London im Sommer 1380: Geldverleiher Bartholomew Drayton liegt mit einem Armbrustbolzen in der Brust in seiner leer geräumten Schatzkammer. Mit eingeschlagenem Schädel treibt Schreiber Edwin Chapler in der Themse. Sein Kollege Luke Peslep endet, während er sich auf der Latrine der Schenke „Zum Tintenfass“ erleichtert, unter den Degenstichen eines Meuchlers.
Für die Ermittlungen in allen drei Fällen ist Sir John Cranston, der Coroner (= Untersuchungsrichter) der Stadt London, zuständig; eine Kriminalpolizei gibt es noch nicht. An seiner Seite arbeitet Athelstan, ein Bruder des Dominikanerordens, der sowohl als Cranstons Sekretär fungiert als auch auf Grund seiner kriminalistischen Fähigkeit ein wertvoller Assistent sowie ein geschätzter Freund ist. Paul Harding – Tödliches Rätsel weiterlesen →
14 Gruselgeschichten aus guter, alter Zeit. Es wird lustvoll handfest und ohne psychologische Sperenzchen gespukt, gerächt & gemordet, denn hier werden vor allem Storys aus der großen Zeit der US-amerikanischen Pulp-Magazine präsentiert. Echte Klassiker mischen sich unter vergessene Kleinodien des Genres, dazwischen muss man sich durch (wenig) Mittelmaß kämpfen. Kurt Singer (Hg.) – Horror 1: Klassische und moderne Geschichten aus dem Reich der Dämonen weiterlesen →
In der englischen Provinz tauchen die bizarr zugerichteten Leichen nie gefasster Krimineller auf. Ein vom Leben gebeutelter Journalist und ein überforderter Polizeibeamter stoßen auf die Spur eines alten, nie geklärten Verbrechens, das zu neuem, gewalttätigem Leben erwacht … – Ausgezeichnetes Krimi-Debüt eines neuen Autoren; spannend und düster aber mit trockenem Witz erzählt und mit sympathischen, einprägsamen Figuren besetzt: ein Lese-Spaß ohne gravierende Einschränkungen. Jim Kelly – Tod im Moor weiterlesen →
Sie ist ursprünglich kein besonderes Schiff – nur ein Windjammer wie viele andere, ein Frachtsegler, gebaut 1905 von |Blohm & Voss| in Hamburg für die legendäre Reederei |Laeisz|. Mit den zu diesem Zeitpunkt bereits dominierenden Motorschiffen soll sie konkurrieren, Salpeter und Guano aus dem südamerikanischen Chile nach Europa schaffen, nicht schnell, aber billig. Nüchtern ist sie, aus Stahl gebaut, ganz sicher nicht luxuriös, aber das Produkt einer Jahrhunderte alten Handwerkskunst, gebaut für das Meer und den Wind und daher elegant und mit ihren 114 Metern Länge und vier himmelhohen Masten wahrlich eindrucksvoll.
Die „Pamir“ erlebt das übliche Schicksal eines Schiffes ihrer Epoche. Im Ersten Weltkrieg entgeht sie dem Schicksal vieler Salpetersegler, aufgebracht oder versenkt zu werden, weil sie in neutralen Gewässern auf den Kanaren liegt. Sie wechselt den Besitzer, wird auf der Weizenfahrt zwischen Australien und Neuseeland eingesetzt. Die Neuseeländer beschlagnahmen die „Pamir“ im Zweiten Weltkrieg und befördern mit ihr kriegswichtiges Material in die USA.
Nach dem Krieg ist die „Pamir“ eigentlich fällig, denn die Zeit der Frachtsegler ist unwiderruflich vorbei. Doch während die letzen Windjammern abgewrackt werden, ist diesem Schiff erneut das Glück hold: Nach ihrer Rückkehr nach Europa wird die „Pamir“ ein Schulschiff. Angehende Offiziere lernen hier den Umgang mit den Elementen ohne moderne Technik. Außerdem wird Fracht geladen, was die „Pamir“ zum endgültig letzten Segler ihrer Art werden lässt.
Mit dem Glück ist es im September 1957 vorbei. Die „Pamir“ gerät mitten auf dem Atlantik in einen Hurrikan – ein Jahrhundertsturm, der ihr zum Verhängnis wird. Mit 80 meist jungen Männern wird sie binnen weniger Minuten in die Tiefe gerissen.
Auf 190 (großzügig) bedruckten Seiten lebt die faszinierende Epoche der großen Segelschiffe neu auf. Dies geschieht hauptsächlich in schlichten, aber gut gewählten Worten, zu denen sich einige wenige, doch aussagekräftige Bilder gesellen. Mit sensationellen neuen Erkenntnissen kann Verfasser Jensen nicht aufwarten. Sein Werk ist schon älter, der Untergang der „Pamir“ gilt im Großen und Ganzen als geklärt, Geheimnisse ranken sich nicht darum. Der Schiffbruch steht auch gar nicht im Zentrum der Darstellung. Fünf Jahrzehnte deutscher Seefahrt werden präsentiert – Geschichte, für die unsere „Pamir“ hauptsächlich als Beispiel und roter Faden dient.
Darüber hinaus geht es noch um etwas Anderes: die Beschwörung bestimmter Gefühle. Die „Biografie eines Windjammers“ (von englisch „to jam“ – pressen; romantische Seeleute leiten den Namen vom Geräusch des Winds in den Segeln ab) ist eine Mischung aus Sachbuch und Roman. Präzision in den historischen Ausführungen wird konterkariert durch nostalgische Seebären- (oder Blaubären?) Geschichten. Der Verfasser ist selbst Seemann, geboren um 1900; er hat die Seefahrt in der Phase ihres vielleicht größten Umbruchs kennen gelernt, als die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende währende Tradition der windgetriebenen Schiffe sich ihren Ende zuneigte.
Eine ganze Welt ging damit unter bzw. verwandelte sich in ein mystisches Reich. Noch heute wird „Seefahrt“ nicht mit den hochmodernen, computergesteuerten, reizlosen Containerschiffen oder Öltankern der Gegenwart gleichgesetzt, sondern mit den großen Segelschiffen der Vergangenheit und den Männern, die auf ihnen fuhren. Damit war es wie gesagt spätestens 1945 vorbei. So kommt der „Pamir”“eine besondere Bedeutung zu: Sie ist die würdige Repräsentantin einer verklärten, „besseren“ Vergangenheit. Die „Pamir“ weckt Gefühle, die mit der grauen Realität – das Schiff wurde erbaut, um Vogelmist billig um die Welt zu segeln – rein gar nichts mehr zu tun haben.
Diesen Aspekt der „Pamir“-Story weiß Jen Jensen kräftig zu bedienen. Vor Klischees schreckt er dabei nicht zurück; Seeleute sind bei ihm alte, harte, wortkarge, erfahrene, kauzige, bewunderte Männer, die in gemütlich verkommenen Hafenkneipen ihr Garn spinnen – eine besondere Klasse Mensch, die im Besitz besonderer Weisheiten und Erfahrungen ist, die ihnen „das Meer“ vermittelt hat (wo offensichtlich die Nazis nie vertreten waren, wenn man dem Chronisten Glauben schenken möchte …). So mag es früher freilich tatsächlich gewesen sein, zumal Jensen sich umgehend vom Nostalgiker zum Realisten verwandelt, wenn es darum geht, den recht unromantischen Arbeitsalltag auf der „Pamir“ zu beschreiben. Bei Windstärke 11, Eisregen und kirchturmhohen Wellen die Segel zu reffen, ist außerdem ein Job, von dem man sich lieber bei einem guten Glas Grog erzählen lässt.
Das zweite Leben der „Pamir“ als Segelschulschiff sicherte ihr endgültig die Unsterblichkeit. Mit ihr fuhren 1957 nicht „nur“ Matrosen, sondern junge Seeleute aus aller Welt, die zukünftige Elite ihres Standes, in das nasse Grab. Dies lud ein zwar schreckliches, aber in der Seefahrt kaum ungewöhnliches Ereignis emotional auf. Dass die „Pamir“ noch 1957 wieder eingemottet werden sollte, weil das Geld für ihren Unterhalt ausging, geriet darüber in Vergessenheit – was blieb, war die Erinnerung an ein stolzes Schiff mit ebensolcher Mannschaft, die ein tragisches Ende nahmen.
Hier wird unsere Geschichte nun fast zu schön, um wahr zu sein. Jens Jensen hat sie schon vor langer Zeit niedergeschrieben. Er ist quasi ein Zeitgenosse der „Pamir“, wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Arbeiterviertel am Hamburger Hafen auf. Welcher Zufall: Dieses Schiff kannte er, seit es auf Kiel gelegt wurde; der eigene Vater hat es mit erbaut. Später fuhr Jensen selbst zur See, wenn auch nie auf der „Pamir“. Und jetzt wird’s mystisch: In den 1960er Jahren soll Jensen als Kapitän eines Segelschoners in die Südsee gereist sein – und ward nie wieder gesehen. Glücklicherweise hatte er sein Buch über die „Pamir“ bereits verfasst; das Manuskript erhielt der |Europa|-Verlag aus Jensens Hamburger Nachlass und veröffentlichte 2002 dieses Buch, das nun auch bei |Bastei Lübbe| erschien. Tja …
Royale-les-Eaux war einst ein mondäner Ferienort an der französischen Kanalküste. Jetzt – d. h. Anfang der 1950er Jahre – ist nur noch das Casino einen Besuch wert. Viel Geld wechselt hier ohne besonderes Aufsehen den Besitzer: Dies ist ein Umfeld, nach dem Le Chiffre gesucht hat. Der hinterhältige Meisterspion der Sowjets hat sich mit einigen Nebenbei-Geschäften verspekuliert und dabei Geld aus der Portokasse genommen; sehr viel Geld, um genau zu sein, was für Le Chiffre ein Problem ist. Der russische Geheimdienst bringt sehr wenig Verständnis für solche Eskapaden auf und wird ihm womöglich die Terror-Truppe „Smersch“ auf den Hals hetzen, die vom Kurs abgekommene Kommunistenspitzel sehr rüde zu behandeln pflegt.
In seiner Not beschließt Le Chiffre, ein Vermögen am Spieltisch zu gewinnen. Auf diese Situation hat der britische Secret Service lange gewartet. Le Chiffre soll ruiniert und als Agent außer Gefecht gesetzt werden. Der richtige Mann dafür ist James Bond, dessen Kennziffer „007“ dem Eingeweihten verrät, dass dieser ungewöhnliche Staatsbeamte die Lizenz zum Töten besitzt. Das war bisher zweimal nötig, und auch sonst ist mit diesem Bond nicht gut Kirschen essen, denn er liebt seinen Job und hasst die Roten.
Umgehend macht sich 007 auf nach Royale. Dort trifft er die ihm zugewiesene Kontaktfrau Vesper Lynd, die recht unprofessionell wirkt aber immerhin ausgesprochen ansehnlich ist. Doch erst die Arbeit, dann das Vergnügen, so Bonds strenge Regel. In einem nervenaufreibenden Bakkarat-Duell mit Le Chiffre obsiegt Bond. Der Triumph lässt ihn unvorsichtig werden. Le Chiffres Schergen kidnappen Vesper und locken 007 in eine Falle. Sein Widersacher foltert ihn auf brutalste Weise, um sein Geld zu erpressen.
Aber Le Chiffre hat die Rechnung ohne den Smersch-Wirt gemacht, und Bond kommt an Leib und Seele schwer gezeichnet frei. Allerdings freut er sich zu früh, denn seine eigentliche Prüfung erwartet ihn noch …
_Hitzkopf für den Kalten Krieg_
„Casino Royale“ ist ein rasanter, lakonischer, gewalttätiger Thriller, der noch heute die Aufregung spüren lässt, die er 1953 bei denen hinterließ, die ihn unvorbereitet lasen. (Allerdings lag die Erstauflage bei gerade 4.750 Exemplaren.) Für die betulichen Fans von Edgar Wallace oder Agatha Christie muss damals das Ende der Welt nahe gewesen sein. Aber auch die Schnüffler vom Schlage eines Philip Marlowe oder Lew Archer sahen alt aus gegen James Bond, den Agenten des Secret Service, der finanziell und ausrüstungstechnisch üppig ausgestattet gegen die Feinde der westlichen Zivilisation zu Felde zog.
Dem ‚heißen‘ II. Weltkrieg folgte ab 1945 ein ‚kalter‘ Krieg der beiden Supermächte USA und UdSSR. Er wurde heimlich aber erbittert ausgefochten. Das Verbrechen gewann eine neue, politische Dimension: Nicht Raub oder Mord aus Gier oder Rache waren die Motive im „Großen Spiel“ der Regierungen. Die (angeblich) legitime Abwehr und Schwächung heimtückischer Feinde des jeweiligen Systems standen im Vordergrund. Menschen und Opfer wurden zu Spielfiguren und Zahlen. Unsicherheit bestimmte das Zwielicht hinter den Kulissen. Wer war Freund, wer Feind? Galten diese Klassifizierungen überhaupt noch?
Natürlich bot die Welt der Geheimdienste nur eine grobe Schablone, vor der Ian Fleming 1953 James Bond 007 agieren ließ. Zwar konnte der Verfasser (s. u.) auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, die er jedoch aufs Spektakuläre zuspitzen musste: Auch Agentenarbeit ist primär langweilige Routine. Als Schriftsteller war Fleming zudem Neuling. Das merkt man einer Geschichte an, die deutlich in drei Teile zerfällt: Bonds Vorbereitungen zum grandiosen Kartenspiel-Gefecht mit Le Chiffre im Casino Royale (sehr gelungen), die anschließende Gefangennahme, Folter und Rettung von Bond (unbehaglich intensiv) sowie schließlich der tragisch gemeinte aber recht missglückte, weil an einen bereits abgeschlossenen Spannungsbogen anknüpfen wollende Epilog vom großen Verrat der Vesper Lynd.
|Aller Anfang ist (erstaunlich) zäh|
Für Bond-verwöhnte Kinobesucher geschieht erstaunlich wenig in diesem Roman. Es gibt eine Bombenattacke, eine Autoverfolgungsjagd und eine ausgiebige Folterszene. Das war’s an Action. Raffinierte Agententechnik aus dem Hause Q glänzt durch Abwesenheit. Bond fährt einen Bentley Baujahr 1933 und benutzt eine Beretta Kaliber 25. (Später informierte ein Waffenexperte Fleming, dass diese als Damenpistole galt. Danach wechselte 007 schleunigst zur Walther PPK.)
Was „Casino Royale“ (neben nostalgischen Gründen) immer noch lesbar macht, ist Flemings offensichtliches Bemühen, dem Getümmel eine dritte Dimension zu verleihen. Auffällig sind die ausführlichen Beschreibungen von Kleidern, Speisen, Möbeln usw. Ian Fleming verstand sich als Mann mit Stil, und das gab er an seinen James Bond weiter. Diesen sah er darüber hinaus als Muster für den Menschen der Gegenwart und deshalb rasch und notgedrungen rücksichtslos im Denken und Handeln.
Vergessen ist spätestens seit der Ära des 007-Clowns Roger Moore, dass James Bond ein Produkt des II. Weltkriegs ist. Fleming geht mehrfach auf dessen prägende Kriegserlebnisse ein. (Dies brachte ihn später in Schwierigkeiten, da er Bond zunächst ’normal‘ und dann langsamer altern ließ, bis dieser eigentlich bereits als Schuljunge ins Feld gezogen sein musste, wenn man nachrechnete.) Auch deshalb ist der 007 aus „Casino Royale“ uns heute recht fremd.
|Das Bond-Universum in seiner Steinzeit|
Ian Flemings James Bond war lange ein vom Kino-007 völlig konträre Figur. Die beiden ersten Filme („James Bond jagt Dr. No“, 1961, und „Liebesgrüße aus Moskau“, 1963) mit Sean Connery kamen dem eiskalten, beinahe fanatisch auf sein Ziel fixierten und dabei buchstäblich über Leichen gehenden Bond aus „Casino Royale“ nahe.
Selbst Fleming milderte die schroffe Persönlichkeit seines Helden rasch ab; der spätere James Bond ist nicht milder im Handeln aber psychisch stabiler. Er wird weniger deutlich von gar zu offensichtlichen Selbstzweifeln und unterdrückten Emotionen bestimmt, die er hinter der Maske des 007 zu verbergen trachtet. Erst 2006 trat im „Casino-Royale“-Film – der gleichzeitig zum Reboot der 007-Saga wurde – dieser Aspekt wieder stärker in den Vordergrund.
Bonds Frauenbild ist ein unverfälschtes Spiegelbild seiner Zeit. Er lehnt weibliche Agenten ab, weil sie seiner Meinung nach niemals dieselbe Konsequenz wie ein Mann aufbringen können. Prompt versagt Vesper Lynd, und Bond flucht sie in die Rolle der Ehefrau und Mutter zurück. Schlafen will er aber unbedingt mit ihr, das steht auf seiner Liste – sobald er den Job erledigt hat: Diesen Bond kennen wir gut.
Allerdings verliebt sich 007 später in Vesper und macht ihr einen ernstgemeinten Heiratsantrag. Sogar aus dem Agentengeschäft will er sich zurückziehen. Aber Vesper ist eine Doppelagentin und die Welt schlecht. Damit sie nicht zu allem Überfluss rot wird, macht es in Bonds Hirn „Klick“. |“Das Biest [= Vesper] ist tot“|, wird nach London gemeldet, und dann wirft sich 007 wieder in den Kampf mit dem Reich des Bösen.
|Die Schöne und das Biest|
Vesper Lynd ist paradoxerweise emanzipierter als eigentlich alle Kino-Bond-Girls bis in die Gegenwart. Sie wirft sich weder bereitwillig in 007s starke Arme, noch wälzt sie sich (zuschauerfrei ab 12 Jahre) mit ihm auf einem Eisbärenfell. Ihre Vergangenheit ist tragisch, ihr Schuldgefühl echt, ihr Ende rührt, selbst wenn dieser Effekt von Fleming vor allem konstruiert wurde, um Bond noch einmal als harten Kerl dastehen zu lassen.
Le Chiffre ist bereits der erste der überlebensgroßen Bösewichter, die später typisch für den Bond-Kosmos wurden. Noch greift er nicht nach der Weltherrschaft, sondern ist mehr oder weniger Handlanger der (realen) Sowjetmacht. Aber in seinem Folterkeller legt er bereits die Bond-typische Mischung aus Sadismus und Größenwahn an den Tag. Sein Ende ist schrecklich gewöhnlich – ein Fehler, den Fleming und vor allem die Kinofilme später vermeiden werden.
Überhaupt hat Fleming den Löwenanteil seiner Fehler bereits in diesem ersten Bond-Roman begangen. Er lernte schnell und besserte nach, was er zu Recht negativ kritisiert fand. Schon „Live and Let Die“ (dt. „Leben und sterben lassen“), dem 1955 erschienenen zweiten Bond-Thriller, hatte das Zeug zum echten Klassiker.
_Autor_
Ian Fleming (1908-1964) blickte im „Casino Royale“-Jahr 1953 auf eine inspirierend abenteuerliche Vergangenheit zurück. Er war ein typisches Oberschicht-Gewächs des spätimperialistischen Großbritannien mit erstklassiger Schulbildung (Eton) und der sprichwörtlichen „steifen Oberlippe“. Im II. Weltkrieg lernte Fleming als Mitarbeiter des Marine-Geheimdienstes die geheimnisvolle Halbwelt kennen, die er später so effektvoll zu dramatisieren wusste. Einige wagemutige Kommandounternehmen im Mittelmeer werden ihm zugeschrieben. Den Globus hatte Fleming schon vor dem Krieg als Journalist (u. a. in Moskau) bereist, was er nach 1945 als Auslandskorrespondent der „Sunday Times“ fortsetzte. Er zog die Sonne dem englischen Regen vor und ließ sich an der Nordküste der damals noch britischen Inselkolonie Jamaica nieder.
1951 erschütterte der Cambridge-Skandal das Empire: Zwei hochrangige britische Diplomaten entpuppten sich als langjährige Spione im Dienst der UdSSR. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich zwei „old boys“ dafür hergeben würden. Aber im Krieg der Spione gibt es weder Ehre noch Moral. Diese Erkenntnis beeindruckte Ian Fleming tief. Er hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, einen Roman zu schreiben und nun seinen Aufhänger gefunden. Im James Bond aus „Casino Royale“ hallt der Schock über den Verlust traditioneller Werte und die daraus resultierenden Unsicherheiten deutlich wider.
Den Namen „James Bond“ entlieh Fleming einem gleichnamigen Vogelkundler, der die gefiederten Bewohner der westindischen Inselwelt erforschte. Eine kluge Wahl, denn wer könnte – sehr ratsam für einen guten Spion – unauffälliger wirken als ein solcher Zeitgenosse?
Der eigentliche Erfolg des Schriftstellers Ian Fleming kam nur allmählich, der Quantensprung zum Superseller gelang erst in den 1960er Jahren, als der Kino-Bond zum modernen Mythos wurde. Damit hatte Fleming nur noch mittelbar zu tun. Er war gern gesehener Gast am Drehort und kassierte gutes Geld für seine Figur, die er in insgesamt zwölf Thrillern und zwei Kurzgeschichten-Sammlungen mehr oder weniger aufregende Abenteuer erleben ließ, wobei er (zum Unwillen der Leserschaft) durchaus mit seinem Helden experimentierte.
Nach 1960 begann Flemings Gesundheit zu verfallen. Er weigerte sich, seinen Lebensstil zu ändern, d. h. seiner Herzkrankheit entsprechend zu leben. Folgerichtig erlag er – immerhin stilvoll – auf dem Royal St. George’s Sandwich-Golfplatz in Kent am 12. August 1964 einem Herzinfarkt.
|Anmerkung|
„Casino Royale“ ist der erste der James Bond-Romane, die der Cross-Cult-Verlag anlässlich des 50. ‚Geburtstags‘ des Kino-Helden 007 neu übersetzt, ungekürzt und mit sehr schönen ‚Retro‘-Titelbilder herausbringt: eine gute Gelegenheit, den „Ur-007“ neu oder womöglich zum ersten Mal kennenzulernen.
Es klingt fast wie ein Märchen: Ein schmächtiger, kleiner Mann aus Virginia, dem schon in seinen Zwanzigern alle Haare ausgefallen sind, reist mit seiner Kamera durch die ganze Welt, ist per Du mit den größten Film- und Theaterstars seiner Zeit, gern gesehener Gast an den Tafeln mächtiger Finanzmagnaten, Fotograf der wichtigsten Politiker, Potentaten & Diktatoren einschließlich Adolf Hitler und Josef Stalin. Gleichzeitig bricht er immer wieder aus dem Luxusleben eines etablierten Ablichters aus, vagabundiert durch gefährliche und unerfreuliche Regionen des Erdballs: die Elendsviertel des nur scheinbar glorreichen Sowjetreiches, die Schlachtfelder diverser Bürgerkriege, das Deutschland der frühen Nazi-Jahre.
Seit James Abbe (1883-1973) im Jahre 1903 einen Auftrag abgelehnt hatte, der sich als Möglichkeit der fotografische Dokumentation des ersten Motorflugs durch die Brüder Wright entpuppte, hörte er nie wieder auf die Stimme der Vernunft, sondern machte sich auf den Weg, wenn sich die Chance eines „Schusses“ bot, mit dem sonst niemand aufwarten konnte. Das Glück ist manchmal mit dem Tüchtigen; so begann Abbe seine lange Karriere 1898 mit Bildern des vor Anker liegenden US-Schlachtschiffs „Maine“, das kurze Zeit später im Hafen von Havanna in die Luft flog und zum Mitauslöser des Spanisch-Amerikanischen Kriegs wurde.
Schon bald wurde Virginia zu klein für den Mann mit der Kamera. Als Porträtist ließ er sich in New York nieder, verfeinerte in der täglichen Praxis sein beachtliches Talent, scheinbar lebensechte Aufnahmen zu inszenieren und mit Licht & Schatten besondere Akzente zu setzen. Es dauerte nicht lange, da wurde das noch junge Hollywood auf Abbe aufmerksam. In der Sturm-und-Drang-Zeit der Filmindustrie gelangen ihm Aufsehen erregende, zeitlose Bilder und Standaufnahmen der ganz großen Stars (Charles Chaplin, die Schwestern Gish, D. W. Griffiths u.v.a.), aber auch – Abbes Spezialität – Fotos der „kleinen“ Filmleute. Statisten, Beleuchter, Tänzerinnen.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte dem Spaß der „Roaring Twenties“ ein Ende, der Tonfilm trieb die Stars von Gestern ins Aus, moralinsaure Spießer und Tugendbolde übernahmen in Hollywood die Zügel. Doch James Abbe war schon weit weg in Europa, wo er den „Tanz auf dem Vulkan“ der Jahre vor dem II. Weltkrieg in Paris, London oder Berlin in meisterhaften Fotos festhielt, zu denen er – auch eine Besonderheit – die Artikel selbst schrieb. Als „Tramp-Fotograf“ reiste er den Ereignissen hinterher, wurde nicht nur wegen seiner Fotokunst, sondern auch wegen seiner Allgegenwärtigkeit ein gefragter Mann. Dabei hatte er nie Angst, sich die Finger schmutzig zu machen und sich in Gefahr zu begeben. So war er 1929 an den zahlreichen Fronten des Mexikanischen Bürgerkriegs zu finden, wo er praktisch als einziger Fotoreporter unter schwierigsten Bedingungen seinem Job nachging. Dies wiederholte er 1936 in Spanien.
James Abbe schien als „neutraler“ Amerikaner in Europa überall Zugang zu haben. In den frühen 1930er Jahren schloss das auch die nazideutschen Machthaber ein. Hitler, Göring, Goebbels: Von diesen und anderen Gewaltherrschern gelangen Abbe oft entlarvende Aufnahmen. Sein größter Coup gelang ihm 1932, als er einen angeblich kranken Stalin im Moskauer Kreml fotografieren durfte – ein unerhörtes Novum.
Noch vor dem II. Weltkrieg kehrte Abbe in die Vereinigten Staaten zurück. Als Auslandskorrespondent war er zu alt, deshalb wechselte er das Metier und ging zum Hörfunk, wo ihm mit der üblichen Energie eine neue Karriere gelang. In den 1960er Jahren ging Abbe in den Ruhestand. 1973 starb er neunzigjährig. Fotografiert hatte er seit über drei Jahrzehnten kaum noch.
Man sollte meinen, dass ein Mann mit Abbes Meriten zu den anerkannten Größen seines Metiers gehört. Tatsächlich ist sein Werk heute nur noch einer recht kleinen Schar einschlägiger Fotohistoriker bekannt. James Abbe ist nie ein Chronist seiner eigenen Arbeit gewesen, die über viele Länder verstreut und teilweise verloren ist. Erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod beginnt man ihn neu zu entdecken.
Vom 2. Oktober 2004 bis zum 9. Januar 2005 fand im Museum Ludwig Köln die Ausstellung „Shooting Stalin. Die ‚wunderbaren‘ Jahre des Fotografen James Abbe (1883-1973)/The ‚Wonderful‘ Years of Photographer James Abbe (1883-1973)“ statt. Deutschland ist ein durchaus angemessener Ort, das Werk eines Mannes zu würdigen, der als Amerikaner ein wichtiges Element auch der deutschen Pressegeschichte gewesen ist. Das hier vorgestellte Buch ist gleichzeitig der Katalog zu besagter Ausstellung. Er liegt zweisprachig vor; auf den Textseiten findet sich links die englische, rechts die deutsche Fassung.
Inhaltlich gliedert sich „Shooting Stalin“ in drei Abschnitte. Teil 1 berichtet kursorisch von Leben und Werk des James Abbe (S. 1-49). Es folgt eine lange Strecke mit exemplarischen Fotos aus den verschiedenen Schaffensphasen (S. 50-287). Vielen bekannten Bildern, die z. B. Rudolph Valentino, Gloria Swanson oder eben Stalin in Ikonen verwandelten, werden selten oder gar nicht gesehene Aufnahmen gegenüber gestellt. So war die Existenz der Abbeschen Fotos von Thomas Mann bisher unbekannt.
Die einzelnen Fotokapitel werden von Texten aus Abbes Feder eingeleitet und kommentiert. Da er die Angewohnheit hatte, auf den Rückseiten der Abzüge Orte, Daten und knappe Beschreibungen zu vermerken, ließen sich viele Bilder gut chronologisch und thematisch einordnen, was sie gleichzeitig zu historischen Quellen macht. Dass ihre Wiedergabequalität eindrucksvoll hoch ist, muss wohl nicht eigens angemerkt werden.
Teil 3 sammelt einige Aufsätze, die einzelne Aspekte des Menschen und Fotografen James Abbe zusätzlich aufhellen (S. 288-331). Brooke Johnson interpretiert unter dem Titel „Mach das Foto, hol die Geschichte“ Abbes Wirken als Teil der Entstehung des modernen Fotojournalismus. Sehr US-amerikanisch stilisiert er ihn dabei zum Selfmademan hoch, der für sich den „Amerikanischen Traum“ realisierte und gleichzeitig Geschichte schrieb. Da hat er Recht, aber vollständig wird das Abbe-Bild wohl nur unter Berücksichtigkeit der Tatsache, dass er viermal verheiratet war und drei Familien auf mehreren Kontinenten hatte – das war der Preis, den ein „Globetrotter-Fotograf“, primär jedoch seine Angehörigen zahlen mussten; Abbe zahlte ihn jedenfalls lieber als seine Gattinnen, Geliebten & Kinder.
Daniel Kothenschulte erinnert in „Der amüsante Teil der Erotik“ an „James Abbes Beitrag zur Hollywood-Porträtfotografie“. Der Fotograf war der richtige Mann zur richtigen Zeit am rechten Ort. Abbe nahm seinen Job sehr ernst, aber er hatte viel Sinn für Humor und war der Selbstironie fähig. Offensichtlich verfügte er über ein einnehmendes Wesen, gewann das Vertrauen seiner Modelle, brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Das Ergebnis sind erstaunliche, in jeder Hinsicht sinnliche Bilder aus einer Zeit, die man gemeinhin für zugeknöpft und allzu sittenstreng hält, wenn man die typischen, steif posierenden Gestalten im gestärkten Sonntagsstaat betrachtet. Wie Abbes Bilder beweisen, lebten in den 1920er und 1930er Jahren Menschen aus Fleisch und Blut. Plötzlich erscheinen vergangene Zeiten gar nicht mehr so fremd wie aus einem Geschichtsbuch.
Sehr interessant weil kritisch äußert sich Bodo von Dewitz im Kapitel „Was der Amerikaner sah. James Abbe in Deutschland“ zum Fotografen aus Leidenschaft. Er rundet das Bild ab, indem er Abbe als von seiner Arbeit besessen und deshalb angstlos, unbekümmert aber durchaus eitel und vor allem stets in Gefahr, instrumentalisiert zu werden bzw. sich instrumentalisieren zu lassen, schildert: James Abbe war sowohl Künstler als auch Geschäftsmann. Er ließ sich seine Arbeit sehr gut bezahlen. Der moralische Aspekt interessierte ihn weniger. So wusste er genau, dass Stalin ihm keine Gunst gewährte, als er gerade ihn zur Fotoaudienz vorließ, sondern den Amerikaner als Mittel zum Zweck wählte, vor dessen Linse er sich als kraftvoller Staatsmann inszenierte. Wie sehr sich dies der Manipulation nähert, belegen eindrucksvoll die Kontaktkopien eines Fototermins mit Joseph Goebbels (S. 250), die Abbes Fähigkeit beweisen, wie ein Bildhauer aus einem unsympathischen, misstrauischen Finsterling einen durchgeistigten aber tatkräftigen Mann zu „erschaffen“. Zufrieden waren beide – der wie durch ein Wunder medienwirksam geschönte Goebbels wie Abbe, der wieder für gutes Geld einen Machtmenschen „geschossen“ hatte. Sicherlich auch deshalb sehen wir die ‚wunderbaren Jahre‘ des Untertitels in Anführungsstriche gesetzt.
Abgeschlossen wird „Shooting Stalin“ durch ein ausführliches Verzeichnis der abgebildeten Fotos, denen die ursprünglichen Pressetexte angefügt wurden (S. 332-348), ein „Kleines Lexikon der fotografierten Personen (Auswahl)“ (S. 348-356) sowie eine Bibliografie samt Literaturliste (357/58).
„Shooting Stalin“ ist kein preisgünstiges Buch. Dieses Mal trifft der alte Spruch indes zu: Qualität hat ihren Preis. James Abbes Fotos erfahren auf feinem Kunstdruckpapier und großformatig die Behandlung, die ihnen zusteht. Man schaut und ist fasziniert. Dieses Gefühl bleibt auch im Wissen um die Schattenseite der Abbeschen Fotokunst unbeeinträchtigt: Kunst wird von Menschen gemacht und die sind – glücklicherweise – niemals unfehlbar.
Band 1 der „Bücher des Blutes“, mit denen Clive Barker in den frühen 1980er Jahren seinen Durchbruch als Verfasser phantastischer Geschichten und Romane erlebte: sechs Storys, einst bahnbrechend, noch heute bemerkenswert in ihrer Mischung aus virtuoser, atmosphärisch dichter Handlung und drastischem Nebeneinander von Sex & Splatter, aber unverdient darunter leidend, dass allzu viele Nachahmer den ‚Barker-Stil‘ aufgegriffen haben. Clive Barker – Das erste Buch des Blutes weiterlesen →
Diese Buchbesprechung könnte sich der Rezensent sehr einfach machen. Zwanzig Horrorgeschichten präsentiert uns Herausgeber Festa. Es gibt kein Thema („Spukende Friedhofskaninchen“, „Zombie-Verschwörer aus dem Vatikan“ o. ä.), unter das diese Storys gestellt wurden. Auch eine chronologische Reihenfolge fehlt; „Necrophobia“ deckt etwa ein Jahrhundert phantastischer Kurzliteratur ab. Der Kitt, der diese Erzählungen zusammenhält, ist laut Frank Festa allein ihr Unterhaltungswert. Auf eine Vorstellung der einzelnen Geschichten wird an dieser Stelle deshalb verzichtet; sie wäre wenig sinnvoll und würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen.
Den Puristen, der seinen Lesestoff systematisch gegliedert vorzieht, mag die scheinbare Beliebigkeit stören, doch wieso eigentlich? Das eigentlich Verblüffende an „Necrophobia“ ist die reine Existenz dieser Sammlung. Es ist schon eine Weile her, dass Kollektionen wie diese regelmäßig erschienen. Ihr „Sinn“ besteht darin, dem Freund des Phantastischen im Guten wie im Schlechten das Spektrum „seines“ Genres vor Augen zu führen. Die jüngere Generation von Horrorfreunden (und –freundinnen) ist weitgehend in einer Monokultur aufgewachsen. King, Koontz, Hohlbein, Rice – das soll angeblich moderner Horror sein.
Von den alten Meistern ganz zu schweigen. H. P. Lovecraft ist noch präsent, aber William Hope Hodgson, der Verfasser grandioser Seespuk-Storys? Oder Clark Ashton Smith? Wer weiß, dass Bram Stoker nicht nur „Dracula“, sondern auch ausgezeichnete Kurzgeschichten geschrieben hat? Oder ein Gustav Meyrink zumindest symbolisiert, dass es auch in Deutschland eine echte Geschichte klassischer Gruselliteratur gibt?
Zugegeben: Objektiv ist die Auswahl natürlich nicht. Guter Horror entsteht seit jeher nicht nur im angelsächsischen Sprachraum. Die im |Festa|-Verlag veröffentlichten Autoren dominieren auch „Necrophobia“. Aber würden ohne besagten Verlag Namen wie Richard Laymon, Jeffrey Thomas oder Brian Lumley hierzulande überhaupt einen Klang besitzen? Diese und andere |Festa|-Hausautoren weiten das Feld der Phantastik für die deutschen Leser. Das zählt stärker als jeder potenzielle „Vorwurf“ einer selektierenden Eigenwerbung.
Zumal „Necrophobia“ auch haptisch ein echtes Geschenk an sein Publikum ist. Mehr als 400 eng bedruckte Seiten für weniger als 10 Euro – das ist ein echtes Schnäppchen in der heutigen Hochpreis-Ära. Die Übersetzungen lesen sich flüssig, das Cover macht neugierig. Nein, auch hier gibt es keinen Grund zur Klage.
Was die Kriterien der Auswahl angeht, so ließe sich natürlich ausgiebig diskutieren. Storys wie „Die Stimme in der Nacht“ (W. H. Hodgson), „Pickmans Modell“ (H. P. Lovecraft), „Die Rückkehr des Hexers“ (C. A. Smith) oder „Die Squaw“ (B. Stoker) gelten mit Recht als zeitlose, bewährte Meisterstücke des Genres. Sie sind es wert, wieder einmal gedruckt und vor dem Vergessen bewahrt zu werden.
Die modernen Gruselgarne müssen sich ihre Sporen noch verdienen. Seien wir ehrlich: Den meisten wird es kaum gelingen. Das Zeug zum echten Klassiker haben u. a.
– „Summertime“ (S. P. Somtow mit einer wirklich üblen Story über ein psychopathisches Vater-Sohn-Serienmördergespann);
– „Der Mann, der Clive Barker sammelte“ (K. Newman mit einer schwarzhumorigen Satire auf Bücherfreunde, die ihr Hobby allzu ernst nehmen);
– „Puppen“ (R. Campbell mit einer Geschichte, die von einer Hexen- und Hexerschar in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erzählt; selten wird die übliche Differenzierung zwischen Christentum = „gut“ und Teufelsglaube = „böse“ so überzeugend in Frage gestellt).
Ansonsten regiert das Mittelmaß, was hier keineswegs als Abwertung zu verstehen ist: Michael Marshall Smith, Brian McNaughton oder Graham Masterton sind einfach viel zu gute Horror-Handwerker, als dass ihre Storys den eigentlichen Zweck zu unterhalten nicht erfüllen könnten. Es ist zum Weinen, mit welcher Leichtigkeit die vorgestellten Autoren die deutschen Grusel-„Schriftsteller“ sogar dann deklassieren, wenn es „nur“ um das Abspulen eines ganz einfach gestrickten Gruselgarns geht. „Trentino Kid“ (J. Ford mit einer wunderbaren Spuk-auf-See-Geschichte), „Schluck die üble Saat“ (S. Clark variiert das uralte Thema des unausweichlichen Fluchs) oder „Die Hütte im Wald“ (R. Laymon mit einer richtig guten und unaufdringlichen Hommage an H. P. Lovecraft) seien als Lesetipps hervorgehoben. Aber auch Brian Lumley („Die dünnen Leute von Barrows Hill“) kann überraschen: Wenn er sich nicht gerade als zweitklassiger Lovecraft-Imitator („Titus-Crow“-Reihe) versucht oder als „Totenhorcher“-Fließbandautor tätig ist, bringt der Mann wirklich Lesbares zustande! Das gilt auch für Paul Busson, der die kürzeste Story dieser Sammlung („Rettungslos“) schrieb und uns mit seiner 1903 (!) entstandenen Schauermär vom lebendig Begrabenen und einem wirklich haarsträubenden Schlussgag in Angst & Schrecken versetzt.
Selbst Fehlschläge wie „In der letzten Reihe“ (B. Lumley versucht uns einen Uralt-Schlussschock anzudrehen, den noch der dümmste Leser bereits nach wenigen Absätzen erahnt), „Von Heiligen und Mördern“ (B. Hodge – lang & langweilig) und vor allem „Eine Halloween-Überraschung“ (F. Paul Wilson mit einem ganz legitim auf Ekel und Provokation setzenden, doch lächerlichen Machwerk; wie man Kotzgrusel richtig inszeniert, zeigt G. Masterton mit „Ein gefundenes Fressen“, seiner boshaft witzigen Story vom besessenen Hausschwein) ändern nichts am positiven Eindruck von „Necrophobia“. Es ist wirklich für jede/n etwas dabei – und die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.
„Necrophobia“ – das ist übrigens nicht nur diese Sammlung von Kurzgeschichten, sondern auch der Titel einer Hörbuch-Reihe aus dem Hause |Festa|. Einige der nun gedruckt vorliegenden Storys gibt es – neben anderen – auch professionell vorgelesen auf zwei Doppel-CDs. Viel Potenzial also für eine Fortsetzung des „Necrophobia“-Projekts – als Hör- und Lesebuch.
Die Hörbücher:
[Necrophobia 1 1103
[Necrophobia 2 1073
Auf dem Heimfahrtüberrollt Privatdetektivin Vic Warshawski zu später Stunde in einem verrufenen Viertel ihrer Heimatstadt Chicago beinahe den leblosen Körper einer jungen Frau, die mitten auf der Straße liegt. Die Polizei scheint mit Warshawskis Schilderung zunächst zufrieden zu sein. Doch am nächsten Tag wirft man ihr plötzlich vor, den Tod verschuldet zu haben. Ganz offensichtlich sucht die Polizei einen Sündenbock. Die Leiche verschwindet, der Unfallbericht wird gefälscht. Der korrupte Detective Lemour wird Warshawski auf den Hals gehetzt, um sie einzuschüchtern.
Aus purer Not beginnt die Detektivin in eigener Sache zu ermitteln. Trotz der Verschleierungstaktik bringt sie in Erfahrung, dass es sich bei der Frau um die junge Immigrantin Nicola Aguinaldo handelt, die man fast tot geprügelt hatte, bevor man sie ihr vor das Auto legte. Nicola arbeitete als Kindermädchen für Robert Baladine, den Eigentümer von „Carnifice“, eines Sicherheitsdienst-Imperiums mit 3000 Beschäftigten, zu dem sogar eine eigene Haftanstalt vor den Toren der Stadt gehört. Hier saß Nicola als Gefangene ein, nachdem sie Eleanor, Baladines Gattin, ein wertvolles Schmuckstück gestohlen hatte. Auf mysteriöse Weise gelang es ihr später scheinbar zu fliehen. Sara Paretsky – Die verschwundene Frau weiterlesen →
Peter Haining: Einleitung (Introduction) – Der Herausgeber reflektiert über den literarischen Wahnsinn als Thema dieser Sammlung und stellt die Autoren kurz vor.
Robert Bloch: (Lizzie Borden Took an Axe, 1946) – Guter, alter Wahnsinn trifft auf dämonische Besessenheit; das Ergebnis sind allemal schädelgespaltene Leichen …
Patricia Highsmith: Der Schneckenforscher (The Snail-Watcher, 1964) – Der langsamen Schnecke einzige Verteidigung ist die Vermehrung – und Sex kann eine tödliche Waffe sein, wie der allzu sorglose Hobbyforscher erfahren muss …
Harry Harrison: Die wahre Geschichte Frankensteins (At Last, the True Story of Frankenstein, 1965) – Der Sohn des großen Monsterbastlers verteidigt vor einem Reporter den Ruf des genialen Vaters und besorgt bei dieser Gelegenheit Ersatzteile für dessen beste Schöpfung …
W. C. Morrow: The Monster Maker (The Surgeon’s Experiment, 1928) – Der verrückte Wissenschaftler beschert einem Selbstmörder ein bizarres Nachleben, das dieser weder erwartet hatte noch begrüßt …
Edgar Allan Poe: Das ovale Portrait (The Oval Portrait, 1842) – Der große Maler saugt seinem schönen Modell das Leben förmlich aus, bis er es endgültig auf die Leinwand gebannt hat …
Fredric Brown: Der Napoleon-Komplex (Come and Go Mad, 1949) – Ist Wahnsinn eine Krankheit oder bedeutet er einen Riss in der gnädigen Geistesbarriere, die uns Menschen vor dem nicht zu verkraftenden Einblick in das wahre kosmische Geschehen bewahrt?
Nathaniel Hawthorne: Dr. Heideggers Experiment (Dr. Heidegger’s Experiment/The Fountain of Youth, 1837) – Wieder jung zu sein, ist der Herzenswunsch vieler Senioren; sind sie es dann, beweisen sie umgehend, dass sie die Erfahrung rein gar nichts gelehrt hat …
Henry Slesar: Wessen Krankheit? (Whosit’s Disease, 1962) – Der Arzt, der sie entdeckt und beschreibt, darf einer neuen Krankheit ihren Namen geben. Das findet der Patient empörend und verlangt seinen Anteil an solchem Ruhm – eine Reaktion, deren mögliche Folgen er besser hätte durchdenken müssen …
Harold Lawlor: (Mayaya’s Little Green Men, 1946) – Tropische Heinzelmännchen unterstützen ein Kindermädchen bei der Arbeit. Die kleinen Wichte tragen Waffen und können im Notfall sehr gut damit umgehen …
Neun Storys, in denen das Grauen nicht Ketten rasselnd um Mitternacht daherkommt, sondern sich vorwiegend im Kopf der Figuren abspielt. Mögliche Fehlfunktionen des Menschenhirns werden hier zu Auslösern dramatischer und tragischer Ereignisse. Ganz „normale“ Irre treten ebenso auf wie der immer beliebte „mad scientist“. Die Lust des Lesers am Horror mischt sich mit mehr Unbehagen als sonst, weil dieser Grusel der Realität nicht völlig enthoben ist. Wahnsinn flößt Furcht ein, da der Geisteskranke als solcher nicht zwangsläufig sofort erkannt wird und verdachtfrei sein Unwesen treiben kann. Noch immer erschrecken diejenigen Ungeheuer am besten, die ganz unscheinbar und unverdächtig wirken. Die Autoren dieser Kollektion verstehen es dies zu vermitteln.
Wenn es um literarischen Wahnsinn mit Realitätsspaltung geht, ist Robert Bloch (1917-1994) nie weit. Seit er Weltruhm mit seinem (von Alfred Hitchcock verfilmten) Roman „Psycho“ erlangte, waren mörderische Mehrfachpersönlichkeiten sein Markenzeiten, das er, ein schneller, ökonomisch arbeitender Unterhaltungsschriftsteller, in vielen Variationen immer wieder pflegte. Blochs „Interpretation“ des tatsächlichen Lizzie-Borden-Mehrfachmords von 1892 (http://ccbit.cs.umass.edu/lizzie ist eine schöne Website für diejenigen, welche es interessiert) ist nicht gerade eine seiner besten Arbeiten, aber der Schlussgag sitzt blochtypisch wieder einmal im Ziel.
Patricia Highsmithes (1921-1995) Schneckenforscher ist ein „sanfter“ Irrer, ein von öder Ehe und langweiliger Arbeit geistig und seelisch verkümmerter Mann. Als er einen Weg findet, den Teufelskreis, zu dem sein Leben geworden ist, zu durchbrechen, verliert er es, weil er sich und sein „Werk“ nicht unter Kontrolle halten kann – ein unfreiwilliger Frankenstein, der nie wirklich begreift, was er da tut. (Anekdotisch aber interessant ist die Tatsache, dass Highsmith selbst eine passionierte Schneckenforscherin war und diese Weichtiere in ihrem abgeschiedenen Haus bei Ascona hielt und studierte.)
Harry Harrison (geb. 1925) erzählt irgendwie passend dazu die „richtige“ Geschichte vom „echten““Frankenstein. Er verschafft uns einen witzigen Einblick in die alltäglichen Schwierigkeiten, denen sich ein wahrlich genialer, aber etwas zu unkonventioneller Wissenschaftler ausgesetzt sieht, und schließt mit einem grimmigen Schlussgag, der einmal mehr beweist, dass zu viel Neugier der Katze Tod sein kann. In dieselbe humoristische Kerbe schlägt Henry Slesar (1927-2002) mit einer seiner berühmten Storys, die ein frivoles oder eigentlich geschmackloses Thema kurz und elegant auf den Punkt bringen.
Normalerweise ist Fredric Brown (1906-1972) der Witzbold vom Dienst, er schrieb aber auch ernst gemeinte und dann sehr ideenreiche Geschichten mit verblüffender Auflösung. „Der Napoleon-Komplex“ fällt in diese Kategorie und bewegt sich hart an der Grenze zur Science-Fiction. Das Universum als Spielball quasi göttlicher Kräfte ist so menschenfeindlich, wie es Brown hier entwirft, tatsächlich wohl nur im Wahn zu ertragen.
Nathaniel Hawthorne (1804-1864) und Edgar Allan Poe (1809-1849) gehören zu den „Urvätern“ der Phantastik. Die Kurzgeschichte als literarische Form haben sie mit aus der Taufe gehoben. Mehr als anderthalb Jahrhunderte ist dies her, so dass man den Autoren ihre altmodische Schwerfälligkeit nicht vorwerfen darf. Dies trifft besonders auf Hawthorne zu, der seiner Epoche wesentlich stärker verhaftet war als der geradezu „modern“ erscheinende Poe. „Dr. Heideggers Experiment“ enthält denn auch mehr als ein Quäntchen moralische Belehrung: Das Alter ist nur Last für den, der sein Leben vergeudet hat; wieder jung zu sein, bedeutet deshalb höchstens die Gelegenheit zu bekommen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Indes fasst Hawthorne dies mit trockenem Humor in Worte und schließt mit einem unerwarteten Schlussgag, der die Moral von der Geschicht’ umgehend in Frage stellt.
Poe ist hier mit einer seiner weniger bekannten und – seien wir ehrlich – ganz sicher nicht mit einer seiner besseren Kurzgeschichten vertreten. Er schrieb für wenig Geld für Zeitschriften (hier „Graham’s Lady’s and Gentleman’s Magazine“) und oft mit dem Drucker um die Wette. Dennoch ist „Das ovale Portrait“ eine beeindruckende Studie über (künstlerische) Besessenheit und ihre bösen Folgen.
William Chambers Morrow (1853-1923) und Harold Lawlor (1910-1992) sind zwei Autoren aus der „Pulp“-Ära der Unterhaltungsliteratur. Sie schrieben für die grellbunt aufgemachten Magazine der Jahre vor und kurz nach dem II. Weltkrieg. In diesem Umfeld gediehen durchaus Klassiker, aber Morror und Lawlor gehören zum „literarischen Fußvolk“, das vor allem Seiten mit actionbetonten, vordergründig spannenden Storys füllte. Morrow „bedient“ sich dabei mehr als deutlich bei M. W. Shelleys „Frankenstein“ und bringt die hochphilosophische Vorlage auf reinen Grusel herunter. Lawlors Geschichte liest sich wesentlich moderner, kann aber ebenfalls nie wirklich überraschen.
„Visionen des Grauens“ gehört zu den Büchern, die mit der Originalausgabe nur mehr marginal identisch sind. 160 Seiten hatte ein „Vampir“-Taschenbuch der frühen 1970er Jahre aufzuweisen – nicht weniger, nicht mehr. „Beyond the Curtain of Dark“ umfasst die doppelte Seitenzahl. Also blieben Storys für die Übersetzung unberücksichtigt, bis es „passte“ – ein völlig normaler Vorgang in dieser Zeit. Man durfte als Leser noch froh sein, dass dieses Schicksal eine Kurzgeschichtensammlung traf – Romane wurden nämlich durchaus und manchmal ebenso rigoros wie sinnentstellend gekürzt. Was „Beyond the Curtain …“ betrifft, so geht allerdings der rote Faden verloren, an den Herausgeber Haining die einzelnen Storys in ihrer absichtsvollen Abfolge geknüpft hatte. Der verbleibende Torso ist dennoch eine Kollektion, welche die Lektüre lohnt.
Der Teufel geht um in der Millionenstadt New York. So deuten jedenfalls fundamentalreligiöse Bunkerköpfe sowie die Medien verdächtige Spuren (Schwefel, Hufabdrücke), die auf und um die Leiche des berühmten aber verhassten, weil höchst gemeinen Kunstkritikers Jeremy Grove gefunden werden, als der eines schönen Tages ganz von selbst in Flammen aufgeht. Er bleibt nicht der einzige einflussreiche Fiesling, der auf diese spektakuläre Weise endet. Groß ist die Aufregung, denn die Opfer sind keine Durchschnittsbürger oder gar Unterschichtproleten, sondern mächtig und reich.
Mysteriöse Ereignisse der beschriebenen Art locken zuverlässig den unkonventionellen FBI-Agenten Aloysius Pendergast an den Ort des Geschehens. Er hat in seiner Laufbahn schon manchen Spuk erlebt, der sich bei näherer Betrachtung als Menschenwerk entpuppte. Auch hier gibt es durchaus einen Verdächtigen: den zwielichtigen Konzernmagnaten Locke Bullard, den der US-Geheimdienst verdächtigt, illegal Waffen-Hightech an die Chinesen zu verkaufen. Bullard verfügt indes über beste politische Beziehungen und dünkt sich über das Gesetz erhaben, wie Sergeant Vincent D’Agosta zu seinem Leidwesen erfahren muss.
Bullard lässt den erfahrenen Kriminalisten mehrfach ins Leere laufen. Erst als der sich mit Pendergast zusammentut, kommen die Ermittlungen in Gang. Sie nehmen freilich bald eine unerwartete Wendung: Was Bullard auch plant, es geht über Landesverrat weit hinaus. Hat der Philosoph und Theologe Friedrich von Menck Recht, wenn er verkündet, er habe in alten Prophezeiungen die Ankündigung entdeckt, dass New York bzw. seine Bewohner wegen ihrer Sündhaftigkeit noch im laufenden Jahr durch ein unlöschbares Feuer von der Erde getilgt würden? Luzifer bleibt jedenfalls sehr aktiv; Pendergast und D’Agosta müssen ihm um die halbe Welt folgen, um am Ball zu bleiben …
Preston & Child, die beiden unermüdlichen Handwerker der ganz leichten Unterhaltung, fabrizieren mit „Burn Case“ ihren alljährlichen Buchmarkt-Bestseller. Einmal mehr drehen sie beliebte oder gerade aktuelle Moden und Mysterys durch die Mangel, brechen sie auf Trivialniveau herunter und verschmelzen sie zu einem Garn, auf dessen Logik man lieber keinen Gedanken verschwenden sollte.
Was den Lesespaß an sich nicht beeinträchtigt. „Burn Case“ ist Thriller-Trash, der sich selbst niemals ernst nimmt, sondern einfach nur unterhalten will. Das ist eine ehrenhafte und höchst schwierige Aufgabe, wie jene beweisen, die von diesem Job rein gar nichts verstehen: Dan Brown, Scott McBain, Steve Alten und andere von der Werbeindustrie künstlich belebte und am Leben gehaltene Schreibkreaturen.
„Burn Case“ lebt von der flotten Handlung und uralten literarischen Tricks. Immer wieder stoßen unsere Helden auf Geheimnisse, hinter denen sich neue Rätselhaftigkeiten auftun – gut so, denn wirklich mysteriös kommt einem nicht vor, was sich das Autorenduo da ausgedacht hat. Der bewährte Cliffhanger kommt zu neuen Ehren: Mehrfach lassen uns Preston & Child auf dem Höhepunkt einer für unsere Protagonisten hoffnungslosen Situation zappeln. Erst später löst sich das Geheimnis, wie es z. B. D’Agosta gelingen konnte, mit nur einer Kugel im Lauf gleich drei Profikillern zu entkommen. Auch hier sind die Erklärungen nie überzeugend. Die Geschichte endet sogar mit einem Cliffhanger und leitet so über zur „Fortsetzung“; die 2005 unter dem Titel „Dance of Death“ erschien und den von den Toten auferstandenen Pendergast im Kampf mit seinem irren Bruder Diogenes zeigt, der in „Burn Case“ bereits Erwähnung findet.
Der Mystery-Boom der Millenniumsära hat sich allmählich verflüchtigt. Er wird nicht unmodern werden, denn die Menschen lieben das Geheimnisvolle. Doch auf die Dosierung kommt es an. Stets achten Preston & Child darauf, dem Seltsamen ein festes Standbein in der „Realität“ zu verschaffen. Es speist sich aus dem naturwissenschaftlichen Spezialwissen derer, die es auf die Welt loslassen. Glücklicherweise wissen die Verfasser hier mehr als die meisten Leser, so dass der Unfug, den sie verzapfen, zumindest glaubhaft klingt.
Für „Burn Case“ ist der Aufhänger das eigenartige Phänomen der „spontanen menschlichen Selbstentzündung“: Hier und da verbrennen Unglückspilze ohne ersichtliche Ursache offenbar aus sich selbst heraus, wobei unglaubliche Temperaturen entstehen. Die Wissenschaft ist außerordentlich skeptisch, die Anhänger des Unerklärlichen sind entzückt, zumal es eindrucksvolle Bilddokumente über solche flammenden Infernos gibt. (Bei Interesse & Kenntnissen der englischen Sprache bitte eine Suchmaschine der eigenen Wahl mit dem Begriff „spontaneous human combustion“ füttern – das Angebot entsprechender Websites ist beachtlich, was den unfreiwilligen Humorfaktor vieler durchaus ernsthaft gemeinter „Erklärungen“ einschließt.)
Da zwei Rätsel besser sind als eines, greifen Preston & Child auf einen weiteren, eher volkstümlichen Angsterreger zurück, der weniger gut belegt ist, aber Aufmerksamkeit garantiert. Dr. Faustus gilt als Prototyp jener Menschen, die auf dem Weg zu Ruhm, Macht und Vermögen eine fatale Abkürzung nehmen: Er verschrieb seine Seele dem Teufel, der ihm zunächst alles gewährte, was er forderte (den Ritt auf einem Weinfass eingeschlossen – spätmittelalterliche Scherze halt …), bis er ihn nach Ablauf der vereinbarten Frist um 1540 unter für Faustus sehr schmerzhaften Begleitumständen (die in „Burn Case“ eingehend beschrieben werden) und unter Hinterlassenschaft eindeutig satanischer Spuren holte.
So ein moderner Dr. Faustus ist Locke Bullard, der allmählich merkt, dass er in seinem Drang nach Geld und Einfluss zu weit gegangen ist. Seine Komplizen, die mit ihm den Teufelspakt schworen, hat es schon erwischt. Bullard hingegen versucht das Unmögliche: Er will Mephisto um seinen Lohn prellen und das Zusammengeraffte trotzdem behalten, was wie erwartet endet, denn: „Der Teufel ist ein Lügner und der Vater der Lügen“ (Johannes 8,44). Außerdem ist er schlau.
Wobei Satan in persona in „Burn Case“ durch Abwesenheit glänzt – schade eigentlich, denn sein Auftritt wäre in einem Märchenthriller wie diesem durchaus möglich gewesen. Wer sich wirklich hinter seinem Trugbild verbirgt, ahnt der erfahrene Leser ein bisschen zu früh, was zur Holzhammerdramaturgie des Werks freilich passt. Schließlich treten auch sonst nur Knallchargen auf. Bullard ist Bösewicht aus Passion – kein raffinierter Psychopath, sondern als Weltfeind Nr. 1 etwa so glaubhaft wie jeder beliebige James-Bond-Finsterling. Sehr passend umgibt ihn eine Horde von Schlägern und Mietmördern, deren Brutalität nur durch die Zuverlässigkeit übertroffen wird, mit der sie im entscheidenden Moment versagen und das Heldenduo Pendergast & D’Agosta aus todsicheren Todesfallen entwischen lassen.
Das ist ärgerlicher, denn beide sind als positive Hauptfiguren außerordentliche Nervensägen. Pendergast, die Denkmaschine, die alles weiß und kann und niemals zögert, die Leser mit der Vorführung beider Eigenschaften herzlich zu langweilen, ist eine erstaunlich unsympathische Gestalt. Immer noch wollen Preston & Child ihn uns als mysteriösen Mann aus dem Nichts verkaufen. Sind sie außerstande zu bemerken, wie ausgereizt und öde dieser Gag längst ist? Richtig gewirkt hat er nur in „Relic“ (1994; dt. „Das Relikt – Museum der Angst“), als uns Pendergast das erste Mal begegnete.
Seit „Cabinet of Curiosities“ (2002, dt. [„Formula – Tunnel des Grauens“) 192 beginnen die Autoren als buchübergreifende Nebenhandlung eine Pendergast-Familiengeschichte der kruden Art zu entwerfen. Auch hier sind Preston & Child seltsam geizig, beschränken sich auf Andeutungen – Versprechen, die bisher nie eingelöst wurden und einfach überflüssig sind, weil Aloysius Pendergast eine unerhört nichts sagende Figur ist.
Zusätzlich störend wirkt das Bestreben der Autoren, ihre Thriller quasi zu „vernetzen“: Immer wieder treten Figuren auf, die bereits in anderen Romanen Verwendung fanden. Das funktioniert mit dem bewährten D’Agosta, geht aber schief mit sinnfreien Gastauftritten: Weder Polizeifrau Laura Haywood noch Journalist Harriman bringen die Handlung voran. Stattdessen langweilen sie den Leser in einem isolierten Nebenstrang mit den Eskapaden eines selbst ernannten Neo-Heilands, der davon abgehalten werden muss, in New York einen Gottesstaat auszurufen: anscheinend musste „Burn Case“ als Buch nachträglich auf Länge gebracht werden.
Selbstverständlich sind den Autoren die Beschränktheiten ihres Personals bekannt. Deshalb gesellt sich ja der lebensnahe Watson Vincent D’Agosta zum unzugänglichen Holmes Pendergast. Leider erweist sich auch der Polizist als wandelndes Klischee: der wackere, vom Leben gebeutelte, fürs Grobe und – in Vertretung der Leserschaft – für das Stellen dummer Fragen zuständige Brummcop mit dem goldenen Herzen, der von den Vorgesetzten immer auf die Schnauze kriegt, von der Gattin verlassen wurde und sich ansonsten wie der Elefant im Porzellanladen zu benehmen hat.
D’Agosta ist es auch, der von Preston & Child in eine der peinlichsten und lächerlichsten Sexszenen gezwungen wird, die man sich vorstellen kann – oder eben nicht; man muss es einfach lesen und sich vor Lachen schütteln, wie der arme Vincent völlig unvermittelt über die schöne Kollegin Laura herfallen muss, die ansonsten die Alibifrau in unserer Geschichte mimt. (Die zeitgereiste Constance lassen wir außen vor; das ist eine weitere Figur ohne jede Bedeutung für die „Burn Case“-Story.)
Eine „Meisterleistung“ gelang dem deutschen Verlag übrigens wieder einmal mit der „Übersetzung“ des Originaltitels. „Brimstone“ bedeutet „Schwefel“, was angesichts der erzählten Geschichte Sinn ergibt. Dass „Burn Case“ – „Brandfall“? – als „Eindeutschung“ größere Klarheit schafft, kann nicht unbedingt behauptet werden.
Einmal mehr wird das Buch durch eine gut lesbare Schrift, einen kleinräumigen Satzspiegel und großzügige Ränder auf imposante Seitenstärke gebracht – eine weitere Unsitte moderner Veröffentlichungsfabriken, die von der Theorie ausgehen, dass zögernde Leser im Laden von möglichst dicken Büchern („Hier kriegt man was für sein Geld!“) magisch angezogen werden. Indes beträgt der Preis für „Burn Case“ nur 19,90 Euro, was für ein gebundenes Buch heutzutage wirklich günstig ist. Mehr möchte man für dieses kurzweilige, wegen seiner allzu offensichtlichen Schlampigkeit aber auch Ärgernis erregende Werk allerdings auch nicht anlegen.
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte ausgiebig, nämlich Mathematik, Physik, Anthropologie, Biologie, Chemie, Geologie, Astronomie und Englische Literatur. Erstaunlicherweise immer noch jung an Jahren, nahm er anschließend einen Job am American Museum of Natural History in New York an. Während der Recherchen zu einem Sachbuch über „Dinosaurier in der Dachkammer“ – gemeint sind die über das ganze Riesenhaus verteilten, oft ungehobenen Schätze dieses Museums – arbeitete Preston bei |St. Martin’s Press| mit einem jungen Lektor namens Lincoln Child zusammen. Thema und Ort inspirierten das Duo zur Niederschrift eines ersten Romans: „Relic“ (1994; dt. „Das Relikt – Museum der Angst“).
Wenn Preston das Hirn ist, muss man Lincoln Child, geboren 1957 in Westport, Connecticut, als Herz des Duos bezeichnen. Er begann schon früh zu schreiben, entdeckte sein Faible für das Phantastische und bald darauf die Tatsache, dass sich davon schlecht leben ließ. So ging Child – auch er studierte übrigens Englische Literatur – nach New York und wurde bei |St. Martins Press| angestellt. Er betreute Autoren des Hauses und gab selbst mehrere Anthologien mit Geistergeschichten heraus. 1987 wechselte Child in die Software-Entwicklung. Mehrere Jahre war er dort tätig, während er nach Feierabend mit Douglas Preston an „Relic“ schrieb. Erst seit dem Durchbruch mit diesem Werk ist Child hauptberuflicher Schriftsteller. (Douglas Preston ist übrigens nicht mit seinem ebenfalls schriftstellernden Bruder Richard zu verwechseln, aus dessen Feder Bestseller wie „The Cobra Event“ und „The Hot Zone“ stammen.)
Selbstverständlich haben die beiden Autoren eine eigene Website ins Netz gestellt. Unter http://www.prestonchild.com wird man großzügig mit Neuigkeiten versorgt (und mit verkaufsförderlichen Ankündigungen gelockt).
Acht Jahre konnte er seine Verfolger narren und galt als tot: Mehr als genug Zeit für den Ex-FBI-Agenten und Serienmörder Jim Backus, genannt „der Poet“, um ein neues Mordkomplott anzuzetteln. Bei seinem ersten Auftritt hatten ihn ein Journalist und seine Schülerin, die FBI-Agentin Rachel Walling, daran gehindert, sein sadistisches Spiel zum geplanten Ende zu bringen. Das will Backus nun wieder aufnehmen und sich gleichzeitig an Walling rächen.
Ebenfalls in sein Visier gerät der Ex-Polizist Terry McCaleb, der nach einer Herztransplantation „ehrenamtlich“ als Profiler arbeitet und dem Poeten dabei bedrohlich nahe gekommen ist. Als McCaleb nach einem Herzanfall stirbt, glaubt seine Witwe nicht an einen natürlichen Tod. Sie bittet den Privatdetektiv Hieronymus „Harry“ Bosch, einen Freund ihres Gatten, um Hilfe und Aufklärung.
Dutch Island ist eine gar nicht so kleine Insel vor der Pazifikküste des US-Staats Maine. Knapp tausend Menschen leben hier und bilden eine geschlossene Gemeinschaft; für „Fremde“ vom Festland ist es schwer, Fuß zu fassen. Marianne Elliot kämpft als allein erziehende Mutter mit vielen Vorurteilen. Dennoch arrangiert sie sich, denn sie ist auf der Flucht vor ihrem Ex-Mann: Edward Moloch ist ein Psychopath, der sie voll irren Zorns sucht, seit sie sich mit Sohn Danny und viel Geld abgesetzt hat. Nach drei Jahren Haft ist Moloch gerade ausgebrochen. Mit sechs vertierten Killern zieht er auf der Suche nach seiner Familie und dem Geld eine blutige Spur durchs Land, während er sich Dutch Island bedrohlich nähert.
Dort beginnt Marianne gerade eine Beziehung mit dem depressiven Inselpolizisten Joe Dupree, genannt „Melancholie-Joe“. Der 2,15 m große Mann gehört einer der ältesten Familien von Dutch Island an. Er kennt und hütet die Geheimnisse der Insel, die einst „Sanctuary“ – „Zuflucht“ – hieß; ein wahrer Hohn, denn im Jahre 1693 hatten sich Siedler vom Festland auf die Insel zurückgezogen. Ein Verbannter aus den eigenen Reihen war zum Verräter geworden, hatte mit feindseligen Indianern paktiert und diese heimlich zur Siedlung geführt, die mit Mann & Maus ausgelöscht wurde.
Seither geht es um auf Dutch Island. Die Einheimischen wissen nichts Genaues und hegen ihre Unkenntnis sorgfältig. Belegt ist allerdings, dass die Geister der Insel von Gewalt magisch angezogen werden. Wer auf Dutch Island in dieser Hinsicht über die Stränge schlägt, schwebt in Lebensgefahr. Immer wieder verschwinden Säufer, Schläger und andere unerfreuliche Zeitgenossen spurlos im dichten Inselwald. Leider unterscheiden besagte Geister nicht zwischen Tätern und Opfern; sie fallen über beide her. Deshalb führt die Ankunft Molochs und seiner Spießgesellen zum Umkippen des sorgfältig austarierten Gleichgewichts und schließlich zur Katastrophe. Die Killer terrorisieren das Inselvolk und die Geister werden stärker und dreister, während ein Unwetter Dutch Island vom Festland und von jeder Hilfe isoliert …
Hannibal Lector X 7 in der Nacht der lebenden Toten: Auf sehr ungewöhnlichen Pfaden wandelt Thriller-Schwergewicht John Connolly, bekannt geworden durch seine hochklassigen Krimis um den Cop Charlie „Bird“ Parker, indem er „sein“ Genre mit der Phantastik mischt. So ungewöhnlich wie zunächst angenommen, ist dies freilich nicht. Der Blick auf Connollys [Website]http://www.johnconnollybooks.com verrät, dass der Autor im angelsächsischen Leserraum auch Geistergeschichten veröffentlicht hat.
Nach eigener Aussage ist für ihn die „Reinheit“ des Genres ohnehin nebensächlich. Eine möglichst spannende Geschichte möchte Connolly erzählen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Hier kann man ihm nur zustimmen, doch das Ergebnis wirkt trotzdem leicht unausgegoren. „Die Insel“ ist zwar connollytypisch ein echter Pageturner, der indes einen ähnlichen Eindruck wie der Filmklassiker „From Dusk Till Dawn“ hinterlässt: Zu einer Einheit wollen sich Diesseitiges und Jenseitiges nicht wirklich verbinden.
Die Story ist actionorientiert. Hintergründigkeit wird vor allem in der Figurenzeichnung (s. u.) suggeriert, bleibt aber Behauptung. Der Plot ist denkbar schlicht. Dass dies in der Regel nicht unangenehm auffällt, verdanken wir Connollys schriftstellerischem Geschick. Er kennt die Tricks, um sein Publikum bei der Stange zu halten. Erschreckende aber nie direkt geschilderte Gewaltszenen wechseln mit quasi dokumentarischen Einblicken in das Alltagsleben auf einer abgeschotteten Insel. Auch der Humor kommt nicht zu kurz; Connolly gelingen vor allem kurze, trockene Einzeiler („In der Küche entdeckte er einen Stapel mit Fast-Food-Verpackungen, voll mit abgenagten Knochen jener winzigen Hühnchen, die Imbissketten auf irgendeinem verstrahlten Pazifikatoll züchteten …“ – S. 96)
Während man sich an den Auftritt von Gespenstern erst allmählich gewöhnt, ist Connollys detailliert gestaltete Rekonstruktion der fiktiven Inselhistorie reizvoll. Nordamerika ist ein Land mit einer Geschichte, die mehr als genug gruselige Episoden für ebensolche Storys bietet. In Neuengland konnten die Ureinwohner den europäischen Einwanderern zumindest im 17. Jahrhundert durchaus Paroli bieten. Wilde, grausame, oft vergessene Dramen spielten sich in dem weiten Land ab, wobei beide Parteien sich an Grausamkeit nichts schuldig blieben. Diese Vergangenheit weiß Connolly als Kulisse zu nutzen. Echte Spukstimmung kommt auf, wenn die Verdammten von Dutch Island des Nachts ihr Unwesen treiben. Zusätzlich baut Connolly eine weitere Handlungsebene auf, wenn er die Ereignisse der Vergangenheit in denen der Gegenwart spiegelt: Ohne es zu wissen, sind sowohl die toten als auch die lebenden Bewohner die Insel in einer Schleife gefangen, die zu einer Neuauflage des Massakers von 1693 auszuarten droht. Einige Beteiligte von damals mischen wieder mit, denn ihre Seelen kehrten nicht als Geister wieder, sondern reinkarniert in den Körpern verschiedener Figuren.
Wobei die Figurenzeichnung ohnehin dem hybriden Charakter des Werkes ausgiebig Rechnung trägt. Da haben wir u. a. einen melancholischen Riesen, sieben wahrlich böse Männer (obwohl eine Frau zu ihnen zählt, die allerdings eher Mannweib ist), eine einsame Mutter mit Kuckuckskind und viele böse Geister. Diese Aufzählung unterstreicht, dass sich der Krimifreund bei der Lektüre gewissen Herausforderungen stellen muss. Schon der Amoklauf von Moloch – welcher Name! – und seiner Natural Born Killers ist pure Übertreibung. Sie morden, vergewaltigen und verstümmeln voll angestrengter Bosheit, ohne dass sich das Gesetz blicken lässt. Als es dann endlich in Erscheinung tritt, manifestiert es sich in grotesker Gestalt.
Joe Dupree ist womöglich als zwiespältiger Charakter angelegt. Solche Tiefe verträgt „Die Insel“ anders als Connollys Parker-Romane indes nicht. Duprees Riesengestalt und die ihm daraus erwachsenen Probleme wirken aufgesetzt. Der Riesenkörper verbirgt den üblichen Klischee-Cop mit goldenem Herzen und schwieriger Vergangenheit. Folgerichtig treffen wir auf Dutch Island auch sonst die üblichen kauzigen Verdächtigen, die gut aus einem der üblichen Stephen-King-TV-Filme – der Gruselkönig residiert bekanntlich in Maine – rekrutiert worden sein könnten.
Dazu gibt es nicht nur eine, sondern gleich zwei starke Frauengestalten. Auch hier gilt es zu relativieren. Sharon Macy gibt den weiblichen „Rookie“ im Polizeigeschäft und muss sich im Kampf gegen zudringliche Männer und Kriminelle gleichermaßen behaupten. Marianne Elliot ist eine dieser vom Leben gebeutelten aber ungebrochenen Supermütter, die sich den Schrecken einer sorgsam verdrängten Vergangenheit stellen und gleichzeitig ihr Kind verteidigen, ohne die Opferrolle wirklich zu verlassen.
Das gilt erfreulicherweise nicht für die Dutch-Island-Wiedergänger. Connolly geht von der Theorie aus, dass Geister verlorene Seelen sind, die ein gewaltsames Ende in ein Zwischenreich versetzte, wo sie ohne Gefühl für die verstrichene Zeit oder die Veränderung ihrer Umgebung dazu verdammt sind, automatengleich und sinnlos die Lebenden zu piesacken; ein seltsames, ungerechtes Schicksal, denn sie sind an ihrem Tod schließlich unschuldig. Aber unterlassen wir solche Fragen – sie sind in einem Roman wie diesem völlig unangebracht. Akzeptieren wir Connollys Geisterbild, so wirkt es überzeugend: Die Seelen der Siedler sind als unausgesprochene Bedrohung ständig präsent. Sie nähren sich von negativen Emotionen und treten ausgesprochen mitleidlos auf den Plan, wo diese freigesetzt werden: Connolly-Geister lassen sich nicht durch eine gute Tat erlösen. Sie sind und bleiben böse, wobei sie – ein gelungener Kunstgriff – aufgrund ihrer sonderbaren Natur für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden können.
Was nicht für den |Ullstein|-Verlag gilt, der aus der deutschen „Insel“-Ausgabe eines dieser künstlich aufgeblasenen Paperbacks – Blindenschrift auf Serviettenpapier – gemacht hat, aus denen sich offenbar mehr Geld herausschlagen lässt als aus einem „normalen“ Taschenbuch, das es auch getan hätte.
John Connolly ist – verblüffend genug – ein waschechter Ire, der nicht nur in Dublin geboren wurde (1968), sondern dort auch aufwuchs, studierte und (nach einer langen Kette von Aushilfsjobs, zu denen standesgemäß einer als Barmann gehörte) als Journalist (für „The Irish Times“) arbeitete; Letzteres macht er weiterhin, obwohl sich der Erfolg als freier Schriftsteller inzwischen eingestellt hat. Die amerikanischen Schauplätze seiner Charlie-„Bird“-Parker-Thriller kennt Connolly indes durchaus aus eigener Erfahrung; schon seit Jahren verbringt er jeweils etwa die Hälfte eines Jahres in Irland und den Vereinigten Staaten.
Verwiesen sei auf die in Form und Inhalt wirklich gute [Connolly-Website,]http://www.johnconnollybooks.com die nicht nur über Leben und Werk informiert, sondern quasi als Bonus mehrere Gruselgeschichten und Artikel präsentiert.
Etwa auf halber Strecke zwischen der englischen Hauptinsel und dem kontinentalen Frankreich liegt dort, wo sich der Ärmelkanal zum Atlantik weitet, die Insel Guernsey. Zwar mit der britischen Krone verbunden aber politisch nicht Teil Großbritanniens, hat sich hier ein eigenwilliger Menschenschlag angesiedelt, der gern unter sich bleibt. Die Außenwelt erreichte Guernsey lange höchstens in Gestalt der Touristen, bis im Sommer 1940 nazideutsche Truppen die Insel stürmen.
Seit drei Jahre halten die Deutschen Guernsey nunmehr besetzt. Weiter ist die Eroberung der britischen Inseln allerdings nicht gediehen, denn das Kriegsglück begann sich gegen die Deutschen zu wenden. Auf Guernsey ist davon jedoch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Hitler ist mehr denn je vom „Inselwahn“ besessen und lässt die Insel zur Festung gegen die Alliierten und zum Brückenkopf für eine Invasion Englands ausbauen. Tim Binding – Inselwahn weiterlesen →
Landkarten waren und sind mehr als simple Wegweiser. Um das in ihnen fixierte Wissen entbrannten früher regelrechte Kriege. Heute sind alte Karten wertvolle Dokumente und begehrtes Diebesgut, das oft viel zu nachlässig geschützt wird … – Ein nur scheinbar papiertrockenes Thema der Historie wird kundig und spannend erläutert. Leider lassen die Abbildungen zu wünschen übrig, und der Autor wird ein wenig esoterisch; trotzdem ein Lern- und Lesevergnügen. Miles Harvey – Gestohlene Welten. Eine Kriminalgeschichte der Kartographie weiterlesen →
Eine Reise glich früher, d. h. von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre vor dem II. Weltkriegm eher einem Karawanenzug als einer zeitlich begrenzten Abwesenheit vom Alltag. Dieser reiste stattdessen mit und wurde von stillen aber allgegenwärtigen Dienern und Zofen sorgfältig in große Schrankkoffer verpackt (und geschleppt), die folgerichtig Kleidung zum dreimaligen täglichen Wechsel, Sportartikel und Jagdwaffen für den Herrn sowie jene Accessoires enthielten, die eine Frau zur Dame adelten.
Denn die Form galt es zu wahren, wenn man – mehr oder weniger widerwillig – die traute Heimat verließ, um sich die kulturellen und kuriosen Errungenschaften der übrigen Menschheit anzuschauen. Schließlich war man wer, sonst hätte man sich diese Form des Reisens, bei der Zeit kaum eine Rolle spielte, ohnehin nicht leisten können. Stilvoll die Welt besichtigen zu können, das ließ man sich einiges kosten. Kein Wunder, dass sich eine Vielzahl hoch qualifizierter Reiseunternehmer und Dienstleute um die betuchte Klientel kümmerte. Marc Walter – Legendäre Reisen. Auf den großen Routen rund um die Welt weiterlesen →
In Bridport, einem kleinen Ort im US-amerikanischen Staat Maine, nicht weit entfernt von der kanadischen Grenze, ist der erste Schnee des Jahres gefallen, als am Rande des dichten Waldes, der die Gemeinde umgibt, die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird. Sie wurde fürchterlich zerfleischt und offensichtlich von einem Bären angefallen. Doch Detective Michael Calhoun von der Staatspolizei ist skeptisch, denn obwohl es in den Wäldern um Bridport tatsächlich Bären gibt, hat es mit ihnen noch niemals Ärger gegeben.
Madeleine Ross – so hieß die Tote – war erst vor wenigen Monaten mit ihrer zehnjährigen Tochter Freya aus England in die Vereinigten Staaten gekommen. Nach Bridport war sie offenbar auf den Spuren ihrer früh verstorbenen Mutter gereist, einer Indianerin vom Stamm der Souriquois, der hier seit jeher ansässig ist. Ihren Unterhalt hatte sie sich als Bedienung in einem Lokal und Helferin auf einer archäologischen Ausgrabung verdient: In Bridport stand einst Fort Winter, Anfang des 17. Jahrhunderts von den Franzosen erbaut und nach deren Rückzug von den Briten übernommen, eine der frühesten europäischen Siedlungen auf dem nordamerikanischen Kontinent.
So weit ist Detective Calhoun mit seinen Ermittlungen gekommen, als er etwas Interessantes herausfindet: Madeleine Ross hatte bis vor kurzem ein Verhältnis mit Innis Graham, dem Abkömmling einer im Holzgeschäft reich gewordenen, nun aber verarmten Bridporter Familie. Die Beziehung wurde offenbar im Streit und von Madeleine gelöst, während Graham die Trennung nicht hinnehmen wollte. Inzwischen ist im heimatlichen England Jessica, die ältere Schwester Madeleines, über deren Tod informiert worden. Sofort reist sie in die USA, um in Bridport Näheres über das Unglück in Erfahrung zu bringen und sich um ihre Nichte zu kümmern.
Ein weiterer archäologischer Fund sorgt hier derweil für eine Sensation: In einem Massengrab findet man die Überreste zahlreicher Siedler, die im 17. Jahrhundert offenbar von ihren indianischen Nachbarn massakriert wurden. Die Tragweite dieser Entdeckung ist enorm, denn die Souriquois haben gerade eine Klage gegen den Staat Maine angestrengt, der ihnen eine hohe Entschädigung für die Verfolgungen und Vertreibungen zahlen soll, denen sie durch die Siedler einst ausgesetzt waren. Sollten diese sich nun als eigentliche Opfer herausstellen, stünde es schlecht um die Chancen des Stammes, den Prozess zu gewinnen.
Detective Calhoun glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass Madeleine Ross durch einen Bären zu Tode kam. Diese Vermutung wird zur Gewissheit, als die Leiterin der Ausgrabung einem Mordanschlag zum Opfer fällt. Während eines heftigen Schneesturms finden Calhoun und Jessica Ross unabhängig voneinander heraus, wer hinter den Morden steckt …
„Winter des Bären“ ist ein komplexes und mehrschichtiges Werk – ein sauber konstruierter Krimi mit einer ungewöhnlichen Auflösung; die Geschichte zweier höchst unterschiedlicher Schwestern, die nie miteinander ins Reine kommen können, bis es zu spät ist; ein Panorama des nur auf den ersten Blick idyllischen und hinterwäldlerischen Staates Maine und seiner Bewohner sowie ein historischer Abriss der weitgehend unbekannten, aber farbigen Vergangenheit Neuenglands, die auch dreieinhalb Jahrhunderte später nichts von ihrer Brisanz verloren hat.
Eine Menge hat sich der Autor also vorgenommen, und das Meiste gelingt ihm auch. Obwohl Paul Bryers in England geboren wurde und dort auch lebt, entwirft er ein einfühlsames Porträt des Staates Maine, der bisher dank seines prominentesten Bürgers, des Schriftstellers Stephen King, eher als Hort diverser Geister, Teufel und Untoter bekannt geworden ist.
Eine ganze Weile scheint es so, als wolle Bryers in dasselbe Horn stoßen, als er beginnt, in die Mythologie der indianischen Urbevölkerung einzutauchen. Glücklicherweise gerät er aber nie auf die Schiene jener heutzutage so beliebten, aber meist nur schwer verdaulichen Ethno-Thriller, deren um politische Korrektheit schwer ringende Autoren die in den Mittelpunkt der Handlung gerückten Minderheiten (ob es nun Indianer sind oder andere „edle Wilde“) als Gutmenschen und Bewahrer einer „besseren“, da näher am Busen der weisen Mutter Natur verbrachten Lebensart mit derselben dreisten Selbstverständlichkeit für sich vereinnahmen, mit der ihre Vorgänger diese einst als blutdürstige Unmenschen verteufelt haben.
Doch dann konzentriert sich Bryers glücklicherweise mehr auf einen Rückblick auf die frühe Siedlungsgeschichte Maines im 17. Jahrhundert. (Der Autor war Lehrer für Geschichte, er ehe zum Journalismus und zur Schriftstellerei wechselte.) Wer weiß heute schon, dass der Osten Nordamerikas zunächst nicht von den Briten, sondern den Franzosen (und in geringerem Umfang von den Niederländern) kolonisiert wurde, und dass um die Vorherrschaft in dieser Region anderthalb Jahrhundert erbittert gerungen wurde, bis sich der Konflikt im britisch-französischen Kolonialkrieg von 1754/55 bis 1763 entlud, der schließlich auf die Mutterländer und ihre Verbündeten übersprang und in Europa den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ausbrechen ließ. Erst der Friede von Paris (1763) brachte das Ende der französischen Vorherrschaft in Nordamerika. Bis zu diesem Zeitpunkt tobte im Osten der späteren USA und Kanadas ein schmutziger Guerilla-Krieg, den die verfeindeten Parteien größtenteils durch „Stellvertreter“ ausfechten ließen – die indianischen Ureinwohner, die für ihre Dienste mit Krankheiten, Alkoholismus, Landraub und Ausrottung „belohnt“ wurden. Diese traurige Tradition wurde später von den neuen amerikanischen Landesherren übernommen. Unter den Folgen leidet die Urbevölkerung bis heute, und obwohl es natürlich keine „Indianerkriege“ mehr gibt, blieben Spannungen zwischen den „alten“ und den „neuen“ Bewohnern Nordamerikas bis in die Gegenwart zurück. Die Illusion eines scheinbar harmonischen Miteinanders, das tatsächlich ein im besten Fall gleichgültiges Nebeneinander ist, bringt Bryers geschickt und wie beiläufig auf den Punkt.
Aus dem Gleis gerät der Roman nur, wenn Bryers die Geschichte von Madeleine und Jessica erzählt. Hier hat er die Handlung eindeutig überfrachtet; er führt sie immer wieder in Sackgassen, die sie nicht weiter bringen. „Winter des Bären“ basiert auf einer guten Ausgangsidee, die logisch entwickelt wird. Reflexionen über eine komplizierte Schwestern-Beziehung, die sich über die halbe Welt erstreckt, bis sie schließlich in Maine endet, stören den Rhythmus empfindlich. Das ist aber auch der einzige echte Einwand, der sich gegen dieses Buch (das im Übrigen auch noch von erfreulicher Kürze ist) erheben lässt.
Fünf Geschwister sehen sich in die Rolle unfreiwilliger Schatzhüter versetzt und müssen den Kampf um eine kostbare christliche Reliquie gegen Feinde aufnehmen, die vor Mord keineswegs zurückschrecken … – Thriller mit allzu deutlich aufgesetzten History-Mystery-Elementen. Die ‚überraschenden‘ Wendungen sind ein wenig zu zahlreich und unlogisch. Recht hausbacken aber solide geschrieben rumpelt das Werk einem mauen Finale entgegen. Robert Goddard – Bedenke, dass wir sterben müssen weiterlesen →
Vor zweieinhalb Jahren hat Umberto Alvarez seine Familie bei einem Zugunglück verloren. Er macht dafür die Northern Union Railroad und besonders ihren charismatischen aber skrupellosen Vorstandsvorsitzenden und Chef William Goheen verantwortlich. Der will seine Gesellschaft mit aller Macht an die Spitze bringen und schreckt dabei vor krummen Geschäften nicht zurück.
Mit seinen Anschuldigungen ist Alvarez vor Gericht gescheitert; sogar im Gefängnis hat er gesessen, ist ausgebrochen und seither auf der Flucht. In regelmäßigen Abständen verübt er Sabotageakte auf Güterzüge der Northern Union, die dem Image der Firma mächtigen Schaden zufügen. Die Sicherheitsleute der Bahn jagen Alvarez, und mit Peter Tyler tritt nun auch das National Transportation Safety Board, verantwortlich für die Sicherheit der US-amerikanischen Transportwege, auf den Plan.
Seit Jahrmillionen tobt in Zeit und Raum ein unerbittlicher Kampf zwischen diversen ‚Gottheiten‘. Ein Schauplatz dieses Krieges ist die Erde, auf der die „Götter“ noch immer ihr boshaftes Spiel treiben. Wer ihnen auf die Spur kommt, ist verloren:
Robert M. Price: Vorwort, S. 7-22
– Die rote Opfergabe (The Red Offering), S. 23-30: Im vorzeitlichen Reich von Mu sichert sich der ehrgeizige Jungmagier Zanthu zaubermächtige Beschwörungstafeln aus dem Grab eines Vorgängers, der indes weder tot ist noch auf seine Beigaben zu verzichten gedenkt.
– Der Bewohner der Gruft (The Dweller in the Tomb), S. 31-46: Viele Jahrzehntausende später – im Jahre 1913 – steht ein wagemutiger Forscher in der Gruft des besagten Zanthu und stiehlt seinerseits die uralten Tafeln, was neuerliches Grauen zur Folge hat.
– Das Ding in der Tiefe (The Thing in the Pit), S. 47-62: Zanthu plant seinen Herrn Ythogtha aus dessen Knechtschaft zu befreien, doch Götter kennen keine Dankbarkeit, was dem Kontinent Mu ein atlantisähnliches Schicksal beschert.
– Aus der Tiefe der Zeit (Out of the Ages), S. 63-96: Der Kontakt mit einer rätselhaften Götzenstatue verschafft einem Historiker 1928 nicht nur üble Träume, sondern schließlich sogar eine persönliche Begegnung mit lauernden Urzeit-Übeln.
– Der Schrecken in der Galerie (The Horror in the Gallery), S. 97-156: 1929 setzt ein weiterer Pechvogel die Untersuchung der seltsamen Statue fort und gerät ebenfalls in ihren verderblichen Bann.
– Der Winfield-Nachlass (The Winfield Heritance), S. 157-188: Sieben Jahre später wird ein etwas weltfremder Jüngling vom verschrobenen Erbonkel mit diversen wertvollen Zauberbüchern bedacht – und mit jenen Kreaturen, die er zu Lebzeiten damit heraufbeschworen hat.
– Vielleicht ein Traum (Perchance to Dream), S. 189-204: Mit Anton Zarvak wird ein ‚guter‘ Magier in das „Xothic“-Geschehen verwickelt, der sich seiner Haut nachdrücklich zu wehren weiß.
– Das seltsame Manuskript aus den Wäldern von Vermont (Strange Manuscript Found in the Vermont Woods), S. 205-230: Eine gemütliche Waldhütte verliert ihre Anziehungskraft, weil sie in der Nachbarschaft einer vorzeitlichen, immer noch rege besuchten Kultstätte errichtet wurde.
– Etwas im Mondlicht (Something in the Moonlight), S. 231-250: Nicht jeder Irrenhäusler ist tatsächlich geisteskrank, weil er sich vor mörderischen Echsen vom Mond fürchtet.
– Die Fischer von draußen (The Fishers from Outside), S. 251-272: Noch ein allzu tief schürfender Forscher kommt im tiefen Afrika einem Hilfsvolk der Alten auf die Schliche, das daraufhin die üblichen Maßnahmen zur Wahrung ihrer Anonymität trifft.
– Hinter der Maske (Behind the Mask), S. 273-294: Ein unbedarfter Nachwuchs-Wissenschaftler liest einige Bücher, die er hätte meiden sollen, da sie ihm Träume bescheren, die ganz & gar keine Schäume bleiben wollen.
– Die Glocke im Turm (The Bell in the Tower), S. 295-317: Ein englischer Lord entdeckt die Möglichkeit, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, die sich indes als Zweibahnstraße erweist.
(In der deutschen Ausgabe fehlen der Sonnett-Zyklus „Dreams from R’lyeh“ sowie die Storys „The Strange Doom of Enos Harker“ – begonnen von Lin Carter, vollendet von Robert M. Price – und „The Soul of the Devil-Bought“, eine Art Carter/Xothic-Parodie von Price. „The Bell in the Tower“ ist Carters postume ‚Zusammenarbeit‘ mit H. P. Lovecraft, der eine Reihe unvollendeter Storys und Entwürfe hinterließ.).
Bruchstücke einer schrecklichen Vergangenheit
Lin Carters „Xothic-Legenden“ bilden eine eigenartige Lektüre – ein Buch ohne eigentliche Handlung, sondern eine Lose-Blatt-Sammlung (fiktiver) Protokolle, historischer Bücher, bruchstückhafter Artefakt-Beschriftungen, Berichte, Tagebücher, Notizen usw., die für sich selbst stehend nur Mosaiksteinchen darstellen. Erst in der zeitlichen Ordnung und vor allem im Zusammenhang enthüllt sich das Geschehen: Die Geschichte der Welt ist so, wie wir ‚zivilisierten‘ Menschen sie ‚wissenschaftliche‘ rekonstruiert haben, falsch bzw. unvollständig. Wir sind längst nicht die Herren unseres Planeten, der seinerseits nur Spielball kosmischer Entitäten ist, deren Motive nur ansatzweise erfassbar sind.
Die ‚Fragmentarisierung‘ des „Cthulhu“-Mythos‘ geht auf seinen Schöpfer zurück. H. P. Lovecraft (1890-1937) kannte die Regeln für literarischen Horror sehr gut. Er erfand eine alternative Weltgeschichte, die sich dem erschrockenen Betrachter immer nur zufällig und in Bruchstücken enthüllt. Dem Leser ergeht es nur marginal besser, denn auch die Kenntnis aller Cthulhu-Storys ergibt kein Gesamtbild. Ob dies so geblieben wäre, hätte Lovecraft nicht ein frühes Ende ereilt, muss Spekulation bleiben. Auf jeden Fall fand der Mythos seine Anhänger, von denen nicht wenige ihm selbst Kapitel ein- und anfügten.
Hierbei stellt Robert M. Price, Lin-Carter-Biograf und Kenner des Horrors à la Lovecraft, mehrere Varianten fest. Da gibt es den „Kopisten“, der möglichst eng am Original bleibt, den „Erklärer“, der die Lücken tilgt, die der Mythos aufweist, sowie den „Neuerer“, der mit ihm ‚spielt‘, ihn sich zu eigen macht und entwickelt, ohne ihn zu entzaubern.
Lin Carter gehört zweifellos zu den „Erklärern“. Er steht ganz in der Tradition von August Derleth (1909-1971), der Lovecraft noch persönlich kannte und nach dessen Tod nicht nur sein Werk bewahrte, sondern es vermehrte. Anders als sein ‚Meister‘ wollte oder konnte Derleth das Prinzip eines rudimentären „Cthulhu“-Mythos’ nicht begreifen. Er war es, der systematisch damit begann, Lovecrafts (nicht grundlos) schemenhaft bleibenden Hintergrundinformationen zu sammeln, zu katalogisieren und in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. In einem zweiten Schritt füllte Derleth die Leerstellen, die er bei dieser Arbeit festgestellt hatte. Er schuf einen Stammbaum der ‚Götter‘ aus dem All und ihrer Helfershelfer. Darüber hinaus erfand er neue Kreaturen, neue Orte des Grauens, neue Bücher verbotenen Wissens.
Enthüllungen im Salventakt
Lin Carter geht mit seinen „Xothic-Legenden“ noch einen großen Schritt weiter. Er greift nicht nur auf Lovecraft- und Derleth-Werke zurück, sondern berücksichtigt auch die Beiträge von Schriftsteller-Kollegen und -Epigonen wie Clark Ashton Smith, Frank Belknap Long, Seabury Quinn, Basil Copper oder Brian Lumley, die sich an Cthulhu versuchten (bzw. vergingen). Vor allem Derleths Bemühen um Ordnung im Dämonenhimmel verblasst vor Carters geradezu enzyklopädischem Wissen um den Mythos, der unter seiner Schreibhand endgültig zur ‚Tatsache‘ gerinnt.
Carters Enthusiasmus ist Segen und Fluch zugleich. Zu bewundern ist die Meisterschaft, mit welcher der Autor ‚Fakten‘ und selbst Erdachtes zu einer ‚neuen‘ Weltgeschichte fügt. Andererseits ordnet Carter diesem Ziel die Unterhaltung, die doch eigentlicher Zweck einer Geschichte sein sollte, konsequent unter. Im Vordergrund steht immer der Mythos. Die Enthüllung läuft allzu schematisch ab: Der Entdeckung rätselhafter Artefakte oder Bücher folgt die allmähliche Enträtselung, was allerlei Monster auf den Plan ruft, die für ein grausames Finale sorgen, das neue Fragen aufwirft. Deshalb ist es primär der Hardcore-Cthulhuist mit einem Faible für Mystery-Puzzles, der mit Carter auf seine Kosten kommt. Am Stück sollte man dieses Buch jedenfalls nicht lesen, da das wenig innovative Strickmuster nicht einmal vom Herausgeber bestritten wird.
Viele interessante Hintergrundinfos zum Mythos und zur Entstehung der „Xothic-Legenden“ liefert Robert M. Price, im Hauptberuf Professor für Theologie und Bibelwissenschaft, ohne den es diese Sammlung wohl nicht gäbe. Lin Carter selbst hat mit ihrer Entstehung nichts mehr zu tun; sie wurde fast ein Jahrzehnt nach seinem Tod zusammengestellt. Zwar plante Carter einen Episodenroman zum Thema, der aber längst nicht alle Storys umfassen sollte, die Price hier vorstellt. Dies spricht für Carter, der offenbar selbst erkannt hat, dass die Qualität seiner „Xothic“-Erzählungen arg schwankt.
So ist es eigentlich Price, der die „Xothic-Legenden“ schuf. Seine Chronologie, seine Bearbeitungen, seine verbindenden Texte formen aus ihnen ein Gesamtwerk, das einen gewissen roten Faden aufweist. Prices Gesamteinleitung sowie die einleitenden Texte zu den einzelnen Storys legen außerordentlich penibel deren Entstehungsgeschichten, Intentionen und ihre Stellung im Mythos dar. Gern holt Price weit aus und versucht sich an literaturkritischen, -historischen und -psychologischen Deutungen der Carter-Erzählungen. Dabei fördert er oft Unerwartetes und Interessantes zutage, übertreibt es jedoch einige Male gewaltig. Als Verfasser der Carter-Biografie („Lin Carter: A Look Behind His Imaginary Worlds“, 1992) und Lovecraft- bzw. Cthulhu-Experte verfügt Price über ein profundes Wissen, das er gern & reichlich mit seinen nicht immer begeisterten und überzeugten Lesern teilt.
Die Nase zu tief hineingesteckt
Es sind (bis auf eine Ausnahme) keine Helden, die wir in den „Xothic“-Geschichten mit den außerirdischen Unholden ringen sehen. Vergeistigte Hohepriester, Bücherwürmer und elfenbeinturmhoch entrückte Forscher entdecken Spuren einer gänzlich unerwarteten Frühgeschichte. Sie ahnen, was sie da entdeckt haben, begreifen aber stets zu spät, dass dieses Wissen handfeste Konsequenzen nach sich ziehen wird. Treten dann mordlustige Riesenschnecken, Froschmenschen oder berggroße Schleimgötzen auf den Plan, ist der Reue groß aber vergeblich; die unmittelbare Konfrontation mit Kreaturen, die es nicht geben dürfte, zieht den grausamen Tod oder zumindest den Wahnsinn nach sich.
Dabei sind diese (Un-) Wesen prinzipiell nicht ‚böse‘ in dem uns bekannten Sinn, sondern unendlich fremd. Deshalb ist es ratsam, sich ihnen fernzuhalten. Unterwerfung stimmt sie nicht gnädig, Unbotmäßigkeit strafen sie ebenso hart wie Versagen, Gehorsam belohnen sie nicht. Sie locken mit Versprechungen von Wissen, Macht und Geld, die sie nie halten oder auf eine Weise erfüllen, die den Fordernden nicht mit Freude erfüllt. Überhaupt benehmen sie sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen – über die Statur verfügen sie -, wenn sie sich bemerkbar machen. Nach Lin Carter sind es ihrer zudem so viele, dass man sich wundert, wieso es ihnen immer wieder gelingt, ihre Spuren zu verwischen; schließlich hausen sie nicht alle in Tiefseeschluchten, Urwäldern oder auf hohen Bergen, sondern schleimen & morden durchaus in den zivilisierten Regionen dieser Erde umher.
Ja, es fällt manchmal schwer, am Ball (oder ernst) zu bleiben, wenn Carter uns, seine Leser, mit zungenbrecherisch benamten alten, hohen & minderen Göttern konfrontiert oder bombardiert. Allein Cthulhu kann plötzlich auf eine Gattin und drei Söhne – natürlich ebenso missraten wie der Vater – verweisen. Leicht verliert man da die Übersicht, sodass es hilfreich ist, dass Carter und Price die verwandtschaftlichen Konstellationen und Konfrontationen vielfach wiederholen.
Denn die xothischen Götter sind notorische Streithähne, die ihren äonenlangen Krieg bis in die Gegenwart fortsetzen. Sie alle haben ihre ‚Reviere‘, speziellen Fähigkeiten und Motive. Carter setzt sie und uns ins Licht und ignoriert dabei, dass dies eine Entzauberung darstellt: Der sterbliche Leser ‚begreift‘ die Götter schließlich doch. Lovecraft hätte das nicht gefallen.
Autor
Linwood Vrooman Carter wurde am 9. Juni 1930 in St. Petersburg, gelegen im US-Staat Florida, geboren. Er wuchs hier auf, ging hier zur Schule und kehrte kurz hierher zurück, nachdem er in den Koreakrieg gezogen, verwundet und mit einem „Purple Heart“ ausgezeichnet worden war. 1953 ging Carter nach New York und studierte zwei Jahre an der Columbia University. Anschließend arbeitete er anderthalb Jahrzehnte für diverse Agenturen und Verlage, bis er, der 1965 mit „The Wizard of Lemuria“ sein Romandebüt im Phantastik-Genre gegeben hatte, ab 1969 Vollzeit-Schriftsteller wurde – ein überaus fleißiger, der mehrere Romane pro Jahr sowie diverse Kurzgeschichten veröffentlichte und sich als Herausgeber von Fantasy-Kollektionen einen Namen machte.
Der Fantasy und hier der Sparte „Sword & Sorcery”, die Muskel bepackte Barbarenkrieger gegen Monster, Mumien & finstere Zauberer antreten ließ, galt Carters ganze Liebe. Schon als Schüler verfasste er Storys im Stil von L. Frank Baum („Der Zauberer von Oz“), Edgar Rice Burroughs („Tarzan“, „John Carter vom Mars“) oder Robert E. Howard („Conan“, „Red Sonya“). Letzterem verhalf er zur literarischen Auferstehung, indem er mit Lyon Sprague de Camp und Björn Nyberg die ‚alten‘ Conan-Storys sammelte, ordnete und Lücken mit eigenen Geschichten und Romanen füllte.
Der private Lin Carter war ein unsteter, getriebener Mensch, der sich durch unmäßiges Rauchen und Alkohol gesundheitlich ruinierte. Mitte der 1980er Jahre erforderte ein zu lange unbeachteter Lippenkrebs eine radikale Operation, die Carters Gesicht entstellte und ihn erst recht isolierte. Immer öfter unterbrochen von Krankenhausaufenthalten setzte der unterdessen auch an einem Lungenemphysem erkrankte Schriftsteller seine selbstzerstörerischen Sauftouren fort. Am 7. Februar 1988 starb er, gerade 57-jährig, in einem Veteranen-Hospital.
Website „In Memoriam Lin Carter“ Website von Robert M. Price
Gebunden: 317 Seiten Originaltitel: The Xothic Legend Cycle: The Complete Mythos Fiction of Lin Carter (Oakland, CA : Chaosium 1997) Übersetzung: Andreas Diesel, Hans Gerwin, Ralph Sander, Malte S. Sembten http://www.festa-verlag.de
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