschichte Yorkshires. Es war etwa zur gleichen Zeit, als der so genannte Yorkshire Ripper sein Unwesen trieb und vierzehn Frauen ermordete. Fünf Jahre lang lebten die Menschen in Yorkshire in der Furcht vor dem Ripper. Mit dieser Furcht ist auch der im Westen Yorkshires geborene David Peace aufgewachsen, so dass ein Teil des Romans sicherlich auch die Bewältigung dieser Ereignisse beinhaltet.

„1974“ ist ein Roman, wie man ihn so schnell vermutlich nicht wieder zu lesen bekommen wird. Ein |Krimi Noir|, wie er düsterer und beklemmender kaum sein könnte. Vergleiche lassen sich höchstens zu James Ellroy ziehen. Beide Autoren ähneln sich in gewissen Zügen. Beide stricken Geschichten, die ein undurchsichtiges Geflecht von Macht und Korruption, von Gewalt und Brutalität enthalten, und beide ziehen ihren düsteren, schwer durchdringbaren Plot mit einer ähnlichen Sprachgewalt und Faszination auf.

Peaces Stil wirk dabei etwas abgehackt und gewöhnungsbedürftig. Knappster Satzbau, Einwortsätze, eingestreute Songtitel und Schlagzeilen, die nebenbei im Radio laufen und den Geist der Zeit heraufbeschwören, Zitate, die stets wiederholt werden – Peaces sprachliche Mittel erscheinen schlicht, wirken aber umso eindringlicher. Man braucht eine gewisse Einlesezeit, um mit diesem Stil warm zu werden, aber dann beginnt er mit jeder Seite, sich machtvoller zu entfalten. Ähnlich schlicht und knapp, aber gleichzeitig sprachgewaltig wirkt auch James Ellroys [„L.A. Confidential“ 1187 auf mich.

Peace webt eine dichte Atmosphäre und baut einen kontinuierlich aufstrebenden Spannungsbogen auf, der den Leser nägelkauend weiterlesen lässt. Man kommt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von dem Buch los und will, von bösen Vorahnungen geplagt, möglichst bald wissen, wie sich Geschichte und Figuren weiterentwickeln.

Dabei fällt der Einstieg zunächst nicht ganz leicht. Peace verlangt dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, weniger aufgrund des sprachlichen Stils, sondern mehr aufgrund der großen Mengen auftauchender Namen und Figuren. Gerade in den ersten Kapiteln haut Peace dem Leser die Namen um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Peace treibt die Geschichte in einem geradezu halsbrecherischen Erzähltempo ihrem dunklen Höhepunkt entgegen und nimmt den Leser mit auf eine düstere Achterbahnfahrt. Alles in einen Zusammenhang einzuordnen, fällt dabei nicht immer ganz leicht. Peaces Romangebilde ist eben sehr komplex.

Ganz im Zeichen dieser Komplexität steht auch Peaces Umgang mit Klischees. Er stellt vieles auf den Kopf, vertauscht Gut und Böse und zeichnet kein Schwarzweiß-Gemälde. Auch Edward Dunford, der auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Story ist, ist längst kein strahlender Held. Er hat einige unsympathische Züge und behandelt seine Mitmenschen nicht immer gerade nett, was sich besonders an seinem Umgang mit Frauen zeigt. Es gibt keine per Definition rein Guten, so wie es keine irgendwelchen Klischees entsprechenden Bösen gibt. Auch das lässt sich durchaus als Qualitätsmerkmal festhalten, denn es fordert den Leser.

„1974“ ist dabei nicht nur ein Krimi, sondern gleichermaßen eine Gesellschaftsstudie und ein Spiegel seiner Zeit. Mangelnde Moral in gut situierten Kreisen, die Käuflichkeit von so ziemlich jedem und das Interesse der Öffentlichkeit an grausamen Kapitalverbrechen, dessen Halbwertszeit sich nach dem medialen Unterhaltungswert der Meldung richtet.

Das Szenario, das Dunford durch seine Ermittlungen am Ende des Romans entblättert, ist gleichermaßen schockierend und düster. Man ahnt, dass der Antiheld Dunford kein gutes Ende nehmen wird und dass es auch für den Fall an sich kein Happyend geben kann. Alles gipfelt in einem außerordentlich blutigen Finale. Dunford verknüpft die unterschiedlichen Handlungsebenen, zieht die richtigen Schlüsse und steht am Ende vor der grausamen Wahrheit, ohne selbst genau zu wissen, wie er damit umgehen soll. Entsprechend düster, verstörend und bluttriefend fällt das Finale aus, und entsprechend düster ist auch der Abschied von Dunford.

Und ein kleines bisschen ist man am Ende auch froh, dass es vorüber ist, während man gleichzeitig bedauert, dass der Roman zu Ende ist. „1974“ ruft zwiespältige Gefühle hervor und verlangt dem Leser einiges ab. Dennoch blickt man erwartungsfroh nach vorn und wartet ungeduldig auf die Fortsetzung des „Red Riding Quartet“. Peace hat einfach eine packende und faszinierende Art, die zwar etwas anstrengend sein mag, aber eben auch so fesselnd ist, dass man davon nur schwer loskommt.

Kurzum: Preisauszeichnungen und überschwängliches Presselob hat David Peace sich redlich verdient. Sein Debütroman sticht aus der Masse der Kriminalliteratur äußerst positiv hervor. Ian Rankin sieht David Peace als „die Zukunft des Kriminalromans“. Wenn sich das bewahrheiten sollte, sieht die Zukunft des Kriminalromans in der Tat sehr gut aus. Peace weiß zu fesseln, inszeniert einen düsteren Plot und eine beklemmende Gesellschaftsstudie. „1974“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Kriminalroman, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Sprachlich wie inhaltlich ein harter, schwer verdaulicher Brocken, aber dafür einer, der garantiert im Gedächtnis haften bleibt und obendrein Lust auf die weiteren Teile des „Red Riding Quartet“ macht.