Alle Beiträge von Michael Drewniok

Carnac, Carol – Mord im Gästehaus

_Das geschieht:_

Nur wenige Abgeordnete des englischen Parlamentes sind begütert genug, eine eigene Wohnung in London zu unterhalten, um während der Sitzungsperiode unterzukommen. Für die weniger privilegierten Mitglieder wurde deshalb das „Parliament Hostel“ erbaut – ein Gästehaus, das 500 Abgeordneten ein Dach über dem Kopf bietet. Das neue Gebäude ist der Stolz seines Architekten und eine Herausforderung für Hilda Langdale, die das „Parliament Hostel“ leiten wird und sich auf eine anspruchsvolle und anstrengende Klientel einstellen muss.

Mitte Oktober und zwei Wochen vor dem Ende der Parlamentsferien sind erst sechs Abgeordnete abgestiegen, die im Dachgeschoss untergebracht werden. Das gewaltige Dach ist flach und begehbar, was immer wieder unerlaubte Gäste lockt, die hier oben die Aussicht genießen. Es gehört zu den Pflichten des Hausdieners Robert Binsey, dies zu unterbinden. Dabei muss es dieses Mal zu einem Zwischenfall gekommen sein, denn ein Polizist findet Binseys zerschmetterte Leiche im Hinterhof des Gästehauses.

Chefinspektor Julian Rivers und Inspektor Lancing von Scotland Yard übernehmen den Fall. Die Untersuchung ergibt, dass Binsey bereits tot war, als er vom Dach geworfen wurde. Nicht nur das Personal, sondern auch sämtliche Gäste sind verdächtig und die Ermittlungen deshalb kompliziert, denn englische Abgeordnete genießen Sonderrechte und sind auch sonst recht empfindliche Zeitgenossen. Zudem lauert die Presse auf Sensationen, sodass Irrtümer die Polizei teuer zu stehen kämen.

Es ist klar, dass Binsey etwas gesehen hatte, dass er auf keinen Fall sehen oder weitererzählen sollte. Überhaupt wusste der aufmerksame und gedächtnisstarke Hausdiener nicht nur über die Gäste des „Parliament Hostel“ mehr, als denen lieb sein konnte, sodass der Kreis der Verdächtigen einfach nicht schrumpfen will …

_Der größte „locked room“ der Kriminalliteratur?_

Wer einen Krimi der Marke „Whodunit“ schreibt, achtet darauf, dass sein Schauplatz übersichtlich und das Figurenpersonal überschaubar bleibt. Auf diese Weise hält der Autor die Fäden so fest wie möglich in der Hand. Außerdem ist ein Mordrätsel reizvoller, wenn auch der Leser Ort und Personen im Blickfeld behalten kann. Zu guter Letzt verhindert die Isolation den Einsatz unfairer Handlungselemente: Das Rätsel muss innerhalb der vom Verfasser gezogenen Grenzen gelöst werden. Einmischung von außen ist unerwünscht.

Natürlich ist das auf diese Weise geschaffene Ambiente alles andere als innovativ. Genau dies stachelte zumindest die Ehrgeizigen unter den Kriminalautoren immer wieder an, die Regeln des „Whodunit“ auf die Probe zu stellen und neu zu interpretieren. Carol Carnac versucht es in „Mord im Gästehaus“, indem sie den weiterhin klassischen, weil eigentlich unmöglichen Mord nicht in einem allseits gesicherten Raum und hinter einer von innen verschlossenen Tür begehen lässt. Der Tatort ist ein fußballfeldgroßes Flachdach mit fünf Zugängen, und dieses Dach deckt ein Haus mit 500 Gästezimmern.

Obwohl das „Parliament Hostel“ damit zur denkbar zugänglichen Mordstätte wird, ist „Mord im Gästehaus“ zunächst ein typischer Rätselkrimi. Elementarer Teil der Handlung ist die systematische Bestandsaufnahme der theoretischen Täter, ihrer Motive und Möglichkeiten im Rahmen von Ermittlungen. Der Reiz besteht dabei in der Herausforderung, Haupt- und Nebeneingänge, Fahrstühle, Zimmerbelegungen u. ä. Faktoren in jenen ganz bestimmten Zusammenhang zu bringen, der den Mord auf dem Dach logisch erklärt.

|Ganz besondere Verdächtige|

Nachdem die Hälfte unserer Geschichte auf diese Weise verstrichen ist, bricht die Verfasserin plötzlich und vollständig mit der Isolation. Die aufwändig eingeführten Figuren rücken in den Hintergrund oder finden überhaupt keine Erwähnung mehr. Selbst das „Parliament Hostel“ spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. In den Mittelpunkt rücken stattdessen die Polizisten Rivers und Lancing. Aus dem „Whodunit“ wird ein „Police Procedural“, das sich allerdings sehr britisch, also unter Aussparung polizeilicher Privatangelegenheiten, abwickelt. Erstaunlicherweise geht dieses Konzept auf.

Der Mord im Gästehaus entpuppt sich als Glied in einer ganzen Kette von Verbrechen, in die das „Parliament Hostel“ nur zufällig eingehakt wurde. Carnac weitet die Handlung auf ganz London aus. Plötzlich geraten wir in die Ermittlungen gegen eine Bande von Posträubern, die irgendwie in den Mord an Binsey verwickelt sind. Das verbindende Element wird sehr geschickt aus der bekannten aber oft nicht berücksichtigten Wahrheit geknüpft, dass der Mensch in der Anonymität verschwindet, sobald er eine Uniform trägt.

Auf diese Weise wird der Perspektivensprung logisch erklärt, während die Handlung eine ebenfalls unerwartete Dynamik gewinnt. Über viele Seiten beschreibt Carnac die wilde Verfolgungsjagd auf einen fallrelevanten Lieferwagen. Diese führt in die Region um die Docks an der Themse, ein seit jeher gefährliches Pflaster und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs quasi sich selbst überlassen; eine Öde, die von vergessenen Pfaden, heimlichen Anlegestellen, verlassenen Unterständen, verschütteten Kellern und ähnlichen Schleichwegen und Schlupfwinkeln geprägt ist. Diese Umgebung verleiht dem Geschehen einen eigenen Reiz, zumal Carnac sehr ortskundig das Optimale aus diesen Schauplätzen herauszuholen in der Lage ist.

|Die Stützen des Systems|

Während die eigentümliche Mischung aus Rätselkrimi und Gauner-Thriller auch wegen der vielen seither verstrichenen Jahre ausgezeichnet funktioniert, hinterlässt die Figurenzeichnung einen zwiespältigen Eindruck. Lange scheint das übliche exzentrische, geradlinige, treuherzige Personal die Handlung zu tragen. Mit mildem Spott charakterisiert die Autorin zudem die Abgeordneten, die vielleicht parteipolitisch bitter verfeindet sind, sich aber ‚außer Dienst‘ gern auf einen Drink treffen. Es geht in diesem Jahr 1954 selbst in der Politik noch gemächlich zu, obwohl Carnac die moderne Gegenwart keineswegs ignoriert. Immer wieder geht sie auf die Veränderungen ein, die London nach dem II. Weltkrieg erfuhr, und schwelgt dabei keineswegs in den Klischees einer besseren, alten Zeit.

Ähnlich gemütlich gestalten sich die polizeilichen Ermittlungen. Rivers und Lancing scheinen über alle Zeit dieser Welt zu verfügen, um den Mord am Dienstmann Binsey aufzuklären. Zwischenzeitlich rückt die Polizei einmal aus, um einen Bandenstützpunkt auszuheben; dieses Unternehmen wirkt bei Carnac wie ein Einsatz der „Keystone Cops“, die im Hollywood der Stummfilmzeit für komödiantische Verwirrung sorgten. Immer bleibt ein ruhiges Stündchen für eine gute Mahlzeit und einen Schwatz, der thematisch natürlich streng auf den anstehenden Fall beschränkt bleibt.

Darüber hinaus präsentiert uns die Autorin einen bunten Reigen geistig leicht beschränkt wirkender Angehöriger der arbeitenden Schichten; hinzu kommen pittoreske Gestalten wie ein teilzeitbettelnder Vogelhändler oder ein ‚rasender Reporter‘, dessen ‚raffinierte‘ Methoden heute rührend antiquiert wirken. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich klaglos ins bestehende System einfügen, fleißig dafür arbeiten und die Obrigkeit vielleicht kritisieren aber nicht gegen sie aufbegehren.

|Der Untergang des Abendlandes|

Für die jüngeren Generationen sieht Carnac freilich schwarz. Zwar hält sie keinesfalls damit hinter dem Berg, dass in der Welt des 20. Jahrhunderts die Frau gleichberechtigt ist oder sein sollte. Dies verkörpern Figuren wie die altgediente Abgeordnete Seathwaite, die sich noch gut der Zeiten erinnert, als die Frauen noch gar nicht (bis 1919) oder nur eingeschränkt (bis 1928) wählen durften, oder den weiblichen Sergeanten Cartmel, deren Existenz verdeutlicht, dass selbst eherne Männerfesten wie Scotland Yard ins Wanken geraten sind.

Schlimm steht es dagegen um die Nachkriegsgeneration. Mit dem allmählichen wirtschaftlichen Aufschwung sieht sie nicht den Sinn ihres Lebens darin, den Eltern und Großeltern von der Wiege bis zur Bahre nachzueifern. Die Freizeit nimmt zu, mehr Geld steht zur Verfügung: Die Jugend geht eigene Wege und wird dabei von den Älteren misstrauisch beobachtet: Kontrolle geht über Vertrauen, Verständnis ist Schwäche. Lancing schildert seinem Kollegen einen dieser traurigen Fälle: |“Renwick ist in Ordnung, … aber die Tochter ist ein schlechtes Frauenzimmer und der Sohn ein Lümmel … Renwicks Unglück [ist], dass er nicht in der Lage war, sie alle zu verprügeln. Er war zu weich.“| (S. 129)

So bilden sich in quasi unausweichlicher Konsequenz Banden krimineller Halbstarker, die untätig herumlungern und das Empire schwächen. Oder wie |“Polizeimann Brown“| es zusammenfasst: |“Aber das ist die Technik dieser jungen Rowdies, die von Arbeitslosenunterstützung und Krankengeld leben. Die arbeiten ja nicht – sind nicht dafür gebaut, wie man so sagt. Der Gedanke allein schon macht mich wütend!“| (S. 146)

Dieser Tenor verdirbt ein wenig die Freude an einem sonst zu Unrecht vergessenen, weil dicht geplotteten, spannend geschriebenen und überraschend aufgelösten Kriminalroman. Man sollte freilich solche Töne (oder die kurios-steife Übersetzung, die durchweg von „Herrn X“, „Frau Y“ oder gar „Fräulein Z“ spricht) als zeitgenössischen O-Ton interessiert zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen, dass solche Vorurteile einen historischen Generationskonflikt belegen.

_Autorin_

Carol Carnac (1894-1958), geboren (bzw. verheiratet) als Edith Caroline Rivett-Carnac, muss man wohl zumindest hierzulande zu den vergessenen Autoren zählen. Dabei gehörte sie einst zwar nicht zu den immer wieder aufgelegten Königinnen (wie Agatha Christie oder Ngaio Marsh), aber doch zu den beliebten und gern gelesenen Prinzessinnen des Kriminalromans.

Spezialisiert hatte sich Lorac auf das damals wie heute beliebte Genre des (britischen) Landhaus-Thrillers, der Mord & Totschlag mit der traulichen Idylle einer versunkenen, scheinbar heilen Welt paart und daraus durchaus Funken schlägt, wenn Talent – nicht Ideen, denn beruhigende Eintönigkeit ist unabdingbar für einen gelungenen „Cozy“, wie diese Wattebausch-Krimis auch genannt werden – sich mit einem Sinn für verschrobene Charaktere paart.

|Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: Murder Among Members (London: Collins/The Crime Club 1955)
Übersetzung: Evelyn Neumann|

_Carol Camac bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Tote im Feuer“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7541

Lake, Jay – Räder der Welt, Die

_|Die „Clockwork-Earth“-Trilogie:|_

(2007) _“Die Räder der Welt“_ |(Mainspring)| – Bastei Lübbe 20656
(2008) „Die Räder des Lebens“ |(Escapement)| – Bastei Lübbe 20664
(2010) „Die Räder der Zeit“ |(Pinion)| – Bastei Lübbe 20685

_Das geschieht:_

Ausgerechnet dem Uhrmacherlehrling Hethor Jacques aus New Haven in Neuengland erscheint eines Nachts der Erzengel Gabriel, um ihn mit einer brisanten Mission zu betrauen: Die Antriebsfeder des Räderwerks, mit dessen Hilfe Gott dieses Universum in Gang hält, hat ihren Schwung verloren. Man muss es mit dem „Schlüssel der Ewigen Bedrohung“ wieder aufziehen. Dieser gilt allerdings als Mythos; niemand hat ihn je gesehen.

Ohnehin hat sich Gabriel einen denkbar ungeeigneten Weltenretter ausgesucht. Hethor ist ein Waisenkind ohne Geld und Einfluss. Als er seinen Auftrag tatsächlich akzeptiert, ist er auch seinen Job los, denn sein Meister wirft ihn vor die Tür. Am Hof des Vize-Königs in Boston wird Hethor ausgelacht und eingesperrt. Zu seinem Glück hat er das Interesse einer geheimen Gesellschaft erregt, die Hethor Glauben schenkt. Dies tut allerdings auch William of Ghent, ein mächtiger Hexenmeister, der einer anderen Organisation vorsteht, die das Räderwerk auslaufen lassen will.

Um Hethor aus der Schusslinie zu bringen, schaffen ihn seine Verbündeten an Bord des Militär-Luftschiffs „Bassett“, das eine Erkundungsfahrt zur großen Äquator-Mauer unternimmt. Als einfacher Matrose reist Hethor dorthin, wo er hoffentlich die Fäden seiner Mission wieder aufnehmen kann. Steuermann Simeon Malgus outet sich als Hethors Kontaktmann, doch er wird schon bald nach dem Erreichen des Ziels von geflügelten Kreaturen entführt.

Die Expedition durch die Wildnis der Äquator-Mauer gipfelt in einer Serie von Desastern. Das Schiff wird mehrfach attackiert, und schließlich schnappen sich die Kreaturen auch Hethor. Sie verschleppen ihn in einen Tempel, der sich als Stützpunkt jener Macht entpuppt, die Hethor ihre Hilfe zukommen lässt. Er muss erfahren, dass er Auskunft über den Schlüssel nur auf der Südhalbkugel der Erde erhalten kann, aber um dorthin zu gelangen, muss er die Mauerkrone überwinden …

|Der Mechanismus des Universums|

Der menschlichen Fantasie waren und sind in der Schöpfung alternativer Welten keine Grenzen gesetzt. Wieso also kein Kosmos, in dem nicht die Schwerkraft die Bewegungen von Planeten, Monden etc. bestimmt, sondern diese über gigantische Zahnradbahnen geregelt werden, über die genannte Himmelskörper laufen? Damit dies funktioniert, erheben sich über und um ihre äquatorialen Gürtel jeweils gewaltige Felsmassive. Sie werden die von funkelnden Messingzacken gekrönt, die in die entsprechenden Aussparungen der titanischen Bahn um die Sonne greifen. Auch die Erde wird durch einen 150 Kilometer in die Höhe ragenden, 40.000 km um den Globus reichenden Kranz in ein monumentales Zahnrad verwandelt.

Auf der Erde bildet die äquatoriale Mauer eine ’natürliche‘ Grenze. Lückenlos umschließt sie den Globus und teilt ihn in eine nördliche und eine südliche Halbkugel. Wäre diese Welt der ’normalen‘ Physik unterworfen, blieben die Bewohner der beiden Sphären unter sich, ohne je miteinander Kontakt aufnehmen zu können. Jay Lake hebelt dieses Hindernis aus und verschafft der Mauer eine eigene Schwerkraftzone, die so viel Atmosphärenluft bindet, dass der Zahnradbogen in voller Höhe er- und überstiegen werden kann. Gleichzeitig haben sich auf den Flanken der keineswegs lotrechten Mauern fremde Völker und seltsame Kreaturen angesiedelt, die neugierigen Besuchern meist unfreundlich begegnen.

Für Abenteuer ist also gesorgt. Noch mehr Exotik impft Autor Lake der Handlung ein, indem er sie in einer Parallelwelt spielen lässt, die der unseren stark ähnelt. Der Reiz liegt im Spiel mit den Faktoren Politik, Geografie und Geschichte. Lake verfremdet sie so, dass sie besonders bizarr wirken: Also herrscht auch auf der „Clockwork Earth“ im Jahre 1900 Queen Viktoria. Allerdings ist ihr Empire deutlich gewaltiger als in der zeitgenössischen Realität: Es umfasst beinahe die gesamte Nordhalbkugel, und gern würde Viktoria sich auch die Reiche jenseits der Mauer einverleiben. Nur die Chinesen bieten ihr Paroli, was einen ständigen Krieg toben lässt.

|Mission und Reife|

In diese Welt setzt Lake den Uhrmacher-Gesellen Hethor Jacques. Wie es sich für einen zukünftigen Helden gehört, muss er in jeder Beziehung ganz unten anfangen. Hethor ist ein armes Waisenkind, das von den Söhnen seines Lehrherrn ordentlich herumgestoßen wird und trotzdem wissbegierig, offenherzig und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet ist. Diese Trias wird ihn zuverlässig in Schwierigkeiten bringen, zumal Hethor zu allem Überfluss recht naiv ist.

Schon die simple Zeichnung der Hauptfigur belegt, dass „Die Räder der Welt“ kein tiefschürfendes Werk ist. Das Spektakel steht im Vordergrund, und da Jay Lake ein sehr beschäftigter Autor ist, greift er gern auf zeitsparende Klischees zurück. Im Grunde bleiben sämtliche Figuren flach und kraftlos. Man kann sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Buch eines dieser „All-Age“-Abenteuer ist, mit denen die Buchläden dieser Welt seit einigen Jahren förmlich gepflastert werden. Dafür sprechen zudem die hier und da eingestreuten pubertären Wallungen des Helden, die vor allen Dingen unter die Kategorie „Klischee“ fallen.

Auch mit der Konstruktion seiner Geschichte hat sich Lake deutlich weniger Mühe gegeben als mit dem (literarischen) Bau eines uhrwerkgetriebenen Universums. Man sollte meinen, dass eine buchstäblich weltbewegende Mission wie die Suche nach dem „Schlüssel der Ewigen Bedrohung“ deutlich zielorientierter vonstattenginge. Zwar legt sich Hethor anfänglich mächtig ins Zeug, doch später scheint er mit der Rolle des Navigators und Entdeckers zufrieden zu sein. Die Fortsetzung der Mission erfolgt eher zufällig. Seltsamerweise erscheint Gabriel kein zweites Mal, um Hethor endlich Feuer unter dem faulen Hintern zu machen.

|Schritt für Schritt voran und doch nicht zielstrebig|

Überhaupt zerfällt „Die Räder der Welt“ recht deutlich in drei flüchtig verknüpfte Teile. Sehr langsam beginnt die Geschichte mit Hethors Lehr- und Wanderjahren, die gleichzeitig Einführung in Lakes Uhrwerk-Universum ist. Des Lesers Ungeduld ob eines Verfassers, der allzu eng an Details klebt, mag sich in dem Wissen mildern, dass Lake hier außerdem Grundlagenarbeit für den Gesamt-Zyklus leistet: Vielen der nun eingeführten Figuren werden wir in den nächsten beiden Teilen dieser Trilogie wieder begegnen.

Der Mittelteil liest sich am besten. Hier findet Lake das Gleichgewicht zwischen Idee und Umsetzung. Die Irrfahrt der Bassett zur und an der äquatorialen Mauer ist spannend, mysteriös und verspricht viel: Wenn dieser Abschnitt schon so gelungen ist – wie toll muss dann das Finale werden!

Leider ist dies ein Trugschluss. Sobald die Mauer überwunden ist, gingen Lake offenbar die Ideen aus. Die Handlung wird fahrig, sentimentale „Paradise-Lost“-Romantik um das „kleine Volk“ soll den Leser in den Bann ziehen. Statt zum Höhepunkt zu werden, an dem der Verfasser alle Fäden rafft, verpufft das Finale zum beliebigen, hastig abgespulten, inhaltlich wie formal unbefriedigenden Ende. Für den gewaltigen Aufwand, mit dem Lake sein Epos einleitete, fehlt hier jedes Gegengewicht.

So laufen „Die Räder der Welt“ letztlich nicht nur in Hethors Welt recht unrund. Der Leser bleibt unschlüssig: Soll er wieder einsteigen, wenn es weitergeht? Lake hat die Faustregel für moderne Fortsetzungsgeschichten beherzigt: Verlängere jeden folgenden Teil um mindestens 200 Seiten! Die Rückkehr ins „Clockwork“-Universum bedeutet für den Leser folglich echte Lektürearbeit – ein Aufwand, den er sich aufgrund dieses buchstäblich mittelprächtigen Auftakt-Bandes überlegen wird und sollte!

_Autor _

Joseph E. Lake, Jr. wurde am 6. Juni 1964 als Sohn eines US-Diplomaten in Taiwan geboren. Weil man den Vater oft versetzte, wuchs Joseph Jr. u. a. in Asien und Afrika auf. Es folgte ein Studium an der University of Texas. Nach seinem Abschluss 1986 arbeitete Lake in der Werbung sowie für diverse Dotcom-Unternehmen. Aktuell ist er in der Marketing-Abteilung eines Konzerns für Telekommunikation tätig.

Als Schriftsteller konzentrierte sich Lake ab 2001 auf Storys, von denen er inzwischen mehr als 300 veröffentlicht hat. Für „Into the Gardens of Sweet Night“ wurde er 2004 mit einem John W. Campbell Award ausgezeichnet. Ein erster Roman erschien 2005. Dem Debüt folgten rasch weitere Romane, von denen die Fantasy-Trilogie „Clockwork Earth“ (2007-2010) für Lakes Durchbruch sorgte.

Lake lebt heute mit seiner zweiten Ehefrau und einer Tochter in Portland, Oregon. Seine Aktivitäten im Phantastik-Genre beschränken sich nicht auf die Schriftstellerei. Lake ist oft gesehener Gast auf den Conventions der US-Westküste. Im Rahmen von Workshops gibt er sein Wissen über das Schreiben weiter. Sehr bekannt ist sein Science-Fiction-Blog. Eine besondere Abteilung bildet der detaillierte Sub-Blog über seine schwere Krebs-Erkrankung, mit der Lake seit April 2008 kämpft.

|Paperback: 365 Seiten
Originaltitel: Mainspring (New York: Tor Books 2007)
Übersetzung: Marcel Bülles
ISBN-13: 978-3-404-20656-8

Als eBook: April 2012 (Lübbe Digital)
602 KB
ISBN-13: 978-3-8387-1114-0|
http://www.jlake.com
http://www.luebbe.de

Treat, Lawrence – M wie Mord

_Das geschieht:_

Architekt Wayne Bannerman nimmt einen neuen Auftrag an, obwohl er lieber in New York bliebe, um seiner Lebensgefährtin Martha im Kampf mit dem Noch-Ehemann beizustehen, der sie einfach nicht freigeben will. Nun trifft Bannerman den verhassten Rivalen ausgerechnet in der Stadt, in der er für einige Zeit arbeiten wird: Auch John Avrillian hat hier zu tun; er recherchiert im Fall der schönen Hellseherin Julia Sandeau, die vor zehn Jahren ihren Gatten umgebracht haben soll aber vor Gericht freigesprochen wurde.

Dies ist eine kleine Stadt, und zufällig treffen sich Bannerman und Julia, die ihn im Avrillian verwechselt. Deshalb lockt sie den Architekten in ihr Haus und schüttet ein Wahrheitsserum in seinen Drink. Bannerman verliert das Bewusstsein. Als er am nächsten Morgen erwacht, findet er Julia tot mit einem Dolch im Leib. Voller Panik und Furcht, im Delirium selbst zum Mörder geworden zu sein, verwischt er seine Spuren, flüchtet – und begegnet im Zug nach New York Avrillian, der ihm auf den Kopf zusagt, Julias Mörder zu sein, den er in einem Artikel bloßstellen werde; zuvor wolle er Bannerman allerdings zappeln lassen.

Bannerman setzt auf sein Glück. Sollte die Polizei ihn ausfindig machen, hat er sich ein Alibi zurechtgelegt. Nur Martha erzählt er die Wahrheit. Um sich zusätzlich abzusichern, beginnt Bannerman selbst zu ermitteln – und stellt fest, dass praktisch jede Person, die er kennt, in den Fall verwickelt ist. Sein Chef, dessen Gattin, sein neuer Auftraggeber, ein Angestellter mit geheimer Doppel-Identität und der undurchsichtige Avrillian haben Julia Sandeau noch am Tag ihres Todes oder in der Mordnacht selbst aufgesucht. Alle haben sie gute Gründe, die junge Frau, die nicht nur in die Zukunft sah, sondern auch als Erpresserin gut verdiente, aus dem Weg zu räumen, alle wissen voneinander – und alle belauern und manipulieren sich. Den Letzten in dieser Kette werden die Hunde beißen: Der elektrische Stuhl wartet …

|Die Aussichten sind dunkel|

In den Jahren ab 1929 setzte in den USA nie erwarteter und deshalb umso beängstigenderer Niedergang ein. Der Weltwirtschaftskrise folgte die „Große Depression“, die Millionen Bürgern Arbeit, Heim und Stolz raubte. Damit verbunden waren politische Umbrüche. Eine zunehmende Radikalisierung der Verzweifelten ängstigte jene, die den Status Quo fixiert sehen wollten, solange sie selbst von der Krise nicht betroffen wurden.

Der allmähliche Aufschwung im Zuge des „New Deal“ wurde relativiert, als sich die USA ab 1941 nicht mehr dem Zweiten Weltkrieg entziehen konnten. Nunmehr rückten ganze Jahrgänge in ferne Länder ab. Häufig kehrten sie nicht mehr zurück. Die Heimkehrer fanden sich ab 1945 in einem Land wieder, das gelernt hatte, ohne sie zu funktionieren. Vor allem die Frauen hatten ihre Unentbehrlichkeit an der „Heimatfront“ verinnerlicht und Gefallen an den daraus resultierenden Freiheiten gefunden. Die Rückkehr zum Frieden verlief deshalb keineswegs konfliktfrei. Hinzu kamen neue Bedrohungen aus dem Ausland: Auch die „Roten“ hatten inzwischen die Atombombe, und überall schienen sie die USA unterwandern zu wollen.

In dieser Stimmung blühte ein neues Genre auf, das nur auf solchem Boden gedeihen konnte. Unterhaltsam verschlüsselt aber denkbar düster spielten Schriftsteller und Drehbuchautoren mit den Elementen Angst, Unsicherheit, Pessimismus. Im Kino zählte man diese in den 1940er und 50er Jahren entstandenen Filmen zum „Film Noir“. Ihm eng verwandt waren die Kriminalromane und -storys des „Crime Noir“, das eigene Großmeister wie James M. Cain (1892-1977), Cornell Woolrich (1903-1968) oder W. R. Burnett (1899-1982) hervorbrachte.

|Die Polizei, dein Feind und Schrecken|

Lawrence Treat gehört nicht zu den ‚typischen‘ Noir-Autoren. Als schreibender Profi in einer schlecht zahlenden Unterhaltungsindustrie griff er jedoch aktuelle Trends auf, um sie verkaufsförderlich in seine Werke einfließen zu lassen. Die „Noir“-Elemente in „M wie Mord“ kommen primär im Mittelteil zum Tragen, wo Treat präzise beschreibt, wie sich das Netz um den – vielleicht sogar schuldigen – Wayne Bannerman immer fester zuzieht.

„Noir“-typisch hat er nicht einen Augenblick daran gedacht, sich nach dem entdeckten Mord der Polizei zu stellen. Bannerman fürchtet um seinen Ruf, er will seine Martha nicht allein lassen, und er traut der Polizei nicht. Problemlos verwischt und manipuliert er deshalb Beweise und hofft, der Gerechtigkeit durch die Lappen zu gehen – selbstverständlich vergeblich, denn stattdessen hat er sich eine Grube gegraben, in die er immer tiefer rutschen wird.

Im ’normalen‘ Noir-Krimi würde ihm die Polizei auf die Spur kommen und durch die Mangel drehen. So ergeht es Bannerman zwar ebenfalls, aber es fehlt das Element des Schicksalhaften. Die Polizei arbeitet professionell und muss ihn deshalb früher oder später entdecken: Treat ist ein früher Vertreter des „Police Procedural“. Er schildert Ermittlungs- und Vernehmungspraktiken möglichst authentisch. Der Forensiker Jub Freeman – der auch in anderen Treat-Krimis auftritt – ist ein früher Vertreter der „CSI“-Spezialisten, die heute an Tatorten wahre Wunder wirken. In den späten 1940er Jahren sind die Methoden verständlicherweise deutlich rustikaler, doch Treat gelingt es, ein Umdenken in der Polizeiarbeit zu verdeutlichen: Nicht mehr der harte Bulle, der den Verdächtigen Stunde um Stunde und unter Androhung von Gewalt unter Druck setzt, um ihn zu „brechen“, löst den Fall, sondern der Experte, der sorgfältig gesicherte Spuren zu entschlüsseln weiß.

|Liebe macht schwach, Vertrauen tötet|

„Noir“-Frauen sind mysteriöse und verdächtige Geschöpfe, in den Augen der zeitgenössischen Männer erschreckend selbstständig und außerdem berechnend. ‚Weibliche Schwäche‘ wird vorgetäuscht und planvoll eingesetzt, um verliebte und daher geistig eingeschränkte Männer zu manipulieren. Selbst haben diese Frauen keine Gefühle; entwickeln sie dennoch welche, ist es meist ihr Ende. Ansonsten tötet sie irgendwann ein betrogener und vor Wut und Schwäche rasend gewordener Mann.

In „M wie Mord“ repräsentiert Julia Sandeau diese „Noir“-Frau. Sie setzt ihre Schönheit ein, lässt sich aushalten, verdient als Erpresserin dazu und ist sogar mit einem Gattenmord davongekommen, weil sie die Jury um den Finger wickeln konnte. Ihr Tod ist ebenso tragisch wie unvermeidbar.

Zwar ist Martha Avrillian keine verworfene Schönheit. Sie entspricht dennoch nicht mehr dem zeitgenössischen Klischee, sondern lebt getrennt, ohne deshalb unter einem schlechten Gewissen zu leiden. Als sie eine Chance sieht, ‚ihrem‘ Mann zu helfen, greift auch Martha indizienmanipulierend in den Fall ein. Dafür zahlt sie ihren Preis und erlebt im Polizeirevier ein Verhör „dritten Grades“, bei dem womöglich wie in der guten, alten Zeit ein Stück Gummischlauch die Geständnisfreude unterstützt; in diesem Punkt schweigt sich Treat aus.

|Das Verhängnis als Kette|

Nicht nur aller guten Dinge sind drei. Wenn das Pech zuschlägt, wird die Kette sogar länger. Immer wieder ist es die Tücke des Objekts, die noch den genialsten Plan zunichtemacht. Wayne Bannerman muss es erleben: Man hat ihn mit dem Opfer gesehen, sein Nebenbuhler ist ausgerechnet ein Kriminalreporter, der ihn hasst, und kann sich zudem ein ihn belastendes Indiz beschaffen, die unauffällige Flucht vom Tatort endet beinahe vorzeitig vor den Fäusten eines betrunkenen Matrosen.

Hinzu kommt die Erkenntnis, dass der Freund dein Feind sein könnte. Jede der auftretenden Figuren hat etwas zu verbergen und ist bereit, die eigene Haut durch Verrat zu retten. Nicht einmal die ermittelnden Beamten sind ohne Fehl und Tadel. Mitch Taylor hat in einem früheren Fall Vorschriften missachtet und wurde degradiert. Nun lässt er sich für ein Interview bezahlen und gerät erneut in Schwierigkeiten. Jub Freeman hat Ärger mit dem neuen Chef und steht vor der Kündigung. John Avrillian, der als Journalist der Wahrheit besonders verpflichtet sein sollte, vermischt Arbeit und Privatleben und gießt außerdem Öl ins Feuer, um einen nur schwelenden Kriminalfall in seinem Sinne anzufachen.

Menschen sind schwach – und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Diese eigentlich simple Erkenntnis wurde vom Gros der Krimi-Autoren lange ignoriert. Treat gehörte zu jenen, die es in ihre Geschichten einfließen ließen. Die realitätsnahe Ambivalenz lässt Treat-Krimis deutlich ‚frischer‘ wirken als viele zeitgenössische Werke. In Deutschland wurde der Verfasser nur selten veröffentlicht. Ob es daran lag, dass sich im Land des „guten Goldmann-Krimis“ die Leser lieber bestätigen ließen, dass Verbrechen sich niemals auszahlen?

_Autor _

Lawrence Treat wurde als Lawrence Arthur Goldstone am 21. Dezember 1903 in New York City geboren. Er besuchte das Darthmouth College und begann 1924 an der Columbia University Jura zu studieren. Nach seinem Abschluss 1927 arbeitete Goldstone als Anwalt, doch seine Kanzlei ging 1928 bankrott. Er sattelte um und schrieb in den nächsten Jahrzehnten mehr als 300 Storys und 17 Kriminalromane.

Unter dem später auch offiziell geänderten Namen Lawrence Treat erschien 1940 der erste Band einer vierteiligen Serie um den Psychologen und Ermittler Carl Wayward. Weitere Treat-Figuren sind Commander Bill Decker, der Polizist Mitch Taylor und der Forensik-Experte Jub Freeman: keine einsam ermittelnden Detektive, sondern ausgebildete Spezialisten, zu dem sich der erfahrene Polizist gesellt, der im Team arbeitet. Treat wurde zu einem Pionier des „Police Procedural“, das Schriftstellerkollegen wie Ed McBain, John Creasey oder Joseph Wambaugh Jahre aufgriffen und zur Vollendung brachten.

1945 war Treat einer der Gründer der „Mystery Writers of America“. Außerdem lehrte er an verschiedenen Universitäten und Schulen das Schreiben von Kriminalgeschichten. Treat verfasste das „Mystery Writer’s Handbook“, das zum Standardwerk wurde und für das er 1978 mit einem „Edgar Allan Poe Award“ geehrt wurde.

In den 1980er Jahren schrieb Treat Krimi-Rätsel für jüngere Leser und blieb ins hohe Alter aktiv. Am 7 Januar 1998 ist Lawrence Treat in Oak Bluffs, Massachusetts, im Alter von 94 Jahren gestorben.

|Taschenbuch: 191 Seiten
Originaltitel: T as in Trapped (New York : William Morrow 1947)
Übersetzung: Rosa Rudel|
[Verlagshomepage]http://www.fischerverlage.de/verlage/scherz_verlag

John Burnside – In hellen Sommernächten

Das geschieht:

Kvaløya ist eine kleine Insel unweit der nordnorwegischen Küste. In dieser Region am nördlichen Polarkreis sind die Winter hart und dunkel. Im Sommer geht die Sonne dagegen wochenlang überhaupt nicht unter. Sie taucht das Land auch in den ‚Nächten‘ in ein unwirkliches, helles Licht, das vor allem dem für Irritationen empfindlichen Menschenhirn Streiche spielt.

Vor 15 Jahren hat sich die Malerin Angelika Rossdahl auf Kvaløya angesiedelt. Hier führt sie ein arbeitsreiches, zurückgezogenes Leben. Gesellschaft leistet ihr Liv, ihre Tochter, die den Vater niemals kennengelernt hat. In diesem Sommer des Jahres 2001 ist Liv 18 Jahre alt und eher noch einsiedlerischer als die Mutter. Kontakt hält sie nur zum alten Kyrre Opdahl, einem Einheimischen, der noch fest an die Realität einer Welt glaubt, die in der aufgeklärten Gegenwart längst unter dem Titel „Mythologie“ ad acta gelegt wurde.

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Simms, Chris – Panther, Der

_Das geschieht:_

Detective Inspector Jon Spicer von der Greater Manchester Police bearbeitet aktuell den Fall eines anonymen Notrufs, der eine blutige Schlägerei auf einem Parkplatz meldete. Die eintreffende Streife fand viel Blut aber kein Opfer. Spicer kann trotzdem einen der Beteiligten ermitteln. Derek Peterson ist allerdings wenig mitteilsam. Der wegen Kindsmissbrauch aktenkundige Mann hatte auf dem Parkplatz nach Sexpartnern Ausschau gehalten, als er verprügelt wurde.

Dass Peterson nicht die ganze Wahrheit sagt, will ihm Spicer zunächst durchgehen lassen. Am nächsten Tag ist Peterson tot: Mit zerfleischtem Oberkörper und herausgerissener Kehle liegt er auf einem anderen Parkplatz unweit des stadtnahen Moors. Kurze Zeit zuvor hatte man die Farmersfrau Rose Sutton nur wenige Kilometer entfernt ebenso zugerichtet gefunden.

Die Medien horchen auf: Seit jeher werden im weiten, unwegsamen Moor große Raubkatzen gesichtet. Sicher feststellen konnte man sie dort freilich nie. Doch Haare in den Wunden der Leichen lassen sich einem Panther zuordnen. In den Zoos der Umgebung vermisst niemand ein Tier. Spicer glaubt ohnehin an einen Mörder, der eine falsche Spur legen will.

Diese Rechnung könnte aufgehen, denn schnell beginnt sich Panik auszubreiten. Spicer gerät immer stärker unter den Druck nervöser Vorgesetzter und ungeduldiger Reporter. Zusätzlich lenken private Probleme ihn ab: Die gerade geborene Tochter raubt ihm den Nachtschlaf, und Gattin Alice scheint unter Depressionen zu leiden. Der Fall droht dem überforderten Spicer die letzten Kräfte zu rauben. Als der ‚Panther‘ wieder zuschlägt und kurz darauf der endlich ermittelte Hauptverdächtige tot aufgefunden wird, kann Spicer nicht mehr …

_Englischer Krimi von glücklicherweise hoher Stange_

Keine Sorge, er fängt sich bald wieder, wobei die Einmischung eines besonders verhassten Vorgesetzten den dringend erforderlichen Energieschub bringt. Zudem gehört der Ärger mit dem Boss, der unterstützen müsste aber stattdessen mobbt & mauert, zur unbedingten Dreiheit des modernen englischen Kriminalromans. Zu dem zählt „Der Panther“ nicht nur, sondern in dem scheint er spurlos aufzugehen: Selten findet man einen Krimi, der so deckungsgleich jede Genrevorgabe erfüllt. Da erstaunt es zunächst umso mehr, dass „Der Panther“ trotz des gänzlich fehlenden Faktors „Originalität“ gut unterhält: Solides Handwerk kann ein sprühendes Ideenfeuerwerk durchaus ersetzen.

Um das oben angerissene Thema abzuschließen: Die übrigen Elemente der erwähnten Dreiheit sind natürlich „der Fall“ – das Verbrechen an sich – und das Privatleben der Hauptfigur, das Simms vorschriftsmäßig chaotisch schildert. Der Säugling schreit, die Gattin verhält sich wunderlich, die hübsche Kollegin gurrt, der lästige Hund soll aus dem Haus, und Oma hat die Nase voll vom Babysitten: Kein Mainstream-Krimi geht heute mehr ohne Seifenoper; Schaumschläger wie Elizabeth George füllen damit mindestens die Hälfte ihrer ziegelsteindicken Bestseller-Schwarten.

Auch „Der Panther“ ist deutlich seitenstärker als nötig geraten. Umfang und Handlung stehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zum Plot, obwohl Simms es nicht ausufern lässt: Sein Roman ist immer noch mehr Krimi als Ausschnitt aus der Lebens- und Leidensgeschichte eines englischen Polizisten.

|Katzenspuk in nebliger Landschaft|

Es beginnt trügerisch als langweilige Routine. Detective Inspector Spicer untersucht eine Schlägerei. Das Schicksal und Chris Simms wollen es, dass binnen kurzer Zeit ein Panther umgeht, die Zahl der Leichen sprunghaft wächst und die Spuren bis ins Afrika der 1950er Jahre zurückreichen: Arthur Conan Doyle trifft Henning Mankell, könnte man es beschreiben, nur dass Chris Simms nicht in dieser Liga schreibt.

Der um den Panther kreisende Handlungsstrang erzählt eindeutig die bessere Geschichte. Simms lebt in Manchester; er kennt die Stadt und ihr Umland sowie ihre Bewohner. Auf seiner hochprofessionellen Website gewährt der Autor einen bestätigenden Blick hinter die Kulissen seines Romans.

Wir erfahren dort außerdem, dass Einheimische und Touristen seit vielen Jahren und vorzugsweise in der Dämmerung Panther, Pumas u. a. Großkatzen durch das Moor schleichen sehen. Die Landschaft begünstigt solche Sichtungen. Große Teile der Grafschaft Greater Manchester gehören zum Peak-District-Nationalpark, der sich über weite Teile Mittel- und Nordenglands und über mehrere Grafschaften erstreckt. Die Landschaft wird durch unwirtliche, menschenleere Hochmoore gekennzeichnet, in denen sich sicherlich auch Elefanten verstecken könnten, wenn es den englischen Winter nicht gäbe. Jedenfalls wurde noch niemals eine der ‚entdeckten‘ Raubkatzen nachgewiesen, was Krypto-Zoologen, UFO-Gläubige und (andere) Spinner nicht davon abhält, an ihre Existenz zu glauben. Das Internet birst vor einschlägigen Websites, die vor allem als gruseliger Einblick in die verbohrte Wirrköpfigkeit erschreckend zahlreicher Zeitgenossen taugen.

|Ein Instrument der Rache|

Auf seinem zweiten Standbein ruht Simms Garn ein wenig wackeliger. Um dem Plot zur dem Umfang angemessenen Intensität zu verhelfen, greift der Autor räumlich und zeitlich weit aus. Was er dabei mit den Fingerspitzen erwischt, rutscht ihm ein wenig aus der Schreibhand. Was genau damit kritisiert wird, soll und darf hier nicht konkretisiert werden, um dem Leser die Auflösung der Geschichte fair vorzuenthalten. Angedeutet sei hier der Rückgriff auf ein Kapitel der Vergangenheit, das Simms zum Zeitpunkt der Niederschrift stark beschäftigt hat. Dass es nicht gut ins Gefüge dieses Krimis passt, konnte oder wollte er nicht einsehen. Er zog sogar noch eine weitere Subtext-Ebene ein: Zwischen den alten Gräueln, die seinen Mörder zu seinen Taten bringen, schlägt Simms einen Bogen zu jenen Folter-Skandalen, mit denen die US-Armee im Irak 2006 und damit zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans unrühmlich von sich reden machte.

Dieses Anliegen – verstärkt durch lange historische Rückblenden – bekommt dem Roman schlecht, da es ihm sichtlich aufgepfropft wird, statt in die Handlung einzufließen. Simms scheut nicht einmal vor einem märchenhaften Epilog zurück, in dem das ‚Erbe‘ des Mörders – der auch als Historiker beachtliche Qualitäten bewies – zur Veröffentlichung vorbereitet und der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen wird. Es wäre hilfreicher gewesen, der Handlung ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. So wird im Laufe des Geschehens tatsächlich ein Panther im Moor geschossen, wodurch die Gefahr gebannt zu sein scheint. Simms möchte möglicherweise einer Szene aus „Der weiße Hai“ seine Referenz erweisen. Leider ‚vergisst‘ er uns darüber in Kenntnis zu setzen, woher dieses Tier eigentlich gekommen ist; dieser Referent hat jedenfalls trotz intensiven Suchens keine entsprechende Info entdeckt.

Es ist wie gesagt das Handwerk, mit dem Simms nicht nur den Karren aus dem Dreck, sondern auch die Aufmerksamkeit seiner Leser auf sich zieht. Er |kann| schreiben, er hat einen Sinn für Humor, den er deutlich feiner dosiert als beispielsweise Ian Rankin oder gar Stuart MacBride und er zeichnet gut Figuren. Auf diese Weise schafft man keine Klassiker aber Unterhaltung, was keineswegs als Negativkritik gemeint ist.

_Autor_

Chris Simms wurde 1969 in Horsham, einer unweit Londons gelegenen Kleinstadt in West Sussex, geboren. Er studierte an der Newcastle University, gönnte sich nach dem Abschluss eine Weltreise und siedelte sich 1994 in Manchester an. Er arbeitet freiberuflich für Werbeagenturen.

„Outside the White Lines“, ein erster Kriminalroman, wurde 2003 veröffentlicht und erhielt gute Kritiken. Mit „Killing the Beasts“ (dt. „Das siebte Opfer“) erschien zwei Jahre später der erste Band einer Serie um Detective Inspector Jon Spicer von der Greater Manchester Police. Vom „Shots Magazine“ wurde dieses Buch als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet.

|Taschenbuch: 509 Seiten
Originaltitel: Savage Moon (London: Orion 2007)
Übersetzung: Silvia Visintini
ISBN-13: 978-3-426-50487-1
Als eBook: August 2011 (Knaur eBook)
ISBN-13: 978-3-426-40970-1|
http://www.chrissimms.info
http://www.knaur.de

Recht, Z. A. – Jahre der Toten, Die

_Die „Morningstar-Strain“-Trilogie:_

(2006) _“Die Jahre der Toten“_ |(Plague of the Dead)| – Heyne TB 52941
(2008) „Aufstieg der Toten“ |(Thunder and Ashes)| – Heyne TB 53424
(2012) |Survivors| [vollendet von Thom Brannan]

_Das geschieht:_

Sie haben es seit Jahren angekündigt, wurden aber wie üblich aus Kostengründen überhört: Mediziner aus aller Welt warnten deshalb vergeblich vor der Geschwindigkeit, mit der eine unbekannte, unheilbare Seuche in einer globalisierten Welt über die Menschheit kommen könnte. Genau dies ist jetzt geschehen. Irgendwo in Afrika entwickelte sich der Morgenstern-Virus. Er verwandelt seine Wirte in tollwütige Zombies. Nur ein Kopfschuss kann diese Kreaturen stoppen, sonst stehen sie selbst tot wieder auf.

Sämtliche Quarantäne- und Evakuierungsmaßnahmen versagen. Die örtlich begrenzte Seuche wird zur Pandemie: Ahnungslos tragen bereits infizierte aber zunächst noch symptomfreie Menschen den Virus per Flugzeug in die ganze Welt. Überall bricht die Krankheit aus. Die Behörden sind machtlos, bald muss das Militär eingreifen, doch die lebenden Toten sind bereits überall und weit in der Überzahl.

Aus dem nördlichen Afrika schlägt sich eine kleine Gruppe notverbündeter US-Soldaten und Zivilisten um den Drei-Sterne-General Francis Sherman heimwärts gen Vereinigte Staaten durch. Der Weg ist weit, und als an Bord des Schiffes, auf dem man reist, die Seuche ausbricht, gibt es kein Entrinnen. Nur wenige Überlebende erreichen ihr Ziel – und betreten einen Kontinent, auf dem der Virus die Oberhand gewonnen hat.

In Washington versucht die Morgenstern-Spezialistin Anna Demillio, ein geheimes Forschungsinstitut der US-Army im US-Staat Nebraska zu erreichen, um dort ein mögliches Gegenmittel zu entwickeln. Ihr sind nicht nur die Zombies, sondern auch ein fanatischer Beamter der Nationalen Sicherheitsbehörde auf den Fersen, der Demillio für eine Landesverräterin hält. Während die großen Städte in Flammen stehen, versuchen die beiden Gruppen verzweifelt, einen sicheren Ort zu finden, an dem sie vor den allgegenwärtigen Zombies sicher sind …

|Sie sind überall: Zombies!|

Den schlappschwänzigen Nackenbeißer-Vampiren hart auf den Fersen sind in deutschen Buchläden aktuell die Zombies. Während die einen Jungmädchen-Träume befeuchten, sind und bleiben die anderen unbelehrbare Horror-Schweine: Sie verwesen im Stehen, sind unverbesserliche Kannibalen, und ihr Hirn besteht aus Matsch. Damit taugen sie überhaupt nicht als Projektionsfiguren für die oben genannte Klientel – glücklicherweise, denn so bleibt uns echten Horrorfreunden wenigstens ein Monster, das sich der Weichspülung erfolgreich widersetzen kann!

Natürlich hält sich der Unterhaltungswert kannibalischer Untoter im Gegenzug in Grenzen. Vor allem existieren sie, um zu fressen. Darüber hinausgehende Motive lassen ihre zerfallenden Hirne nicht zu. Z. A. Recht ist in diesem ersten Band seiner „Morgenstern-Virus“-Trilogie konsequent. Zwar gibt es neben den fußlahm torkelnden „Watschlern“ auch die pfeilschnellen „Sprinter“. Nach dem Tod wieder schlau gewordene Zombies spart der Autor jedoch aus. Die Furcht vor den wandelnden Untoten beschränkt sich deshalb auf äußere Eigenschaften: Überzahl, relative Unverwundbarkeit, Furchtlosigkeit, Kannibalismus und hässliches Aussehen.

Dies mag erschreckend genug sein, verzichtet aber als Konzept dennoch auf den wichtigsten Furcht-Faktor: einen intellektuell präsenten Gegner, der seinen Feldzug gegen die Menschheit planvoll führen kann. Allerdings wäre dieser Kampf wohl rasch entschieden, denn solchen Zombies könnten die Lebenden nicht widerstehen.

|Der Zombie in uns allen|

Also konzentriert sich der Schrecken, der dem Zombie innewohnt, primär auf die unbarmherzige Feindschaft eines Feindes, der gerade noch Familienmitglied, Freund oder Nachbar gewesen ist. Hinzu kommt die vollständige Auflösung bisher schützender Strukturen. Angesichts der wirklich großen Katastrophen ist in der Geschichte der Menschheit noch niemals ein Rettungsschirm groß genug gewesen. Hinzu kommt der Faktor menschlichen Versagens. Je mehr Menschen an einem Unternehmen beteiligt sind, desto höher werden die damit verbundenen Risiken. Autor Recht spielt dies sehr anschaulich mit dem Versuch nach, den gesamten Kontinent Afrika vom Rest der Welt abzuriegeln. Anfänglich ist vor allem das Militär davon überzeugt, mit Manpower und Ausrüstung die Aufgabe meistern zu können. Stück für Stück zerfällt mit der Mauer um Afrika diese Selbstsicherheit, die nahtlos in Arroganz übergeht. Hier kommt ein Feind, dem nicht beizukommen ist.

Die Konsequenzen sind spektakulär – und sie fallen beim US-amerikanischen Autor Z. A. Recht entsprechend aus: amerikanisch. Auf den anderen Kontinenten mögen die Menschen ihr Heil in der Flucht suchen. In den USA verbarrikadiert man sich und geht in die Offensive. In einem kurzen, launigen aber informativen Vorwort bringt es Bowie V. Iberra so auf den Punkt: |“Der Fremde von gegenüber wird plötzlich zu deinem besten Freund. Der ‚Verrückte‘, den jeder wegen seiner Waffensammlung für einen Terroristen gehalten hat, wird plötzlich zu eurem größten Aktivposten. Jetzt muss man auch dem seinem Rivalen zusammenarbeiten, um einen gemeinsamen Gegner zu bekämpfen … Die Zombie-Apokalypse bringt die Menschen einander näher.“| (S. 6) Der uramerikanische Pioniergeist erwacht zu neuem Leben. Wie man sich einst gegen die Briten, die Indianer oder gegen die Kommunisten gestellt hat, wird man auch die Zombies Mores lehren.

|Yes, we can!|

Wenn Recht diesen Punkt erreicht hat, beginnt seine Geschichte zu verflachen. Die Besonderheit einer ansonsten typischen Horror-Story lag bisher in dem ‚globalisierten‘ Blick auf die Apokalypse. Recht hat die Mechanismen einer Pandemie sehr genau erfasst und umgesetzt. Über viele Seite schildert er die Bemühungen, der Morgenstern-Seuche Einhalt zu gebieten. Forscher, Katastrophenschutz-Behörden, das Militär und sogar Politiker arbeiten dabei zusammen. Selbstverständlich vereinfacht Recht, aber seine Darstellung funktioniert und fasziniert.

Dem allgemeinen Zusammenbruch folgt wie angedeutet der regionale Pakt des zur Zusammenarbeit bereiten Individuums. Leider aber sehr typisch verknüpft Recht dies mit einer allgemeinen, nicht sehr zielsicheren und eher aus dem Bauch kommenden Kritik an einer US-Regierung, der man spätestens seit dem 9/11-Inferno jede Dumm- und Bosheit zutraut. Hier begibt sich Recht auf ein Terrain, das von Verschwörungsfanatikern, Survival-Rednecks u. ä. Spinnern bevölkert wird, die sogar noch gefährlicher als Zombies sind.

Hatte Recht bisher die Welt im Auge, verengt sich im letzten Drittel sein Fokus auf zwei kleine Gruppen, die in einem chaotischen Amerika nicht nur um ihr Leben kämpfen, sondern gleichzeitig eine Mission verfolgen – selbstverständlich, muss man sagen, denn der wahrlich Tüchtige denkt nie nur an sich selbst, sondern auch an die Rettung der Welt. Von dieser antiquierten, nicht nur in Hollywood gepflegten Haltung will oder kann auch Recht nicht lassen. „Die Jahre der Toten“ verwandelt sich in die bekannte Abfolge von Kämpfen Mensch gegen Zombie, die in dunklen Kellern, unübersichtlichen Lagerhäusern oder in dreiseitig umbauten Hinterhöfen stattfinden. Dabei kommt ein vom Verfasser detailtreu in Konstruktion und Wirkung beschriebenes Waffenarsenal zum Einsatz; es lässt sich jederzeit ergänzen, da überall im Land vorsichtige Bürger (s. o.) entsprechende Lager angelegt haben.

|Geprüft & für hart genug befunden|

Mit der Figurenzeichnung hapert es, was vielleicht auch dem Alter des Verfassers geschuldet ist: Z. A. Recht war gerade 23 Jahre ‚alt‘, als er „Die Jahre der Toten“ veröffentlichte. Dies hat auf der anderen Seite durchaus Vorteile: Die Handlung bleibt von vielen einschlägigen Klischees verschont. Es gibt keine „Love-Amongst-the-Ruins“-Interludien, Familiendramen oder ähnliche Seifenoper-Einschübe, mit denen gern Zeit geschunden wird. Auch der bekannte Diktator, der die Überlebenden härter drangsaliert als die Zombies, bleibt (noch) ausgespart.

Klug hält sich der Verfasser daran, was er meistern zu können glaubt. Dies gelingt ihm abermals in den ersten beiden Roman-Dritteln besser. Als er sich seinen Hauptfiguren, die sich ohnehin erst im Verlauf der Handlung herauskristallisieren, stärker nähert, verschwimmen die Konturen. Plötzlich gewinnt an Bedeutung, was Recht bisher in Frage zu stellen schien. Der ‚gute‘ General Sherman gibt seine Männer zwar frei, die jedoch unter Beibehaltung des militärischen Zeremoniells sämtlich bei ihm bleiben. Sie werden sogar noch patriotischer, falls dies überhaupt möglich ist, wobei „patriotisch“ hier im ursprünglichen Sinn gemeint ist und das Festhalten an nunmehr obsolet gewordenen Vorschriften und Regeln ausdrücklich ausklammert: Sherman und seine Männer schlagen sich direkt auf die Seite derjenigen, die sie bisher höchstens im Ausland beschützen sollten. Die Kavallerie ist da, um die bedrohten Siedler vor den Indianern zu schützen, die dieses Mal indes (politisch korrekt) alle Ethnien vertreten.

„Die Jahre der Toten“ – für den seltsamen deutschen Titel, der wohl vor allem eindrucksvoll klingen soll, kann der Autor nichts: Die „Jahre“ beschränken sich auf die Monate von September 2006 bis Januar 2007 – endet mit einem Cliffhanger. Die Handlung wird in „Thunder and Ashes“ – in Deutschland abermals dämlich mit „Der Aufstieg der Toten“ ‚übersetzt‘, obwohl diese schon in Band 1 die Macht übernommen haben – fortgesetzt. Man darf gespannt sein, denn Z. A. Recht weiß, wie man unterhält, und schreiben kann er auch: keine Selbstverständlichkeit gerade im Sub-Genre Zombie-, Atommutanten- und Killer-Horror, in dem sich viel zu viele Autoren darauf beschränken, durch die Reihung möglichst ’schockierender‘ Meuchel-Szenen zu langweilen und dabei vor Sätzen mit mehr als fünf Wörtern zurückscheuen.

_Verfasser_

Zachary Allan Recht wurde am 4. Februar 1983 in Bunker Hill, US-Staat West Virginia, geboren. Ein Studium der Geschichte schloss er nicht ab, sondern wurde 2007 ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift „The Journal“.

Im Vorjahr hatte er den Roman „Plague of the Dead“ veröffentlicht, der als erster Band einer „Morningstar-Strain“ genannten Trilogie oder Serie geplant war. Mit der ungewöhnlichen, weil nicht auf die üblichen Zombie-Metzeleien beschränkten, sondern die Apokalypse in einen globalen Rahmen stellenden Geschichte erregte Recht großes Aufsehen. Den ersten Erfolg konnte er mit dem Nachfolgeband wiederholen. Die großen Verlage interessierten sich für Recht, der schließlich von Simon & Schuster unter Vertrag genommen wurde.

Privat litt Recht an einer Abhängigkeit von Beruhigungs- und Schmerzmitteln. Im August 2008 verhaftete ihn die Polizei bei dem Versuch, in eine Arztpraxis einzubrechen, um sich dort entsprechende Medikamente zu verschaffen. Am 10. Dezember 2009 wurde Z. A. Recht tot in seiner Wohnung aufgefunden; er war 26 Jahre alt. Seinen zu diesem Zeitpunkt im Entwurf vorliegenden Roman „Survivors“, der die „Morningstar-Strain“-Trilogie fortsetzen oder abschließen sollte, wurde vom Schriftsteller Thom Brannan komplettiert und erschien 2012.

|Taschenbuch: 447 Seiten
Originaltitel: Plague of the Dead (New York : Pocket Books 2006)
Übersetzung: Ronald M. Hahn
ISBN-13: 978-3-453-52941-0
eBook: 959 KB
ISBN-13: 978-3-641-08287-1|
http://www.themorningstarsaga.com
http://www.randomhouse.de/heyne

Ed McBain – Heißer Sonntagmorgen

Auf dem Weg zu einem Mord erlebt eine Jugendgang, wie ihr kriminelles Idol in eine Polizeifalle gerät; aus der Festnahme wird ein öffentliches Spektakel, das unterdrückten Volkszorn und tödliche Gegenattacken auslöst … – Das spannende Geschehen gleicht einer bedrückend reibungslos arbeitenden Maschine, die durch rassistische Vorurteile angetrieben wird und mit hoher Produktionsrate neue Gewalt erzeugt: ein manchmal didaktisch wirkender aber weiterhin eindrucksvoller Kriminalroman.
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Nevill, Adam – Apartment 16

_Das geschieht:_

Barrington House erhebt sich seit jeher in einer der besseren Wohngegenden Londons. In ruhiger Abgeschiedenheit leben hier reiche Menschen in einem der 40 Apartments, die auf dem Wohnungsmarkt praktisch unbezahlbar sind. Apryl Beckford kann deshalb ihr Glück kaum fassen, als ihr Großtante Lillian Archer das Apartment Nr. 39 vererbt. Der Kontakt zur verschrobenen Verwandten war schon vor vielen Jahren abgerissen, zumal Apryl im US-Staat New Jersey lebt. Bis ein Verkauf in die Wege geleitet ist, zieht die junge Erbin in die Wohnung und sichtet den Nachlass der Verstorbenen. Dabei stößt sie auf einige Tagebücher, die entweder den Wahnsinn der Tante oder einen Fall von Verfolgung aus dem Geisterreich dokumentieren.

Seth, ein brotloser Künstler, der sich seinen Lebensunterhalt als Nachtwächter in Barrington House verdient, glaubt längst an einen bösen Spuk. Er manifestiert sich im Apartment 16, das seit über 50 Jahren leer steht und nicht betreten werden darf. Dennoch hört Seth es während seiner nächtlichen Kontroll-Rundgänge dort umgehen. Die Erscheinungen werden manifester, und sie beschränken sich bald nicht mehr auf Barrington House. Seth beginnt die Geister jener zu sehen, die nach ihrem Tod zwischen Diesseits und Jenseits ‚hängen‘ blieben – armselige, böse Kreaturen, die es freilich in keiner Weise mit dem Grauen aufnehmen können, das in Nr. 16 lauert.

Auch Apryl wird inzwischen heimgesucht. Aus den Tagebüchern ihrer Tante kennt sie zumindest den Namen des bösen Geistes von Barrington House: Der Maler und Okkultist Felix Hesse fand hier 1949 einen grausamen Tod aber keineswegs sein Ende. Seitdem spuken er und seine nicht minder üblen Begleiter durch das Haus. Hesse will Rache, sie suchen nach Opfern – die ideale Basis für eine Zweckgemeinschaft der besonders grässlichen Art, die ihr Visier auf Apryl zu richten beginnt …

_Großes Haus mit dunklen Ecken_

Man kann und mag es kaum glauben, aber selbst in einer phantastischen Gegenwart, die von weinerlichen „Twilight“-Vampiren, plapperschnattrigen Freizeit-Hexen oder – offenbar als Kontrast – genetisch verdrehten, kannibalischen, wahnsinnigen Mutanten und Hinterwäldlern dominiert wird, gibt es noch einsame Rufer in der Wüste bzw. Autoren, die der klassischen |ghost story| die Treue halten. Adam Nevill beweist in „Apartment 16“, dass dieses ehrwürdige Genre längst nicht ad acta gelegt ist, wenn man die alten Regeln behutsam aber durchaus nachdrücklich hinterfragt und neu interpretiert.

Den Anhängern der eingangs gelisteten Grusel-Gestalten mag der Schrecken, der in einer scheinbar verlassenen Wohnung lauert, allzu zahm sein. Wer sich daran erinnert, dass „Horror“ sich nicht nur aus der Suche nach dem untoten Mr. Right oder aus Blut & Gemetzel, sondern auch aus einer besonderen Atmosphäre der Angst speisen kann, denkt anders und freut sich über eine Geschichte, die anderen Ansprüchen gerecht wird, ohne darüber in literarischen Sphären zu schweben: „Apartment 16“ ist kein Ort, an dem es nur vielleicht spukt und die Furcht auch auf Einbildung beruhen könnte. Hier geht es mit Pauken & Trompeten um, wenn man ein einprägsames Bild bemühen möchte.

Denn in Apartment 16 hat sich nicht einfach ein finster gestimmtes Gespenst eingenistet. Felix Hesses Ambitionen gehen über simple Rache weit hinaus. Er gehört zu zwar jenen Pechvögeln, die nach vielen Jahren einer entbehrungsreichen Suche tatsächlich fanden, was sie gesucht haben. Nun ist Hesse in jeder Hinsicht klüger und zorniger geworden.

|Das Jenseits als (Vor-) Hölle|

Hesses Informationsgier galt seit jeher der „Vortex“. Das Konzept einer Vorhölle, in der jene Seelen gefangen sind, die den ‚Aufstieg‘ in höhere und friedlichere Gefilde nicht schaffen, ist keineswegs neu. Autor Nevill verfügt jedoch über die notwendige Wortgewalt, diesen Ort anschaulich zu beschreiben. Der verhinderte Maler Seth – die zweite Hauptfigur – muss ihn stellvertretend für uns Leser erleben und erleiden. Die „Vortex“ wird zum verzerrten Spiegelbild einer Realität, die auf ihre negativen, bösen, unerfreulichen Seiten komprimiert wurde. Selbstmörder, Mordopfer und Mörder sind typische „Vortex“-Bewohner. Der arme Seth erlangt die Fähigkeit, sie zu sehen, wie sie an den Stätten ihres Todes immer wieder Qualen erleiden. Ihr Elend macht sie nicht nur hässlich, sondern auch bösartig.

Unter den Blinden ist offensichtlich auch im Jenseits der Einäugige König. Hesse fügt sich nicht in sein Schicksal. Auch ihn hat die „Vortex“ geprägt: Er ist noch gefährlicher geworden. Vor allem hat er das Potenzial dieser Sphäre erkannt. Hesse zwingt die verirrten Seelen unter seine Gewalt. Sie dienen ihm, wobei sich seine Macht nicht auf Barrington House beschränkt. In den Jahrzehnten seit seinem Tod konnte Hesse eine Art Bannkreis um das Gebäude ziehen, den jene, die dort wohnen oder arbeiten, nicht verlassen können.

Apartment 16 bildet nichtsdestotrotz das Zentrum des durch Hesse entfesselten und teilweise gebändigten Grauens. Hier hat er die „Vortex“ erforscht und in seinen Gemälden zu begreifen versucht. So gelang es ihm, seine alte Wohnung in ein Portal zu verwandeln, das ihm und seinen Nachtmahren den Weg in die Realität öffnet.

|Gefährliches Wissen: die nächste Generation|

Altes Unrecht zieht neues Unglück nach sich; dazwischen liegt eine Erkenntnisphase, die durch Recherchen geprägt ist: Auch Adam Nevill orientiert sich an diesem bewährten Handlungsgerüst, aber der Autor kennt jenen Ausweg, der „Variation“ heißt. Dieses Mal ist der Weg in die Hölle mit ungewöhnlichen Gemälden gepflastert. Auch diese Idee ist keineswegs originär; u. a. hat sich H. P. Lovecraft 1927 ihrer in „Pickman’s Model“ (dt. „Pickmans Modell“) sehr eindrucksvoll bedient.

Als eines seiner größten Vorbilder nennt Nevill indes nicht Lovecraft, sondern Montague Rhodes James (1862-1936), den Meister der englischen „ghost story“. In der Tat sind die Parallelen augenfällig. In erster Linie betrifft dies den Ingrimm, mit dem die Bewohner des Jenseits‘ die Menschen verfolgen. Unwissenheit schützt bei James keineswegs vor Strafe. Auch Hesse beendet seinen Rachefeldzug nicht, nachdem er alle bestraft hat, die ihn einst in den Mahlstrom der „Vortex“ warfen. Das Böse benötigt irgendwann keine Begründung mehr; es existiert für sich und aus sich heraus.

Aus Seth macht Hesse einen Gefolgsmann, aus Apryl ein Opfer. Kapitelweise springt Nevill von einer Figur zur anderen. Lange bleiben die beiden Handlungsstränge isoliert. Erst im Finale laufen sie zusammen. Bis es soweit ist, verwandelt sich Seths Leben in einen Leidensweg, während Apryl parallel dazu die Mechanismen entschlüsselt, die Hesse die Existenz nach dem Tod ermöglichen.

|Fluch mit Fragen|

Dieser Mittelteil ist Nevill zu lang geraten. Viele interessante aber für die Handlung wenig relevante Episoden unterbrechen vor allem Apryls Weg zur Erkenntnis, während Seth ein wenig zu oft zwischen grotesken „Vortex“-Kreaturen umherirrt und sich graust. Zudem fehlt eine schlüssige Begründung, wieso Hesses Wirken sich auf Apartment 16 beschränkt, wenn seine Macht sich doch bis auf Londons Straßen hinaus erstreckt.

Gelungen sind Nevills Charakterisierungen von Personen, die von der Gefangenschaft, zu der Hesses Spuk sie verdammt hat, zunehmend in den Wahnsinn getrieben wurden. Natürlich ist Barrington House darüber hinaus besonders stark von verlorenen Seelen befallen: Hesses Opfer, die er schon früher erwischen konnte. Vergangenheit, „Vortex“-Realität und Gegenwart beginnen sich vor allem für Seth immer stärker zu vermischen, bis sie miteinander verschmelzen – ein Prozess, den Nevill anschaulich gruselig zu beschreiben weiß.

Das Finale ist vorgegeben: Die Pforten der „Vortex“-Hölle werden sich öffnen und Hesse endlich ausspucken. Auch hier vermag der Autor dem Geschehen einige unerwartete Wendungen einzuflechten. Dass dem Bösen von Apartment 16 nicht wirklich ein Ende bereitet werden kann, dürfte keine Überraschung sein. Sehr modern bleibt auch ein Happy End aus. Faktisch wird sich der Mikro-Kosmos von Barrington House neu bilden. Die „Vortex“ wird um einige Unglücksraben reicher sein und neue Opfer fordern. So ist es logisch, so hat es schon M. R. James gern gehalten und ist gut damit gefahren. Auch Adam Nevill ist – mit kleineren Abstrichen – jene gleichzeitig klassische und zeitgemäße |ghost story| gelungen, an der Susan Hill seit vielen Jahren scheitert.

_Autor_

Adam L. G. Nevill wurde 1969 im englischen Birmingham geboren. Er wuchs dort sowie auf der Insel Neuseeland auf, später studierte er an der schottischen Universität von St. Andrews. Nach seinem Abschluss schlug Nevill die Laufbahn eines Schriftstellers ein. Es schlossen sich 15 Jahre entsprechender Versuche und ein Leben am Rande des Existenzminimums an, in denen sich Nevill u. a. mehrere Jahre als Pförtner und Nachtwärter in West-London durchschlug; die hier gesammelten Erfahrungen flossen 2010 in den Roman „Apartment 16“ ein.

Seinen ersten Phantastik-Roman, eine Gespenstergeschichte in der Tradition des englischen Großmeisters M. R. James, veröffentlichte Nevill bereits 2004: „Banquet for the Damned“ wurde 2005 von der „British Fantasy Society“ als bester Roman des Jahres nominiert.

Hauptberuflich ist Adam Nevill Herausgeber für erotische Literatur. Nachdem er in dieser Position bis Juni 2009 für „Virgin Books“ tätig war (und selbst neun Romane für Imprints wie „Black Lace“ und „Nexus“ schrieb), wechselte er nach Einstellung dieser Reihen zu „Xcite Books“.

|Paperback mit Klappenbroschur: 494 Seiten
Originaltitel: Apartment 16 (London: Pan 2011)
Übersetzung: Ronald Gutberlet
ISBN-13: 978-3-453-52876-5|

|eBook (epub): Mai 2012 (Wilhelm Heyne Verlag)
733 KB
ISBN-13: 978-3-641-07511-8|
http://www.adamlgnevill.com
http://www.randomhouse.de/heyne

_Adam Nevill bei |Buchwurm.info|:_
[„Im tiefen Wald“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7551

Abrahams, Peter – Verblendet

_Das geschieht:_

Bildhauer Roy Valois lebt und arbeitet abgeschieden aber inzwischen berühmt und wohlhabend geworden in Ethan Valley, einem Städtchen im US-Staat Vermont. Als bei ihm eine fortgeschrittene Lungenkrebserkrankung festgestellt wird, beginnt Valois sein Leben neu zu ordnen. Außerdem plagt ihn die Neugier: Wie wird die Nachwelt über ihn denken? Mit ein wenig Unterstützung bricht er in die Datenbank einer großen Zeitung ein, um seinen eigenen Nachruf zu lesen, der dort für den Fall der Fälle auf seinen Abruf wartet.

Valois ist zufrieden, doch ein Fehler stört ihn: Delia, seine immer noch geliebte, vor 15 Jahren bei einem Helikopter-Absturz in Venezuela umgekommene Gattin, habe nicht für die Vereinten Nationen, sondern für das private Hobbs-Institut als Beraterin gearbeitet, informiert er Jack Gold, den Reporter, der den Nachruf verfasste. Gold verspricht nachzuforschen. Wenig später wird er überfallen, ermordet und seiner Unterlagen beraubt.

Im Rahmen einer experimentellen Therapie reist Valois nach Baltimore. Zwischen den Behandlungen sucht er in Washington nach Spuren. Dort will man allerdings von einem Hobbes-Institut niemals gehört haben. Als Valois zufällig Tom Parish, Delias Chef, ausfindig machen kann, leugnet dieser jede Bekanntschaft ab und taucht unter. Da Valois mit Beweisen nicht dienen kann, glaubt ihm die Polizei seine Geschichte nicht.

Frustriert kehrt Valois nach Ethan Valley zurück. Dort muss er feststellen, dass jemand sich Einlass in sein Haus verschafft und es durchsucht hat; eine Skizze des Hobbs-Instituts ist verschwunden. Kurz darauf meldet sich der Geschäftstycoon Calvin Truesdale bei Valois. Der als Kunstsammler bekannte Milliardär interessiert sich angeblich für eine von seinen Arbeiten. Doch Valois ist im Besitz eines alten Fotos, dass Truesdale zusammen mit Parish zeigt …

_Mit dem Rücken zur brüchigen Wand_

Der Durchschnittsmensch in einer Ausnahmesituation ist die perfekte Identifikationsfigur für diejenigen Leser, die gern davon träumen, dass ein Abenteuer Abwechslung in ihren Alltag bringt, ohne die damit verbundenen Risiken eingehen zu müssen. Der Plot sorgt für den doppelten „Suspense“-Faktor, geht es doch nicht nur um die spannende Frage, ob der unerfahrene ‚Held‘ entkommt, sondern auch und vor allem, wie ihm, der in Sachen Täuschung und Gewalt weder ausgebildet ist noch über entsprechende Erfahrungen verfügt, dies gelingt.

Peter Abrahams verschärft die Krise, indem er eine Hauptfigur präsentiert, die an zwei tödlichen Fronten kämpft. Roy Valois ist nicht nur einer Verschwörer-Gruppe auf die Spur geraten, die ihn gern aus dem Weg geräumt sähe. Ihm sitzt ohnehin Gevatter Tod im Nacken bzw. im Brustkorb, wo dieser – gern in sowieso gefährlichen Situationen – die asbestkrebsbefallenen Lungen zwischen seinen Knochenfingern walkt, sodass dem armen Valois buchstäblich die Luft dort wegbleibt, wo es lebenswichtig wäre zu handeln.

„Verblendet“ ist als Roman eine vollständige Sammlung sämtlicher Wendungen bzw. Klischees, die das „Allein-gegen-alle“-Genre hervorgebracht hat. Deshalb erstaunt es besonders, wie gut sich Abrahams ihrer bedient hat: „Verblendet“ ist eine wunderbare, d. h. spannende, rasante und wendungsreiche Verfolgungsjagd, die darüber hinaus einen wichtigen Faktor vorbildlich berücksichtigt: Wir Leser bangen um die Hauptfigur. Der Verfasser musste sie uns dafür ans Herz legen. Roy Valois ist weder ein sentimentaler noch ein herausragend sympathischer Mann. Trotzdem |wollen| wir, dass er obsiegt: gegen seine unsichtbaren Feinde und gegen den Krebs.

|Wo kann ich mich verstecken?|

Abrahams ist als Erzähler ein Profi, der auf eine mehrere Jahrzehnte währende Schriftstellerkarriere zurückblicken kann. Wo andere Autoren allmählich auslaugen, ist er gereift. „Verblendet“ beweist, dass der Autor genau weiß, wie man eine solche Geschichte (beinahe) über die volle Distanz bringt. Dies bedeutet in erster Linie eine Variation des Bekannten, das neu arrangiert sichtlich den bewährten Unterhaltung-Sog ausüben kann.

Zur Spannung kommt mehr als ein Quäntchen Paranoia. In der multimedialen Welt des 21. Jahrhunderts muss sich Mr. Jedermann besonders hilflos und ausgespäht vorkommen. Die technischen Mittel, die Valois gestatten, die Spur des Gegners aufzunehmen, stehen auch diesem zur Verfügung, um den neugierigen Schnüffler ausfindig zu machen. Das Internet entwickelt sich dank des Erfindungsgeistes eines geschickten Verfassers zur Höllengrube. Für die Zündung sorgt die unschuldige Neugier eines kranken Mannes, der nur seinen Nachruf lesen wollte.

Längst zum zweiten Teufelswerkzeug ist im modernen Thriller das Handy geworden, weil es eher der verräterischen Ortung als der Kommunikation dient. Gemeinsam sorgt die geballte Hightech für einen dem Verfasser nützlichen Effekt: Irgendwann erkennt der flüchtige Held, dass er sich nur verstecken kann, wenn er sich ihrer entledigt. Damit kann das gute, alte Katz-und-Maus-Spiel wieder beginnen; in unserem Fall bedeutet dies, dass sich Roy Valois von verlässlichen Freunden zum Finalkampf Auto fahren lässt.

|Wem kann ich trauen?|

Die Antwort muss in einem guten Thriller selbstverständlich lauten: Niemandem! Es ist Teil der Spannung, dass sich Roy Valois‘ menschliches Umfeld in ein gesichtsloses Heer potenzieller Feinde verwandelt. Die meisten seiner Freunde sind und bleiben Freunde, doch Abrahams kreiert und schürt eine Atmosphäre, in der jedes Wort, jede Handlung eine unterschwellige und bedrohliche Zweitbedeutung gewinnt. Valois nimmt Menschen, die er seit Jahrzehnten kennt bzw. zu kennen glaubt, unter die Lupe und meint plötzlich Fremde zu sehen.

Vertrackterweise geht sein Misstrauen nicht tief genug oder besser gesagt: in die falsche Richtung. Hierin wird abermals die verständliche Ratlosigkeit eines Menschen deutlich, der im postulierten Sumpf korrupter Politiker, selbstherrlicher Konzern-Könige und unkontrollierbarer Geheimdienstlern umherirrt und unterzugehen droht. Der Feind hat dieses Problem nicht und ist Valois deshalb immer einen Schritt voraus.

Was zu der Frage führt, wieso ausgerechnet ein todkranker Bildhauer seinen zudem schwer bewaffneten Verfolgern nicht nur immer wieder ein Schnippchen, sondern ihnen auch die Schädel einschlagen kann. Dies ist eine typische Schwachstelle solcher Thriller: Das Opfer muss über sich hinauswachsen und dabei auch sich selbst unbekannte Kräfte entwickeln; für den Rest sorgt der Faktor „Gerechtigkeit“, eine romantische Vorstellung, der auch Abrahams sich nicht entziehen kann: Roy Valois zerschlägt den gordischen Knoten, weil er im Recht ist. Allerdings muss man dem Verfasser zugestehen, dass es der Leserschaft sicherlich nicht recht wäre, würden Valois und dieser Roman realistisch etwa auf Seite 100 durch eine gut gezielte Schurkenkugel ausklingen.

|Was ist eigentlich geschehen?|

Das in festen Bahnen laufende und ruhige Leben des Roy Valois verwandelt sich in Treibsand – ein Vorgang, den Abrahams mit großem Geschick und fast sadistisch als Kettenreaktion zu schildern weiß. Nicht einmal auf seine Erinnerungen kann Valois sich berufen, denn diese sind falsch. Zu Krankheit und Todesgefahr kommt die Erkenntnis, ausgerechnet von der geliebten Frau, nach der Valois sich seit 15 Jahren in Trauer verzehrt, belogen worden zu sein.

Aus dieser Not muss Valois eine typische Thriller-Tugend machen und sich neue Verbündete suchen. Denen kann er – wahrscheinlich – zwar trauen, hat sich jedoch damit abzufinden, dass sie auch keine Profis in Sachen Lug & Trug sind, weshalb gut gemeinte aber schlecht durchdachte Pläne die Lage für den Helden noch brenzliger gestalten.

Aber auch in diesem Punkt meint es das kosmische Schicksal im trauten Bund mit dem vielbeschäftigten Zufall gut mit Valois: Im Alleingang rollt er die dunkle Vergangenheit des Hobbs-Instituts und seiner Betreiber auf, die selbstverständlich immer noch im Untergrund tücken. Bis zum Oberschurken muss er sich dabei durch ein Feld immer gefährlicherer Schergen schlagen, wobei Autor Abrahams hin und wieder keinen echten Rat weiß und beispielsweise ein aufgeregtes Pferd mit harten Hufen eine lebensgefährliche Situation klären lässt.

|Wie soll das enden?|

Die vor allem auf Dauer wenig überzeugenden Stehaufmännchen-Qualitäten des Roy Valois wurden bereits negativ angemerkt. Dieser Schwachpunkt artet leider ausgerechnet im Finale zum Logikloch aus. Abrahams scheinen schließlich die Ideen ausgegangen zu sein. Was sonst könnte eine Erklärung für die peinlich primitive Weise sein, auf die sich Valois Zugang zum Stützpunkt des bösen Drahtziehers verschafft, der doch über ein Heer bestens ausgebildeter Leibwächter gebietet, wie Abrahams nie müde wurde uns vor Augen zu führen? Innen wird er nicht etwa sofort geschnappt, sondern kann sich frank & frei bewegen und binnen weniger Minuten nicht nur die letzten Rätsel lösen, sondern auch eine entlarvende Botschaft finden, nach der sein Widersacher – auf dem eigenen Grundstück! – seit anderthalb Jahrzehnten vergeblich gesucht hat.

Dass alles in einem simplen Faustkampf zwischen Gut & Böse gipfelt, könnte dieser Geschichte den Rest geben. Aber in letzter Sekunde, mit den letzten Zeilen besinnt sich Abrahams eines Besseren. Die große Verschwörung wird aufgedeckt, aber ein Happy End für Roy Valois wird es wohl nicht geben. Es wäre in der Tat ein wenig zu viel jener naiven Gerechtigkeit gewesen, über der man im Geiste stets das Sternenbanner im Wind knattern hört. So aber überwiegt die positive Erinnerung an einen Roman, dessen Pageturner-Qualitäten nicht von der Werbung behauptet, sondern von einem talentierten Autoren verwirklicht wurden, und der es daher nicht verdient, in einem Meer ähnlich lieblos gestalteter aber tatsächlich langweiliger Verbrauchs-Taschenbücher unterzugehen.

_Autor_

Peter Abrahams wurde am 28. Juni 1947 in Boston, US-Staat Massachussetts, geboren, verlegte seinen Wohnort jedoch nach dem Studium beruflich bedingt ins kanadische Ottawa, wo er für den Sender CBS als TV-Produzent arbeitete.

Als Schriftsteller ist Abrahams für seine solide geplotteten, sorgfältig umgesetzten, klassischen Thriller bekannt, für die er als literarische Vorbilder Graham Greene und Ross Macdonald nennt. Abrahams verzichtet auf überzogene Effekte und versteht es, Spannung auch oder gerade aus dem Verhalten glaubwürdig gezeichneter Menschen in einer lebensverändernden und -bedrohlichen Situation zu ziehen.

Das hierin seit Jahrzehnten gezeigte Talent weiß Abrahams auch in die auf fünf Bände angelegte „Young-Adult“-Krimi-Serie „Echo Falls Mysteries“ einzubringen, mit der er nicht nur die Kritik, sondern auch das anvisierte jugendliche Publikum überzeugen konnte. Sorgfältig geheim hielt Abrahams dagegen seine Urheberschaft an der „Chet-&-Bernie“-Mystery-Serie: Unter dem Pseudonym „Spencer Quinn“ beschreibt er die Abenteuer eines Privatdetektivs, die aus der Sicht seines Hundes (!) geschildert werden.

Mit seiner Familie lebt und arbeitet Abrahams heute wieder in Massachusetts und hier in Falmouth oder auf Cape Cod.

|Taschenbuch: 413 Seiten
Originaltitel: Nerve Damage (New York : William Morrow 2007)
Übersetzung: Frauke Czwikla
ISBN-13: 978-3-426-50770-4|

|Als eBook: Juni 2012 (Knaur eBook)
479 KB
ISBN-13: 978-3-426-41294-7|

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Michel Parry (Hg.) – Acht Teufelseier

Parry Teufelseier Cover kleinSowohl die Freunde der klassischen, fein gesponnenen Geistergeschichte als auch die Fans des eher grellen Horrors der „Pulp“-Ära werden in dieser Sammlung bedacht; Herausgeber Parry präsentiert acht Storys über meist schwarze Magie, die in der Regel grausig auf den Verursacher zurückschlägt: Den Leser erwarten keine Meisterwerke aber vor allem in deutscher Übersetzung meist seltene, oft gelungene Genrestücke. Michel Parry (Hg.) – Acht Teufelseier weiterlesen

Pattison, Eliot – Asche der Erde, Die

_Das geschieht:_

25 Jahre nach der atomaren Apokalypse, die durch einen von Terroristen gestarteten III. Weltkrieg ausgelöst wurde, gibt es nur noch wenige Menschen auf einer vielerorts verstrahlten Erde. An der Grenze zum ehemaligen Kanada hat sich an einem der Großen Seen die US-Kolonie New Carthage entwickelt. Unter dem strengen Regime des „Gouverneurs“ Lucas Buchanan führen 9000 Menschen ein hartes Leben, das dem ihrer Vorfahren im 19. Jahrhundert gleicht. Das Wissen um die Vergangenheit schwindet mit dem Aussterben der Elterngeneration, der weitere Niedergang scheint vorprogrammiert.

Hadrian Boone gehört zu denen, die sich weigern zu resignieren. Einst gehörte er dem Rat von New Cathage an. Doch Gouverneur Buchanan hat sich in einen Feudalherren verwandelt, der seine ‚Untertanen‘ zunehmend deckelt. Dass er Boone nicht schon längst in die tödliche Verbannung geschickt hat, verdankt dieser der schützenden Hand des alten Wissenschaftlers Jonah Beck, der für New Carthage zahlreiche Errungenschaften der Vergangenheit bewahren oder neu erschaffen konnte.

Doch Beck wird umgebracht – ein weiterer Mord, den Buchanan verschweigt: Sämtliche Kundschafter, die er hinausschickte, um nach anderen Siedlungen zu suchen, wurden ebenfalls getötet. Boone wird beauftragt, das Rätsel zu lösen. Eine abenteuerliche Erkundungsreise in den Norden führt ihm vor Augen, dass die Menschheit sich zwar zu erholen aber dabei die tödlichen Sünden der Vergangenheit zu wiederholen beginnt. Boone entdeckt, dass New Carthage von einer feindlichen Macht unterwandert wird, die es auf die Vorräte der Siedlung abgesehen hat. Der unsichtbare Feind verfügt nicht nur über Waffen und Munition aus der ‚alten Welt‘, sondern auch über andere, viel gefährlichere Mittel zur Unterstützung der anstehenden Invasion …

_Scheinbar neue Weisheit im alten Gewand_

Es ist immer ein Seiltanz, wenn ‚echte‘ Literaten sich in Genre-Unterhaltung versuchen bzw. sich bestimmter Genre-Elemente bedienen, um ihre Geschichte zu ‚würzen‘ und für jene Leserschichten attraktiver zu gestalten, die sonst wohl nicht zugreifen würde. Eliot Pattison ist durch eine Serie vielgelesener Kriminalromanen bekannt geworden. Diese spielt außerdem im modernen Tibet und vor dem Hintergrund der dort herrschenden chinesischen Diktatur. Da Pattison politische und gesellschaftskritische Aspekte stark in den Vordergrund stellt, hat er das Interesse entsprechend gepolter Kritiker erregt, die der Ansicht sind, dass Pattisons Tibet-Romane ihren Teil dazu beitragen, die lesende Welt auf die chinesischen Verstöße gegen die Menschenrechte aufmerksam zu machen, weshalb sie schon deshalb literarischen Wert besitzen.

Mit „Die Asche der Erde“ wechselt Pattison zwar das Reittier – das zum Transport der eigentlichen Botschaft gesattelte Genre -, bleibt aber auf gewohntem Kurs. Im Gewand einer „Post-Doomsday“/Science-Fiction-Geschichte spielt er erneut in allen Einzelheiten durch, wie gesellschaftliche Systeme ausarten können. Als Identifikationsfigur dient ihm abermals ein unbeugsamer Idealist. An die Stelle von Shan Tao Yun tritt Hadrian Boone. Bereits der Name ist Programm, denn wie der antikrömische Kaiser (76-138 n. Chr.) ist Boone ein Mann, der die Bewahrung und Förderung der Kultur über Eroberungspläne stellt.

Die chinesische Diktatur wird durch das neo-feudale New Carthage ersetzt. Wenn sich Pattison nun auf einen überschaubaren Mikrokosmos konzentriert, kann er die Sünden des Machtmissbrauchs wesentlich deutlicher aufzeigen, indem er sie Individuen zuordnet. Hat das Böse einen Namen, lässt es sich leichter identifizieren.

|Unterdrücken ist leichter als Lernen|

Pattison erklärt sich in einem Nachwort so über „Die Asche der Erde“: |“Der vorliegende Roman ist gewiss nicht als Prophezeiung gedacht, doch er basiert zum Teil auf Vorhersagen über den Stand von Technologie und Wissenschaft nach einer so umfassenden Zerstörung. Auch mit bestens ausgebildeten Fachleuten unter den Überlebenden würde eine solche Gesellschaft wahrscheinlich ohne Elektrizität und Verbrennungsmotoren auskommen müssen und sich wieder auf die Technik des frühen Industriezeitalters besinnen.“| (S. 429) Auf der Basis dieser Erkenntnisse zeichnet Pattison freilich eine Zukunftswelt, die sich von den Entwürfen vieler SF-Autoren kaum oder gar nicht unterscheidet. So hat beispielsweise Robie Macauley (1919-1985) in „A Secret History of Time to Come“ (dt. „Dunkel kommt die Zukunft“) schon 1979 alles Themenrelevante gesagt. Einen tiefen Blick in eine durch die Altlasten der Vergangenheit gebremste Zukunft warf zuletzt Robert Charles Wilson in „Julian Comstock“ (2009). (Aber das ist ja nur Science-Fiction …)

Dies schließt die soziale Komponente ausdrücklich ein. Pattisons Blick auf diesen Bereich der menschlichen Zukunft wirkt banal: |“Bei einer Gruppe, die einen zufälligen Querschnitt der heutigen Gesellschaft darstellt, gäbe es reich Gelegenheit, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten der menschlichen Existenz zur Schau zu stellen.“| (S. 430) Die Welt um das Jahr 2050 wird für Pattison zur „Bühne“, deren „überaus fruchtbaren Boden für die Phantasie“ er mit entsprechenden Figuren bevölkert. Damit reiht sich „Die Asche der Erde“ in die lange Reihe mehr oder weniger gelungener „Post-Doomsday“-Geschichten ein. Die von Pattison (vorsichtig) beanspruchte oder gar eine auf Literatur-‚Wert‘ basierende Sonderstellung kann dieser Roman nicht beanspruchen.

|Von New Carthage nach Old Hollywood?|

Aber reine Unterhaltung kann er ebenso wenig bieten. Dies liegt einerseits an Pattisons jederzeit erhobenem Zeigefinger, mit dem er seine Leser didaktisch auf nachfolgende Erkenntnisse hinweist. Pattinson schwelgt andererseits in einem Weltschmerz, den weder die „Bühne“ noch seine Figurenzeichnung hergibt. Nicht einmal die innere Zerrissenheit des zum Tyrannen gewordenen Lucas Buchanan vermag zu beeindrucken. Sie wirkt theatralisch, kann es jedoch nicht mit dem geballten Gutmenschentum des Hadrian Boone aufnehmen. Er gibt eine Art Schmerzensmann, der für die Sünden dieser und der untergegangenen Welt den Kopf hinhält; es gibt keine andere Romanfigur, die so ausgiebig verprügelt, angeschossen oder auf andere Weisen malträtiert wird wie Hadrian Boone. Im nächsten Absatz rappelt er sich wieder auf, denn sein Auftrag, dieser Welt das Heil – Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, fließendes Wasser – zu bringen, duldet keine Auszeiten.

Die ebenfalls auf Hollywood-Format herunter gebrochenen Konflikte bieten nur eine routinierte Folge von Streitigkeiten, Intrigen, enttäuschten Erwartungen und vor allem Schurken, denen die Bosheit wieder einmal in die Visagen geschrieben steht. Vom Gefängniswärter Kenton, dem der Knüppel stets locker sitzt, über den allezeit mörderischen Kapitän Fletcher bis zum kalt-intriganten Dr. Kinzler sind sie alle so fürchterlich verworfen, dass man sich als Leser das Grinsen oft nicht verkneifen kann.

Trotzdem sind sie erträglicher als die ‚Guten‘, die sich viel zu oft die Zeit für viel zu ausführliche Klagen und Was-wäre-wenn-Vorträge nehmen. Dazwischen schieben sich radioaktiv geröstete Mutanten, die Pattison zur neuen, ausgegrenzten Minderheit erklärt und an denen die üblichen Anti-Unterdrückungs-Routinen abgearbeitet werden.

|Der tote Kundschafter in der Latrinengrube|

Am besten liest sich „Die Asche der Erde“ als Kriminalroman. Pattison leitet mit einem Leichenfund in die Handlung ein; Boone versucht sich als Detektiv, sucht Spuren, wertet Indizien aus, knüpft kausale Ketten. Dass er sich dabei auf einfache Mittel und Methoden beschränken muss, rückt „Die Asche der Erde“ in die Nähe des Historienkrimis. In der Tat könnte diese Geschichte problemlos ohne die SF-Zugaben funktionieren und beispielsweise in einer nordamerikanischen Grenzsiedlung des 19. Jahrhunderts spielen.

Dazu passt das Element der Konspiration, das dem Geschehen ein wenig Thriller-Schwung gibt, das es bitter nötig hat. Wie so oft kann die Auflösung dem Rätsel nicht standhalten, wobei hier das Problem hinzukommt, dass uns die Grenzen und Regeln dieser Welt unbekannt sind. Pattison kann sie und damit den Kreis der Verdächtigen nach Belieben erweitern, um seiner Geschichte eine neue Richtung zu geben, und genau das macht er auch und zieht dabei immer neue Verschwörer und Schurken aus dem Hut.

„Die Asche der Erde“ liest sich trotz aller Einwände angenehm schnell. Pattison mag nicht besonders originell sein, aber schreiben kann er; hierzulande wird er zusätzlich von einem guten Übersetzer unterstützt. Doch jegliche Nachwirkung bleibt aus. Ist das Buch geschlossen, beginnt sich die Erinnerung an das Gelesene umgehend zu verflüchtigen.

_Autor_

Joseph Eliot Pattison (geb. am 20. Oktober 1951 in Schottland) ist hauptberuflich Rechtsanwalt. Als Fachmann für internationales Recht berät er internationale Unternehmen. Als Journalist und Autor hat er zahlreiche fachspezifische Artikel und Fachbücher veröffentlicht.

Seine Arbeit führt Pattison seit jeher oft ins Ausland. Vor allem mit den Verhältnissen in China ist er vertraut. Diese Erfahrungen flossen nicht nur in seine journalistische Tätigkeit, sondern auch in den Kriminalroman „The Skull Mantra“ 2000 (dt. „Der fremde Tibeter“) ein, der 2000 mit einem „Edgar Allan Poe Award“ als bester Erstlingsroman ausgezeichnet wurde. Diesem ersten Fall des Ermittlers Shan Tao Yun, der in Peking in Ungnade fiel und nach Tibet verbannt wurde, ließ Pattison weitere, ebenfalls sehr erfolgreiche Bände folgen. Mit „Bone Rattler“ begann er 2007 eine zweite Reihe um den Ermittler Duncan McCallum, die im kolonialen Nordamerika des 18. Jahrhunderts spielt.

Mit seiner Familie lebt Eliot Pattison auf einer Farm in Oley Valley im US-Staat Pennsylvania.

|Paperback mit Klappenbroschur: 431 Seiten
Originaltitel: Ashes of the Earth (Berkeley/California : Counterpoint 2011)
Übersetzung: Thomas Haufschild
ISBN-13: 978-3-352-00826-9|

|eBook: 644 KB
ISBN-13: 9-7838-4120-400-4|

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Christie, Agatha – Ein Schritt ins Leere

_Das geschieht:_

Der Golfplatz des Städtchens Marchbolt, gelegen an der Küste von Wales, ist wegen einer tiefen Schucht gefürchtet, über die der Ball an einer Stelle getrieben werden muss. Eines nebligen aber ansonsten schönen Tages findet Robert „Bobby“ Jones, vierter Sohn des örtlichen Pfarrers, dort beim Spiel einen Mann, der offensichtlich den Klippenrand übersehen und abgestürzt ist. Bevor der Fremde stirbt, spricht er noch diesen Satz: |“Warum haben sie Evans nicht informiert?“|.

Weder Bobby noch seine Jugendfreundin Frankie – alias Lady Frances Derwent – oder gar die Polizei wissen mit dieser Äußerung etwas anzufangen. So geht es auch Amelia Cayman, die den Verunglückten voller Trauer als ihren Bruder Alexander Pritchard identifiziert, den seine Wanderlust nach Marchbolt getrieben habe.

Zufällig erkennt Bobby, dass Amelia eine Betrügerin und der Tote kein Mr. Pritchard ist. Während die fantasievolle Frankie schon längst an ein Verbrechen dachte, stimmt ihr der bodenständige Bobby erst zu, nachdem man ihn zunächst mit einem fingierten Jobangebot außer Landes locken und nach dem Scheitern dieses Plans vergiften wollte. Da die Polizei den Fall ratlos ad acta legt, beschließt das kriminalistisch eher unerfahrene Paar, sich als Detektive zu versuchen. Die Spur führt in die Grafschaft Hampshire und dort zum Landsitz der Familie Bassington-ffrench. Frankie lädt sich dort quasi selbst ein, während Bobby ihr als Chauffeur verkleidet Rückendeckung gibt.

Während sich Frankie mit Sophia, der Dame des Hauses, rasch anfreundet, gibt das sprunghafte Verhalten des Gatten Henry Rätsel auf. Schwager Roger vermutet eine Morphiumsucht. Eigentlich fände sich eine Lösung für dieses Problem direkt vor der Haustür: Dort hat Arzt Dr. Nicholson eine private Klinik für ’nervenkranke‘ Angehörige der High Society eingerichtet, die hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit ‚ausspannen‘ – oder geht hier deutlich Illegales vor, wie Frankie und Bobby bald zu argwöhnen beginnen …?

_Schräger Humor & die Kunst der Andeutung_

Ein „screwball“ bezeichnet im Baseball einen Spielball, der angeschnitten wird, um ihm eine unerwartete Flugbahn zu verleihen und den Gegner zu verwirren. Da dieser Sport in den USA einen quasi-religiösen Status einnimmt, ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff für eine entsprechende Variante der Hollywood-Filmkomödie adaptiert wurde, die in den frühen 1930er Jahren für frischen Kino-Wind sorgte.

Die „Screwball“-Komödie nimmt keine große Rücksicht auf eine logisch jederzeit nachvollziehbare Handlung. Diese wird ersetzt durch einen humorvollen „Krieg der Geschlechter“, den eine Frau und ein Mann führen, von denen der Zuschauer längst weiß, dass sie füreinander bestimmt sind, während sie durch ein von kurios überdrehten Episoden geprägtes Geschehen stolpern und sich dabei mit rasantem Wortwitz beharken, dem stets ein frivoler Unterton innewohnt. Am Ende steht die erst widerwillig aber dann umso intensiver eingestandene Liebe.

Mit Filmen wie „It Happened One Night“ (1934; dt. „Es geschah in einer Nacht“) oder „Hands Across the Table“ (1935, dt. „Liebe im Handumdrehen“) gewann die „Scewball“-Komödie rasch ihr Publikum – und ihre Nachahmer, denn diese primär auf das Wort setzenden Beziehungskomödien eigneten sich auch für das Theater oder die Unterhaltungsliteratur. Also versuchte auch Agatha Christie, die nicht nur eine fähige, sondern auch eine geschäftstüchtige Autorin war, den „screwball“ zu schlagen. Dabei kam ihr zupass, dass sich die Komödie problemlos ins Krimi-Genre verpflanzen ließ.

|Wo die Liebe hinfällt|

Alle einschlägigen Elemente sind vorhanden. Schon der (Original-) Titel ist ein absichtlicher Verstoß gegen den heiligen Ernst des klassischen Kriminalromans. Die letzten Worte eines Sterbenden schweben ständig über einem Geschehen, für das sie nur von marginaler Bedeutung sind. Vor allem für ihre Leser löst Christie schließlich das Geheimnis um „Evans“.

Im Mittelpunkt stehen „Bobby“ und „Frankie“ als aus englischer Sicht denkbar ungleiches, weil durch gleich mehrere Gesellschaftsklassen getrenntes Paar. Die stärkere Rolle übernimmt – auch dies typisch für die „Screwball“-Komödie – die weibliche Figur, die hier nicht von ungefähr einen männlichen Spitznamen trägt. Frankie lässt sich keineswegs in den Hintergrund abschieben, sondern wird an der Seite des Mannes aktiv. Sie ist sogar die treibende Kraft, die den sowohl gutmütigen als auch etwas trägen Bobby als Ermittler aktiviert. Als die beiden dann zur Tat schreiten, muss Bobby sich als Chauffeur verkleiden und Frankie unterordnen. Der ebenfalls selbstbewussten und aus eigenem Verdienst erfolgreichen Christie dürfte diese Frauenrolle leicht aus der Feder geflossen sein.

Realismus bleibt reine Behauptung. Zwar versucht sich Bobby als Automechaniker, aber es ist offenbar kein Problem, die Werkstattarbeit ruhen zu lassen, um stattdessen Detektiv zu spielen. Bobbys Kompagnon „Badger“ („Dachs“) Beadon ist gleichzeitig der „screwball“-typische ‚beste Freund‘ der Helden, der stotternd und tölpelhaft für Lacher sorgt aber trotzdem – wen schert die absolute Unglaublichkeit – wie hergezaubert zur Stelle ist, wenn eine helfende Hand nötig wird. Dass darüber die gemeinsame Werkstatt pleitegeht, ist kein Beinbruch – Frankies reicher Lord-Vater sorgt mit einigen nennwerthohen Geldscheinen für Abhilfe.

Frankie ist dem alltäglichen Daseinskampf ohnehin enthoben und kann sich ihren exzentrischen Zeitvertreiben widmen. Als Tochter eines Hochadligen ist sie nicht nur reich, sondern auch hübsch und besitzt deshalb doppelte Narrenfreiheit; etwaige Halb- und Ungesetzlichkeiten werden vom verständnisvollen, gut entlohnten und verschwiegenen Familienanwalt folgenlos unter den Teppich gekehrt.

|Auch halbblinder Eifer schadet nur|

Christies Verdienst ist es, das „Screwball“-Element kunstvoll in einen Kriminalroman zu integrieren. „Der Schritt ins Leere“ ist trotz der zahlreichen inhaltlichen Hakenschläge und des offensiven Witzes ein ‚richtiger‘ Christie-Krimi. Dem absurden Geschehen liegt ein sauber geplottetes und raffiniertes Verbrechen zugrunde, das keineswegs nur Vorwand ist. Als „Whodunit“ funktioniert „Der Schritt ins Leere“ ganz klassisch, Autorin und Leser liefern sich auf der Suche nach dem Täter ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Als Gewinnerin geht indes und wie üblich Christie ins Ziel; ihr Publikum überlässt ihr den Lorbeer im Tausch gegen die gelungene finale Überraschung gern.

Das „Screwball“-Element passt vorzüglich zur Ermittlung zweier ebenso eifriger wie unerfahrener Hobby-Detektive. Die auffällige Abwesenheit der Polizei ist der Komödie geschuldet, denn Einmischungen von amtlicher Seite sind in dieser Geschichte nicht vorgesehen. Nach Herzenslust können Bobby und Frankie deshalb in immer neue Verkleidungen schlüpfen, lügen oder einbrechen. Selbst als sie in der Todesfalle des Schurken landen, fehlt dieser Situation jeglicher Ernst, weshalb sie problemlos auf denkbar kuriose Weise aufgelöst werden kann. Nicht einmal dem mehrfach mörderisch aktiven Schurken kann man böse sein, weshalb Christie auf die alte Binsenweisheit „Crime doesn’t pay“ verzichtet. Wieso sollte die langweilige Gerechtigkeit in diesem Absurd-Umfeld den Bösewicht ereilen, der sich wie ein Sportsmann in seine Niederlage fügt und letzte offene Fragen in einem ausführlichen Brief beantwortet?

So eine nur locker in der zeitgenössischen Wirklichkeit verankerte Geschichte hält sich frisch. In Deutschland wurde sogar die Übersetzung aus dem Jahre 1935 beibehalten – dank leichter Überarbeitung ist sie noch immer lesenswert, und sie bewahrt den Tonfall dieses Romans, der eine andere, ebenfalls interessante Seite der Agatha Christie präsentiert.

|“Der Schritt ins Leere“ im Film|

Angesichts der beschriebenen Meriten wundert es, dass es 45 Jahre dauerte, bis „Der Schritt ins Leere“ filmisch aufgegriffen wurde. Agatha Christie, die sehr gut um die Qualitäten ihrer Romane wusste, ärgerte sich vor allem über die minderwertige Umsetzung, die einige ihrer Krimis im Medium Fernsehen erfahren hatten, und hielt sich deshalb sehr mit der Vergabe von Filmrechten zurück. Dies änderte sich erst nach ihrem Tod, da ihre Erben weniger empfindlich waren. „Why Didn’t They Ask Evans?“ wurde 1980 sehr nah am Werk als dreistündiges TV-Epos umgesetzt. Mit einer eindrucksvollen Reihe berühmter englischer Schauspieler – darunter John Gielgud, Joan Hickson, Bernard Miles oder Eric Porter – wurden noch die Nebenrollen prominent besetzt.

Sehr kurios mutet dagegen die Version von 2009 an: Sie wurde drastisch umgeschrieben, bis sie ins Konzept der seit 2004 erfolgreich laufenden Fernsehserie „Marple“ passte. Also klärt nunmehr Miss Marple das Evans-Rätsel, während Bobby und Frankie im Feld der übrigen Darsteller aufgehen.

_Autorin_

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino- und TV-Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt.

|Taschenbuch: 221 Seiten
Originaltitel: Why Didn’t They Ask Evans? (London: Collins 1934)
Übersetzung: Otto Albrecht van Bebber
ISBN-13: 978-3-596-16890-3|
http://www.agathachristie.com
http://www.fischerverlage.de

_Agatha Christie bei |Buchwurm.info|:_
[„Und dann gabs keines mehr“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=433
[„Das Haus an der Düne“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=658
[„Die blaue Geranie“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1178
[„Mord im Orientexpress“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1844
[„Rolltreppe ins Grab“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2806
[„Tod in den Wolken“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3787
[„Alter schützt vor Scharfsinn nicht“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7286
[„Der Tod wartet“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7804
[„Das Eulenhaus“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7870

Kilborn, Jack – Hotel, Das

_Das geschieht:_

Sehr weit außerhalb bzw. tief in den Hügeln des US-Staates Virginia steht das Hotel Rushmore Inn. Es ist ein Familienbetrieb der ganz besonderen Art, deren Betreiber sich möglichst selten im hellen Tageslicht blicken lassen, denn der Stammbaum der Roosevelts weist allzu viele verdächtig miteinander verflochtene Seitentriebe auf. Ein illegales Lager uralter Medikamente im Keller des Hotels sorgt für die zusätzliche Trübung des familiären Gen-Pools. Die Konsequenzen sind den meisten Mitgliedern der Sippe buchstäblich in die zerfressenen Gesichter geschrieben. Innerhalb der Roosevelt-Schädel herrscht darüber hinaus kollektive Leere dort, wo Begriffe wie „Gesetz“ und „Moral“ verankert sein sollten.

Auch degeneriertes Hinterwäldler-Gesindel will leben. Wer sich im Rushmore Inn eincheckt, wird es lebend nicht mehr verlassen, denn der Roosevelt-Clan benötigt regelmäßige Blutauffrischungen. Weibliche ‚Gäste‘ sperrt man zur Erzeugung halbwegs menschenähnlichen Nachwuchses im Keller ein. Aktuell vergreift man sich an den Pillburys: Großmutter Florence, Tochter Letti und Enkelin Kelly. Außerdem angelockt wurden Deborah Novacheck, die nach einer doppelten Beinamputation auf Prothesen angewiesen, deshalb in Sachen Flucht gehandicapt aber durchaus gebärfähig ist, und der Journalist Mal Deiter.

Noch wie üblich schnappt die Falle zu. Dann allerdings bekommen die Roosevelts Schwierigkeiten. Die Pillburys sind sämtlich überaus sportlich – Oma war zudem in Vietnam -, und Deborah wollte gerade an einem weiteren „Ironwoman“-Triathlon teilnehmen. Außerdem nähern sich die Leidensgefährten Felix und Cameron dem Hotel: Hier verschwand im Vorjahr Maria, Freundin bzw. Schwester der beiden Männer, die dort weitersuchen, wo die Polizei kapituliert hat.

In den tiefen Kellergewölben des Rushmore Inn bricht ein Kampf auf Leben & Tod aus, der sich bald auf sämtliche Räume des alten Hauses ausweitet. Hier wird Pardon weder erwartet noch gegeben, was auf beiden Seiten den Leichenpegel steigen lässt …

|Bestie Mensch als Spiegelbild|

Das Verhältnis der US-Amerikaner zu ihren ‚Hinterwäldlern‘ ist ebenso zwiespältig wie interessant. Gemeint sind jene Bevölkerungsschichten, die nicht nur vom etablierten, konsumorientierten „American Way of Life“ abgekoppelt sind, sondern ihren Außenseiterstatus scheinbar zelebrieren, indem sie sich als Gruppen isolieren und unter sich bleiben. Die Geografie eines Kontinents, der mehr als genug Winkel bietet, liefert ihnen die nötige Abgeschiedenheit.

Nun kommen seitens der ’normalen‘ US-Bürger Unwissen, Vorurteile und Schadenfreude dazu, und fertig ist der „Redneck“: schmutzig, dumm, brutal, un- und inzüchtig, chronisch kriminell, versoffen, mehr Tier als Mensch. Als „Backwood“- Bösewicht hat er sich vor allem im Unterhaltungsfilm einen festen Platz neben den klassischen Horror-Gestalten erobert. John Boorman formulierte 1972 in „Deliverance“ (dt. „Beim Sterben ist jeder der Erste“/“Flußfahrt“) die noch heute gültige Definition. Tobe Hooper erweiterte sie 1974 mit „The Texas Chain Saw Massacre“ (dt. „Blutgericht in Texas“/“Kettensägenmassaker“) um die Horror-Elemente Wahnsinn, Blutgier und Kannibalismus. Die Faszination am kaputten Redneck ist zu einem Gutteil Voyeurismus: Die ‚guten‘ Amerikaner blicken aus sicherer Entfernung und deshalb angeekelt, aber auch besorgt auf ihr Spiegelbild (herunter), verkörpert es doch, was der brave US-Bürger zu werden befürchtet, wenn er beim Ringen um den „Amerikanischen Traum“ nicht mithalten kann. Auf der anderen Seite ist da auch Neid: Hinterwäldler verstellen sich nicht. Konflikte werden unmittelbar ausgetragen, Bedürfnisse befriedigt. In gewisser Weise sind sie frei; Gesetze, Regeln oder Zwänge gelten für Rednecks nicht. Sie leben aus, was sonst streng kontrolliert wird.

|Vorbereitungen auf den Kampf|

Mit „Afraid“ (2008; dt. „Angst“), seinem ersten in Deutschland veröffentlichten Horror-Roman, ging Kilborn ab der ersten Seite in die Vollen – und hatte sein Pulver lange (sehr lange) vor dem Finale verschossen. „Das Hotel“ entstand zwei Jahre später und zeigt einen Verfasser, der als Erzähler dazugelernt hat. Einem turbulenten und verheißungsvollen Auftakt folgt eine ruhige Passage, in die Kilborn zwar immer wieder kurze Szenen einschneidet, die uns daran erinnern sollen, dass wir hier eine Gruselgeschichte lesen, aber ansonsten seine Figuren einführt und vorstellt.

Diese unterscheiden angenehm vom üblichen Backwood-Horror-Kanonenfutter, das entweder heulend dem blutigen Ende entgegen bibbert oder – noch klischeehafter – zum Kampf-Koloss mutiert und die Schurken reihenweise niederstreckt. Zwar scheint genau das auch in „Das Hotel“ zu geschehen. Der Unterschied ist klein aber gravierend: Kilborn macht sich die Mühe, glaubhaft zu erklären, wieso das Backwood-Pack einerseits übermenschlich stark aber andererseits verletzlich ist, während die Opfer entweder Leistungssportlerinnen oder aus anderen Gründen körperlich gut beieinander sind. Auf diese Weise ist das Kräfteverhältnis einigermaßen ausgewogen. Kilborn gelingen zudem Figuren, um die wir bangen, weil er unser Interesse an ihnen wecken konnte. Eine Heldin ohne Beine ist keine Erscheinung, der wir in einem Hotel voller Mutanten besonders ausgeprägte Überlebenschancen einräumen würden. Aber gerade ihre Behinderung bzw. die daraus resultierenden Fähigkeiten machen aus Deborah Novacheck eine ernstzunehmende Gegnerin: Kilborn, der ansonsten eine aus tausend Filmen und Romanen bis zum Überdruss bekannte Geschichte erzählt, hat begriffen, wie er für das nötige Quäntchen Abwechslung sorgen kann. Hier ist es der Faktor Überraschung: Nachdem die Roosevelts vier Jahrzehnte verschleppt und gemordet haben, hat sich ihrerseits Routine eingestellt. Sie verlassen sich auf ihre Kraft und das Überraschungsmoment und sind daran gewöhnt zu obsiegen. Zu spät bemerken sie, dass sie sich dieses Mal übernommen haben, als sie gleich sieben entschlossenen ‚Opfern‘ gegenüberstehen.

|Vorhang auf zum üblichen Gemetzel|

Im letzten Drittel geht es dann zu jener Sache, auf die der Hardcore-Horrorfan schon längst wartet: Das Schleichen durch dunkle Kellerräume und Geheimgänge weicht der offenen Konfrontation. Gefangene werden nunmehr auf beiden Seiten nicht mehr gemacht. Dem evolutionären Status der Roosevelts entsprechend bleiben Schusswaffen fast völlig außen vor. Die Urzeit kehrt zurück – mit Messern, Steinen, spitzen Knochen und blanken Fäusten gehen die Kontrahenten aufeinander los. Blut und andere Körperflüssigkeiten spritzen ausgiebig, auch die damit verbundenen Körperschäden werden von Kilborn gewissenhaft und detailfroh geschildert; er weiß, was er seine Kundschaft schuldig ist. Allerdings findet er im Eifer des blutigen Gefechts das manchmal notwendige Bremspedal nicht mehr und produziert Übertreibungen, die den Horror ins Lächerliche umschlagen lassen: Schon als die Schlacht in voller Stärke tobt, lassen die männlichen Roosevelts ständig die Hosen fallen, wenn ihnen eine Gegnerin gegenübersteht. Oma Pillbury erweist sich als Meisterin der asiatischen Kampfkunst, die sogar Chuck Norris in den Schatten stellt. Und während um sie herum ihre Söhne fallen, inszeniert Mutanten-Übermutter Eleanor eine aufwändige Hinrichtung.

Schade, denn solche Schlamperei ruiniert beinahe die bizarren Absurditäten, mit denen Kilborn seine Schlachtplatte zu würzen weiß. So ist das Rushmore Inn dem Wahnsinn der Hausherrin entsprechend in seinem Inneren ein Schrein für die Präsidenten der USA. In jedem Gästezimmer wird ein anderes US-Staatsoberhaupt gewürdigt. (Die Roosevelt-Hinterwäldler sind übrigens durchaus in der Lage, im Internet nach weiteren Exponaten zu fahnden!) Retter Cameron ist sogar noch verrückter als die Roosevelts. Ein Berglöwe greift hungrig ins Geschehen ein.

|Das Ende ist niemals endgültig|

Vom Klischee beinahe zur Tradition gereift ist der Backwood-Horror-Epilog: Während die endlich erschienene Polizei den Tatort aufräumt, schleicht sich im Hintergrund mindestens ein überlebender Mutanten-Lump in die Freiheit, um neues Unheil zu stiften. Im Film öffnet dies das Hintertürchen zu einer Fortsetzung, im Roman gilt ein solches Ende als bittere Ironie. Kilborn findet allerdings einen Dreh, diesen Epilog tatsächlich logisch zu gestalten.

Damit schließt ein Roman, dessen kopierter Plot und grobe Effekte durch eine handwerklich solide Umsetzung, interessante Figuren und einige gelungene Überraschungen erstaunlich gut aufgefangen und getragen wird. Deshalb schenke man bloß der Werbung keinerlei Glauben, die sowohl in den USA als auch hierzulande plump auf der Kotzen-vor-Ekel-gleich-Heidenspaß-Schiene fährt. Der Werbe-Legende nach war dem eigentlich schon gefundenen US-Verlag der „Hotel“-Stoff viel zu heiß, weshalb der Autor seinen Roman im (digitalen) Selbstverlag herausbrachte. Allerdings ist dies der generelle Veröffentlichungsweg, den Kilborn eingeschlagen hat, weshalb diese Mär womöglich auf ihn selbst zurückgeht.

In Deutschland geht die Werbung nicht so dreist aber dafür ideenarm vor: „Der Sensationserfolg aus den USA – Jack Kilborn gibt dem Horror ein neues Gesicht!“. Das eine ist eine unbelegte Behauptung, das andere Unfug: Jack Kilborn ist nur ein Glied in einer langen Kette von Autoren, die wie Richard Laymon, Bryan Smith, Tim Curran usw. auf den direkten, quasi körperlichen Horror setzen. „Neu“ sind sie in ihrem massiven Auftreten höchstens in den deutschen Buchläden, wo sie allmählich ähnlich lästig werden wie die windelweichen Als-ob-Vampire der „Twilight“-Ära.

_Verfasser_

Jack Kilborn wurde 1970 als Joseph Andrew Konrath in Skokie, einem Vorort von Chicago, US-Staat-Illinois, geboren. Nach dem College schrieb er zwölf Jahre nie veröffentlichte Romane. Erst mit „Whiskey Sour“, dem ersten Band einer Krimi-Serie um Jacqueline „Jack“ Daniels vom Chicago Police Department, fand er 2004 einen Verleger. Konrath ist für sein ausgeprägtes Talent der Selbstvermarktung bekannt. Gemeinsam mit der Autoin Julia Spencer-Fleming pries er 2006 im Rahmen eines Mailings 7000 US-amerikanischen Bibliothekaren seine Werke an. Konrath ist ein Pionier als eBook-Autor. Exklusiv für das Amazon-Kindle veröffentlicht er immer wieder Kurzgeschichten und Romane. Am College of DuPage in Glen Ellyn, Illinois, lehrt er kreatives Schreiben.

Während er unter seinem Geburtsnamen weiterhin Kriminalgeschichten veröffentlicht, wählte Konrath 2008 für sein Debüt als Horror-Autor das Pseudonym „Jack Kilborn“. In schneller Folge schrieb er – oft mit Co-Autoren – weitere Gruselromane und Kurzgeschichten. 2011 kam „Joe Kimball“ als Verfasser einer Serie jugendorientierter SF-Romane hinzu. J. A. Konrath lebt und arbeitet in Schaumburg, ebenfalls einer Vorstadt von Chicago.

|Taschenbuch: 382 Seiten
Originaltitel: Endurance (Schaumburg/Illinois : Joe Konrath 2010)
Übersetzung: Wally Anker
ISBN-13: 978-3-453-52883-3|

|Als eBook: Januar 2012 (Heyne Verlag)
578 KB
ISBN-13: 978-3-641-07196-7|

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_Jack Kilborn bei |Buchwum.info|:_
[„Angst“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6899

Cortez, Donn – Du wirst sein nächstes Opfer sein

_Das geschieht:_

Seit der geniale aber irre „Patron“ seine Familie auslöschte, ist Jack Salter, ehemals Künstler, zum „Closer“ geworden: Er stöbert Serienkiller und andere Kapitalverbrecher auf, die dem Gesetz dank ihres Geschicks oder eines guten Anwalts durch die Maschen schlüpfen konnten, und foltert ein Protokoll ihrer Untaten aus ihnen heraus. Diese Unterlagen gehen anonym an die Polizei, während Jacks Opfer in einem ebenfalls anonymen Grab enden.

Auch Killer gehen mit der Zeit: Jacks ‚Schöpfer‘, der „Patron“, hat eine Website eingerichtet, auf der sie miteinander kommunizieren können. Nachdem Jack den „Patron“ liquidierte, nutzt er diese Plattform, um jene, die sich dort melden, in seine Falle zu locken. Aktuell in seinem Visier ist „Remote“, der für sich in Anspruch nimmt, wie Jack einen Kreuzzug gegen das Böse zu führen, und deshalb sein ‚Partner‘ werden möchte.

Jack hätte durchaus nichts gegen Unterstützung, doch ihm missfällt „Remotes“ Methode: Dieser fängt sich Männer und Frauen, deren Gehirne er tüchtig wäscht und die er dann in ein Geschirr steckt, das mit einer Hightech-Überwachungsanlage, einem Elektro-Schocker und viel Sprengstoff ausgerüstet ist, um sie schließlich als „Drohne“ mörderisch gegen das eigentliche Ziel zu schicken.

Solche Instrumentalisierung outet „Remote“ selbst als Soziopathen, argwöhnt Jack, der seinen ‚Partner‘ deshalb ausschalten will. „Remote“ schlägt einen Handel vor: Er liefert Jack eine seiner „Drohnen“ aus, wenn dieser ihm dafür eines seiner Opfer überlässt: „Remote“ will feststellen, wie Jack ‚arbeitet‘. Hier bietet sich Jack die Chance, an „Remote“ heranzukommen: Er gibt sich als sein Opfer aus und wird als solches in „Remotes“ festungsartiges Hauptquartier geschafft. Dort stellt sich heraus, dass „Remote“ nicht nur misstrauisch, sondern auch schlauer ist als Jack dachte …

|Die Tücken übertriebener Selbstjustiz|

Mit „The Closer“ bereitete Donn Cortez dem durch persönliches Leid zum Rächer gewordenen Künstler Jack Salter 2004 einen viel beachteten ersten Auftritt. Vor allem unterhaltsam aber auch reflektierend entwarf er eine Figur, die im Kampf mit Monstern aus freien Stücken selbst zum Monster geworden war. Dieser Prozess hatte keinen gefühlstoten Folterknecht und keine gewissenlose Kampfmaschine entstehen lassen. Jack Salter wurde als gebrochener Mensch geschildert, der in der selbst gewählten Mission endgültig zugrundezugehen drohte.

Sieben Jahre ließ Cortez den „Closer“ ruhen, was kaum verwundert, da es schwierig bis unmöglich war, die Geschichte des Jack Salter überzeugend fortzusetzen. Cortez stellt es mit „Du wirst sein nächstes Opfer sein“ selbst unfreiwillig unter Beweis. (Für den nichtssagend-dämlichen deutschen Titel ist er aber nicht verantwortlich.) Er verlässt sich auf sein handwerkliches Geschick als Geschichtenerzähler im Dienste diverser Franchises, für die er rasch und zuverlässig Lesefutter produziert, und stellt es in den Dienst der eigenen Figur.

Auf der Strecke bleibt dabei jeglicher Subtext, der „The Closer“ über den üblichen Folter-&-Metzel-Unfug à la Chris Carter hinaushob. „Du wirst …“ präsentiert nicht nur eine simple, sondern eine eindimensionale Story, die durch Klischee-Action, Geisterbahn-Bösewichte sowie den Plot nicht bereichernde, sondern überflüssige, nur die Seitenzahl verlängernde Nebenhandlungen auf Spannung und Tempo getrimmt werden soll. Cliffhanger-Kapitelenden und schnelle Schauplatz-Wechsel sollen zusätzlich für jene Dynamik sorgen, die „Du wirst …“ gänzlich abgeht.

|Wie soll das gehen?|

Schlampige Arbeit ist man von Donn Cortez auch in seinen Auftragsarbeiten eigentlich nicht gewohnt. Umso verwunderlicher sind die gewaltigen Logiklöcher, die er hier entweder ignoriert oder durch das Höllentempo, mit dem er die Handlung vorantreibt, zu überwinden gedenkt.

Glaubt jemand, dass „Remotes“ Hightech-Geschirre tatsächlich zur Tag-und-Nacht-Fernsteuerung der „Drohnen“ taugen? Dass diese – nach dem Mord, für den sie abgerichtet wurden, großherzig freigelassen – tatsächlich den Mund halten? Sogar das Geschirr selbst entsorgen? Wie effektiv ist es, für jeden Lumpen-Kill eine neue „Drohne“ zu fangen und ‚auszubilden‘? Wie wahrscheinlich, dass jeder Mord gelingt und die „Drohne“ alle Spuren verwischen kann, die auf „Remote“ hindeuten?

Freilich fällt „Remote“ in die Klasse jener Hannibal-Lecter-Über-Killer, die mit traumwandlerischer Sicherheit wissen und einplanen, was ihren Gegnern durch die Köpfe geht. „Remote“ verfügt über einen logistischen Background, um den ihn die CIA beneiden müsste. Schon Bau und Einrichtung seiner Labor-Burg dürfte nur unbemerkt geblieben sein, wenn „Remote“ die beauftragten Architekten, Lieferanten und Arbeiter wie weiland die ägyptischen Pharaonen nach getanem Job über die Klinge hat springen lassen.

|Monster vs. Anti-Monster|

Auf der anderen Seite steht der „Closer“, dessen ‚Organisation‘ kaum überzeugender wirkt. Sie besteht aus Jack und seiner Assistentin Nikki, die ihm außerdem wie Jiminy Cricket Disneys Pinocchio als Gewissen dient und um der dramatischen Wirkung willen eine taffe Nutte ist. Außerdem gibt es eine ‚geheime‘ Website, auf der sich publicitysüchtige Super-Strolche outen können. Obwohl Jack auf strengste Geheimhaltung angewiesen ist, kennt sogar Biker-Tölpel Goliath den „Closer“, der zu einem Mythos geworden ist, den Autor Cortez vor allem behauptet.

Richtig ärgerlich stimmt Cortez‘ schon erwähnte Zeilenschinderei. Mehrfach werden Figuren eingeführt, deren Existenz und Handeln zur Handlung kaum oder gar nicht beitragen. Einen aufwändig entführten Schurken lässt Nikki mit dem Versprechen, von jetzt an ein braver Junge zu sein, sogar einfach wieder laufen, weil es in unserer Geschichte keine Verwendung mehr für ihn gibt!

Einen Schatten der ursprünglichen „Closer“-Thematik bieten die Diskussionen zwischen Jack und „Remote“. Auch hier wird selbstverständlich viel Klischee-Stroh gedroschen. Wenigstens hat Cortez eine Idee, die glaubhaft begründet, wieso Jack seinem Gegner dessen Geheimnisse nicht durch Folter abpressen kann. Er muss alternativ planen. Was dabei herauskommt, ist einmal mehr unlogisch, bietet dem Leser aber endlich im Ansatz die ersehnten Überraschungen.

|Vom Ursprung des Blöden|

Liegt die enttäuschende Qualität dieser Fortsetzung in ihrer Veröffentlichung begründet? Der geschäftstüchtige Cortez setzt als Schriftsteller längst nicht mehr auf den klassischen Buchhandel. Unter dem Pseudonym D. D. Barant begann er 2009 eine Serie von Mystery-Thrillern, die zunächst und womöglich ausschließlich als eBooks veröffentlicht werden. Auch „Du wirst …“ erschien 2011 in diesem Medium, das gegenüber dem gedruckten Buch auch deshalb im Aufwind ist, weil es nachdrücklich beworben wird. Exklusive eBook-Verbrauchsliteratur kann dabei helfen, wenn sie dem größten gemeinsamen Leser-Nenner folgt und hohe Käuferzahlen generiert.

Cortez liefert, wofür er bezahlt wird. „Du wirst …“ zeigt, dass ihm dabei der Redaktionsschluss wichtiger als das Produkt ist. So wundert es kaum, dass dieser Roman nicht mit einem „Ende“, sondern mit einem weiteren Cliffhanger ausklingt: Siehe da, der „Patron“, den Jack in Band 1 blutig zur Strecke gebracht hat, schickt eine Mail: Er ist wieder da und fit für „Closer III“! Wie kann das logisch sein? Nur Spielverderber stellen solche Fragen! Viel wichtiger ist dem entsprechend geeichten Publikum, dass weiter gefoltert, getückt und gekillt wird!

_Autor_

Donn Cortez ist eines der Pseudonyme des kanadischen Schriftstellers Don Hildebrandt, der als „Don H. Brandt“ Science-Fiction und Horror schreibt. „The Quicksilver Screen“, sein Romandebüt von 1992, wurde vom renommierten SF-Magazin „Locus“ als Geheimtipp gehandelt. DeBrandt schrieb außerdem für Marvel Comics, wo er an Reihen wie „Spiderman 2099“ und „2099 Unlimited“ mitarbeitete.

Ab 2006 verfasste Cortez, der im kanadischen Vancouver lebt und arbeitet, Romane zur TV-Serie „CSI: Miami“. Als „D. D. Barant“ schreibt Hildebrandt seit 2009 außerdem über die Fälle des FBI-Profilers Jace Valchek, der allerlei Monster wie Vampire und Werwölfe jagt.

|Taschenbuch: 317 Seiten
Originaltitel: Remote (TKA Distribution 2011)
Übersetzung: Simon Weinert
ISBN-13: 978-3-426-50983-8

Als eBook: April 2012 (Knaur eBook)
ISBN-13: 978-3-426-41304-3|

http://www.donncortez.com
http://www.ddbarant.com
http://www.sfwa.org/members/DeBrandt
http://www.knaur.de

_Donn Cortez bei |Buchwurm.info|:_
[„CSI Miami: Der Preis der Freiheit“ 5017
[„CSI Miami: Tödliche Brandung“ 5122
[„Closer“ 5371
[„Mörderisches Fest“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_-book=5686

Jack Finney – Die Körperfresser kommen

Das geschieht:

Mill Valley liegt zwar im US-Staat Kalifornien, ist aber trotzdem ein abgelegenes Städtchen, dessen Bürger das Leben geruhsam angehen. Nach seiner Scheidung ist Dr. Miles Bennell deshalb hierher zurückgekehrt, wo bereits sein Vater als Arzt praktizierte, um ein wenig Abstand für einen Neuanfang zu gewinnen.

Normalerweise ist man in Mill Valley recht gesund, weshalb eine Folge seltsamer ‚Krankmeldungen‘ für Aufregung in den örtlichen Arztpraxen sorgt: Verschiedene Bürger behaupten, Familienmitglieder oder Freunde seien nicht mehr sie selbst, sondern äußerlich perfekte aber seelenlose, gefühlskalte ‚Kopien‘. Auch Bennell wird mit solchen Fällen konfrontiert und glaubt an eine Massenpsychose, bis ein Freund, der Autor Jack Belicec, ihn mit einem makabren Fund aus seinem Keller konfrontiert – eine Leiche ohne Fingerabdrücke und mit ‚unfertigen‘ Gesichtszügen.  Jack Finney – Die Körperfresser kommen weiterlesen

D. E. Meredith – Der Leichensammler

Eine Serie bizarrer Morde erschüttert London im Winter des Jahres 1856; ein Polizist, ein eifriger Arzt und ein junger Aristokrat bemühen sich um die Auflösung einer Verschwörung, die ihrerseits ein unfassbares Verbrechen verbergen soll … – Gut recherchierter Historienkrimi, der zeitgenössische Missstände aufgreift und dramatisiert, wobei die Autorin ein wenig zu didaktisch in Empörung und Gräueln schwelgt: noch etwas verhaltener Einstieg in eine neue Krimi-Serie.
D. E. Meredith – Der Leichensammler weiterlesen

Hilton, Matt – Knochensammler, Der

_Das geschieht:_

Joe Hunter, einst Elitesoldat der Special Forces und gewalttätig an den Fronten im Krieg gegen den internationalen Terrorismus aktiv, hat sich selbstständig gemacht. Man kann ihn anheuern, wenn finstere Zeitgenossen zur Bedrohung werden, die Polizei außen vor bleiben und die Lösung endgültig ausfallen soll.

Aktuell hat ihn Ex-Schwägerin Jennifer gerufen: Ihr nichtsnutziger Nicht-mehr-Gatte John ist bei einem seiner windigen Geschäfte in den USA verschollen. Obwohl die Brüder zerstritten sind, soll und wird Joe nach ihm suchen. Die Zeit drängt, denn jenseits des Atlantiks haben Polizei und FBI die Jagd auf John eröffnet: Man hält ihn für den berüchtigten „Tubal-Kain“, einen Serienkiller, der es auf die Knochen seiner Opfer abgesehen hat.

Tatsächlich haben sie die Wege von John und Tubal-Kain zufällig gekreuzt. Da John den Killer gleich mehrfach dumm aussehen ließ, hat der ihn in seine Gewalt gebracht, um ihn in seinen Schlupfwinkel in der Mojawe-Wüste zu verschleppen, wo er ihn zu Tode foltern will.

Allerdings gedenkt nicht nur Hunter, Tubal-Kain einen Strich durch die Rechnung zu machen. John hat gleich zwei Gangsterbosse bestohlen, die ihm deshalb ihre Schergen hinterherschicken. Ebenso präsent ist die Polizei. Zu allem Überfluss hat auch die CIA die Finger im Spiel. Hunters alter Freund Walter Conrad, jetzt Führungsoffizier für Undercover-Agenten, hat gute Gründe, dem ehemaligen Kameraden die private Jagd auf den Knochensammler zu gestatten. Da Hunter weiß, wie Geheimdienste ticken, fragt er sich allerdings, ob man auch ihn spurlos verschwinden zu lassen gedenkt, wenn er Tubal-Kain erwischt hat. Diese Frage rückt in den Hintergrund, denn statt unterzutauchen, nimmt der Killer freudig die Herausforderung an, gegen Joe Hunter anzutreten, und zeigt sich in diesem Kampf erschreckend einfallsreich …

|Schon wieder ein Killer-Genie?|

Geht man von den nackten Tatsachen aus, kann Matt Hilton keine besonderen Erwartungen wecken. Wie viele geniale Killer machen eigentlich die Buch- und Filmwelt unsicher? Sie scheinen den Löwenanteil ihrer Arbeitszeit damit zu verbringen, sich als geistig besonders derangierte Zeitgenossen zu präsentieren. Auch „Tubal-Kain“, der sich alttestamentarisch pompös nach dem Stammvater aller Eisen- und Messerschmiede nennt, dürfte bereits mit der Präparierung seines Schlupfwinkels rund um die Uhr beschäftigt sein und gar keine Zeit zum Morden haben. (Was ist übrigens ein ‚Schlupfwinkel‘ wert, der mit obskuren Knochen-Skulpturen ‚geschmückt‘ schon von Weitem sichtbar ist? Tubal-Kain ist zudem selten daheim und kann ungebetenen Besucher deshalb nicht die Tür weisen.)

Auf das ausgefahrene Hannibal-Lecter-Gleis will uns Hilton freilich gar nicht locken, auch wenn er hin und wieder befährt. „Der Knochensammler“ wird zum Action-Thriller, der seine Spannung weniger aus der Konfrontation als aus einer möglichst rasanten Handlung zieht. Dieses Ziel verliert der Verfasser nie aus den Augen, weshalb er die üblichen Fallen meidet, die eine solche Geschichte lähmen oder aus der Bahn werfen könnte. Dazu gehört eine unnötig intensive Figurenzeichnung, die womöglich durch ellenlange Rückblenden vertieft wird.

Gern schwelgen Action-Autoren auch in (waffen-) technischen Details und ähnlichem Ballast, der nur auf ein Tempo drückt, das auch deshalb wichtig ist, weil es eine in der Regel nur bedingt realistische Geschichte so rasch über logische Löcher treibt, dass der Leser diese kaum oder gar nicht zur Kenntnis nimmt. So erstaunt hier die Freiheit eines Hau-drauf-Söldners, der zehn Jahre nach 9/11 ungebremst und schwer bewaffnet durch gleich mehrere US-Staaten wüten darf: Die Rückendeckung durch einen nicht besonders ranghohen CIA-Kumpel macht’s möglich. Während Joe Hunter vorwärts stürmt, räumt Conrad hinter ihm die Leichen auf.

|Ein bisschen anders ist immer gut|

Glücklicherweise weiß Hilton, wie man dem Leser solche Unwahrscheinlichkeiten verkauft sowie eine Story vermeidet, die nur Klischees wiederkäut. „Der Knochensammler“ ist nicht mehr und nicht weniger als ein Action-Thriller. Von denen schreibt Hilton einen pro Jahr; er kann sich deshalb nur bedingt an einer Geschichte festbeißen. Die daraus resultierende Fertigungseile meistert der Profi durch eine Routine, die jenen Lesern, die vor allem unterhalten werden möchten, entgegenkommt.

Den roten Faden bildet die Jagd, wobei Hilton kapitelweise vom „Jäger“ – der hier passend „Hunter“ heißt – zum „Wild“ springt. Genretypisch ist dieses „Wild“ lange im Vorteil; ein Faktor, den Hilton allerdings nicht durchgängig im Griff hat. Normalerweise müsste er Tubal-Kains schier übermenschlichen Fähigkeiten im letzten Drittel sacht dimmen, um ihn im finalen Duell dem Jäger höchstens gleichstark wirken zu lassen. Stattdessen wundert sich der Leser, wie rasch einem zudem gut vorbereiteten Super-Killer ein Ende gemacht werden kann.

Aber Tubal-Kain ist eben kein Killer der Oberliga. Vor allem er selbst vertritt diese Meinung, was üblich für einen Psychopathen ist. Ironisch bricht Hilton dieses überzogene Selbstbild mehrfach, indem er den Killer sehr menschlich irren lässt. So ist es der Diebstahl seines Wagens, der Tubal-Kain dermaßen ergrimmt, dass er seine mörderischen Aufstieg zum Ruhm unterbricht und den frechen Schurken verfolgt: Ein echtes (kriminelles) Mastermind hätte diesen Zwischenfall abgehakt.

|Die Tücke des Objekts|

Auf diese Weise lässt Hilton nicht zum ersten Mal die Handlung eine unerwartete Wendung nehmen. Der ahnungslose Dieb wird für den Mörder gehalten, während er tatsächlich ein verzweifeltes Katz-und-Maus-Spiel mit dem tatsächlichen Killer spielt, um am Leben zu bleiben. Solche Kniffe kennt der erfahrene Thriller-Leser zwar, der sich dennoch um Hiltons Finger wickeln lässt.

Ebenfalls genrekonform erhöht Hilton stetig den Schwierigkeitsgrad, dem sich Retter und Rächer Hunter ausgesetzt sieht. Nacheinander schalten sich immer neue Parteien mörderisch ins Geschehen ein. Schließlich hat Hunter nicht nur den Killer vor sich, sondern die Mordschergen zweier Gangsterbanden, das FBI, die CIA und die örtliche Polizei im Nacken. Dies sorgt nicht nur für Spannung, sondern auch für episodische Zwischenfälle, die zwar der eigentlichen Handlung nichts bringen aber effektvoll demonstrieren, wie gute Menschen es bösen Strolchen heimzahlen, was eine allzu rücksichtsvolle Gesetzgebung normalerweise verhindert; eine allzu ernsthaft liberale Haltung ist übrigens der Lektüre eines solchen Romans eher abträglich.

Selbstverständlich geht nicht nur dem Killer, sondern auch den Jägern ständig etwas schief. Selbst Kampfkraft und Entschlossenheit können gegen die Tücke des Objekts nichts ausrichten. Auch auf diese Weise steigert der Autor die Spannung, wobei er sichtlich von den Erfahrungen der eigenen Vergangenheit zehren kann: Matt Hilton war Sicherheitsmann und Polizist und ist Kampfsportler, was allen Beweihräucherungen hierarchisch und auf Disziplin aufgebauter Institutionen zum Trotz Männer vom Schlage eines Joe Hunter plastischer wirken lässt.

|Das Ende ist immer übel|

Für den weiter oben schon erwähnten erfahrenen (oder hart geprüften) Thriller-Leser gibt es diverse Boni. So überrascht angenehm Hiltons Erzählstil, der keineswegs künstlich knapp bzw. abgehackt atemlose Spannung suggerieren soll, sondern den zurückhaltend-sachlichen Stil des klassischen britischen Thrillers bewahrt, ohne zu vernachlässigen, dass wir inzwischen im 21. Jahrhundert leben. Ähnlich meisterhaft schreibt Hiltons Kollege Lee Childs über seinen gerechten Vigilanten Jack Reacher, der zumindest hierzulande deutlich erfolgreicher zuschlägt als Joe Hunter, obwohl auch dieser längst Held einer titelreichen Reihe ist.

Ebenfalls ein Zeichen für Routine und erzählerische Ökonomie ist der Verzicht auf allzu detailfreudige Metzel-Szenen. Zwar schreibt Hilton keineswegs zimperlich, aber er stützt sich nicht auf entsprechende Schilderungen, die er ins Geschehen integriert, wo es dramaturgisch Sinn ergibt. Eine Ausnahme bildet das Finale, das Hilton erstaunlich in Richtung Splatter-Horror abgleiten lässt. Hier überwältigt der Effekt doch die Story; womöglich bricht hier hinter dem Thriller-Autor Matt Hilton der Schriftsteller Vallon Jackson – Hiltons Pseudonym für seine Horror-Storys – hervor. Mit einem sarkastischen Schlusstwist kann Hilton diese Scharte aber in letzter Sekunde auswetzen. Der Ring ist frei für Joe Hunters nächstes Abenteuer, und der Leser wird als Zuschauer erneut & erfreut seinen Platz einnehmen.

_Autor_

Matthew Hilton wurde 1966 in Schottland geboren, wuchs jedoch in Carlisle in der englischen Grafschaft Cumbria auf, wohin die Familie umzog. Er begeisterte sich für (Kampf-) Sport und arbeitete 18 Jahre für einen privaten Sicherheitsdienst. Vier Jahre als Polizist schlossen sich an, bevor Hilton erfolgreich als Schriftsteller Fuß fassen konnte.

Geschrieben hatte Hilton schon in jungen Jahren. Er orientierte sich an Autoren, die auch im 21. Jahrhundert eher klassisch erzählen: Robert Crais, Jeffrey Deaver, Jack Kerley, David Morrell, Dean Koontz und vor allem John Connolly. In zwei Jahrzehnten entstanden sieben actionbetonte Romane, die sämtlich unveröffentlicht blieben. 2008 fand Hilton einen Agenten, der nicht nur seinen Debütroman bei einem Verlag unterbrachte: „Dead Man’s Dust“ (dt. „Der Knochensammler“), dem ersten Band einer Serie um den ehemaligen Söldner Joe Hunter, der sich nun als Söldner im Dienst der Gerechtigkeit durchschlägt, sollten gleich vier Romane folgen.

Weitere Bände schlossen sich an, als diese fünf Action-Thriller sehr erfolgreich wurden. Jedes Jahr veröffentlicht der weiterhin in Cumbria ansässige Hilton vertragsgemäß ein neues „Hunter“-Abenteuer. Unter dem Pseudonym „Vallon Jackson“ veröffentlich Hilton außerdem Horror-Storys. Er ist zudem Mitherausgeber des Webzines „Thrillers, Killers ’n‘ Chillers“.

|Taschenbuch: 379 S.
Originaltitel: Dead Men’s Dust (London: Hodder & Stoughton 2009)
Übersetzung: Imke Walsh-Araya
ISBN-13: 978-3-453-43425-7|
http://www.matthiltonbooks.com
http://matthiltonbooks.blogspot.de
http://vallonjacksonbooks.wordpress.com
http://www.randomhouse.de/heyne

Jesse Bullington – Vom Tode verwest

Das geschieht:

1516 wird der Schweizer Niklaus Manuel Deutsch, der gerade als Söldner in Oberitalien kämpft, von seinem Hauptmann beauftragt, die maurische Hexe Awa nach Spanien zu bringen, wo der Inquisitor Ashton Kahlert bereits die Folterinstrumente schärfen lässt. Die Mission misslingt, Awa kann sich befreien, denn sie ist in der Tat eine Hexe, die lange, leidensreiche Jahre einem Nekromanten dienen musste, der sie in viele seiner schwarzen Künste einweihte.

Awa konnte ihren Peiniger schließlich überlisten und umbringen, doch dieser belegte sie mit einem fürchterlichen Fluch: Zehn Jahre nach seinem Tod werde er aus dem Jenseits wiederkehren und in ihren Körper einfahren, um ihn für ein neues Leben zu ‚übernehmen‘. Auf der Suche nach einem Weg, dieses Schicksal abzuwenden, zog Awa durch das Heilige Römische Reich, bis sie in Italien gefangengenommen wurde. Jesse Bullington – Vom Tode verwest weiterlesen

Baker, Adam – Wandlung, Die

_Das geschieht:_

Franz-Josef-Land ist ein Insel-Archipel in der arktischen Barentssee. Bis zum Nordpol ist die Entfernung deutlich geringer als zu jeder Stadt irgendwo auf dieser Erde. An diesem öden Ort und sogar noch einen Kilometer vor der Küste steht in der eisigen See „Kaskar Rampert“, eine gigantische Erdöl-Förderstation, die gleichzeitig Raffinerie ist.

Als das Öl noch aus dem Meeresboden gepumpt wurde, arbeiteten hier tausend Menschen rund um die Uhr für den Konzern „Con Amalgan“. Doch der Quelle ist versiegt, und „Kaskar Rampert“ steht vor der Stilllegung. Noch 15 Männer und Frauen verlieren sich in den Gängen und Räumen der Station; sie halten die Anlage in Ordnung und warten darauf, endlich abgeholt zu werden.

So weit jenseits der Zivilisation werden Neuigkeiten nur indirekt zur Kenntnis genommen. Die Rumpfbesatzung begreift deshalb nicht wirklich, was es tatsächlich bedeutet, als sie die Nachricht einer global wütenden Pandemie erreicht: Überall mutieren Menschen zu mörderischen Bestien. Da die Infektion sich rasant ausbreitet, brechen Gesetz und Ordnung zusammen.

Angesichts dieser Katastrophe denkt niemand an die Pechvögel auf „Kaskar Rampert“. Dort begreift man, dass man sich selbst helfen muss. Die Notlage ist dem Zusammenhalt keineswegs zuträglich. Eine über Franz-Josef-Land abstürzende Raumstation bringt zudem die Seuche auch auf die Station. Zwischen den Infizierten und den Gesunden brechen erbitterte Kämpfe aus. Gleichzeitig streiten die noch nicht Erkrankten um die wenigen Ressourcen.

Als ein riesiges Kreuzfahrtschiff angetrieben wird, scheint sich die Lage zum Besseren zu wenden. Doch hier warten nicht nur Nahrungsmittel und dringend benötigte Medikamente: Passagiere und Besatzung sind grässlich mutiert und hungrig an Bord geblieben und empfangen die Besucher mit offenen Armen und Mäulern …

|Ein Unglück kommt selten allein|

Ein Romandebüt gleicht einer Wundertüte: Der Inhalt kann überraschen oder ärgern. Dabei gibt jeder neue Autor sich Mühe, hat womöglich Jahre in seinem Erstling investiert, ihn mit Herzblut geschrieben und dabei alles hineingepackt, was ihm zum Thema eingefallen ist.

„Die Wandlung“ ist definitiv ein solcher Roman. Er birst geradezu vor Action und schlägt dabei immer neue Handlungshaken, die im Grunde eigene Nebengeschichten sind. Faktisch begeht Autor Adam Baker damit einem typischen Anfängerfehler: Er begräbt seine Story unter einem Overkill immerhin spannungsreicher Szenen, bis aus einem Roman eine Sammlung mitunter mühsam verbundener Episoden geworden ist, die als Grundlage für eine TV-Serienstaffel taugt. Was soll beispielsweise Nikkis ausführlich geschilderte Bootsfahrt gen Europa, die plötzlich wieder am Ausgangspunkt endet? Hier sieht es aus, als wolle uns Baker neugierig machen und einen Blick auf das verheerte Festland werfen lassen, dem er sich – man zieht es keinen Augenblick in Zweifel – in einem Fortsetzungsroman widmen wird.

Hinzu kommt ein gewisser Gottkomplex des Verfassers, der als Schöpfer seiner Geschichte über deren Entstehung und Verlauf gebietet. Was in der Bibel recht planmäßig wirkt, wird bei Baker allerdings zu einer Kette reichlich unwahrscheinlicher Zufälle: Eine Raumstation stürzt ab, ein Riesenschiff treibt vorbei, unter der Insel-Oberfläche tut sich plötzlich eine ganze Höhlenwelt auf.

Dabei böte allein die gewaltige Förderplattform „Kaskar Rampart“ mehr als genug Schauplätze für Katastrophen und Intrigen. In der Tat breitet Baker eine breite Palette entsprechender Ereignisse vor seinen Lesern aus, die sich später an Bord der zum Geister- bzw. Zombieschiff gewordenen „Hyperion“ und in den Grusel-Gewölben unter der Insel leicht variiert bzw. ins Absurde gesteigert wiederholen. Faktisch zerfällt „Die Wandlung“ in drei Teile, die Baker in Großkapitel einteilt; ein viertes Kapitel beschreibt das große Finale, das jedoch als Höhepunkt mit dem Vorgeschehen nicht mithalten kann.

|Die Maus in der Falle|

Wie verhalten sich Menschen unter Druck? Die Antwort auf diese Frage ist mindestens so spannend wie die Umstände, die zur Krise führen. Baker schlägt sich in beiden Punkten gut. Obwohl oder gerade weil er kein begnadeter Figurenzeichner ist, gelingen ihm Protagonisten, deren Schicksale den Leser kümmern. Bakers Trick ist es, die Charakterisierungen nicht zu übertreiben. Viele Autoren schinden gern Seiten mit ellenlangen Rückblenden in frühere Leben, die selten wirklich interessieren. Baker kann entsprechende Anwandlungen nicht vollständig unterdrücken, hält sich aber zurück.

Hilfreich ist dabei die nicht allzu intensive Fixierung auf Jane Blanc, die zunächst als Hauptfigur eingeführt wird und dies durchaus bleibt, ohne dabei allzu dominant zu sein. An ihre Seite rücken weitere Figuren, denen Baker genug Raum bietet, eigene Persönlichkeiten zu entwickeln. Natürlich schlagen dabei einschlägige Klischees durch, selbst wenn der Autor sich sichtlich um die Vermeidung einer Schwarz/Weiß-Zeichnung bemüht. Da „Die Wandlung“ pure Genre-Unterhaltung ist, wird dies kein gravierender Kritikpunkt.

Die Verbindung zwischen Figur und Leser ist Baker auch deshalb wichtig, weil er sich in der Handlungsführung sehr modern gibt: Der Bodycount ist außerordentlich hoch, und niemand ist vor einem bösen Ende sicher. In dieser Hinsicht erinnert „Die Wandlung“ an moderne TV-Serien wie „The Walking Dead“, in denen Sicherheit ebenfalls zum Fremdwort geworden ist.

|Apokalypse in der Eiswüste|

Vor allem in den letzten Jahren lassen (Dreh-)Buchautoren Zombies über die gesamte Erde ausschwärmen. Die Arktis blieb bisher ausgespart; ökonomische Verfasser stehen wohl sehr richtig auf dem Standpunkt, dass eine elementare Bedrohung pro Geschichte genügt, während ein Zuviel an lebenskritischen Umständen die Spannung aushebelt.

In unserem Fall ist die Umwelt mindestens ebenso lebensfeindlich wie die Seuchen-Zombies, die dort ihr Unwesen treiben. Baker versteht es, diese Drangsale gleichgewichtig zu beschreiben. Da „Die Wandlung“ viele gefahrenreiche, gruselige, tragische Ereignisse aneinanderreiht, verinnerlicht der Leser ein Konzept, das ihn sonst vielleicht stören würde. Schließlich hat er sich nicht nur daran gewöhnt, dass immer wieder neue Schrecken über die schmelzende Schar der „Kaskar-Rampart“-Besatzung hereinbrechen – er erwartet sie!

Enttäuscht wird er nicht. Baker hat sich (marginal) Neues einfallen lassen. Die von der Seuche Hingerafften benehmen sich zwar wie Zombies, sind aber keine: In den Körpern sprießen Metallstränge und andere metallene Zusätze, weshalb die Opfer sich allmählich in Menschmaschinen verwandeln. Über die genaue Ursache schweigt Baker sich aus; auch dies wird er zweifellos in einer Fortsetzung aufgreifen. Unter dieser Prämisse relativiert sich auch das Problem eines Finales, das nicht als solches wirkt, weil es tatsächlich keines ist, sondern nur Auftakt für weitere Abenteuer, die den wenigen Überlebenden der „Kaskar Rampart“ bevorstehen.

|Die Story steht über dem Spektakel|

Obwohl es hart zur Sache geht und reihenweise Schädel gespalten, Körper zerstückelt oder Leichen gefressen werden, beschränkt sich Baker nie auf die möglichst detailfreudige Zurschaustellung solcher Gräuel. Sie sind Teil der Geschichte, statt die Geschichte zu ersetzen. Die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit ist als roter Faden stets präsent. Entsprechende Möglichkeiten werden ausgelotet, die Infizierten sind nur Teil der dabei auftauchenden Probleme. Für diese Entscheidung ist der Leser dem Verfasser sehr dankbar: Nichts ist langweiliger als eine endlose Folge von Metzeleien, die sich in ihrer natürlichen Limitierung – wie viele Möglichkeiten gibt es, einen Körper zu pürieren? – letztlich kontraproduktiv ins Lächerliche verkehren.

Baker ist weder raffiniert noch originell, aber er weiß, wie er seine Geschichte zu erzählen hat. Sie ist zwar bei nüchterner Betrachtung deutlich zu lang geraten, weil der Verfasser sich nicht bändigen konnte. Auf der anderen Seite sprudelte die Quelle gern schräger Einfälle so reichhaltig, dass daraus ein triviales, möglicherweise ausgeartetes, aber inhaltlich jederzeit unterhaltsames Garn entstanden ist, das einen angenehmen Kontrast zu den Action-Dümmlichkeiten eines James Rollins oder Matthew Reilly bietet. Abgerundet wird dieses Vergnügen durch die Tatsache, dass Baker schreiben kann (bzw. dies durch eine gelungene Übersetzung bewahrt bleibt). Deshalb sorgt der Gedanke an die nun schon mehrfach erwähnte Fortsetzung nicht für augenverdrehenden Verdruss, sondern für Erwartung.

_Autor_

Adam Baker, geboren 1969 als Sohn eines Priesters in der englischen Grafschaft Gloucestershire, studierte Theologie und Philosophie in London. Der Kirche blieb er zwar verbunden, dies jedoch als Sterbebegleiter und Totengräber, denn wie es sich für einen späteren Erfolgsautor gehört, wurde Bakers Lebenslauf im ‚richtigen‘ Leben bunt und obskur. Deshalb arbeitete er unter anderem als Koch in einem Schnellimbiss in New York und wartete Spielautomaten in einem Casino in Atlantic City.

Aktuell ist Baker als Filmvorführer in einem Kino tätig. Sein Debüt als Schriftsteller gelang ihm 2011 mit dem Horror-Katastrophen-Thriller „Outpost“ (dt. „Die Wandlung“), dem er 2012 das Söldner-Abenteuer „Juggernaut“ folgen ließ.

|Taschenbuch: 509 Seiten
Originaltitel: Outpost (London : Hodder & Stoughton 2011)
Übersetzung: Caspar Holtz
ISBN-13: 978-3-442-37772-5|
[Autorenhomepage]http://darkoutpost.blogspot.de
[Verlagshomepage]http://www.randomhouse.de/blanvalet

Michel Parry (Hg.) – Lautlos schleicht das Grauen. Gruselgeschichten

Parry Michel Lautlos Cover kleinHerausgeber Parry sammelt sieben klassische und moderne Kurzgeschichten, die von Teufelspakten und Flüchen sowie von Exorzismen und anderen Versuchen, das Böse auszutreiben, erzählen; diese enden für die Betroffenen meist übel aber für den Leser unterhaltsam, wobei ein zusätzlicher Reiz durch die Konfrontation von altem Aberglauben mit moderner Gegenwart entsteht. Michel Parry (Hg.) – Lautlos schleicht das Grauen. Gruselgeschichten weiterlesen