Alle Beiträge von Michael Drewniok

Max Allan Collins – CSI Las Vegas: Killing Game

Zwei neue Fälle für das aus dem US-Fernsehen bekannte CSI-Team von Las Vegas beanspruchen nicht nur die ermittlerischen Fähigkeiten der Beteiligten, sondern stehen außerdem unter dem Unstern büropolitischer Intrigen … – Diese nicht verfilmte Story bietet einen Routine-Plot, der vom CSI-erfahrenen Verfasser immerhin mit der üblichen Nähe zur Vorlage im positiven Sinn routiniert erzählt wird, sodass vor dem geistigen Auge sogleich die entsprechenden Bilder ablaufen: für Fans ohnehin ein Muss, für den ‚normalen‘ Krimifan ein Kann.
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Loren D. Estleman – Der Büffeljäger

Ein alternder Jäger, ein junger Abenteurer und ein heimatloser Indianer folgen der Spur des vielleicht letzten freilebenden Büffels durch Nordamerika, doch bald werden sie selbst von Killern, diversen Gesetzeshütern und einem tollwütigen Hund gehetzt ¼ – Abgesang auf den „alten Westen“, der sich selbst überlebt bzw. ausgelöscht hat, präsentiert als allegorische Suche nach dem heiligen Gral, der hier als Bison-Bulle daherkommt: lakonisch, spannend, nie gefühlsduselig und hoch über tumben „Zieh, Cowboy“-Klischees schwebend. Loren D. Estleman – Der Büffeljäger weiterlesen

Samuels, Mark – weißen Hände und andere Geschichten des Grauens, Die (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 4)

„Die Weißen Hände“ (The White Hands, S. 9-35): Was wäre, wenn die großen Geister dieser Welt nur körperlich sterben, während ihr Intellekt nicht nur präsent bleibt, sondern die Geheimnisse des Jenseitigen erforscht? Ein Literaturforscher beschließt, diese Theorie durch einen Blick in den Sarg einer berühmten, sehr lange toten Schriftstellerin zu überprüfen …

„Das letzte Spiel des Großmeisters“ (The Grandmaster’s Final Game, S. 37-55): Ein misanthropischer Schachspieler hat durch den Tod weder seine Kunst verlernt noch seinen Jähzorn gebändigt, wie sein aktueller Gegner am Brett leidvoll feststellen muss …

„Momentaufnahmen des Schreckens“ (Mannequins in Aspects of Terror, S. 57-79): In einem verlassenen Bürohochhaus gerät ein frustrierter Zeitgenosse in eine Schreckenswelt, die ihm merkwürdig vertraut vorkommt …

„Appartement 205“ (Apartment 205, S. 81-103): Der seltsame Zimmernachbar hat ein Spiegelsystem ersonnen, das den Blick ins Reich der Toten ermöglicht – oder ist es eher umgekehrt?

„Die Sackgasse“ (The Impasse, S. 105-123): Wer für diese Firma arbeitet, muss sich um sein Privatleben keine Gedanken mehr machen, denn er wird sie nicht mehr verlassen …

„Kolonie“ (Colony, S. 125-139): In einem abgelegenen Stadtviertel findet ein neugieriger Forscher endlich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, was ihn freilich wie alle anderen, denen dies gelang, endgültig aus dieser Welt entfernt …

„Vrolyck“ (Vrolyck, S. 141-163): Ein neuer „Plan 9 aus dem Weltraum“ wurde in Gang gesetzt – und dieses Mal scheint er zu funktionieren …

„Die Suche nach Kruptos“ (The Search for Kruptos, S. 165-183): Wissen ist Macht, lautet ein altes Sprichwort, doch was geschieht, wenn das Wissen selbst so mächtig geworden ist, dass es das menschliche Begriffsvermögen übersteigt?

„Schwarz wie die Finsternis“ (Black as Darkness, S. 185-203): Der Nachlass einer vergessenen Schauspielerin entwickelt ein Eigenleben, der ihren Witwer erst in den Bann und dann ins Verderben zieht …

„Nachwort: Allein auf dem fremdesten aller Planeten: Die urbane Phantastik des Mark Samuels“ (von Thomas Wagner, S. 205-218)

Entfremdung und Einsamkeit – dies sind die beiden Begriffe, die einem sofort einfallen, will man diese neun Geschichten unter einen Titel fassen. Die Figuren sind zwar in der Regel nicht namenlos, doch sie gehören zu jenen Zeitgenossen, die niemand wahrzunehmen scheint. In einer Welt, die sich zu schnell für sie zu bewegen scheint, sind sie aus ihrem sozialen Umfeld gefallen. Ihre Interessen decken sich nicht mit denen der Mitmenschen. Der Alltag, der von diesen anscheinend zufrieden gelebt wird, bietet keine Heimat. Privat besteht kein Interesse an „normalen“ zwischenmenschlichen Beziehungen. Stattdessen ist da die Sehnsucht nach einer anderen Welt, in der man sich endlich zu Hause fühlen wird.

Fatal erweist sich für Samuels‘ Protagonisten stets, dass sie selbst nicht definieren können, was sie sich eigentlich wünschen. Der Verfasser geht von der Existenz fremder Welten oder Sphären aus. Er lässt sie seine Figuren finden. Dabei stellt sich – banal ausgedrückt – heraus, dass auch dort niemand auf sie gewartet hat. Im Gegenteil: Die Welten jenseits der Welt sind vor allem fremd – so fremd, dass der Schrecken, der die Reisenden aus dem Diesseits dort erwartet, nicht einmal persönlich gemeint ist. Sie lassen sich auf ein Abenteuer ein, für das sie weder mental noch körperlich gerüstet sind. Die Konsequenzen sind entsprechend. Den Leser lässt dies übrigens ziemlich kalt – die literarischen Figuren, deren Untergang er beobachtet, bleiben auch ihm gleichgültig, was ihr Verderben besiegelt.

Die Portale zu diesen fremden Welten liegen bei Samuels nur selten dort, wo sie die klassischen Horrorautoren lokalisieren: in fernen, schwer erreichbaren Regionen. Muss diese Reise unternommen werden (wie in „Die Suche nach Kruptos“), führt sie dorthin, wo der Verfasser die ideale Brutstätte des Seltsamen vermutet: ins Herz der modernen Großstadt, die für Samuels‘ tragische „Helden“ ein Ort ist, an dem sie in einer anonym bleibenden Menschenschar verloren gehen. Wo man sich nicht umeinander kümmert, ist es zu erwarten, dass das Fremde erfolgreich eigene Vorstöße in diese Welt unternimmt („Vrolyck“).

Denn dies ist die zweite Prämisse, die Samuels immer wieder ins Spiel bringt: Das Jenseits braucht den Menschen nicht. Womöglich ist die uns bekannte Welt nur eine Spiegelung von Träumen merkwürdiger, gleichgültiger Wesenheiten. Auch die Toten kommen in Frage, doch sie sind ungleich gefährlicher, denn sie erinnern sich ihrer Existenz im Leben und können gezielt nach Opfern suchen. Warum sie dies tun, bleibt letztlich rätselhaft. Samuels weigert sich nicht, die „Motive“ der Fremden zu nennen; er geht davon aus, dass es gar keine Motive gibt. Seine Figuren bringen enorme Opfer, um in das erhoffte Paradies zu gelangen. Am Ziel angelangt, müssen sie erkennen, dass dort nur Dunkelheit und Leere sind („Die Weißen Hände“, „Appartement 205“).

Mark Samuels verfasst Storys, die sich eher subtil dem Phantastischen widmen. Die bekannten Kreaturen der Nacht wird man hier nicht finden. Solche Zurückhaltung liebt die Literaturkritik, die davon ausgeht, dass der feine Pinsel mächtiger ist als der breite Quast. Als seine Vorbilder nennt Samuels Edgar Allan Poe, Arthur Machen, H. P. Lovecraft und andere Klassiker des Genres, aber auch moderne Meister wie Robert Aickman, Thomas Ligotti oder Ramsey Campbell. Diese klingen sehr deutlich durch – vielleicht noch zu deutlich, denn der fleißige Leser phantastischer Geschichten wird so manchen Plot rasch wiedererkennen. Darüber hinaus wird die finale Auflösung der komplexen, viel mehr versprechenden Vorgeschichte nur selten gerecht (vgl. besonders „Das letzte Spiel des Großmeisters“ und „Momentaufnahmen des Schreckens“), muss bzw. soll Stimmung eine plausible Story ersetzen („Kolonie“) – alte Probleme nicht nur, aber vor allem der Phantastik. Stil und Ausdruck machen diese „Anlehnungen“ sowie die Tatsache, dass Samuels sich durchaus überschätzen kann („Die Sackgasse“ wirkt wie eine Franz-Kafka-Parodie, und die Nazis in „Die Suche nach Kruptos“ entlehnt der Verfasser offenbar einer schundigen TV-Vorabendserie), wieder wett. (Interessant ist auch die Tatsache, dass eine ganz „normale“ Gruselgeschichte wie „Das letzte Spiel des Großmeisters“ besser „funktioniert“ als manche angestrengt ambitionierte Samuels-Story.)

Interessante Hintergrundinfos erhält der Leser durch ein Essay, in dem Thomas Wagner Mark Samuels‘ Werk (auf dem Stand des Jahres 2004) erläutert sowie ein Interview mit dem Schriftsteller selbst führt. Aus diesem (und noch mehr aus dem biografischen Abriss auf seiner Website; s. u.) kann man herauslesen, dass Samuels eigene Wesenszüge und Erfahrungen in seine Figuren einfließen lässt. Sein Bürojob frustriert ihn, aber als Vollzeit-Autor sieht er sich nicht. Immerhin bieten ihm seine Geschichten einen privaten „Fluchtweg“ aus dem Alltag.

Die deutsche Ausgabe von „Die Weißen Hände“ ist ein gar nicht kleines & feines Buch. Das sauber gebundene, mit einem von Mark Freier gestalteten Cover versehene – im Zeitalter der Bildstock-„Titelbilder“ ist das schon eine Erwähnung wert! – Paperback enthält sogar zu jeder Story eine schwarzweiße Innenillustration von Denis Vidinski. Die Übersetzung von Monika Angerhuber ist kompetent und flüssig lesbar. Zudem bietet die |BLITZ|-Ausgabe dieser Sammlung den ursprünglichen Samuels: Für die |Tartarus|-Erstausgabe von 2003 nahmen sich die englischen Herausgeber die Freiheit (oder Frechheit), die Titelgeschichte sowie „Momentaufnahmen des Schreckens“ zu „bearbeiten“, d. h. zu „entschärfen“ und lesermassenkompatibler zu gestalten. Der Kaufpreis fällt erfreulich moderat aus und lässt den Gruselfreund mit etwas weiterem Lektürehorizont gern zugreifen.

Mark Samuels wurde 1967 in Clapham, Südlondon, geboren. Hauptberuflich ist er für eine Firma tätig, die Theaterliteratur herausgibt sowie Schauspieler u. a. Bühnenvolk vertritt. Als Schriftsteller debütierte er 1988. Storys erschienen in wenig auflagenstarken Magazinen; der ausbleibende Erfolg veranlasste den frustrierten Verfasser, das Schreiben vorläufig aufzugeben. Erst 1999 kehrte er an den Schreibtisch zurück. Nunmehr fand er seine Nische als Verfasser anspruchsvoller Phantastik, die zwar klassische Vorläufer des englischen und US-amerikanischen Grusels aufgreift, auf Spukhäuser, Gespenster und Monster jedoch weitgehend verzichtet. Stattdessen steht der „urbane“ Horror der Gegenwart im Vordergrund: Gesellschaftliche Außenseiter scheitern im und am „normalen“ Leben, in dem sie keine Erfüllung finden. Ihre Suche führt sie nur weiter in die Isolation, in den Wahnsinn und schließlich in eine jenseitige Welt, die in ihrer Fremdartigkeit auch keine Zuflucht bietet, sondern neuen Schrecken birgt.

Samuels ist ein Schriftsteller, der ausschließlich in seiner Freizeit aktiv ist, da er zwar von der Kritik, jedoch weder von der Mehrheit der Leser noch von den großen Buchverlagen bisher „entdeckt“ wurde. Sein Werk ist deshalb schmal und bisher vor allem denjenigen Lesern bekannt, die in Sachen Phantastik ein wenig über den flachen King/Koontz/Rice-Topfrand blicken. Samuels hat eine nüchtern aber elegant gestaltete, sehr aktuell gehaltene Website, auf der er detailliert über seine Werke Auskunft gibt: http://www.marksamuels.net.

http://www.BLITZ-Verlag.de

Jane R. Goodall – Keltenmond

Im ländlichen England der 1970er Jahre schlägt ein mysteriöser Mörder seinen Opfern die Schädel ein. Ein weiblicher Polizeiinspektor muss sich die Frage stellen, ob sie einem leibhaftig gewordenen Halbgott aus der Urzeit folgt … – Klassisch britischer Krimi, der den psychologischen Hintergrund nicht vernachlässig. Die Autorin übertreibt es freilich mit dem Legen falscher Spuren und opfert den ausführlich entwickelten ‚keltischen‘ Background für eine ‚normale‘ Auflösung, die so, wie sie präsentiert wird, enttäuscht. Als Lektüre primär dem Krimi-Vielfraß empfohlen.
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Jacobs, A. J. – Britannica & ich

In der Mitte seiner Dreißiger zieht Arnold Jacobs, recht erfolgreicher Redakteur bei einer Zeitschrift für Popkultur, glücklich verheiratet und auf Nachwuchs hoffend, Bilanz. Er kommt zu dem erschreckenden Ergebnis, dass er sich zumindest intellektuell bereits auf dem absteigenden Ast befindet. Ein heroisches Projekt soll ihm die geistige Überlegenheit zurückbringen, die er, der einstige Philosophie-Student, seit jeher für sich gepachtet zu haben glaubt: Jacobs will sich durch die 32 Bände der „Encyclopaedia Britannica“ arbeiten. Dieses Lexikon gilt als qualitätvollste Sammlung der Erkenntnisse, die sich der Mensch bis heute aneignen konnte. Auf 33.000 eng bedruckten Seiten wird es in 65.000 Artikeln präsentiert – ein Opus manifestierten Wissens, das 44 Millionen Wörter umfasst.

Anderthalb Jahre dauert es, bis Jacobs sein Lektürepensum hinter sich gebracht hat. Was ihm bei seiner Expedition durch die „Encyclopaedia Britannica“ besonders in die Augen sticht, gibt er an uns, seine Leser, weiter. Dabei zitiert er nicht, sondern gibt das Erlernte in eigenen Worten wieder. Jacobs liest aber nicht nur, sondern hält darüber hinaus fest, was er erlebt, wenn er sein Lager verlässt. Er verbirgt sich nicht im stillen Kämmerlein, sondern informiert die Menschen in seiner Umgebung über seinen Plan, provoziert sie regelrecht damit und registriert deren Reaktionen, die vom fassungslosen Staunen bis zum kaum verhohlenen Stirntippen mit dem Zeigefinger reichen. Begeisterung oder offenen Zuspruch findet Jacobs nirgendwo. Selbst diejenigen, die seine Beweggründe nachvollziehen können, warnen ihn: Intelligenz und Wissen seien nicht identisch. Beide sind zwar auf einer bisher nicht wirklich erfassten Ebene miteinander verzahnt, doch sie müssen nicht zwangsläufig zusammenwirken.

Jacobs lässt sich nicht einschüchtern. Er geht seinen Weg, erlebt die Freuden, die das Lernen bringen und aus dem sich eine regelrechte Sucht entwickeln kann, ebenso intensiv wie die (genussvoll) ausgemalten Schattenseiten: die Einsamkeit des Studierens, die Langeweile angesichts wüstentrockener Themen, die Frustration im Angesicht der schieren Informationsmassen, die zudem einfach nicht im Gedächtnis haften bleiben wollen.

Die „Britannica“ wird ein fester Bestandteil von Jacobs‘ Alltag. Er integriert sie nicht nur, sie beginnt sogar sein Leben zu bestimmen. Jacobs bemerkt tatsächlich ein Zunehmen seines Wissen. Vor allem wächst sein Selbstvertrauen. Schließlich geht es sogar das Wagnis ein, sich zur US-Version von „Wer wird Millionär?“ anzumelden. Der Weg auf den „heißen Stuhl“ vor den TV-Kameras gestaltet sich komplizierter als gedacht. Als die damit verbundenen Hürden endlich aus dem Weg geräumt ist, muss Jacobs eine unerfreuliche Entdeckung machen: Sein mit Wissen vollgestopftes Hirn verweigert ihm den Dienst. Er versagt schmählich und muss sich letztlich doch der Frage stellen, welcher Sinn hinter seinem „Britannica“-Marathon steckt.

Freilich ist diese Frage wohl eher rhetorisch gemeint. Hat Jacobs wirklich gedacht, die Lektüre der „EB“ würde ihn zum „Know-It-All“ und „klügsten Menschen der Welt“ machen? (So lauten der Originaltitel bzw. der deutsche Untertitel.) Sicherlich nicht, denn auch ihm wird klar gewesen sein, welche Kreatur einer solchen Tortur viel besser als jeder Mensch gewachsen wäre: ein Papagei mit Festplatte im Hirn.

Vor der schieren Wucht der „EB“-Informationen – die letztlich auch nur eine Auswahl dessen umfassen, was der Mensch insgesamt an Erkenntnissen gewonnen hat – muss das Menschenhirn kapitulieren. Es ist auch nicht seine Aufgabe, als reiner Wissensspeicher zu funktionieren. Wie Autor Jacobs schmerzlich erfahren muss, lässt es sich auch nicht darauf trimmen, Informationen auf Abruf bereitzuhalten. Das Gehirn ist ein Organ, das mit dem „Mut zur Lücke“ vorzüglich seinen Dienst leistet. Diese Lücken lassen sich in Zahl und Breite vermindern, aber niemals gänzlich und auf Dauer füllen.

Doch diese Argumentation weist in eine Richtung, die uns weit fort führt von dem, was „Britannica & ich“ eigentlich vermitteln soll. Jacobs hat kein Sachbuch geschrieben – eine zunächst verblüffende Tatsache, weil das umfangreichste Lexikon der Welt thematisiert wird, aus dem der Autor ausgiebig zitiert. Halt, schon das ist so nicht richtig: Jacobs paraphrasiert wie schon gesagt, was er in der „EB“ gelesen hat, d. h. er gibt es mit eigenen Worten wieder. In einem weiteren Schritt kommentiert er die ausgesuchten Artikel. Paraphrase und Kommentar sind nicht in sachlichem Ton gehalten, sondern werden in humorvoller Weise dargestellt. Das kann recht komisch sein, muss aber und ist es leider oft auch nicht („Gymnasium: Die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen lautet ‚Anstalt für Leibesübungen mit nacktem Körper‘. Weshalb es sich umso dringender empfiehlt, den Hometrainer vor Gebrauch gründlich abzuwischen.“ – S. 140). Jacobs benutzt die „EB“ im Grunde nur als Steinbruch. Hier findet er das Material, aus dem er sein eigentliches Produkt herstellt: die geistvoll-witzige Plauderei über eine Tätigkeit, welche bei nüchterner Betrachtung ebenso „nützlich“ ist wie der Versuch, möglichst viele Studenten in einen |VW Käfer| zu stopfen.

Es brauchte kein „Experiment“, um wie Jacobs zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Lektüre der „EB“ dich nicht klüger macht. Doch sein Unternehmen verschaffte ihm, was er dringender suchte: das Thema für ein Buch, mit dem sich Aufmerksamkeit erregen ließ. Jacobs schreibt u. a. Kolumnen, in denen er sich über die Absurditäten einer zunehmend trivialisierten Welt auslässt. Er ist also sein Job, witzig zu sein. Hier übt er ihn eben in Buchform aus.

Dabei wird auch das verfasserliche Privatleben einbezogen. A. J. Jacobs ist anscheinend ein Mensch, dem ständig seltsame und komische Dinge zustoßen. Auch hier greift das Stilmittel der Überspitzung, denn seltsam und komisch sind die geschilderten Ereignisse primär, weil Jacobs sie als geschickter Humorist dazu macht. Zwar fließen durchaus ernsthafte Erfahrungen ein. Jacobs‘ Verhältnis zu seinem Vater wird offenbar von einem lebenslangen Minderwertigkeitskomplex geprägt. Der Senior, ein berühmter Jurist, ist tatsächlich ein kluger Mann, der das auch im Alltag lebt und zumindest in der juristischen Welt tiefe Fußstapfen hinterlassen hat. Intellektuell ist ihm der Junior nicht gewachsen. „Britannica & ich“ stellt auch Jacobs‘ Versuch dar, mit sich und dem Vater ins Reine zu kommen. Der US-amerikanische und damit zwangsneurotisch optimistische Grundtenor dieses Buch lässt dies selbstverständlich mit einem Happy-End enden.

Das gilt auch für das zweite Problemchen, mit dem Jacobs die „Rahmenhandlung“ von „Britannica & ich“ unterfüttert. Ausführlich schildert er, wie er und seine Gattin Julie erfolglos ein Kind in die Welt zu setzen versuchen. Weil er immer wieder darauf zurückkommt, muss ihn das während seiner „EB“-Lektüre wirklich beschäftigt haben. (Ob das auf seine Leser ebenfalls zutrifft, fragt er sich leider nicht.) Doch umgehend werden wieder Witzchen gerissen, auf dass bloß kein Trübsinn aufkommt. Dies würde auch gar nicht zur Story passen, in der Jacobs seiner Julie eine fixe Rolle zugewiesen hat: Während er den halbwegs lebensuntauglichen Luftikus mimt, gibt sie die kluge, geduldige, ironisch kommentierende Frau an seiner Seite, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Kein Wunder, dass sich Julie sowie die zahlreichen weiteren Mitglieder des Jacobs-Clans, die immer wieder Erwähnung finden, nicht gegen ihren „Auftritt“ in „Britannica & ich“ sträubten – sie haben mit den realen Personen sicherlich wenig gemeinsam.

Nein, „Britannica & ich“ ist – ich habe es nun schon mehrfach angesprochen – nichts als ein mehr als 400-seitiger Spaß. Als solcher funktioniert er, denn Jacobs beherrscht den unverbindlichen Plauderton, der unabhängig vom gewählten Thema unterhält. Man liest dieses Buch einfach gern, amüsiert sich oft und sieht gnädig über die nicht gerade zahlenarmen humoristischen Rohrkrepierer hinweg (oder schiebt sie auf die – insgesamt freilich gelungene – Übersetzung; auf S. 180 lese ich allerdings „Du weißt wohl doch nicht alles, was, Cliff Calvin“? Richtig muss es „Cliff Clavin“ heißen, und dies ist der ewig besserwisserische Postbote aus dem US-Sitcom-Klassiker „Cheers“). Und sobald das (in seiner deutschen Ausgabe „Britannica“-würdig mit Goldschnitt geschmückte) Buch zugeschlagen ist, ergeht es einem wie dem Verfasser mit der „EB“: Was man gelesen hat, ist schon wieder aus dem Gedächtnis entwichen – das untrügliche Zeichen dafür, dass es wohl nicht so wichtig war …

Arnold Stephen Jacobs, jr., wurde am 20. März 1968 in New York geboren. Er studierte an der Brown-Universität Philosophie. Nach seinem Abschluss arbeitete er für diverse Zeitschriften und schrieb u. a. eine Kolumne für „Entertainment Weekly“, in welcher er sich über Phänomene der modernen Popkultur ausließ. Zurzeit ist er leitender Redakteur beim „Esquire“. Mit seiner Gattin Julie Schoenberg und seinem Sohn Jasper lebt Jacobs weiterhin in New York. Über sein Werk informiert (inklusive Blog) die Website http://www.ajjacobs.com. Dort erfahren wir u. a. von seinem aktuellen Projekt: Für ein geplantes Buch mit dem Titel „A Year of Living Biblically“ will Jacobs ein Jahr streng nach den Vorschriften der Bibel leben – im 21. Jahrhundert wird sich dabei sicherlich ebenso viel Stoff für ein Buch finden lassen wie für „Britannica & ich“ …

http://www.ullsteinbuchverlage.de/listhc/

Jim Butcher – Sturmnacht [Harry Dresden 1]

Detektiv und Magier Harry Dresden kommt einem mörderischen Hexer auf die Spur, den er unbedingt fassen und ausschalten muss, da man sonst ihm die Untaten anhängen wird … – Auftakt einer erfolgreichen Serie, die erfolgreich, unterhaltsam und unter Einsatz trockenen Humors den „Private Eye“-Krimi mit dem Horror-Thriller kombiniert.
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Ed McBain – Big Bad City

Trotz Sommerhitze und Überlastung versuchen die Polizisten des 87. Reviers, einige ebenso blutige wie bizarre Verbrechen aufzuklären, während sich ein Attentäter daranmacht, an einem der Beamten tödliche Rache zu üben … – Mit dem 49. Band führt Autor McBain seine legendäre Krimi-Serie problemlos ins 21. Jahrhundert. Klassisch setzt er diverse Stränge zu einer spannenden Geschichte zusammen, die wie immer auch Teil der Chronik des 87. Polizeireviers ist: wunderbar!
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Gordon, David George – Vogelspinne in 3D

„Vogelspinne in 3D“ ist eine Mischung aus Bilderbuch und Modell. Im Zentrum des 16-seitigen, ca. 30 x 26 cm messenden Werkes gibt es eine handtellergroße Aussparung. Kein Flachmann mit schwarzgebranntem Schnaps ist hier verborgen, stattdessen lauert eine dicke, haarige Spinne, die sich erfreulicherweise bei näherer Betrachtung als aus Plastik gefertigt entpuppt. Nach dem Vorbild einer Vogelspinne – einer mexikanischen Feuerknie-Vogelspinne, um genau zu sein – wurde dieses Modell gefertigt, das aus insgesamt acht Schichten besteht, die Stück für Stück den Blick in den Körper des Untiers ermöglichen.

Der Buchteil gliedert sich in Kapitel, die jeweils über Teile des Spinnenkörpers informieren, die man sich im Modell näher anschauen kann. Es beginnt mit einer Einleitung, die über den Körperbau der Spinne und Spinnen im Allgemeinen informiert. Interessant und sicherlich nicht unbedingt bekannt ist die Erklärung, dass und wieso Spinnen keine Insekten sind.

Dann wird die erste Schicht der Spinne – ihr Haarkleid – gelüftet, das „Exoskelett“ sichtbar: Unsere Vogelspinne besitzt keine Knochen, sondern trägt ihr Skelett außen am Körper. Es besteht aus Chitin, einer robusten, plastikähnlichen Substanz, und ist mit einer Wachsschicht bedeckt, welche die Spinne „wasserfest“ macht. Von Zeit zu Zeit fährt die Spinne buchstäblich aus der Haut, weil dieser Chitinpanzer nicht mitwachsen kann, sondern „am Stück“ erneuert wird.

„Beißklauen und Gift“ machen die Spinne zum gefährlichen Raubtier. Ein ausgeklügeltes System verwandelt die ohnehin mörderischen Klauen in kleine Injektionsspritzen, mit deren Hilfe Beutetiere gelähmt oder getötet werden. Natürlich kann sich die Spinne auf diese Weise auch verteidigen, doch wie wir lernen, ist ihr Biss keineswegs so gefährlich, wie uns Film & Fernsehen gern weismachen. (Allerdings sehen wir eine Galerie finster wirkender Witwenspinnen, von denen sich auch der Mensch lieber nicht beißen lassen sollte.) Wenn sie es für erforderlich hält, kann uns die Vogelspinne auch gut gezielt mit Brennhaaren bombardieren, was wesentlich unangenehmer als ihr Biss schmerzen soll.

„Das Kreislaufsystem“ einer Vogelspinne zeigt die Fremdartigkeit dieses Tiers. Es besitzt ein schlauchförmiges Herz, das kupferhaltiges und daher blaues Blut durch den Körper pumpt, aber keine Lungen: Die Spinne atmet nicht, sondern lässt Luft durch Öffnungen im Panzer in ihren Körper strömen, wo der Sauerstoff vom Blut „übernommen“ und dorthin transportiert wird, wo er benötigt wird. Bizarr wirkt auch das „Verdauungssystem“. Spinnen sondern über ihrer Beute ein Verdauungssekret ab, das deren Fleisch in eine Art Brühe verwandelt, die mit dem Saugmagen aufgenommen wird. Davon können die Tiere Monate, notfalls sogar Jahre leben, ohne neue Beute machen zu müssen.

„Die Sinnesorgane“ der Spinne wirken ebenfalls leicht außerirdisch. Nicht durch zwei, sondern durch acht Augen mustert sie die Welt. Dafür hat sie keine Ohren. Die werden von Tasthaaren ersetzt, die so empfindlich sind, dass sie Bewegungen durch Beutetiere, Feinde oder andere Spinnen noch über Meter wahrnehmen. Darüber hinaus sind viele Tasthaare mit Geruchszellen versehen.

„Ein kompliziertes Sexualleben“ lautet die Überschrift des Kapitels „Fortpflanzung“. Vogelspinnenmännchen lassen Sperma in ein spezielles Netz tropfen, saugen es dann in eine Art „Tank“ am Ende ihrer Tasterbeine und geben es an ein Weibchen weiter, das es speichern und damit nacheinander 1000 Eier befruchten kann. Wer hätte übrigens gedacht, dass es Vogelspinnenarten gibt, die ein halbes Jahrhundert alt werden?

„Spinnenseide“ ist ein ganz besonderer Stoff – elastisch und stark gleichzeitig sowie ein spinnenkörpereigenes Produkt, das in zwei Drüsen am Körperende hergestellt wird. Vogelspinnen bauen zwar keine Fangnetze, doch sie bauen Kokons für ihre Eier und kleiden ihre Höhlen mit Seide aus, die auf diese Weise temperatur- und feuchtigkeitsbeständiger wird. Manche Arten legen zudem „Stolperseile“ aus, welche die Ankunft von Beute oder Feinden signalisieren.

„Der Bewegungsapparat“ eines Tiers mit acht Beinen ist verständlicherweise recht komplex. Spinnenbeine besitzen sieben Gelenken und über dreißig Muskeln, die zum Teil durch hydraulische Systeme unterstützt werden. Falls mal eines verlorengeht, wächst es bei der nächsten Häutung nach.

„Vogelspinne in 3D“ schließt mit einem kurzen aber flammenden Appell, den zwar gruselig anzuschauenden, doch eigentlich harmlosen und sogar nützlichen Achtbeinern nicht umgehend das Lebenslicht auszublasen, wenn sie sich blicken lassen. Leben und leben lassen – dies sollte die Devise sein. Der Blick hinter die Kulissen des Spinnenalltags sollte diese Toleranz bewirken. Da sich „Vogelspinne in 3D“ primär an Kinder wendet, könnte es klappen, da diese in ihren Vorlieben und Abneigungen noch flexibler sind als Erwachsene, in denen sich die „Arachnophobie“ – so lautet das Fachwort für diese Angst vor Spinnen – meist schon fest eingenistet hat. Ob dieser Aufruf pro Spinne freilich noch greift, wenn diese auf 30 cm klafternden Beinen dem Leser entgegentappt, scheint zumindest dem Rezensenten fraglich …

Dennoch bietet die Kombination von gedruckter Info und be-greifbarem Modell einen guten Einstieg in das Thema. Nicht nur Kinder werden der „Vogelspinne in 3D“ mehr als einen flüchtigen Blick widmen. Natürlich zahlt man dafür seinen Preis, doch dürfte dieses Werk in der Herstellung nicht ganz billig sein (obwohl es in China entstand). Das Spinnenmodell ist recht detailliert ausgeführt und gleichzeitig robust genug, auch forschenden Kinderfingern standzuhalten. Die Pappseiten des Buchteils sind stabil, wasserfest und abwisch- oder waschbar. (Dennoch warnt ein Aufdruck davor, die „Vogelspinne in 3D“ Kindern unter 3 Jahren in die Hände zu drücken, da diese Kleinteile abbrechen und verschlucken könnten.)

Das Layout ist schlicht und übersichtlich und damit sehr überzeugend. Geschickt wird mit Farben, Formen und Schriften gearbeitet. Es gibt jeweils einen Haupttext, der von zusätzlichen Infoboxen begleitet wird. Deren Inhalte beschränken sich nicht auf das Thema Vogelspinne, sondern informieren darüber hinaus, wenn eine solche Vertiefung sinnvoll ist.

Die zahlreichen Abbildungen wurden fast vollständig mit der Hand gezeichnet und gemalt. Dies ermöglicht eine Beschränkung auf das Wesentliche, die dem begrenzten Raum – 16 Seiten – Rechnung trägt. Einige wenige Fotos zeigen Teile des Spinnenkörpers unter dem Mikroskop; hier legte der Verfasser ausdrücklich Wert auf Details, die von der Komplexität des exotischen Wesens Spinne kündet, das eben nicht nur ein haariger Ball voller Giftschleim & Teufelsdreck, sondern ein bemerkenswerter, von der Evolution geschliffener Organismus ist, der seine Funktionstüchtigkeit seit 330 Millionen Jahren unter Beweis stellt.

Die Mischform Buch/Modell scheint Anklang zu finden. „Vogelspinne in 3D“ ist bereits der fünfte Band, den der |Heel|-Verlag in dieser Reihe veröffentlicht. Darüber hinaus gibt es den „Menschen in 3D“, den „Tyrannosaurus Rex in 3D“, den „Weißen Hai in 3D“ sowie den „Rennwagen in 3D“. Für das Frühjahr 2007 ist ein „Frosch in 3D“ angekündigt.

David George Gordon ist ein Biologe, der sich eine solide Karriere als „Infotainer“ aufgebaut hat, die er nutzt, seinen ebenso faszinierten wie angeekelten Lesern, Zuschauern und Zuhörern die weniger beliebten Vertreter der Tierwelt – Spinnen, Schnecken, Würmer oder Kakerlaken – näher zu bringen. Mehr als zehn Bücher hat Gordon geschrieben, aber bekannt wurde er vor allem durch seine Lifeshows, in denen er das, worüber er schreibt, kocht, brät oder anderweitig zubereitet und denjenigen serviert, die wagemutig genug sind, solche Kost zu probieren, die Gordon nicht müde wird als gesunde, ökologisch perfekte Alternativnahrung anzupreisen.

Auch sonst gehört Gordons Liebe den obskuren Seiten der Naturwissenschaft, die er in diversen Zeitschriften und Internet-Kolumnen, in Fernsehen und Radio präsentiert. Was er jeweils treibt, teilt er seinen Anhängern auf seiner Website http://www.davidgeorgegordon.com mit.

http://www.heel-verlag.de/

Stephen King – Puls

King Puls TB 2007 kleinDer „Puls“, ein mysteriöses Signal, das per Handy verbreitet wird, lässt den Großteil der Menschheit mörderisch mutieren. Drei Überlebende verlassen die Großstadt Boston auf der Suche nach einem sicheren Ort … – Ein weiteres Weltuntergangsdrama, dieses Mal entfesselt von Bestsellerautor Stephen King, der sehr routiniert und unterhaltsam aber ohne Innovationen sein Garn spinnt: keiner von des Meisters guten Romanen.
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Bruce, Victoria – Vulkan des Todes

Kolumbien, im Nordwesten des südamerikanischen Kontinents gelegen, gehört zu den vielen Ländern, die dem Standard-Michel beklagenswert unbekannt bleiben. Obwohl reich an Geschichte, Kultur und Natur, dringen primär die weniger schönen Dinge des kolumbianischen Lebens an die Öffentlichkeit. Die politische Realität erinnert fatal an den Verlauf des Brettspiel-Klassikers „Junta“, und wenn in den Nachrichten gerade nicht über neue Korruptionsfälle, Volksaufstände und Rebellenattacken berichtet wird, dann garantiert über Städte wie Medellin oder Cali, in denen die wahre Macht im Staate sitzt: absolut herrschende Drogenkartelle, neben denen die Mafia wie ein Kindergarten wirkt.

Die traurige Berühmtheit Kolumbiens wurde in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts durch eine Reihe von Naturkatastrophen gesteigert, die eindrucksvoll deutlich machten, dass die Bürger dieses Land nicht nur politisch auf einem Pulverfass sitzen. 30 Vulkane prägen eindrucksvoll die Landschaft, die wunderschön dort ist, wo ihr Umweltverschmutzung und Raubbau noch nicht den Garaus gemacht haben. Diese Feuerberge sind keineswegs erloschen, sondern mindestens latent aktiv. Kolumbien liegt an der Westkante der südamerikanischen Kontinentalscholle, die links von der „Nazca-Platte“ des Pazifischen Ozeans gerammt wird (1). Dadurch faltet sich an der Unfallstelle ein langsam, aber stetig wachsendes Gebirge – die nördliche Kordillere – auf. Gleichzeitig quillt glühende Lava aus dem Erdinneren hervor – mal mehr, mal weniger reichlich, und manchmal explosiv.

Im November 1985 sind ziemlich genau 140 Jahre seit dem letzten Ausbruch des 5.300 Meter hohen Nevado del Ruiz verstrichen. Dieses Ereignis wurde von den Menschen, die in seinem Schatten leben, längst aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen; sie haben sich emsig vermehrt und die tief eingeschnittenen Täler unterhalb des Vulkans besiedelt, in denen es sich wegen des ausgeglichenen Klimas viel besser leben lässt als in den schwülheißen Niederungen Ostkolumbiens. Ein Frühwarnsystem für Vulkanausbrüche und Erdbeben existiert nicht einmal in Ansätzen; das Geld ist knapp und wird wie in jeder Bananenrepublik, die auf sich hält, lieber auf geheimen Schweizer Bankkonten unterschlagen oder für Waffen und Protzbauten, aber ungern für Bildung und Wissenschaft ausgegeben. Niemand weiß daher die Unheil verkündenden Anzeichen zu deuten: Der Nevado del Ruiz heizt sich auf wie ein gigantischer Wasserkessel, bis er buchstäblich Dampf ablässt – und Millionen Tonnen Eis und Erde, die den Gipfel bedecken, in eine kochende Schlammlawine verwandelt, die sich – 30 Meter hoch, 80 km/h schnell – talabwärts wälzt, ganze Ortschaften unter sich begräbt und mehr als 23.000 Menschen tötet.

Jetzt ist die Aufmerksamkeit der Regierung, der Medien und der ganzen Welt geweckt. Blinder Aktionismus soll die peinlichen Versäumnisse der Vergangenheit übertünchen. Fachleute aus dem In- und Ausland werden gerufen, Gremien und Ausschüsse eingerichtet, Frühwarn- und Evakuierungspläne entworfen. Doch statt an einem Strang zu ziehen, arbeiten die Beteiligten nicht selten gegeneinander. Konkurrenzdenken und Neid sind den beteiligten Wissenschaftlern keineswegs fremd. Vor Ort sträuben sich die lokalen Politiker und Geschäftsleute gegen mögliche Einschränkungen des Fremdenverkehrs, denn der Blick in einen rumorenden Vulkanschlot gehört für die zahlungskräftigen, doch leider recht raren Touristen zu den Höhepunkten einer Kolumbien-Reise. Die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung, diversen Rebellengruppen und den Drogenbaronen erschweren oder verhindern zusätzlich die Umsetzung jeder Maßnahme, zu der man sich schließlich durchringen könnte.

So kommt es, wie es wohl kommen musste: Als im April 1988 der Galeras, ein weiterer Vulkan, Anzeichen einer bevorstehenden Eruption bemerken lässt, ist wiederum nichts und niemand vorbereitet. Fast fünf Jahre lässt der Berg sich Zeit – Jahre, in denen Forscher aus der gesamten Welt den Galeras untersuchen, sich streiten, warnen und einander widersprechen, bis die verwirrte Bevölkerung sich endgültig im Stich gelassen fühlt. Im Januar 1993 treffen sich die Koryphäen der Vulkanologie dann in Kolumbien zu einer Fachtagung. Als Höhepunkt steht eine Exkursion zum brodelnden Krater des Galeras auf dem Programm; das Angebot wird von den meisten Teilnehmern gern angenommen.

Es ist, als ob sich gestandene Fachleute plötzlich in ahnungslose Touristen verwandelt hätten: Männer und Frauen, die theoretisch vermeintlich alles über Vulkanismus wissen, erkennen in der Realität die Anzeichen für die unmittelbare Katastrophe nicht. Ein bizarrer Zufall will es, dass der Countdown für die Explosion des Galeras genau in dem Moment abläuft, als sich am 14. Januar 1993 die neugierigen Forscher um den Vulkankessel scharen; sie haben keine Chance. Dieses Mal geht keine Schlammlawine ab – eine vielhundertgradheiße Gas- und Aschewolke hüllt den Krater ein; wer ihr entkommt, fällt dem Hagel der Steinbrocken zum Opfer, die von der Detonation wie Schrapnellfeuer in alle Richtungen geschossen werden.

Binnen weniger Minuten kommen neun Menschen grausam zu Tode; zehn werden zum Teil schwer verletzt. Die Vulkanologie als Wissenschaft hat versagt, so denkt der Kolumbianer von der Straße. Aber auch im Ausland werden unangenehme Fragen gestellt, als sich die Überlebenden in widersprüchliche Aussagen verwickeln, denn es stellt sich heraus, dass es sehr wohl Warnungen besorgter Kollegen gab, die jedoch vorsätzlich ignoriert wurden.

Das ist in Kurzform die Geschichte, die uns Victoria Bruce im vorliegenden Sachbuch erzählt. Natürlich geht sie – selbst Geologin und nun Journalistin – wesentlich stärker ins Detail, was ihr Werk in Form und Inhalt einem dieser Wissenschafts-Thriller à la Michael „Jurassic Park“ Crichton ähneln lässt, die gerade so gern gelesen werden. Die Wirklichkeit schlägt freilich zuverlässig jede Fiktion. Dazu trägt das Thema seinen Teil bei: Die Dramatik eines Vulkanausbruchs zieht die Menschen zu allen Zeiten in den Bann.

Trotzdem lenkt der recht vordergründige (wenn nicht sogar platte) deutsche Titel die Aufmerksamkeit des Publikums in etwas falsche Bahnen. „Keine unmittelbare Gefahr“ nannte die Autorin selbst ihr Werk, und tatsächlich geht es nicht nur um Naturgewalten, sondern vor allem auch um menschliches Versagen in einer Krise. Und versagt haben sie alle, die Bruce Revue passieren lässt, und das nicht nur einmal, sondern wieder und immer wieder. Augen zu, das Beste hoffen, es wird schon nichts schief gehen – das ist ein Motto, das stets zuverlässig die größten Katastrophen einleitet. Mit deprimierender Präzision trägt Bruce die Rädchen, Federn und Wellen zusammen, die zusammengesetzt das Uhrwerk menschlicher Dummheit und Ignoranz gleich zweimal in Gang brachten. Ihre Forscher-Kollegen finden in diesem Werk den ihnen gebührenden Platz; sie treten hier nicht als selbstlose Streiter für Wissen und Weltfrieden auf, sondern als zerstrittener Haufen, der durchaus seinen Teil zum doppelten Desaster beiträgt.

Mit Schuldzuweisungen sollte man aber dennoch vorsichtig sein. Bruce stellt die Ereignisse von 1985 und 1993 auch als Produkt historischer und aktueller Prozesse dar, die in ihrer Gesamtheit ähnlich unwiderstehlich wie ein Lavastrom in eine Richtung drängen und ein Schwimmen gegen den Strom oder Ausbrüche nicht gestatten. In Südamerika gehen halt nicht nur die Uhren anders. Außerdem gilt weiterhin die schlichte Erkenntnis, dass es einfach bzw. billig ist, hinterher schlauer zu sein. Die brutale Wahrheit, die auch Bruce anspricht, ist wie gehabt, dass a) in absehbarer Zeit das Leid derer, die bei den Ausbrüchen des Nevado del Ruiz und des Galeras Familie & Freunde, Hab & Gut verloren, in Vergessenheit gerät, b) die Geologen, Vulkanologen etc. bei allem Unglück definitiv dazugelernt haben und c) sich bei einem neuerlich drohenden Ausbruch an anderer Stelle dieselbe traurige Geschichte im Großen und Ganzen wiederholen wird. (Letzteres ist allerdings die persönliche Ansicht Ihres Referenten, der strikt davon überzeugt ist, dass der Mensch nie wirklich dazulernt.)

Anmerkung:
(1) Dem geologischen Laien sei kurz beschrieben, dass die Erde auch Jahrmilliarden nach ihrer Entstehung ein Ball flüssigheißen Gesteins ist, der von einer recht dünnen Kruste bedeckt wird. Diese bildet keine geschlossene „Schale“, sondern ist in Schollen zerborsten, die auf der Lava schwimmen, bestimmten „Strömungen“ folgen und folglich an den Kanten zusammenstoßen oder sich reiben. Die Folgen sind besonders dort spektakulär, wo eine oder gar beide Schollen vom Wasser der Weltmeere bedeckt werden, da heiße Lava und kaltes Wasser zwei Elemente sind, die sich gar nicht gut vertragen.

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Sheldon Rusch – Rabenmord

Das geschieht:

Ihr aktueller Fall führt Elizabeth Hewitt, Special Agent der Illinois State Police, in den winterlichen Chain-O-Lakes-Nationalpark. Dort haben Spaziergänger einen Frauenschädel gefunden. Er wurde an einen Baum genagelt, aus einer Augenhöhle hängt an einem Band die Nachbildung eines Käfers. Die literarisch vorgebildete Hewitt erkennt, wen der unbekannte Schöpfer dieser Szene hier nachahmt: Edgar Allan Poe, der berühmte Schriftsteller, verfasste 1843 die Kurzgeschichte „Der Goldkäfer“, in der besagtes Insekt den Hinweis auf einen vergrabenen Schatz gab.

In diesem Fall findet man im Boden unter dem Käfer allerdings die sorgsam zerteilte Leiche der seit sechs Wochen verschwundenen Brandi Kaczmarek, der auch der Schädel am Baum gehört. Der „Rabe“, wie die begeisterten Medien den unbekannten Mörder umgehend nennen, hat schon eine weitere Poe-Geschichte nachgestellt: „Die schwarze Katze“, entstanden ebenfalls 1843, beschreibt das schreckliche Ende einer Frau, die mit einem einäugigen Katzentier in ihrem Haus eingemauert wird. Genevieve Bohannon, der dieses Schicksal beschert wurde, kann nur noch tot geborgen werden. Sheldon Rusch – Rabenmord weiterlesen

Ian Smith – Der innere Zirkel

Das geschieht:

Wieder einmal wird Professor William Bledsoe, Naturwissenschaftler und Dozent am Dartmouth College zu Hanover im US-Staat New Hampshire, mit einem hohen Preis ausgezeichnet. Der bescheidene Mann schätzt das Rampenlicht wenig. So stiehlt er sich früh davon, als er gefeiert werden soll, und fährt zu seinem einsam gelegenen Haus im Wald, wo seine Frau auf ihn wartet. Kurz vor dem Ziel, fällt Bledsoe ein am Straßenrand liegengebliebener Wagen auf. Er bietet seine Hilfe an – und erkennt zu spät, dass er in eine Falle geraten ist: Rednecks wollen ihn entführen. Bledsoe kann fliehen, wird jedoch gestellt und umgebracht.

In New York wird Sterling Bledsoe vom Verschwinden seines Bruders informiert. Der FBI-Agent bricht sofort in den Norden auf, um sich in die Ermittlungen der örtlichen Polizei einzuschalten. Als wenig später Williams Leiche gefunden wird, scheint alles auf eine rassistisch begründete Bluttat hinzuweisen: Die Bledsoes sind Afro-Amerikaner, und eine entsprechende Verunglimpfung wurde der Leiche tief in die Brust geschnitten. Ian Smith – Der innere Zirkel weiterlesen

Wilder Perkins – Das verschollene Schiff

Perkins Verschollenes Schiff Cover kleinDas geschieht:

Für einen geborenen Seemann wie Leutnant Bartholomew Hoare ist es in diesem Jahr 1805 besonders bitter, ans Land gefesselt zu sein. England liegt wieder einmal mit Frankreich im Krieg, der hauptsächlich auf dem Wasser ausgetragen wird. Da würde Hoare gern mitmischen, aber schon 1794 traf ihn im Gefecht eine feindliche Musketenkugel am Kehlkopf. Seitdem kann er nur noch flüstern, was seiner Karriere abträglich war, denn Lautstärke zählt seit jeher zu den unabdingbaren Voraussetzungen für eine Offizierslaufbahn in der englischen Marine.

Wegen seiner Verdienste wurde Hoare nicht entlassen, sondern dem Stab des Admirals Sir George Hardcastle zugeteilt. Dieser befiehlt über den wichtigen Seehafen Portsmouth. Hoare machte er zum „Sonderbevollmächtigten“ ohne besonderes Ressort, d. h. zum Mädchen für alles. Allerdings ermittelt Hoare auch in Kriminalfällen, die sich im Hafenbereich ereignen. Gerade untersucht er das mysteriöse Verschwinden des Linienschiffes „Scipio“, das offenbar einem Bombenattentat auf See zum Opfer fiel, als ihn ein Kamerad um Hilfe bittet. Wilder Perkins – Das verschollene Schiff weiterlesen

Peter May – Das rote Zeichen

Ein Serienmörder betäubt und köpft in Chinas Hauptstadt Peking nur scheinbar unschuldige Zeitgenossen; ein ehrgeiziger Kommissar und eine amerikanische Pathologin werden in die Ereignisse verwickelt und kommen einem Verbrechen aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution auf die Spur … – Nicht wirklich inspirierter, immerhin sorgfältig recherchierter, solider Thriller, der von seiner exotischen Kulisse als von der Story oder den Figuren profitiert.
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John Connolly – Die weiße Straße [Charlie Parker 4]

Im Süden der USA wecken Rassisten die Geister der Vergangenheit, die Sühne für einen vor langer Zeit begangenen Lynchmord fordern. Zwischen allen Fronten versucht Privatdetektiv Charlie Parker, den aktuellen Tod eines Mädchens zu klären – und dabei am Leben zu bleiben … – Ungemein spannender, mit drastischen Gewaltszenen nicht sparender, atmosphärisch intensiver Thriller, in den sich Elemente des Phantastischen mischen. Wo es funktioniert, entsteht eine ebenso unheimliche wie poetische Zwischenwelt, in der die Lebenden und die Toten Seite an Seite existieren.
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Stephen Baxter – Zeitschiffe

H. G. Wells‘ Zeitreisender verschlägt es in parallele Welten, die er gemeinsam mit dem Morlock Nebogipfel erforscht, während ein anderes Ich einen Zeit-Krieg vom Zaun bricht, der sich gen Vergangenheit ausbreitet … – Die ‚Fortsetzung‘ des SF-Klassikers von 1895 ist handlungsbunt aber flach; die Handlung reiht Episode an Episode, ohne dass sich daraus eine ‚runde‘ Geschichte formt: actionreiche Science Fiction, die dem genialen Vorgänger nie das Wasser reichen kann.
Stephen Baxter – Zeitschiffe weiterlesen

Peter Huchthausen – K-19 und die Geschichte der russischen Atom-U-Boote

huchthausen-k19-cover-kleinAusgehend vom Atom-Unfall an Bord der K-19 im Jahre 1961 rekonstruiert der Verfasser die desasterreiche Geschichte der sowjetischen U-Boot-Marine, die überhastet konstruierte und schlecht gebaute Unterseeboote in den Kalten Krieg mit den USA warf und dabei skrupellos Menschenleben aufs Spiel setzte. Das lesenswerte, gut recherchierte und spannend geschriebene Sachbuch beschränkt sich nicht auf die Nacherzählung diverser Katastrophen, sondern bettet einzelne Ereignisse in den historischen Kontext ein und beschreibt auch das ‚Erbe‘, das die UdSSR der Welt in Gestalt radioaktiv verseuchter Meere und Häfen hinterließ.
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Rick Boyer – Sherlock Holmes und die Riesenratte von Sumatra

boyer-holmes-riesenratte-cover-2006-kleinIm London des Jahres 1894 treibt eine Riesenratte ihr mörderisches Unwesen. Dahinter verbirgt sich ein kapitales Verbrechen, das zu erkennen und zu vereiteln nur dem großen Sherlock Holmes möglich ist … – In Plot, Figurenzeichnung und Tonfall trifft dieses Pastiche sehr präzise das Vorbild Arthur Conan Doyle; die bekannten Elemente einer typischen Holmes & Watson-Geschichte fließen geschickt variiert in die gleichermaßen spannende wie nostalgische Handlung ein, ohne aufgesetzt zu wirken, und runden einen Roman ab, der uneingeschränkt empfohlen werden kann.
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Richard Stark – Ein Job für Parker [Parker 4]

stark parker 04 job cover kleinAls Profigauner Parker für einen Kunstraub angeheuert wird, kommt er einem Konkurrenten in die Quere, was ihn die Beute und fast das Leben kostet; Rachelust lässt ihn schnell wieder auf die Beine kommen und zu einer gewaltreichen Verfolgung ansetzen … – Schnörkelloser, rasanter Krimi, der ausschließlich im Gangstermilieu spielt und diese als düstere Parallelwelt schildert, in der es ausschließlich um Vorteil und Verrat geht: ein schmutziger kleiner Klassiker des Genres, den die Jahrzehnte nur reifen aber nicht altern ließen. Richard Stark – Ein Job für Parker [Parker 4] weiterlesen

David Morrell – Creepers

Das geschieht:

Sie nennen sich „Creepers“: Männer und Frauen, die es lieben, sich in möglichst alte, lange verlassene Tunnel, Gebäude und andere Großbauwerke einzuschleichen, wo sie zwischen bröckelnden Mauern nach Relikten vergangener Zeiten suchen. Robert Conklin, unorthodoxer Professor für Geschichte, ist der Anführer dieser Gruppe, die aus seinen Studenten Vincent Vanelli, Cora und Rick Magill besteht.

Zu ihrer aktuellen Tour hat Conklin den Reporter Frank Balenger eingeladen, denn sie gilt einem ganz besonderen Ziel: Ashbury Park, einst eine blühende Kleinstadt im US-Staat New Jersey, ist schon lange eine Ruinenstätte, über der sich wie eine antike Maya-Pyramide das Paragon-Hotel erhebt. 1901 hat es der exzentrische Millionär Morgan Carlisle entworfen und errichten lassen. Siebzig Jahre hat er das Penthouse des Hotels nicht verlassen, bis er in der letzten Nacht seines 92-jährigen Lebens daraus geflohen ist und sich umgebracht hat. David Morrell – Creepers weiterlesen