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Buchwurminfos IV/2004

Die _Rechtschreibreform_-Entwicklung wurde an dieser Stelle schon länger genau beobachtet, aber gleich Anfang Sommer platzte dann tagelang die Sensation durch die Hauptnachrichten: Die Reform soll kurz vorm Ziel gestoppt werden. Der saarländische Bildungsminister Jürgen Schreier wird auf der Sitzung der Kultusministerkonferenz im Oktober den Antrag stellen, die vereinbarte Stichtagsregelung (1. August 2005) aufzuheben. Führende Zeitungsverlage („Spiegel“, „Springer“ und „Süddeutsche Zeitung“) haben sich von der Reform verabschiedet. Österreichische Zeitungen schließen sich dem an. Presseagenturen wie „dpa“ stehen auch davor, zur alten Schreibweise zurückzukehren. Deutschland ist gespaltet in Befürworter und Ablehner, Schüler schreiben anders als ihre Eltern und die Autoren ebenso. Im Grunde gibt es vier „deutsche“ Rechtschreibungen: eine westdeutsche, eine ostdeutsche, eine schweizerische und eine österreichische. In der Schweiz benutzte man noch nie das „ß“, sondern schrieb schon immer „ss“ (dies allerdings durchgehend). Ansonsten nehmen sich die Eidgenossen sowieso die Freiheit selbst zu entscheiden, wie sie jeweils schreiben.
Im Grunde ist das Chaos perfekt und passt recht gut zu all den Pannen der deutschen Innenpolitik. Die Bevölkerung steht nun mal nicht hinter den Reformen. Ein identitätsstiftendes Gebilde wie die Sprache lässt sich nicht durch staatliche Verordnungen regeln. Es erinnert zu sehr an orthografische Planwirtschaft und Kritiker sprechen von „staatlich verordneter Legasthenie“.
Die Verlage bleiben ebenfalls zerstritten, was die Position zur Reform angeht. Die Literaturverlage hatten mehrheitlich sowieso die alte Schreibweise beibehalten. |Suhrkamp| hatte im Einvernehmen mit den Autoren nie die „so genannte Reform“ übernommen. Wolfgang Balk, |dtv|-Verlag: „Ich sehe bis heute keine Notwendigkeit für diese seltsame Reform und verstehe noch weniger deren quasidiktatorische Durchsetzung. Die langfristige wirtschaftliche Belastung durch die weitgehend absurde Rechtschreibreform ist mit Sicherheit höher zu veranschlagen als die kurzfristigen Kosten für eine Rückführung“. Thedel von Wallmoden, |Wallstein|-Verlag: „Bei uns ist noch kein einziges literarisches Buch in neuer Rechtschreibung erschienen. Nicht nur, weil wir dagegen sind, sondern auch aus dem einfachen Grund, weil wir bislang kein Manuskript in neuer Rechtschreibung angeboten bekommen haben. Ich habe noch keinen literarischen Autor getroffen, der die neue Rechtschreibung anwendet. Diese so genannte Reform ist eine Missgeburt. Wir werden auf jeden Fall bei der alten Rechtschreibung bleiben“. Wolfgang Ferchl, |Piper|-Verlag: „Ich habe mich immer für den Erhalt der alten Rechtschreibung eingesetzt, ob bei |Eichborn| oder jetzt bei |Piper|. Es war abzusehen, dass die neuen Regeln zur Anarchie führen. Deswegen waren alle Verlage gut beraten, die das alte System beibehalten haben. Die jetzige Entwicklung zeigt, dass die Rechtschreibreform in wesentlichen Zügen gescheitert ist“. Klaus Eck, Geschäftsführer von |Random House|, verschließt sich der Rückkehr ebenso wenig. Bei |Random House| sieht man die Debatte relativ entspannt, denn gesetzt werden die Bücher sowohl in alter wie in neuer Rechtschreibung, je nach Willen des Autors.
Finanziellen Schaden würden allerdings tatsächlich die Schulbuch- und Kinderbuchverlage in beträchtlichen Summen haben. Das Gütesiegel „In neuer Rechtschreibung“ ziert ja deren Umschläge. |Beltz & Gelberg| wird – falls die Reform gestoppt wird – Schadensersatz von der Regierung fordern. Der |Duden| beharrt auf der Reform und hat die 23. Auflage des „Duden“ gerade neu ausgeliefert. Die Buchhändler erklären aber, dass sie diesen aufgrund der ganzen Irritationen nicht verkaufen können, obwohl sie ihn wie frühere Auflagen genügend geordert hatten. Bei der unklaren Situation geben die Kunden das Geld dafür nicht aus. In den Feuilletons wird der „Duden“ kritisch belächelt: „Das unmögliche Wörterbuch“ (FAZ), „Chaos voran“ (Süddeutsche Zeitung).
Die Reformer gingen vor sechs Jahren davon aus, dass mit der neuen Rechtschreibung von deutschen Schülern 13 Prozent weniger Fehler begangen würden. Untersuchungen zeigen jetzt allerdings, dass die Rechtschreibleistungen seitdem nicht besser geworden sind. In Wien wurde im August der „Rat für Rechtschreibung“ gebildet, der die Reform auf ihrem weiteren Weg begleiten wird und Änderungen und Kompromisse formulieren soll. Damit wurden dort die deutschen Mitglieder der |Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung| beauftragt. Nach Abschluss der Übergangsphase für die Rechtschreibreform im Sommer 2005 wird der „Rat“ dann an die Stelle der Zwischenstaatlichen Kommission treten. Gleichzeitig gründete sich allerdings in München ein unabhängiger |Rat für deutsche Rechtschreibung|, der sich für die Rücknahme der Reform einsetzt. Zu diesem Rat gehören unter anderem Egon Amman, Elfriede Jelinek, Günter Kunert, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Auch haben sich 37 Mitglieder der |Berliner Akademie der Künste| und der Darmstädter |Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung| dem Lager der Rechtschreibgegner angeschlossen. Und Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen plädiert nun ebenfalls für die Rücknahme der Reform, da diese in keinem Bundesland ein demokratisches Gremium durchlaufen habe.

_Bonnier_ hatte sich beim Bundeskartellamt gegenüber _Random House_ beschwert, da diese vor dem Verkauf der |Heyne-Fantasy|- und |Heyne-Esoterik|-Taschenbuchreihen gut verkäufliche Titel einfach in die allgemeine Reihe übernommen hatten. Um den Marktanteil im Taschenbuchsektor unter 33 Prozent zu halten, hatte |Random House| diese beiden Reihen verkaufen müssen. Die Beschwerde wurde allerdings nun vom Bundeskartellamt zurückgewiesen. Wahrscheinlich wird |Bonnier| nun den Streit auf zivilrechtlichem Wege weiterverfolgen.

_Rowohlt_ trennt sich vom _“Kursbuch“_, denn die Abonnentenzahl sinkt. Bis Mitte nächsten Jahres werden nur noch drei Ausgaben erscheinen. Das „Kursbuch“ war 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründet worden und hat schon einige Verlagswechsel hinter sich. Zunächst erschien es bei |Suhrkamp|, später bei |Wagenbach| und schließlich bei |Rowohlt Berlin|. Die Herausgeber des „Kursbuchs“, Ina Hartwig und Tilman Spengler, suchen nun wieder nach einem neuen Verlag, erste Angebote sind schon eingegangen.

_Hanser_ wächst weiter, denn der zu |Hanser| gehörende _Paul-Zsolnay-Verlag_ hat den Literaturverlag _Deuticke_ übernommen. Erst im vorigen Jahr wurde dieser von _Klett_ gekauft und nun schon wieder abgestoßen. |Zsolnay| erweitert damit sein Programmspektrum mit österreichischen Autoren. Der Markenname |Deuticke| wird bestehen bleiben und als Imprint geführt.

Fantasy-Autorin _Ursula K. LeGuin_ feiert am 21.Oktober 2004 ihren 75. Geburtstag. Ihr Zyklus „Erdsee“ ist jetzt preisgünstig in der |Serie Piper| neu aufgelegt worden (Serie Piper 8523, 8542 und 8541).

Der Verleger _Ferdinand Schöningh_ verstarb im August an einem Herzversagen. Er war 1986 in die Leitung des 1847 gegründeten |Schöningh|-Verlags eingetreten und 1989 zu dessen Geschäftsführer bestellt worden. Im Jahr 2000 übernahm er auch die Geschäftsführung des Wissenschaftsverlags |Wilhelm Fink|. Er führte sein Familienunternehmen in fünfter Generation.

Auch Professor _Dietrich Kerlen_, Inhaber des Lehrstuhls für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft am |Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft| der Universität Leipzig ,verstarb im August an einer Herzattacke. Er war Lektor bei |Klett-Cotta| und Mitglied der Geschäftsleitung im Gütersloher Verlagshaus. Seinen Lehrstuhl in Leipzig hatte er seit 1995.

_Hartz IV_ ist auch für Verlage und Buchhandel ein Ärgernis. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage wird sowieso seit längerem nicht mehr so viel gekauft wie früher („Geiz ist geil“), aber die Verunsicherung der Kunden, was da im Zuge von Hartz IV auf die Verbraucher zukommen mag, macht den ausbleibenden Umsatz nur noch schlimmer. Seit der Reformdebatte traut man sich noch viel weniger, Geld auszugeben. Das Reizwort Harz IV treibt die Menschen auf die Straße und in dieser Stimmungslage entwickelt niemand Kaufgelüste. Allein das Gefühl, es könnte noch enger werden, verkleinert den Kreis derjenigen, die mehr als das Notwendige ausgeben.

Araber haben seit dem 11. September 2001 hierzulande eine schlechte Presse, wenn seither die Medien auch um so gründlicher über die islamische Welt informieren. Die _Buchmesse_ bietet in diesem Jahr den Arabern die Plattform zu einer gründlichen „Gegenoffensive“. Ab 2006 wird die Führung der Frankfurter Buchmesse neu besetzt. Der Vertrag mit dem amtierenden Geschäftsführer _Volker Neumann_ endet am 31.12.2005 und wird nicht verlängert. Dieses unfreiwillige Ausscheiden sorgt derzeit für Turbulenzen in der Branche. Der Aufsichtsrat duldet anscheinend keinen starken Messedirektor, heißt es unter anderem. Auch wird gemunkelt, dass einer der Gründe darin liegt, dass Neumann die Messeverlegung forcierte und alternative Standorte anstatt Frankfurt prüfte. Aber auch anderer Gegenwind weht noch: Die _Frankfurter Messegesellschaft_, denen die Messehallen gehören, ist an einer kompletten Übernahme der Buchmesse interessiert oder zumindest an einer Beteiligung. Der _Börsenverein_, von dem die Buchmesse eine Tochtergesellschaft ist, sieht allerdings keine Veranlassung, sich von der Messe zu trennen und sucht nicht das Gespräch mit der |Frankfurter Messe GmbH|.
Im nächsten Jahr wird es zum Auftakt der Messe auch einen neuen Buchpreis geben. Der _Deutsche Buchpreis_ unterscheidet sich in seinem Konzept deutlich vom einstigen _Deutschen Bücherpreis_, der im März 2004 zum letzten Mal in Leipzig vergeben wurde. Ausgezeichnet werden nun die besten Romane des Jahres in deutscher Sprache. Da der Preis nun von Leipzig nach Frankfurt wandert, vergibt die Leipziger Messe im nächsten Jahr stattdessen erstmals den _Preis der Leipziger Buchmesse_ zu gleichen Teilen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Essayistik sowie Übersetzung. Dass der Börsenverein den in den vergangenen Jahren in Leipzig vergebenen |Deutschen Bücherpreis| nicht fortführt, wird politisch interpretiert, man spricht von einer Vertiefung des Ost-West-Konflikts.

Das Börsenblatt, das die hauptsächlichen Quellen für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.

Interview mit Thomas Thiemeyer

|Thomas Thiemeyer überraschte mich mit seinem abenteuerlichen Romandebüt [„Medusa“ 482 sehr angenehm. Der sympathische Autor kam gerade von der an diesem Wochenende gelaufenen Elster-Convention zurück und unterhielt sich mit mir über sein Buch, die nächsten Projekte, die Convention und metallischen Musikgeschmack.|

_Andreas Jur:_
Hallo Thomas, ich grüße dich! Gratulation zunächst zu deinem gelungenen Erstlingswerk! War eine nette Überraschung, als Droemer/Knaur mir das lecker Büchlein auf gut Glück in den Briefkasten befördern ließ, sonst wäre mir die „Medusa“ wohl tatsächlich glatt entgangen. Wie sieht die Resonanz der Pressekollegen und seitens der Leserschaft bislang aus?

_Thomas Thiemeyer:_
Überraschend positiv. Zwar hat sich niemand die Mühe gemacht, so ins Detail zu gehen wie ihr bei Buchwurm.info, aber die einhellige Meinung scheint zu sein, dass alle es für einen spannenden, gut zu lesenden Abenteuerroman halten. Und mehr wollte „Medusa“ nie sein.

_Andreas Jur:_
Hast du schon Rückmeldung bezüglich der Verkaufszahlen von „Medusa“?

_Thomas Thiemeyer:_
Leider nein, denn es ist nicht leicht, an solche Zahlen zu kommen. Die Redakteure wissen sie oft selbst nicht. So habe ich erst kürzlich erfahren, dass das Buch mit einer Auflage von 12.000 Stück an den Start gegangen ist, also eine beachtliche Zahl für ein Hardcover. Was den Reinverkauf in die Buchhandlungen betrifft, so habe ich von Vertreterseite nur Gutes gehört, aber das bedeutet noch lange nicht, dass der Abverkauf an den Endkunden ebenso flott läuft. Hier spielt der Faktor Glück noch eine große Rolle.

_Andreas Jur:_
Der Verlag hat offenbar große Erwartungen in deinen ersten großen Roman gesteckt. Solides Hardcover, aufwendige Umschlaggestaltung mit Prägedruck, Innenabdruck einer Karte, breite Pressebeschickung mit Vorabexemplaren … Hast du dergleichen erwarten können?

_Thomas Thiemeyer:_
Überhaupt nicht. Ich wäre ja schon froh gewesen, wenn ein Verlag die „Medusa“ als Taschenbuch herausgebracht hätte. In einer Zeit, in der es von tausend eingesandten Manuskripten nur eines es schafft, als Buch gedruckt zu werden, muss man mit allem zufrieden sein. Anfangs sah es auch recht düster aus. 2003 schickte ich das fertige Manuskript an meinen Agenten Bastian Schlück, der es postwendend an |Bastei Lübbe| weiterreichte, die das Buch optioniert hatten. Nach kurzer Zeit flatterte jedoch eine Absage herein, die mir ziemlich zu schaffen machte und deren Argumentation ich bis heute nicht ganz nachvollziehen kann. Aber sei’s drum, Geschmäcker sind eben verschieden. Kurze Zeit später war die Buchmesse in London und auf einmal ging alles sehr schnell. Sowohl |Goldmann| (|Blanvalet|) als auch |Droemer/Knaur| interessierten sich dafür. Für einen Autoren und seinen Agenten natürlich eine Traumsituation. Den Zuschlag bekam |Knaur|, denn er lockte mit einem Hardcoververtrag mit anschließender Herausgabe als Taschenbuch. Im Nachhinein betrachtet hat mir Stefan Bauer von |Bastei| mit seiner Absage also einen riesigen Gefallen getan.

_Andreas Jur:_
Wie zufrieden ist denn dein neuer Verlag mit dem bisherigen Erfolg?

_Thomas Thiemeyer:_
Von Erfolg kann noch keine Rede sein. Alles, was ich bisher zu hören bekommen habe, der Reinverkauf, die guten Rezis, die Lesermeinungen, all das sind Vorschusslorbeeren. Die Tendenz sieht zwar gut aus, aber das letzte Wörtchen wird an der Kasse des Buchhändlers gesprochen. Ich bleibe da bis zuletzt sehr kritisch.

_Andreas Jur:_
Und dann wird trotz des großen Glücksfaktors (der bei einem noch unbekannten Autorennamen ja immer ein Problem in dieser Masse von Neuveröffentlichungen ist) die „Medusa“ wie erwähnt gleich als Hardcover geadelt und eine Taschenbuchausgabe soll es später auch noch geben. Wittert man von so viel unerwarteter Beachtung die Luft des Größenwahns oder hält sich der Blutdruckpegel in Grenzen?

_Thomas Thiemeyer:_
Durch meine Bilder bin ich es gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen und sowohl Lob als auch Kritik einzustecken, und das schon seit fünfzehn Jahren. Ich glaube, das hat mir geholfen, mit dieser Situation umzugehen. Bisher stehe ich noch mit beiden Beinen fest auf der Erde. Das kann sich natürlich schlagartig ändern, wenn Steven Spielberg anruft …

_Andreas Jur:_
Ich habe gelesen, dass du zuvor schon im Kinder- und Jugendbuchbereich tätig warst. Um welche Themen ging es da?

_Thomas Thiemeyer:_
Im Kinder- und Jugendbuchbereich habe ich vorwiegend als Illustrator gearbeitet. Dabei habe ich Bücher zum Thema Saurier, Indianer, Ritter, Urmenschen und Naturphänomene gemalt. Geschrieben hätte ich gerne schon früher, aber da waren die Verlage sehr konservativ. Sie haben sich sicher gedacht, „wer malen kann, kann nicht auch noch schreiben“. Diese „Schuster bleib bei deinen Leisten“-Mentalität ist leider sehr weit verbreitet. Daher musste ich schon in die Erwachsenenliteratur wechseln, um schreibtechnisch Fuß zu fassen. Ein Kinderbuch habe ich aber dann doch geschrieben, ein kleines Buch über zwei Kinder, die auf dem Mars ein Abenteuer erleben, aber das Angebot kam, nachdem ich die „Medusa“ schon fertig geschrieben hatte.

_Andreas Jur:_
Dass die Kombination Illustrator/Autor durchaus geschmackvolle Früchte tragen kann, sieht man ja auch beispielsweise bei deinem Kollegen Michael Marrak. Hauptsächlich hast du dir also bislang als Illustrator und Maler einen Namen gemacht, deine Bilder schmücken allerhand Buchveröffentlichungen und es sind auch einige preisgekrönte darunter. Welche Preise gab es denn bislang und wofür jeweils?

_Thomas Thiemeyer:_
1989 „Das große Buch der Saurier“: Nominierung für den |Deutschen Jugendbuchpreis|.
1999 „Auf zwei Planeten“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.
2001 „Quest“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration und Innenillustration.
2002 „Jupiter“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.
2003 „Der Asteroidenkrieg“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.

_Andreas Jur:_
Ich bin in der Tat beeindruckt und bis auf das Saurierbuch sind mir die Werke sogar bekannt – große Namen. Auf welche Weise malst du denn am liebsten? Welchen Stellenwert hat der Computer? Und wie ist die schöpferische Balance zwischen Auftragsarbeiten und innerem Impuls dabei?

_Thomas Thiemeyer:_
Am liebsten male ich groß, fett und in Öl. Minimum 100cm x 70cm, zum Aufhängen und mit einem schönen Holzrahmen drumherum. Als Buchillustration ist so etwas natürlich viel zu aufwendig und technisch schwer zu reproduzieren. Buchillustrationen fallen naturgemäß kleiner aus und werden auf biegsamen Malkarton angefertigt, für die spätere Repro auf einem Trommelscanner. Trotzdem arbeite ich |so| immer noch viel lieber als am Computer, denn das Malerlebnis, der Umgang mit dem bockigen, widerspenstigen Material ist eine Herausforderung, die riesig Spaß macht. Computerillus fertige ich eigentlich nur noch an, wenn’s schnell gehen muss, oder wenn das Motiv so aufwendig ist (Stichwort Massenszenen oder komplizierte Architektur), dass es nicht anders geht.

_Andreas Jur:_
Knaur ist vermutlich dankbar dafür, dass du dein Buchcover selbst gestaltet hast. Das bot sich ja geradezu an. Wie kam der Sprung vom Illustrator zum Buchautor zustande? Über die Kontakte, die du durch deine bilderstürmende Verlagsarbeit geknüpft hast? Kaffeekränzchen mit den Kollegen Eschbach und Co.?

_Thomas Thiemeyer:_
Andreas Eschbach, Rainer Wekwerth und Michael Marrak, mit denen ich gut befreundet bin, haben mir zwar mit ihren Tipps, Anregungen und (teilweise harschen) Kritiken sehr geholfen, aber den Sprung in die Verlagslandschaft konnten sie mir nicht abnehmen. Den muss jeder selbst machen. Letztendlich zählt nur die Qualität. Eine große Hilfe ist es aber, wenn man einen guten Agenten hat. Und mit Bastian Schlück habe ich einen der besten.

_Andreas Jur:_
Woher kamen die Inspirationen für die Orts- und Themenwahl für „Medusa“? Liegt dir Afrika sehr am Herzen? Die kulturellen Einblicke, die du uns im Roman gibst, klingen nach mehr als bloßer Recherche und auch nach echtem Respekt für Land und Leute.

_Thomas Thiemeyer:_
Seit meinem Besuch bei den entlegenen Saurierfundstätten von Tendaguru im Süden Tanzanias bin ich total auf Afrika geeicht. Alles an diesem Kontinent fasziniert mich, das Land, die Menschen, die Tiere und natürlich diese uralte, geheimnisumwitterte Aura, die über allem liegt (Stichwort: Wiege der Menschheit usw.). Auch mein zweiter Roman, der, wenn es die Götter so wollen, im Herbst nächsten Jahres erscheinen wird, spielt wieder in Afrika. Dann allerdings an einem noch gefährlicheren Ort. Nämlich im Kongo, dem sogenannten „Grab der weißen Mannes“.

_Andreas Jur:_
Siehst du dein Buch eher als Abenteuerroman oder mehr als der Mystery-Thriller, unter dem das Werk in erster Linie firmiert?

_Thomas Thiemeyer:_
Schwerpunkt ist eindeutig Abenteuer und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Der Mystery-Aspekt ist für mich das Sahnehäubchen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, der das Buch über die Erklärbarkeit unserer nüchternen, technisierten Welt hinaushebt. Worum es mir geht, ist, dem Leser zu zeigen, dass es viele Dinge auf unserem Planeten gibt, die wir nicht verstehen und vielleicht nie verstehen werden. Und das es sich lohnt, einen offenen Blick zu behalten.

_Andreas Jur:_
Eine gute Botschaft, und die Mischung von Abenteuer/Wissenschaft/Mystery ist dir ja ebenfalls stimmig gelungen. Wo wir eben bei der Recherche waren: Hattest du da für „Medusa“ viel zu tun? Wer hat geholfen? Und wie viel Planung und Marktkalkül steckte hinter dem „Medusa“-Projekt? Gerade als deutscher Autor im phantastisch angehauchten Bereich ist es ja arg schwer, den Fuß überhaupt in die Tür zu bekommen.

_Thomas Thiemeyer:_
Da ich selbst nie in Algerien oder im Niger war, musste ich natürlich viel recherchieren. Alle beschriebenen Orte existieren tatsächlich und man kann sie besuchen, auch wenn ich das aus Gründen der Sicherheit keiner Leserin und keinem Leser empfehlen möchte. Man denke nur an die entführten Sahara-Touristen. Ich halte eine gute Recherche für unabdingbar, um dem Leser das Gefühl zu geben, es könnte sich wirklich alles so zugetragen haben wie in dem Buch beschrieben. Das wäre dann aber auch schon so ziemlich das einzige, was ich mit dem Begriff „Kalkül“ beschreiben würde. Alles andere ist bei mir pure Lust an solchen Geschichten. Ich glaube auch nicht, dass man einen kommerziellen Erfolg auf dem Reißbrett planen kann. Dafür gibt es zu viele Beispiele, bei denen das grandios in die Hose gegangen ist. Natürlich ist es nicht leicht, einen Fuß in die Tür zu bekommen, besonders in diesen schwierigen Zeiten. Was mir aber sicher geholfen hat, ist die Tatsache, dass diese Art der Literatur bisher nur von Engländern und Amerikanern verfasst wurde und dass diese erstens sehr teuer im Einkauf sind und zweitens häufig zu unglaubwürdig und übertrieben action-lastig sind.

_Andreas Jur:_
Einen Teil der Detailarbeit hat dir vermutlich dein früheres Studium abgenommen, dessen Grundwissen du bei deiner Themenwahl ja sehr sinnvoll einsetzen konntest. Erzähl doch mal, was und wo du genau gelernt bzw. studiert hast.

_Thomas Thiemeyer:_
Ich habe insgesamt acht Semester an der Geologisch/Geographischen Fakultät der Universität zu Köln studiert und gearbeitet. Und obwohl ich mich letztendlich entschieden habe, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, ist dies eine Zeit, die, im Nachhinein betrachtet, für meine Arbeit als Schriftsteller von großer Wichtigkeit ist.

_Andreas Jur:_
Wie ist deine Arbeitsplanung beim Schreiben? Hast du einen festgelegten Tagesablauf? Wie sieht der Alltag bei Familie Thiemeyer aus?

_Thomas Thiemeyer:_
Früh morgens aufstehen (meistens so um kurz nach sechs), mit meiner Frau Kaffee im Bett trinken, die Kinder wecken, anziehen, abfrühstücken und in die Schule schicken, mich von meiner Frau verabschieden, die als Leiterin für Lektorat und Herstellung in einem Stuttgarter Verlag arbeitet, die plötzliche Ruhe genießen, dreimal mit den Fingern knacken und mich dann an die Arbeit machen. Je nachdem, was gerade ansteht an den Zeichentisch oder an den Schreibcomputer.

_Andreas Jur:_
Einer deiner Protagonisten hat den Decknamen „Chris Carter“ – Bist du Akte-X-Fan?

_Thomas Thiemeyer:_
Ehrlich gesagt ist das ein blanker Zufall. Bis auf den Kinofilm habe ich nie eine Folge von Akte-X gesehen und hättest du die Parallele nicht entdeckt, wäre sie mir nie aufgefallen. Aber was soll’s? Akte-X passt doch ganz gut, oder?

_Andreas Jur:_
Ziemlich gut sogar, daher ja meine erste Vermutung. Manche Dinge sind scheinbar schon so zufällig, dass man kaum an Zufall glauben kann. Bei allem Mystery-Gehalt bleibt deine Geschichte allerdings weitgehend auf dem Teppich der Wissenschaften und überlässt einige phantastischere Überlegungen durch Andeutungen mehr der Phantasie des Lesers. Bist du mehr Träumer oder Realist?

_Thomas Thiemeyer:_
Oh je, was soll ich dazu sagen? Beides vermutlich, und zwar immer der Situation entsprechend. Wenn ich meine Steuererklärung machen muss, bin ich wahrscheinlich eher der Realist, und im Bett … aber das geht euch nun wirklich nichts an.

_Andreas Jur:_
Schade aber auch, unsittliche Details steigern die Leserzahl enorm.
Stichwort Kinofilm: Ich hatte die Bildhaftigkeit deines Romans recht lebhaft vor Augen. Sind Filme eine Inspirationsquelle für dich?

_Thomas Thiemeyer:_
Ich vermute, dass die viel erwähnte Bildhaftigkeit eher von meiner Tätigkeit als Illustrator herrührt, aber ich muss gestehen, dass ich auch ein großer Filmfan bin. Noch mehr, seit ich mir einen 16:9-Fernseher mit DVD-Player angeschafft habe. Für’s Kino bleibt mir oft wenig Zeit und außerdem liebe ich es, die Filme im Original zu sehen. Dank verschiedener Tonspuren jetzt kein Problem mehr. Und was das Genre angeht: Horror, SF, Thriller, Fantasy, Komödie, querbeet. Nur gut müssen die Filme sein. Also einen Schrott wie „Die Passion Christi“ schaue ich mir nicht an. Im Moment freue ich mich auf „The Village“ von M. Night Shyamalan.

_Andreas Jur:_
Darauf bin ich auch gespannt, hatte noch nicht die Gelegenheit, ihn mir anzusehen.
Wie sieht es bei deiner künstlerischen Vielseitigkeit mit der Musik aus? Ich habe mir sagen lassen, dass du dich für die hart rockenden Klänge erwärmen kannst. Was hörst du denn so? Lässt du dich während des Schreibens von Musik als Hintergrundlandschaft treiben?

_Thomas Thiemeyer:_
Also beim Schreiben lausche ich ausschließlich dem Klackern meiner Tastatur. Alles andere würde mich nur ablenken oder beeinflussen. Aber in den Pausen oder am Abend darf’s auch mal richtig krachen. Richtung: straight und rockig mit einem Hauch von Punk. The Cult, Creed, Thin Lizzy, Warrior Soul, Social Distortion, AC/DC, Metallica, so diese Mischung. Ich stehe aber auch auf Klassik, Soundtracks und Bombastisches à la Vangelis, nicht zu vergessen Peter Gabriel und Kate Bush.

_Andreas Jur:_
Na, damit kann sich meine CD-Sammlung auch gut anfreunden. Ein Musikfreund ganz nach meinem Geschmack. Was hältst du denn vom aktuellen |Metallica|-Album „St. Anger“? Das hat in Metallerkreisen ziemlich die Gemüter erhitzt. Und kennst du die neuere Coverversion von |Within Temptation| zu Kate Bushs ‚Running up that Hill‘? Ich scheine bei uns einer der wenigen zu sein, die die neue Fassung für gelungen und nicht für Blasphemie halten.

_Thomas Thiemeyer:_
Ich muss gestehen, dass ich die trockene, beinharte Art von „St. Anger“ durchaus mag. Da ich von Zeit zu Zeit auch mit der Punkszene flirte, habe ich sowieso etwas übrig für diesen völlig abgespeckten „Garagensound“. Ich halte es nach der „Ohrwurm“- und „Bombastsound“-Phase der vier Vorgänger für ein absolut erfrischendes Album.
Das Remake von ‚Running up that Hill‘ habe ich zwar noch nicht gehört, bin aber sicher, dass ich den Gedanken daran schon als Blasphemie empfinde.

_Andreas Jur:_
Hör dir die Version einfach mal bei Gelegenheit an; ist zwar kein Klassikerersatz, aber doch gelungen.
Wirst du mit „Medusa“ auf Lesereise sein?

_Thomas Thiemeyer:_
Unbedingt, so mich die Buchhändler denn einladen. Aber damit ist wohl erst zu Beginn des nächsten Jahres zu rechnen. Den Anfang machte allerdings meine Premieren-Lesung samt Signieraktion am 18.09.2004 auf der |Elster|-Con in Leipzig.

_Andreas Jur:_
Die |Elster|-Convention ist ja seit heute vorüber. Wie war’s dort für dich – als Besucher wie auch in beruflicher Sache? Wie ist es, auf SciFi-Giganten wie Orson Scott Card oder John Clute zu treffen (falls sie dir dort über den Weg gelaufen sein sollten)?

_Thomas Thiemeyer:_
Eigentlich habe ich mich weniger auf John Clute und Orson Scott Card (mit dem ich 2000 auf dem „Utopia“-Festival schon das Vergnügen hatte und der von meinen Bildern ganz begeistert war) gefreut, sondern auf Kai Meyer. Obwohl er schon lange „im Geschäft“ ist, bin ich ihm noch nie persöhnlich begegnet. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ein großes Versäumnis, denn er ist ein rundum sympathischer, lockerer Typ, mit dem ich viele Interessen teile und dem, trotz seines Erfolges, der Ruhm noch nicht zu Kopfe gestiegen ist. So sollte es immer sein!
Ansonsten habe ich auf der |Elster|-Con meine Feuertaufe bestanden. Meine erste Lesung vor Publikum! Ich habe den Eindruck, dass alle sich gut unterhalten gefühlt haben. Es gab kein Geraschel, niemand verließ den Saal und der Beifall hallt mir jetzt noch in den Ohren. Ein rundum schönes Erlebnis!

_Andreas Jur:_
Was können wir also in nächster Zeit noch von dir erwarten? Und was entsteht unter dem Arbeitstitel „Pacifica“?

_Thomas Thiemeyer:_
Wie schon erwähnt, steht als nächstes ein zweiter Afrika-Roman an, in dem es um die Jagd nach einem legendenumwobenen und hochgefährlichen Lebewesen geht, und der bereits fix und fertig beim Verlag liegt. Und dann ist da noch der Roman, an dem ich gerade schreibe, über den ich aber noch nichts verraten möchte.
„Pacifica“ ist eine Geschichte über eine riesige Wasserstadt, die ich vor Jahren geschrieben habe und bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie jemals Buchluft schnuppern wird. Erstens, weil es reinrassige Science-Fiction ist, die sich ja bekanntermaßen schlecht verkauft und zweitens, weil sie meinen eigenen Anforderungen nicht mehr genügt. Ich müsste also viel umschreiben und ob sich das momentan lohnt, wage ich zu bezweifeln. Aber immerhin hat mich die Story zu einem Bild inspiriert, das von der Jury des |Spectrum|-Jahrbuchs (der Bibel für jeden Fantasy-Illustrator) für den Abdruck ausgewählt wurde: http://www.thiemeyer.de/Spectrum.html. Hier schließt sich der Kreis also wieder.

_Andreas Jur:_
Vielleicht wird ja doch noch etwas daraus, die Science-Fiction ist derzeit wieder in einem erfreulichen Auftrieb. Ich bedanke mich jedenfalls für das Gespräch und wünsche dir viel Erfolg für die Zukunft, Thomas. Wir sprechen uns dann wohl im nächsten Herbst wieder, hoffe ich.

Fiktion & Wahrheit

_von Mathias Bröckers_

Nach zwei Büchern über die Verschwörungstheorien des 11. September werde ich in der Presse und bei Diskussionsveranstaltungen oft als „Verschwörungstheoretiker“ vorgestellt. Eigentlich ist gegen die Bezeichnung nichts einzuwenden. Dennoch beginne ich meine Beiträge, wie unlängst bei einer Diskussion mit einem Redakteur des |SPIEGEL| an der Uni Göttingen, gern mit der Richtigstellung einer Verwechslung: Ich befasse mich zwar mit Verschwörungen und Verschwörungstheorien, vertrete selbst aber keine Theorie des 11.9.; im Unterschied zu den Kollegen beim |SPIEGEL| und in den großen Medien, die seit dem 11.9. eine Geschichte wiederholen, für die bis heute keine gerichtstauglichen Beweise vorliegen: die Legende der Alleintäterschaft von Osama Bin Laden und den 19 Hijackern – eine lupenreine Verschwörungstheorie.

Noch einmal kurz zur Begriffsbestimmung: Verschwörungen sind das Selbstverständlichste der Welt: A und B verabreden sich hinter dem Rücken von C, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Das geschieht im Wirtschaftsleben genauso wie in der Natur, ist in der Politik ebenso an der Tagesordnung wie am Arbeitsplatz – sowie, vor allem, im Liebesleben. Die am meisten gehegte Verschwörungstheorie überhaupt ist wahrscheinlich der Verdacht, dass der Liebespartner heimlich noch ein anderes Verhältnis haben könnte. Verschwörungstheorien sind also Annahmen über mögliche Verschwörungen, die auf Indizien, Verdachtsmomenten, Hinweisen – oder auch purer Einbildung – beruhen; wird die Theorie durch einen definitiven Beweis erhärtet – der Partner wird beim Seitensprung ertappt, oder Dokumente über illegale Polit-Machenschaften geraten an die Öffentlichkeit –, fliegt die Verschwörung auf und ist beendet. Oft aber ist solch ein definitiver Beweis nicht zu erbringen und so fristen Verschwörungen bisweilen ein ebenso langes Leben wie Verschwörungstheorien.

Für die Vorhersage, dass den Verschwörungstheorien des 11.9. solche Langlebigkeit blühen wird, bedarf es keiner großen Prophezeiungsgabe. Nach drei Jahren und der angeblich größten Polizeifahndung aller Zeiten wissen wir kaum mehr als nach drei Tagen: dass 19 Araber im Auftrag Osamas mit Teppichmessern vier Flugzeuge kaperten, das |World Trade Center| zum Einsturz brachten und fast 3.000 Menschen ermordeten. Die erst nach 15 Monaten und auf Druck der Opferfamilien eingesetzte 9/11-Untersuchungskommission hörte zwar viele Zeugen und wälzte tausende von Dokumenten – brachte zu den Hintermännern, der Finanzierung und dem genauen Ablauf der Tat aber nichts wirklich Neues ans Licht. Von Augenzeugen, die aus erster Hand hätten berichten können – etwa aus der Zeit, die die Hijacker in Florida verbracht hatten –, wurde kein einziger auch nur gehört. Ein Vorwurf, den sich die zehn vom Präsidenten bestimmten Mitglieder der Kommission gelassen anhören können, bestand doch ihr offizieller Auftrag gar nicht in der Aufklärung der Anschläge – sondern in Empfehlungen, wie sie künftig zu verhindern seien. Da sich die Prävention künftiger Terrorattacken ohne Aufklärung vergangener Anschläge aber nicht so recht planen lässt, forderte die Kommission auch Beweismittel über den 11.9. an – wie Flugschreiber-Daten, Aufzeichnungen des Funkverkehrs, Protokolle der Luftabwehr und weiteres –, die jedoch unter Berufung auf die „nationale Sicherheit“ nur auszugsweise oder überhaupt nicht freigegeben wurden. Die von Bush’s Vize Dick Cheney handverlesene Kommission, deren Mitglieder sich alle durch enge Verbindungen zur Öl-, Militär,- oder Geheimdienst-Branche auszeichnen, nahm diese Blockaden klaglos hin; das einzige halbwegs unabhängige Kommissionsmitglied, das sich über die Verhinderung der Ermittlungen lautstark beklagte – Senator Max Cleeland – wurde umgehend ausgetauscht. Nachdem der Bericht dann fertig gestellt war, stellte der Kommissionsleiter Thomas Kean fest, dass „alle wichtigen Beweismittel“ zur Verfügung gestanden hätten.

Wie wichtig die Aufklärung dieses Massenmords von der Regierung eingestuft wurde, lässt sich schon an dem Budget der Kommission ermessen – es betrug ursprünglich 3 Millionen Dollar und wurde nach Protesten auf 15 Mio. $ erhöht. Zum Vergleich: Für die Aufklärung von Clintons „Monicagate“ wurde seinerzeit fast fünfmal soviel ausgegeben: 70 Mio. $.

Warum weigerte sich das Weiße Haus hartnäckig, die Anschläge überhaupt von einer Regierungskommission untersuchen zu lassen und agierte, nachdem öffentlicher Druck eine Untersuchung unvermeidlich gemacht hatte, ganz so, als ob ihr an der Nicht-Aufklärung des Verbrechens mehr gelegen sei als an seiner Aufdeckung? Diese Frage führt uns mitten in das Feld, auf dem die Verschwörungstheorien des 11.9. blühen – und eine erste Antwort könnten die Vorbereitungen der Irak-Invasion liefern.

Verteidigungsminister Rumsfeld und sein Vize Wolfowitz haben mittlerweile mehrfach bekannt, dass die konkreten Planungen zum Irakkrieg direkt nach den Anschlägen auf WTC und Pentagon begannen. An jenem Tag, an dem das FBI die Liste der verdächtigen 19 Hijacker veröffentlichte, von den 15 aus Saudi-Arabien stammten. Zweifel an ihrer Identität tauchen zwar auf, werden aber nur oberflächlich bereinigt, weitergehend untersucht wird nichts, Täter und Hintermänner bleiben nebulös – aber die „Spin-Doktoren“ übernehmen nun die propagandistische Verarbeitung. Mit Erfolg: Achtzehn Monate später, kurz vor dem Einmarsch in Irak, ergeben Umfragen in den USA, dass 60 Prozent der Bevölkerung die Hijacker für Iraker halten – und den Marsch auf Bagdad für eine gerechte Bestrafungsaktion. Die Nicht-Aufklärung des wahren Hintergrunds der Täter und ihre Fortexistenz als phantomhafter Wechselbalg namens „Al Quaida“ hat sich für die US-Regierung also als sehr nützlich erwiesen. Gerade konkret genug, um geographisch („Araber“) und ideologisch („Islamisten“) ein Feindbild abzugeben, aber auch so diffus, dass es mit ein paar Drehungen an der Spin-Schraube flexibel einsetzbar bleibt.

Nur die Nicht-Aufklärung der Katastrophe, die Nicht-Ermittlung der konkreten Planer und Hintermänner ermöglichte ihre optimale Ausbeutung für propagandistische Zwecke – und mit dem Abschlussbericht der 9/11-Kommission ist die Legende von „Osama und den 19 Hijackern“ als Alleintätern – und die von „Pleiten, Pech und Pannen“ von Geheimdiensten, Luftüberwachung und Polizei – zur offiziellen Geschichtsschreibung geworden.

Wie dabei alle widersprüchlichen, nicht ins Bild eines Überraschungsangriffs islamistischer Fanatiker passenden Nachrichten verschwanden, zeigt beispielhaft die Berichterstattung über die letzten Tage des verdächtigen „Terrorchefs“ Mohammed Atta. Am 16. September 2001 berichteten zahlreiche Medien – von der „Washington Post“ bis zum Lokalblatt „Charleston Post & Courier“ – detailliert und unter Berufung auf den Barkeeper Tony Amos, dass Atta in „Shukkums Restaurant“ in Hollywood/Florida zwei Abende vor dem Attentat gezecht hatte: Nach drei Stunden hatte er fünf „Stolichnaya“-Wodka intus und sein Kumpan Al-Shehhi ebenso viele „Captain Morgan“-Rum; und es kam wegen der Bezahlung der Rechnung zu einer lautstarken Auseinandersetzung, bei der sich Atta als Pilot der „American Airlines“ ausgab. Elf Tage später liest sich die Geschichte dieses Trinkgelages schon ganz anders. Im Bericht der „Los Angeles Times“ sind die Alkoholika verschwunden: „Am selben Abend (7. Sept.), unten an der Küste Floridas, gingen Atta und Al-Shehi in Shuckums Sports Bar in Hollywood, zusammen mit einem noch unidentifizierten dritten Mann. Der Betreiber, Tony Amos, sagt, dass Atta ruhig für sich saß, Preiselbeersaft trank und Videogames spielte und Al-Shehi mit dem anderen Gast Mix-Drinks konsumierte und diskutierte …“

Der Barkeeper ist nur einer von vielen Augenzeugen, die auf das Desinteresse der 9/11-Kommission stießen – auch keine der Aussagen von Nachbarn, Vermietern oder Taxifahrern aus dem Rentnerstädtchen Venice, die mit Atta persönlich zu tun hatten, wurde bei den Ermittlungen berücksichtigt. Schon gar nicht Attas Freundin Amanda Keller, die sechs Wochen mit ihm ein Appartment geteilt hatte. Der Investigativ-Journalist Daniel Hopsicker, der seit dem 11.9. in Florida recherchiert, hat mit vielen dieser Augenzeugen gesprochen, und sein Report („Welcome to Terrorland“, Frankfurt 2004) macht klar, warum sie für die „Aufklärung“ unerwünscht sind: Ihre Aussagen decken sich nicht mit dem Bild des islamistischen Fundamentalisten, das FBI und Medien von „Terrorchef“ Atta gezeichnet haben. Neben dem Konsum von Alkohol belegen diese Zeugen weitere gänzlich unislamische Vorlieben Attas, wie Striptease-Bars, Schweinekottelets oder Kokain – kurz: Atta verhielt sich nicht wie ein vernagelter Islamist, sondern eher wie ein weltläufiger Agent. Als wir seinen ehemaligen Arbeitgeber in Hamburg, bei dem Atta während seines Studiums einen Job als Planzeichner hatte, zwei Jahre nach den Anschlägen zu diesen Fakten befragen, schüttelt er den Kopf: „Das ist nicht der Mohamed, den wir kennen. Wissen Sie, diese Geschichte ist mittlerweile so verrückt, ich könnte mir vorstellen, dass er jeden Moment hier hereinspaziert kommt, weil sich alles als Missverständnis aufgeklärt hat.“ Die Arbeit der 9-11-Kommission hat nicht dazu beigetragen, die Unklarheiten zu beseitigen, im Gegenteil bekundet Hopsicker, der die letzten öffentlichen Hearings in Washington verfolgte: „Wir waren platt, als die Präsentation offensichtlich den bereits veröffentlichten und von den großen Medien berichteten Fakten über die letzten Tage Mohammed Attas widersprach. Es war falsch und es war so offensichtlich falsch, dass man sich fragen musste, was hier eigentlich vorgeht.“

Denn Atta war nicht nur am 7. September in dieser Bar in Florida – auch am 9. September, als er laut Untersuchungskommission auf dem Weg von Baltimore nach Boston gewesen sein soll, hielt er sich noch an der Goldküste Floridas auf. Dieses Mal in Pompano Beach, wo er bei „Warrick Rent a Car“ mit Marwan Al Shehhi einen Mietwagen zurückgab, wie eine Kopie des Mietvertrags beweist. Der offizielle 9/11-Report jedoch behauptet:
„Am 7. September flog er von Fort Lauderdale nach Baltimore, … Am 9. September flog er von Baltimore nach Boston. Dort trafen zu diesem Zeitpunkt Marwan al Shehhi und sein Team für Flug 175 ein. Atta wurde mit Al Shehhi in seinem Hotel gesehen.“

Wenn Atta am 7. September stundenlang in einer Bar in Florida zubrachte und am 9. September dort auch noch ein Mietauto zurückgab – wie kann er gleichzeitig am 7. im Flugzeug nach Baltimore und am 9. auf dem Weg nach Boston sein? Wenn wir davon ausgehen, dass der wahabitische Wodkaliebhaber Atta nicht über die Gabe der Bilokation verfügt, bleibt eigentlich nur die Möglichkeit eines Doppelgängers, wie wir sie anhand weiterer Widersprüchlichkeiten von Zeugenaussagen über den „Terrorchef“ in unserem letzten Buch „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ erörtert haben. Jene „zwei Attas“, von denen der eine als verkniffener fundamentalistischer Islamist posiert, der nie einer Frau die Hand reichen würde – und der andere mit dem Strip-Girl Amanda Keller zusammenlebte, Wodka trank und gern Schweinskoteletts aß … Während Atta 1 sich auf Selbstmordmission befindet und als Beweis für seinen Fanatismus sein Testament am Flughafen hinterlässt, eröffnet Atta 2 am 25. August 2001 laut „Boston Globe“ ein „Frequent Flyer“-Konto zum Meilensammeln …

Die Merkwürdigkeiten sind offensichtlich. Wie aber kommt es, dass nach drei Jahren, der angeblich größten FBI-Fahndung aller Zeiten und 20 Monaten Untersuchung durch diverse Regierungskommissionen, diese Widersprüche und Ungereimtheiten nicht aufgeklärt sind? Fragen wie diese sind keine Kleinigkeiten, schließlich handelt es sich hier um den vermeintlichen Haupttäter eines Massenmords; und die wenigen Journalisten, die sie stellen, sind weder böswillig noch verrückt. Sie stellen nur die Fragen, die jeder Ermittler, jeder Kriminalist und natürlich jeder Untersuchungsauschuss stellen müsste, dem es wirklich um Aufklärung des Falles geht. Doch darum geht es der US-Regierung und ihren Kommissionen ganz offensichtlich nicht.

Stephen Brill beschreibt in seinem Report „After: The Rebuilding and Defending of America“ (New York 2003, S. 37) folgende denkwürdige Szene am 12. September 2001:

Als FBI-Chef Robert Mueller Bush versicherte, alles werde getan, um die an den Anschlägen Beteiligten zur Strecke zu bringen, bürstete Bush ihn ab: »Unsere Prioritäten haben sich geändert«, sagte er. »Wir müssen uns darauf konzentrieren, den nächsten Angriff zu verhindern, statt uns darüber Sorgen zu machen, wer diesen verursacht hat.«

Am 12. September also – die Trümmer der Twin Towers rauchten noch – wurde der Beschluss gefasst, die Fahndung nach den Tätern und Hintermännern des Massenmords einzustellen, weil sich die „Prioritäten“ geändert hatten – in Richtung Irak. Der Nachrichtensender CBS meldete im April 2002:

|»Wie CBS erfahren hat, sagte Verteidigungsminister Rumsfeld am 11. September, kaum fünf Stunden nach dem Einschlag der Maschine ins Pentagon, seinen Mitarbeitern, die Pläne für einen Angriff auf Irak hervorzuholen, auch wenn es keinen Beweis für eine Verbindung Saddam Husseins mit den Anschlägen gibt.«|
http://www.cbsnews.com/stories/2002/09/04/september11/main520830.shtml

Dieser Intention wurde vom ersten Tag an also alles untergeordnet – die Terroranschläge wurden nicht aufgeklärt, sondern für die Propagandazwecke dienstbar gemacht.

Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz bekundete nach der Tat:

|»Diese Operation war zu ausgeklügelt und zu kompliziert, als dass sie von einer Terroristengruppe allein hätte durchgeführt werden können …«|,

– und hier geben wir ihm völlig Recht. Die Lüge, die Wolfowitz dieser wahren Feststellung dann hinzufügte:

|»… ohne einen staatlichen Geldgeber. Der Irak musste ihnen geholfen haben«| (Zit. n. Clarke, Richard A.: Against all Enemies, S. 30)

– diese Lüge aber ist mittlerweile als solche entlarvt. Es bleibt also nur noch die Kleinigkeit zu klären, wer diese staatlichen Planer, Hintermänner und Geldgeber waren.

Das letzte Beispiel zeigt, wie Mythen – in diesem Fall die Verschwörungstheorie einer Verwicklung des Irak in die Taten des 11.9. – geschaffen und konstruiert werden. Ein rationaler, einleuchtender Kern – dass die Luftverteidigung einer Supermilitärmacht nicht allein von einem Dutzend Studenten mit Teppich-Messern zwei Stunden lang ausgeschaltet werden kann, scheint logisch – dieser logische Kern wird mit einer von Fakten völlig ungedeckten Behauptung – „der Irak steckt dahinter!“ – zusammengepackt – und fertig ist Verschwörungs-Legende. Um zum Mythos zu werden – laut Definition (|Encyclopaedia Britannica|) „eine Geschichte, die durch viele Nacherzählungen zur akzeptierten Tradition einer Gesellschaft wird“ – bedarf es jetzt nur noch der vielfältigen, dauerhaften Nacherzählung und im Medienzeitalter ist bekanntlich nichts leichter als das. Die multimediale Wiederholungsschleife der Nacherzählung hat nicht nur den in der PR-Branche „Penetration“ genannten Effekt der massenhaften Verbreitung und Memorierung in der Bevölkerung, sie sorgt auch für ein weiteres Charakteristikum des Mythos, nämlich seine Urheberlosigkeit. Der Ursprung, der Autor, der Erfinder der Geschichte werden im Zuge der permanenten Nacherzählung verwischt und der allgemeinen Überlieferung zugeschrieben. Praktischerweise ist dann später – wenn sich die Unwahrheit des Mythos herausstellen sollte – auch niemand konkret verantwortlich und haftbar zu machen.

Fakten sind sozusagen der natürliche Gegner von Mythen – wo alle Unklarheiten mit eindeutigen Tatsachen dokumentiert sind, ist kein Platz mehr für die nebulöse Unschärfe des Mythos. Um nützliche Mythen aufrecht zu erhalten, müssen Fakten deshalb ferngehalten oder manipuliert werden. Eine Paradebeispiel dafür lieferten die „aufgesexten“ Dossiers, mit denen Englands Premier Blair uralte Erkenntnisse über den Irak zur akuten 45-Minuten-Bedrohung durch ABC-Waffen hochstilisierte – die von den UN-Inspektoren ermittelten aktuellen Tatsachen einer weitgehend abgewrackten irakischen Armee mussten dafür ausgeblendet werden.

Bevor US-Soldaten nach dem Einmarsch in Bagdad die Saddam-Statue stürzten, schmückten sie diese mit einem |Stars & Stripes|-Banner – es war die Fahne, die am 11.9. über dem Pentagon geweht hat. Der symbolische Akt, mit dem die GIs demonstrierten, in welchem Glauben man sie in den Irak geschickt hatte, zeigt einmal mehr, wie Mythen instrumentalisiert und inszeniert werden. Und wie wichtig es in diesem Zusammenhang war, die Täter des 11.9. nicht zu ermitteln, sondern im Status des mythisch Nebulösen zu belassen. Diese Operation ist den „Spin Doktoren“, den PR-, Propaganda- und Stimmungsmachern des Weißen Hauses, hervorragend gelungen – unter dem Namen „Al Quaida“ wurde ein Allzweckteufel und Universaldämon geschaffen, der zwar nicht konkret fassbar, aber als potenzielle Bedrohung überall einsetzbar ist.

Dass es keine terroristische Organisation dieses Namens gibt, dass „ana raicha al quaida“ im umgangssprachlichen Arabisch „Ich muss mal aufs Klo“ bedeutet – und höchstens eine Komikertruppe so einen Namen wählen würde –, dass ihr vermeintlicher Chef Osama Bin Laden in mehreren Interviews nach den Anschlägen jede Beteiligung daran zurückwies, dass es sich bei den geständigen Kronzeugen und angeblichen Masterminds des 11.9. – Binalshib & Khalid Scheich Mohamed – um zwei Phantome handelt, die kein Richter, kein Staatsanwalt und keine Untersuchungskommission je befragen konnte oder zu Gesicht bekam; dass die 9/11-Kommission nach knapp drei Jahren bekennen muss, die Finanzierung (sprich: die Planer & Hintermänner der Terroristen) sei weiterhin „unklar“… – all dies zeigt – und es ließen sich noch mindestens zwei Dutzend weitere Anomalien und Merkwürdigkeiten aufführen –, dass die Ergebnisse der angeblich größten Fahndung aller Zeiten nahezu gleich Null sind. Und die Legende der Alleintäterschaft von Osama & der Wilden Neunzehn tatsächlich nichts anderes ist als ein Mythos.

Nicht mehr habe ich in der Kolumne bei „telepolis“ und in den Büchern immer wieder behauptet – aber auch nicht weniger – und wurde vermutlich eben deshalb so vom Zorn der Großmedien getroffen, die ihrem Publikum – zwischen der Werbung – eben diesen Mythos bis heute als Realität verkaufen. Allen voran der |SPIEGEL|, der letzte Woche „Die dunkle Welt der Folter“ auf dem Titel hatte und es an Entrüstung nicht fehlen ließ, war sich vor einem Jahr nicht zu schade, aufgrund von Aussagen, die wahrscheinlich unter Folter erpresst wurden, einen reißerischen Aufmacher zu produzieren: „Das Geständnis“. Darin wurde behauptet, zu den offenen Fragen und der Vorgeschichte des Verbrechens des 11.9 könnte nun „ein genaues Bild“ gezeichnet werden. Dass es sich dabei um alles andere als um ein genaues Bild, sondern um eine unüberprüfbare Legende handelte, wurde bei den Gerichtsverhandlungen gegen die Hamburger Wohngenossen Mohamed Attas in Hamburg deutlich. Dass bis heute niemand für die Verbrechen verurteilt wurde, hat einen einfachen Grund: Es gibt keine Beweise.

Richard Clarke schreibt in seinem Buch „Against all Enemies“:

|“Verschwörungstheoretiker hängen gleichzeitig zwei einander widersprechenden Überzeugungen an. A) dass die US-Regierung so inkompetent ist, dass sie Erklärungen übersieht, die von Theoretikern enthüllt werden können, und b) dass die US-Regierung ein großes, saftiges Geheimnis für sich behalten kann. Die erste Überzeugung hat eine gewisse Berechtigung. Die zweite Vorstellung ist reine Fantasie.“|

Hätte der einstige „Antiterrorzar“ der Vereinigten Staaten mit Letzterem Recht, könnten Staaten so gut wie gar nichts geheim halten, was natürlich Unsinn ist. Als Mann vom Fach weiß Clarke natürlich auch genau, dass er hier Unsinn redet, aber eben solchen, der seinen Zweck erfüllt: nämlich „Verschwörungstheorien“ als „Phantasie“ erscheinen zu lassen. Als gäbe es keine verdeckten Operationen, als hätte eine US-Regierung noch nie zu solchen „black ops“ gegriffen, um ihre Interessen im In- und Ausland durchzusetzen, als hätten Ereignisse wie die „Schweinebucht“, „Watergate“ oder „Iran-Contra“ nie stattgefunden. Das „Manhattan Project“ – die Entwicklung der Atombombe in den 40er Jahren – blieb zum Beispiel ebenso über Jahre „top secret“, wie die Entwicklung des „Stealth“-Bombers in den 80ern – beides Großprojekte, an den Hunderte von Mitarbeitern beteiligt waren. Es gibt also sehr wohl klandestine Operationen – „saftige Geheimnisse“ in Clarkes Worten – die erfolgreich geheim gehalten werden können.

Dass Richard Clarke als einziger leitender Beamter der Bush-Regierung die Courage hatte, sich bei der Bevölkerung für sein Versagen zu entschuldigen, zeichnet ihn aus; angesichts der Augenwischerei, mit der er uns hier die Unmöglichkeit geheimer Regierungspolitik präsentiert, verstärken sich freilich die Bedenken, dass auch sein „mea culpa“ vor dem 9/11-Untersuchungsausschuss eine wohlkalkulierte Inszenierung im Rahmen ihrer „Operation Whitewash“ war. Zumal Clarke einige wichtige Bausteine für die „Pleiten, Pech und Pannen“-Theorie lieferte, allen voran das schöne Bonmot des FBI, als es ihm die Namen der „Hijacker“ mitteilte: „Die CIA hat vergessen, uns von ihnen zu erzählen“. So was kommt natürlich vor, genauso wie Klatsch und Tratsch im Weißen Haus – Gedächtnisaussetzer, menschliche Schwächen, Behördenschlamperei, „not connecting the dots“ – aber Verschwörungen, die gibt es nicht … Es gibt nur „Verschwörungstheorien“ und die sind reine Phantasie …

Zum Parteitag der Republikaner in New York vergangene Woche wurde eine repräsentative Umfrage über den 11.9. unter den Bewohnern von New York City durchgeführt. Danach ist die Hälfte der Bürger von New York, 49,3 Prozent,(Zogby Poll) mittlerweile der Meinung, dass die Regierung von den Anschlägen vorher informiert war und sie aus Opportunitätsgründen geschehen ließ. Ähnliche Umfrageergebnisse sorgten vor einem Jahr in Deutschland für große Aufregung – sie wurden mit dem „Anti-Amerikanismus“ erklärt und einer handvoll Autoren – darunter Andreas v. Bülow, Gerhard Wisniewski und mir – in die Schuhe geschoben, die die Vorurteile der Bevölkerung mit verantwortungslosen Verschwörungstheorien fütterten. Dass dies völliger Humbug ist, zeigt das aktuelle Meinungsbild der direkt Betroffenen aus New York, denen man schwerlich Anti-Amerikanismus vorwerfen kann. Und auch nicht, dass sie von einem Dutzend skeptischer Websites und Alternativblätter manipuliert worden sind. Nein – diese Ergebnisse zeigen schlicht und einfach, dass die offizielle Version unglaubwürdig ist – und die dafür vorgebrachten Beweise in keiner Weise überzeugend. Die Schlüsse, die daraus zu ziehen wären, sind ebenso schlicht und einfach: Weitere Ermittlungen sind notwendig, sei es in Form von Gerichtsverfahren – eine Witwe des 11.9. , Ellen Mariani, hat die US-Regierung wegen Mitwisserschaft und Vertuschung des Verbrechens verklagt –, sei es in Form wirklich unabhängiger Untersuchungskommissionen oder eines internationalen Tribunals.

Zum Abschluss will ich die meines Erachtens wichtigsten Punkte und Themenfelder nennen, die weiterer Ermittlungen bedürfen:

Die wirkliche Identität der 19 Hijacker, die nach wie vor ungeklärt ist – die Original-Passagierlisten der vier Todesflüge, die die Namen der jeweiligen Entführer enthalten müssten, sind bis heute unveröffentlicht.

Die Zeugen in Venice, wo sie sich monatelang aufhielten und zahlreiche Kontakte unterhielten. Atta traf sich regelmäßig mit einer Gruppe deutscher „brothers“, wie er sie nannte, lebte sechs Wochen mit einem Dessous-Modell zusammen und legte auch ansonsten ziemlich unislamisches Verhalten an den Tag.

Das Umfeld der Flugschulen in Venice, Florida, wo die Hijacker trainierten. Sie weisen alle Anzeichen von CIA-Tarnfirmen auf – und gehörten nicht dem Holländer Rudi Dekkers, sondern einem dubiosen Finanzier, Wally Hilliard. In derselben Woche, in der sich Atta bei Hufman Aviation anmeldete, wurde eine seiner Maschinen mit 40 Pfund Heroin an Bord beschlagnahmt.

Die Hintergründe, warum die Fahndung nach den verdächtigen Flugschülern durch die FBI-Zentrale blockiert wurde und die z. T. seit Jahren wegen Terrorverdachts auf verschiedenen „watch lists“ stehenden Flugschüler sich in den USA so frei bewegen konnten.

Die Aussagen der ehemaligen FBI-Übersetzerin Sibel Edmonds, die nach dem 11.9. auf Abhörprotokolle aus den Wochen davor stieß, aus denen sich ein Zusammenhang der Anschläge mit einer groß angelegten Waffen-, Drogenschmuggel und Geldwäsche-Operation ergab. Ihr wurde von Justizminister Ashcroft ein Aussageverbot erteilt, mit der Begründung, dass die „nationale Sicherheit“ und die „Interessen eine befreundeten Nation“ davon betroffen seien.

Die Vorwarnungen, die dazu führten, dass prominente Politiker wie Justizminister Ashroft oder auch San Franciscos Bürgermeister Willie Brown vor und am 11.9. keine Linienmaschinen mehr benutzten.

Die „wargames“, die am Morgen des 11.9. stattfanden und bei denen die Entführung von Zivilflugzeugen simuliert wurden. Nur eines dieser Manöver taucht im Abschlussbericht der Kommission einmal in einer Fußnote auf. Auch in den Monaten zuvor waren ähnliche Manöver durchgeführt worden, unter anderem das Szenario einer ins Pentagon einschlagenden Maschine.

Der Zusammenhang dieser Wargames mit dem völligen Ausbleiben der Luftabwehr am Morgen des 11.9. – sowie mit der Aussage von Condy Rice, dass man sich Flugzeuge als Bomben einfach nicht vorstellen konnte.

Die Nichterreichbarkeit von Verteidigungsminister Rumsfeld, der nach den Einschlägen in New York laut Abschlussbericht fast eine Stunde lang im Pentagon unauffindbar war – sowie die des obersten Militärs Richard Myers, der im Kongressgebäude über seine Beförderung sprach und erst nach dem Crash der vierten Maschine auftauchte.

Die Untersuchung der gesamten technischen Ungereimtheiten – von den zahlreichen Handyanrufen aus großer Flughöhe, die sendetechnisch nur schwer möglich sind, über die Pulverisierung des gesamten riesigen Boeing-Jets im Pentagon, bei dem dann zwar keine größeren Flugzeugteile, aber angeblich noch alle Passagiere identifizierbar waren, bis hin zu dem gegenüber den Twin Towers liegenden Hochhaus „WTC 7“, das völlig unerklärlich und ohne „Feindeinwirkung“ am Nachmittag des 11. 9. zusammenstürzte.

Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen – ich will es bei diesen offenen Fragen bewenden lassen. Sie zeigen deutlich genug, dass von einer Aufklärung der Verbrechen des 11. 9. bis heute nicht die Rede sein kann, ja, nicht einmal von einer ordentlichen polizeilichen Ermittlung. Die Gründe für diese Nicht-Ermittlung haben wir oben genannt: Am 12. 9. hatte die US-Regierung ihre „Prioritäten“ geändert, am Vorabend soll Bush notiert haben „wir haben heute das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts erlebt“. Von dem Pearl Harbor des letzten Jahrhunderts wissen wir mittlerweile, nachdem die Archive die 50 Jahre lang geheim gehaltenen Unterlagen u. a. über den decodierten japanischen Funkverkehr freigegeben haben, dass die US-Regierung damals über den bevorstehenden Angriff genau informiert war, ihn aber geschehen ließ, um die kriegsunwillige Bevölkerung zum Kriegseintritt zu motivieren. In der historischen Rückschau können wir für diesen schmutzigen Trick gerade als Deutsche nur dankbar sein; ohne Roosevelts Opfer von knapp 3.000 Landsleuten in Pearl Harbor wäre die Befreiung Deutschlands vom Faschismus nicht gelungen. Werden die Historiker der Zukunft – wenn in 50 oder 70 oder 100 Jahren alle unter dem Zauberwort „national security“ verbannten Dokumente eine Aufklärung des Verbrechens ermöglich – dem „Kriegspräsidenten“ Bush ein ähnliches Zeugnis ausstellen?

Ich fürchte nein – auch wenn er mit den Osamas und Saddams stets neue Hitlers als Weltbedrohung aus dem Hut zaubert, und vielleicht demnächst noch ein besonders fettes Kaninchen, termingerecht zur Wiederwahl. Der Mythos, dass 9/11 aus einer afghanischen Höhle organisiert und als Überraschungsangriff ausgeführt wurde – dass also der Schrecken von überall und potenziell jedem droht – ist unabdingbar für die Strategie präventiver imperialer Kriege – und so lange diese in Washington das Maß aller Dinge ist, fürchte ich, werden wir mit der Fiktion, dem Mythos, der Verschwörungstheorie von Osama und der Wilden Neunzehn leben müssen.

[Mathias Bröckers]http://www.broeckers.com
|Vortrag an der Evangelischen Akademie, Bonn-Bad Godesberg, am 7. September 2004|

Mathias Bröckers ist u. a. Autor von „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ sowie „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ (zusammen mit Andreas Hauß & Daniel Hopsicker), erschienen bei |zweitausendeins|. Er veröffentlichte zudem zahlreiche Artikel im kritischen Magazin |[Telepolis.]http://www.heise.de/tp |
Siehe auch unsere [Rezension 103 zu „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“

Interview mit Michael Marrak

Michael Marrak, Jahrgang 1965, lebt seit Anfang 2001 in Hildesheim bei Hannover und arbeitet freiberuflich als Schriftsteller und Illustrator. Seine erste Erzählung wurde 1990 veröffentlicht, seither erschienen zahlreiche Erzählungen und Illustrationen in Magazinen und Anthologien. 1997 debütierte er mit seinem ersten Roman „Die Stadt der Klage“. Ende 2000 erschien schließlich der Roman „Lord Gamma“, mit dem er ein Jahr später den Kurd-Laßwitz-Preis und den Deutschen Phantastikpreis für den besten deutschen SF-Roman des Jahres gewann. In „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ erschien 2002 der Roman „Imagon“, der ebenfalls den Kurd-Laßwitz-Preis für den besten Roman erhielt. Bei Bastei-Lübbe wurde „Imagon“ in diesem Jahr als Taschenbuch veröffentlicht.
Das Gespräch wurde Ende Mai geführt. Weitere Informationen zum Autor finden sich im Internet auf http://www.marrak.de.

Buchwurm.info:
In den letzten Jahren gab es zwei sehr erfolgreiche Romane von dir. Im Rückblick auf „Lord Gamma“ und „Imagon“: Hättest du den großen Erfolg der beiden Romane erwartet?

Michael Marrak:
Was „Lord Gamma“ betrifft: Nein. Ich hatte lediglich gehofft, dass sich deutlich mehr Leute für das Buch interessieren würden als die wenigen hundert Stammleser, die ich damals (in meiner Kleinverlagszeit) noch hatte. Die „Lord Gamma“-Originalauflage im Shayol-Verlag betrug gerade mal 300 Exemplare. Davon, dass der Roman zwei Jahre später als Buchtipp des Monats bei Lübbe veröffentlicht werden würde, träumte ich zu dieser Zeit noch nicht einmal. Im Mai 2002 erschien „Lord Gamma“ schließlich in fünfstelliger Auflage als Lübbe-Taschenbuch, und bereits im Startmonat verkauften sich knapp 4000 Exemplare. Erst da dachte ich: Oha, das könnte interessant werden …

Allerdings wehre ich mich gegen den Trugschluss, „Imagon“ und „Lord Gamma“ seien Erfolgsbücher, nur, weil ich für sie einige Preise erhalten habe. Erfolg hat nichts mit einem (zumal undotierten) SF-Literaturpreis zu tun. Erfolg rechnet sich in meiner jetzigen Situation als freier Schriftsteller einzig und allein durch Absatzzahlen und darüber, ob ein Buch für den Verlag rentabel ist oder der Autor schlicht und einfach seine Vorschüsse nicht einspielen kann, weil sich seine Bücher nicht verkaufen.

Das Schlimmste, was mir als Autor bei einem großen Verlag wie Lübbe passieren könnte, wäre, dass ich bei den Buchhaltern den Makel eines Autors bekomme, der seine Garantiesumme nicht wert ist. Seine Vorschüsse einzuspielen ist wichtiger als jeder eventuelle Preisgewinn eines Kurd Laßwitz oder was auch immer. Zumal sich die deutschen SF- und Phantastikpreise definitiv noch nie groß auf die Verkäufe ausgewirkt haben. Also bitte einem Buch nicht sofort einen Erfolgsstempel aufdrücken, nur weil „Literaturpreis“ draufsteht.

Buchwurm.info:
Was dachtest du, als „Lord Gamma“ rechtzeitig zum Kurd-Laßwitz-Preis nicht mehr lieferbar war?

Michael Marrak:
Ich habe mich geärgert. Bei der Preisverleihung in Dresden gab es das Novum, dass ein Phantomroman ausgezeichnet wurde: Die Originalauflage war vergriffen, die Neuauflage noch nicht erschienen. Zwar war damals bereits das Taschenbuch bei Lübbe geplant, aber bis zur Wiederveröffentlichung war es noch fast ein Jahr hin. Ich fürchtete, dass sich bis dahin kaum noch jemand an das Buch erinnern würde. Glücklicherweise war das am Ende nicht der Fall. Das Buch kletterte z. B. bei Amazon.de innerhalb weniger Tage bis auf Verkaufsrang 4. Ich war völlig baff, fand mein Buch plötzlich in Konkurrenz zu Romanen von Henning Mankell, Tom Clancy, Ken Follett und dem Dalai Lama. Das dauerte zwar nur zwei oder drei Wochen, begeisterte mich aber dermaßen, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes zum Ranking-Surfer mutierte …

Buchwurm.info:
„Abydos“ ist der Arbeitstitel deines kommenden Romans. In welche Richtung wird es diesmal gehen, nach den zwei sehr unterschiedlichen Vorgängern? „Lord Gamma“ ist erstklassige Science-Fiction, „Imagon“ eine Mischung aus SF und Wissenschaftsthriller, wobei man ihm eine deutliche Horror-Komponente nicht absprechen kann – Was kommt als Nächstes?

Michael Marrak:
Ein recht umfangreicher, phantastischer Roman, den ich aus dem Stehgreif nur sehr schwer definieren kann. Es ist ein Synergy-Projekt – ein Crossover aus SF, Phantastik, Horror und Wissenschafts-Thriller mit einem deftigen Schuss Religion und altägyptischen Mythen. Ich tue mich mit dem Einordnen des Stoffes ein wenig schwer, doch man könnte ihn vielleicht als eine Mischung aus Ian McDonalds „Necroville“, Farmers „Flusswelt der Zeit“ und einer sehr modernen Version von Dantes „Göttlicher Komödie“ beschreiben – falls irgendjemand Wert auf derartige Vergleiche legt. „Abydos“ ist nicht ganz so hysterisch wie „Lord Gamma“, aber auch nicht mehr so kalt und bedrückend wie „Imagon“. Es wird – schon allein aufgrund des Handlungsumfeldes – ein sehr zynischer Roman mit einer gesunden Portion an schwarzem Humor … und knietief Blut … 😉

Buchwurm.info:
Abydos ist eine heilige Stadt in Ägypten, ihr wichtigstes Gebäude ist der Sethos-Tempel. Laut Legende hatte in Abydos die Auferstehung des Gottes Osiris stattgefunden, dessen Kopf hier begraben wurde. Ist „Abydos“ vielleicht doch nicht nur Arbeitstitel?

Michael Marrak:
Doch, im Grunde schon. Die Stadt wird lediglich hin und wieder unter ihrem alten ägyptischen Namen Abdju erwähnt (Abydos ist der Name, den die Griechen der Stadt gaben – wie auch der Großteil aller uns bekannten ägyptischen Namen und Begriffe erst von den Griechen geprägt wurde). Die antike Tempelstadt Abydos ist die einstige Heimat einer meiner Hauptfiguren und kommt u. a. in einer Rückblende vor, besitzt im Roman jedoch keine tragende Rolle. Der tatsächliche Romantitel erinnert mehr an eines der fünf Bücher Moses …

Buchwurm.info:
Die Erwartungen der Leser (und Redaktionen) bezüglich „Abydos“ sind durch deine bisherige Leistung sicher enorm. Belastet dich diese Erwartungshaltung?

Michael Marrak:
Nein, eigentlich nicht. Ich ziehe, wie es so schön heißt, mein Ding durch. Die einzige Belastung, die enorm ist, ist mein weiterhin schmerzendes Handgelenk. Leider hat die Operation vor anderthalb Jahren nicht die erhoffte Verbesserung gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Buchwurm.info:
Ja, davon habe ich gehört. Du musstest die Arbeit an „Abydos“ zeitweise einstellen. Ich wünsche dir alles Gute für die Genesung! War es schwer, nicht schreiben zu können, oder hast du die Pause auch genossen?

Michael Marrak:
Genossen? Ich bin schier verrückt geworden! Die größte Pause gab es jedoch während der Arbeit an „Imagon“. Damals erwischte es mich mitten im Roman. Bei „Abydos“ konnte ich lediglich nicht mit dem Schreiben beginnen, was jedoch nicht weniger quälend war.

Das eigentliche Problem war, dass ich durch die lange Pause von fast einem Jahr irgendwann völlig den Faden verloren hatte und nicht mehr wusste, welches Projekt ich nun als nächstes anfangen bzw. zuende bringen sollte. Zu viel nutzlose Zeit bedeutet zwangsläufig, dass sich zu viele Ideen anstauen. Ich verlor das ursprüngliche Ziel aus den Augen, konnte mich monatelang nicht entscheiden, was ich als nächstes schreiben werde. Für eines der drei in Frage kommenden Romanprojekte fühlte ich mich noch nicht reif und vorbereitet genug, daher beschloss ich, zuerst noch ein Buch dazwischenzuschieben. Ich schrieb schließlich an einem Roman weiter, von dem ich überzeugt war, dass er der richtige sei und Lübbe gefallen werde. Tat er aber nicht, was sehr, sehr ärgerlich war. Stattdessen interessierte mein Lektor sich für ein Projekt, an dem ich nebenher arbeitete, sozusagen for my private satisfaction, ohne das Ziel, dieses Buch Lübbe anzubieten. Und falls doch, dann erst, wenn ich es mir vom Erfolg her leisten konnte, dem Verlag so etwas Abgedrehtes vorzulegen, ohne dafür gekreuzigt zu werden. Ich schrieb diesen Roman für mich, weil ich Spaß daran hatte, keinem Exposé oder Konzept folgen zu müssen, sondern mich von der Entwicklung der Handlung überraschen zu lassen. Und ausgerechnet dafür interessierte sich mein Lektor, weil er nach „Imagon“ gerne noch ein Buch bringen wollte, das eindeutiger in die SF-Reihe passt als das abgelehnte. Nun gut, dachte ich, kein Problem, soll mir recht sein. Also schickte ich ihm die ersten einhundert Seiten … Und was soll ich sagen? Das Ding gefiel ihm!

Ich erwarte von „Abydos“ nicht, dass es ein kommerzieller Erfolg wird, dazu ist der Roman zu schräg und zu … wie soll ich sagen? Grotesk? Absonderlich? Unkonventionell? Abgedreht? Gewisse Leute, die nach wie vor glauben, ich schreibe meine Bücher nur unter Drogen, werden sich durch diesen Roman zweifellos bestätigt fühlen. „Abydos“ ist Wasser auf ihre Mühlen.

Buchwurm.info:
Bei „Imagon“ stammt auch das Titelbild von dir – meiner Meinung nach übrigens sehr gelungen. Wirst du auch dein neues Buch selbst illustrieren?

Michael Marrak:
Das kann ich noch nicht sagen. Eventuell, falls mir etwas Passendes einfällt und gelingen mag. Allerdings habe ich vor einigen Wochen auch ein Wunschtitelbild an den Verlag geschickt, jedoch noch keine Reaktion darauf erhalten. Es ist von einem amerikanischen Illustrator und würde zu „Abydos“ passen wie kaum ein zweites. Mal sehen. Ich bleibe am Ball.

Buchwurm.info:
Was machst du, wenn du gerade mal keinen Bestseller schreibst?

Michael Marrak:
Korrektur: „Imagon“ ist (bisher) kein Bestseller, und ich denke, er wird sich im Gegensatz zu „Lord Gamma“ auch im eher begrenzten Rahmen dessen verkaufen, was von SF normalerweise umgesetzt wird. Ich kann mich natürlich irren und lasse mich gerne überraschen. Aber mal ehrlich: Die einzige „Bestsellerliste“, in die „Lord Gamma“ damals geklettert war, war die von Amazon.de. Für einen als SF ausgewiesenen Roman hat er sich wirklich außerordentlich gut verkauft, was nicht wenige überrascht hat. Ob „Imagon“ einen ähnlich erfolgreichen Weg einschlagen wird, bleibt abzuwarten. Das Lübbe-Taschenbuch ist ja erst seit kurzem erhältlich.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich bin ein klassischer Elfenbeinturm-Bewohner. Ein Stubenhocker, der sehr viel (und sehr intensiv) Musik hört, leider viel zu wenig Unterhaltungsliteratur liest und seit kurzem wieder als Illustrator arbeitet, um einen Ausgleich zum recht anstrengenden Schreiben zu haben. Falls ich lese (was ich eigentlich jeden Tag tue), dann zumeist der Recherche wegen, also Sachbücher, themenspezifische Internetartikel oder Magazine wie National Geographic (im Abo), PM, Sterne und Weltraum oder Kemet, ein Magazin zur Ägyptologie. Daneben bin ich leidenschaftlicher Filmegucker, und unser DVD-Player ist neben meinem Schreibrechner und der Stereoanlage wohl das am meisten ausgelastete technische Gerät im Haus.

Buchwurm.info:
Noch eine unvermeidliche Frage: Wie sieht dein täglicher Rhythmus aus? Oder hast du keinen?

Michael Marrak:
Ich habe keinen. Ich bin ein Chaot. Ich prügele mich 365 Tage im Jahr mit meinem inneren Schweinehund, finde täglich ebenso viele Ausreden, um mich vor dem Schreiben zu drücken, stehe mal morgens um fünf, mal mittags um zwei oder mal abends um acht auf, arbeite nur dann, wenn ich wirklich einen klaren Kopf habe und mich konzentrieren kann, und dann in der Regel in Exzessen, um anschließend wieder eine Schaffenspause einzulegen … Oder besser gesagt: in ein Schaffensloch zu fallen. Bis zum nächsten Schreibanfall. Dazwischen liegt ebenso viel Hysterie wie Depression, Euphorie, Trägheit und die Tatsache, dass wegen des schmerzenden Handgelenks (Karpaltunnelsyndrom) oft kein geregeltes Arbeiten möglich ist.

Buchwurm.info:
Im Juni soll die Primärarbeit an „Abydos“ beendet sein. Was kommt danach, und warum erscheint der Roman erst im Frühjahr 2005?

Michael Marrak:
Ich denke, nach „Abydos“ werde ich erst mal einen kurzen Jugendroman vollenden, auf den der Thienemann-Verlag bereits geduldig wartet. Die mir angebotene Chance, in diesem Genre Fuß zu fassen, möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Gleichzeitig werde ich elf oder zwölf meiner Erzählungen für eine Storysammlung, die Anfang/Mitte 2005 im Festa-Verlag erscheinen soll, zusammenstellen und überarbeiten. Bis zum Jahresende möchte ich mit beiden Projekten fertig sein, um mich danach jenem Roman zu widmen, mit dem ich bei Lübbe in die Allgemeine Reihe wechseln werde (das ist kein Wunschdenken, sondern bereits unter Dach und Fach). Ich arbeite sozusagen auf den nächsten Quantensprung hin. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik.

Der Grund, warum „Abydos“ erst in einem Jahr erscheint, liegt in der langen Vorlaufzeit des Verlags. Lektorat, Überarbeitung, Satz, Druck der Vorabexemplare für die Verlagsvertreter und die Medien, Werbung, Prospektpräsenz, etc. Das geht alles nicht so ratz-fatz wie in Kleinverlagen, in denen man das Manuskript abgibt und das Buch manchmal schon vier Wochen später gedruckt vorliegt. „Abydos“ ist ja nicht das einzige Buch, das im Mai 2005 bei Lübbe rauskommt. Es geht hier um die Koordination zahlloser Neuerscheinungen, und das meist über Jahre im Voraus.

Buchwurm.info:
Laut Homepage hast du Verträge bis einschließlich 2006. Darunter fallen die beiden (Tarn-)Titel „Abydos“ und „Gaia“. Wie lange braucht es durchschnittlich zur Veröffentlichung eines Romans?

Michael Marrak:
Ich kann bei dieser Frage nur von meiner eigenen Arbeit ausgehen und nicht für andere Autoren sprechen, die weitaus zügiger und beständiger arbeiten können. Ich schreibe wegen der Sache mit der Hand verhältnismäßig langsam, oder besser gesagt: in kleineren Häppchen. Der Vorteil: Ich kann mir für ein Buch mehr Zeit lassen. Der Nachteil: Ich brauche für einen Roman doppelt so lange wie Autoren, die einem geregelten Tagesrhythmus folgen und sechs bis acht Stunden am Tag schreiben können (wie ich sie darum beneide!). Der Vorteil des Nachteils: Ich werde niemals als Vielschreiber verschrieen sein, dessen Qualität auf Kosten der Quantität leidet. Das hat auch was. Ich möchte auch in zehn oder zwanzig Jahren noch zu meinen Büchern stehen können und nicht verschämt sagen müssen: „Das ist scheiße, aber ich hab das damals auch nur runtergehauen …“

Für einen Roman brauche ich in der Regel anderthalb Jahre. Eher zwei, da ich meist nicht allein an einem einzigen Projekt arbeite und in dieser Zeit noch die eine oder andere Erzählung schreibe. Nach Ablieferung des Manuskripts dauert es noch mal neun bis zwölf Monate, bis das Buch erscheint.

Buchwurm.info:
Ist „Gaia“ die momentan künftigste Planung (und worum handelt es sich dabei)?

Michael Marrak:
Was nach „Gaia“ kommt, weiß ich tatsächlich nicht. Und bevor du fragst: Dieser Arbeitstitel ist ebenso irreführend wie „Abydos“, umreißt aber grob das Spielfeld. „Gaia“ wird mehr oder minder ein SF-Roman werden, bei dem der SF-Aspekt jedoch sehr verhalten behandelt wird. Das vermeintlich Phantastische wird in ihm größtenteils auf Realität und tatsächlichen Gegebenheiten basieren. Er wird auf drei Kontinenten spielen, und das sowohl im 13. als auch im 21. Jahrhundert. Mehr möchte ich dazu noch nicht verraten. „Gaia“ wird jedenfalls keinem meiner bisherigen Romane ähneln.

Der Roman wird frühestens Ende 2006 erscheinen, eher noch Anfang 2007, da ich wie erwähnt ein Jugendbuch dazwischenschieben will und zudem im September dieses Jahres für drei Monate nach Wien gehe. Das Kunst-Stipendium habe ich zugunsten von „Abydos“ bereits um ein halbes Jahr verschoben, und in den drei Monaten im Wiener Museumsquartier möchte ich mich mehr der bildhaften Kunst widmen als dem Schreiben.

Buchwurm.info:
Was machst du heute abend?

Michael Marrak:
Ich versuche endlich zu schlafen. Letzte Nacht hat’s nicht geklappt, da ich am Abend zuvor zweieinhalb Liter Cola getrunken hatte. Jetzt bin ich seit über dreißig Stunden wach und pfeife aus dem letzten Loch. Schon blöd, wenn man „light“ und „koffeinfrei“ miteinander verwechselt … Na ja, wahrscheinlich schreibe ich noch einen „Panorama“-Eintrag und guck später noch „Underworld“ als Betthupferl.

Buchwurm.info:
Ich wünsche dir dabei viel Spaß und weiterhin viel Erfolg mit deiner Arbeit! Vielen Dank für das interessante Interview! Ich glaube, nicht nur ich, sondern auch viele andere Leser warten gespannt auf dein nächstes Buch.

Michael Marrak:
Ich habe zu danken. Und was das nächste Buch betrifft: Ich bin am meisten gespannt, wie es endet …

Kurzbibiliographie:

„Die Stadt der Klage“
Roman, Edition Mono, Wien 1997

„Die Stille nach dem Ton“
5 Novellen, Edition Avalon, Berlin 1998

„Lord Gamma“
• Roman, Shayol, Berlin 2000
• Taschenbuchausgabe: Bastei Lübbe TB 24301, Bergisch Gladbach 2002

„Imagon“
• Roman, Festa, Almersbach 2002
• Taschenbuchausgabe: Bastei Lübbe TB 24325, Bergisch Gladbach 2004

„Die Ausgesetzten“
in: „Eine Trillion Euro“, Andreas Eschbach (Hrsg.),
Bastei Lübbe TB 24362, Bergisch Gladbach 2004

Foto: Irena Brauneisen, 2006. Quelle: marrak.de

Interview mit Marc-Alastor E.-E.

Dark Fantasy mit episch breitem Hintergrund stellt eine Ausnahme im Fantasybereich dar, insbesondere in Deutschland. Der Autor Marc-Alastor E.-E. hat mit „Kriecher“ und „Adulator“ im |BLITZ|-Verlag eine Serie namens |GEISTERDRACHE| ins Leben gerufen, die in der Welt |Praegaia| spielt, zu der Marc-Alastor E.-E. bereits seit zwanzig Jahren Kurzgeschichten, Liedtexte und Gedichte schreibt. Seine Romane stellen eine Mischung aus klassischer High-Fantasy und maliziösem Horror dar, in der Einzelschicksale düsterer Helden in einer faszinierenden Urwelt im Vordergrund stehen.

_Michael Birke:_
Marc, du bist nicht nur Autor, sondern auch Mitglied einer geheimen, okkulten Loge, Zeichner, Dichter und warst früher sogar einmal Musiker. Ein vielseitiger und bemerkenswerter Lebenslauf. Könntest du dich selbst ein wenig näher vorstellen? Ist Marc überhaupt die richtige Anrede – dein Künstlername „Marc-Alastor E.-E.“ verleitet geradezu zu dem kürzeren „Marc-Alastor“.

_Marc-Alastor E.-E.:_
Das Pseudonym wurde mir schon früh von Seiten der okkulten Loge als eine Art Ehrentitel verliehen und lautet vollständig Marc-Alastor Elawar-Eosphoros. Wie Du ja schon selbst bemerkt hast, macht sich ein solch langer Name schwierig bei Veröffentlichungen und er klingt für viele auch arg überspannt. Andererseits hat dieser Name viel mit meinem Glauben zu tun und es wäre mir schwer gefallen, ihn nicht zu benutzen, daher auch die Abkürzung der beiden letzten Namen. Gebräuchlich ist im Umgang daher Marc oder Marc-Alastor.

Zu meiner Person: Ich blicke auf 33 bewegte, dunkle Lebensjahre zurück, bin gelernter Lithograph/Multimedia-Designer und lebe sehr zurückgezogen nahe des Teutoburger Walds.

_Michael Birke:_
Welche Quellen bzw. Autoren beeinflussten dein Werk am meisten? Was inspirierte dich zu deinem Antihelden „Kriecher“?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Als ich vor über 20 Jahren zu schreiben begann, bewogen mich vor allen Dingen zwei Anliegen zum Schreiben: Ich wollte die Qualität der vorherrschenden Fantasy- und Horrorliteratur heben (was zweifelsohne als durchaus kühner Anspruch angesehen werden kann) und ich trachtete, okkulte Erlebnisse zu verarbeiten, die mir auf der Seele lasteten. Hinzu kam, dass ich durch meine Studien in den umfangreichen, okkulten Bibliotheken der |Ushanas Minne Lodge| viele Einblicke gewann, die mir viele Anregungen für Storys gaben, unter anderem auch für mein Lebenswerk, ein Okkultepos.

Von Autoren halte ich meine Werke eigentlich weniger beeinflusst, da ich während meiner Entwicklung nicht bewusst verglichen habe und konzentriert danach trachtete, das besser zu machen, was mir an den modernen „Kollegen“ missfiel. Aber natürlich schätze ich die Arbeit einiger Autoren, doch dies sind in erster Linie klassische, allen voran Hermann Hesse, aber auch Cervantes, Dickens oder Cline und Hodgson.

Was „Kriecher“ angeht – er war einfach da, als es um die Entdeckung eines Antihelden ging, für die ich ohnehin eine Vorliebe habe. Er hatte also keinen Paten und kein Vorbild, er wurde wie die meisten meiner Charakteren aus meinem Anspruch heraus einfach geboren.
Die Einflüsse der Serie |GEISTERDRACHE| wiederum sind recht unterschiedlich. Am Anfang stand ganz klar der lateinische Versband – das |Liber Incendium Veritas|. Es diente jedoch nur zur Entwicklung der Hauptprotagonisten, zumal sich seinerzeit schon abzeichnete, dass es im Ganzen wenig authentisch war. Inhaltlich sind die Einflüsse zum Teil in der klassischen Heroic und High Fantasy und im modernen Horror zu finden, stilistisch – wenn überhaupt – bei den Klassikern.

_Michael Birke:_
Was bietet deine Fantasywelt, was unterscheidet sie von gängiger deutscher (Das Schwarze Auge: Aventurien) und amerikanischer (AD&D-Multiversum z.B.) Fantasy?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Also viel deutsche, epische Fantasy gibt es nicht gerade, und was es gibt, hat mich, wenn ich es denn gelesen habe, nicht gerade überzeugt. Es sind sowohl die abgegriffenen Plots als auch der schluderige Sprachstil, die mich dabei häufig schnell entmutigen. Auf dem amerikanischen Sektor gibt es zwar sehr viel, jedoch vermisse ich auch dort zuweilen den nötigen |suspense|, und die „guten“, geradlinigen Übersetzungen zeigen dann noch, wie es um den Sprachstil bestellt ist. Nur wenige amerikanische Autoren bedienen sich eines wirklich wortgewandten Sprachschatzes. Die Plotlines der Amerikaner sind zumeist sehr episch angelegt, einige folgen sogar Tolkien, indem sie Historien und Stammbäume einbringen, und am Ende leiden die Story selbst und die Spannung, die an erster Stelle stehen sollte. Also mir passiert es nur allzu oft, dass ich die Bücher nach dem ersten Drittel aus der Hand lege und nicht wieder ins Auge fasse. Ich kenne unzählige Leser, die lieber Horror als Fantasy lesen, was aber zumeist in der Erzählweise begründet liegt und weniger im Inhalt. Und wenn wir am Ende über den Erfolg einzelner Serien sprechen würden, bewegten wir uns unweigerlich in die ewige und auch leidige Diskussion des Maßstabs, den niemand genau festzulegen vermag. Allein an Verkaufszahlen zu messen, sagt nämlich nichts über den Erfolg einer Serie aus, da es ganz unterschiedliche Märkte mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen gibt.

_Michael Birke:_
Und was genau machst du in deinen Romanen anders?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Was nun meine Fantasywelt und den Epos angeht, so versuche ich natürlich seine Stärken dort aufzubauen, wo ich die Schwächen der anderen sehe. Das bedeutet, ich lege sehr viel Wert auf Spannung und ein hohes sprachliches Niveau. Inhaltlich halte ich mich dabei schon an Bekanntes, denn ich mag ja all die Geschichten um Zwerge, Elfen und Drachen, füge dem Ganzen jedoch wissenschaftliche Informationen über Urwelten und Untergangstheorien hinzu, über frühzeitliche Hochzivilisationen und belegte Mythen, und versuche abschließend durch andere Gewichtungen bei der Erzählweise meinen Maßstab zu finden. Ich betone dabei, dass ich nicht behaupte, das einzig wahre Rezept gefunden zu haben, zumal es ein solches auch nicht gibt. Es gibt keinen Stein der Weisen für Fantasyautoren.

Aber es gibt den Anspruch, seinem eigenen hohen Qualitätsbild gerecht zu werden, wenn es auch, und das muß ich an dieser Stelle betonen, zu Konflikten führt. Natürlich würden die Verleger viel lieber leichtere, zugänglichere Kost liefern und ich habe in meiner Vergangenheit oft erlebt, dass gerade von dieser Seite immer wieder der Wunsch geäußert wurde, dass ich es etwas leichter angehen lassen möge. Doch den eigenen Anspruch zu verbiegen, geht nur bedingt, und daher versuche ich mich langsam auf das hinzubewegen, was mir als Endqualität im Kopf herumspukt. BLITZ lässt mir dabei freie Hand, unterstützt mich dabei, und es freut mich sehr, dass man dort erkennt, wohin meine „Reise“ gehen soll. Es gehört ganz eindeutig Mut dazu, auf einem immer schwieriger werdenden Markt ein solches Epos zu präsentieren, aber ich weiß dennoch, dass es sich für alle Leser lohnen wird.

_Michael Birke:_
Das |Liber Incendium Veritas| – inwiefern hat es dich inspiriert? Welche Ideen hast du – außer denen zu Medoreigtulb und M’Zaarox – daraus gewonnen?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Außer den Grundzügen der Göttin und des Drachen gibt es keine weiteren Übernahmen, denn erstens war bis noch vor kurzem nur ein Teil davon übersetzt und somit mir überhaupt bekannt geworden, und zweitens erschien mir darüber hinaus nichts auch nur annähernd interessant genug, um daraus neue Ideen schöpfen zu können. Das mag sich möglicherweise noch ändern, wenn ich mich einmal an die Überarbeitung der Übersetzung mache und mich somit auch inhaltlicher mehr damit auseinandersetzen werde, doch im Augenblick habe ich gar keine Zeit, um das ins Auge fassen zu können, und es ist auch nicht von allzu großer Wichtigkeit für den Zyklus. Das |Liber Incendium Veritas| besitzt keinen essenziellen Charakter.

_Michael Birke:_
Die Hauptcharaktere Medoreigtulb und M’Zaarox sind, wie erwähnt, vom |Liber Incendium Veritas| inspiriert worden. Von einem Kampf zwischen den beiden ist nach „Kriecher“ und „Adulator“ aber noch nicht viel zu bemerken – was haben wir von M’Zaarox, seinen Dienern und Helfern in Zukunft zu erwarten? Welche Ideale verkörpern die beiden Gottheiten?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Der Kampf zwischen Medoreigtulb und M’Zaarox erstreckt sich über viele Epochen, unterschiedliche Zeit- und Existenzebenen und läuft zumeist im Hintergrund ab oder wird nur fragmentarisch wiedergegeben. Meine Geschichten konzentrieren sich immer auf die Geschicke einzelner, zunächst einmal unbedeutender Charaktere, die jedoch auf irgendeine Weise mit dem Götterdisput in Berührung kommen, was ihnen die Bedeutsamkeit gibt. Das kann nur am Rande geschehen oder durchaus in die Tiefe gehen. Der Leser bekommt auf diese Weise erst langsam ein klareres Bild über die göttlichen Geschehnisse. Außerdem ist Medoreigtulb eher ein aktives und offensives Wesen, während M’Zaarox – ganz Geisterwesen und seiner Rolle als Beschützer entsprechend – eher passiv und defensiv auftritt, sein Wirken und das seines Gefolges ist zumeist kaum wahrnehmbar und erst wenn alles vorüber ist, erkennt man, dass er eine Schlacht für sich entscheiden konnte… Seine Zeit ist aber auch noch nicht gekommen, doch das wird sie…

_Michael Birke:_
Der |Bastei|-Verlag veröffentlichte 1988/89 deine Kurzgeschichten „Eine Spur Mitleid“ und „Schwungrad des Bösen“. Haben diese einen Zusammenhang mit dem von dir selbst als dein Lebenswerk bezeichneten Zyklus „Die Offenbarung eines Dämons“? Um was handelt es sich überhaupt dabei, welchen Platz hat „Kriecher“ in diesem Werk?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Also wir müssen hier zwischen den beiden Epen unterscheiden. „Die Offenbarung eines Dämons“ ist ein okkultes Monumentalwerk, das bislang aufgrund seiner Extreme und seines Umfangs keine annehmbare Veröffentlichungsform gefunden hat. Es ist ein komplexer Romanepos, der aus der Sicht eines Dämons geschrieben ist und ausschließlich fundiertes, okkultes Material nutzt.

„Kriecher“ ist Bestandteil des Fantasy-Epos |GEISTERDRACHE|, das jetzt beim |BLITZ|-Verlag erscheint. Beide haben nichts miteinander zu tun. Und die beim |Bastei|-Verlag veröffentlichten Kurzgeschichten gehörten seinerzeit zum |GEISTERDRACHE|-Epos, wurden aber von mir damals auf die Gegenwart umgeschrieben.

_Michael Birke:_
Die am Rande eines Kataklysmus stehende Welt Praegaia ist der Schauplatz deiner Geschichten. Du unterhältst zu deinem Zyklus |GEISTERDRACHE| einige Webseiten, wie www.geisterdrache.de, www.praegaia.de, www.valusia.de. Leser deiner Romane können sich über ein Schlüsselwort einloggen, um im |GEISTERDRACHE|-Archiv zu stöbern, welches Erzählungen, Gedichte, Liedertexte und später die Übersetzung des |Liber Incendium Veritas| enthalten soll. Was brachte dich auf die Idee, diese Inhalte kostenlos im Netz anzubieten?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Kurz nachdem sich die von mir mitbegründete Dark-Metal-Band |SPECTRE DRAGON| von mir getrennt hatte, eröffneten eine Bekannte und ich das Spectre-Dragon-Archiv im Netz. Hier sollten alle Kurzgeschichten, Liedertexte und Gedichte um den Zyklus veröffentlicht werden, damit sie nach meiner musikalischen Laufbahn nicht einfach verloren waren.

Das weckte das Interesse des |Schattenwelt|-Verlags und daraus resultierte die erste Auflage von „Kriecher“. Seitdem arbeiten wir an unterschiedlichen Seiten zum Ausbau des Kosmos, der ja nun – nachdem es Schattenwelt nicht mehr gibt – bei |BLITZ| unter dem Label |GEISTERDRACHE| in Serie gegangen ist. Geisterdrache.de ist, wenn man so will, das Spectre-Dragon-Archiv, das allerdings im Augenblick noch in einer Umbauphase steckt, denn wir haben die Inhalte des Archivs hinter ein Passwortportal stellen müssen, da es zu immer mehr Urheberrechtsverstößen gekommen war und es einfach unproduktiv ist, ständig seine Rechte einklagen zu müssen. Wir wollen aber vor dem Portal nicht nur die Bücher präsentieren, an denen gearbeitet wird und die schon veröffentlicht sind, sondern es soll wieder weitere Inhalte geben. So zum Beispiel Hintergrundberichte, Leseproben und Ähnliches. Einiges davon wird noch in diesem, unserem 20. Jubiläumsjahr umgesetzt werden.

_Michael Birke:_
Was unterscheidet diese Webseiten von einander, was werden Praegaia.de und Valusia.de bieten, was nicht bereits in diesem Archiv ist?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Auf Praegaia.de wird der Kosmos des Epos präsentiert, Flora, Fauna, Götter, Kalender, Kartenmaterial, Stadtbeschreibungen, halt alles, was dazu gehört. Natürlich ist auch diese Seite noch im Aufbau und wird es wohl auch immer bleiben, denn es gibt unzählige Inhalte, die dort erscheinen werden.

Valusia.de gehört eigentlich nicht direkt dazu. Diese Seite sollte eigentlich meinem neuen Musikprojekt gewidmet sein, doch leider wurde daraus bislang nichts. Vor einem Jahr habe ich noch mit einem talentierten Musiker an den ersten Songs gearbeitet und alles war sehr viel versprechend, doch war er durch private Probleme dann gezwungen, das Musikbiz an den Nagel zu hängen. Seitdem hat sich nichts mehr getan und ich habe auch noch keine anderen musikalischen Möglichkeiten gefunden, was ich natürlich bedauere.

_Michael Birke:_
Du arbeitest bei der Umschlaggestaltung mit dem |Atelier Bonzai| zusammen, die Innenillustrationen des |De Joco Suae Moechae|-Zyklus sind von dem Künstler Aran. Wie kam die sichtbar positiv bemerkbare und scheinbar enge Bindung und Zusammenarbeit zwischen dir und den Künstlern zustande?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Aran, Musiker bei der Black-Metal-Ikone |LUNAR AURORA|, kenne ich aus der Zeit, als ich für die Band die CD-Booklets layoutet habe. Daher war mir auch bekannt, dass er sehr gut zeichnen und malen konnte. Ich fragte ihn seinerzeit, ob er Lust hätte, „Kriecher“ zu illustrieren. Hatte er, und wie zu erwarten war, zeigten die Ergebnisse genau das, was mir vorschwebte. Dunkle Zeichnungen, die genau das Flair wiedergaben, welches ich in den Büchern beschreibe. Er hat es phantastisch verstanden, die Inhalte einzufangen und ich freue mich sehr, dass er auch für den dritten Teil wieder die Feder zücken wird.

_Michael Birke:_
Ist Aran ein Mitglied von |Atelier Bonzai|?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Nein, Aran ist freischaffend und für mich ein Gefährte, der wie der Rest von |LUNAR AURORA| einfach ein ähnliches Gedankengut besitzt. Man braucht sich nicht sehr viel auszutauschen, weil sich die Ansichten in vielen Punkten gleichen, und so ist auch die künstlerische Zusammenarbeit einfach gewesen. Das Atelier wiederum ist im Prinzip eine Kooperative von Leuten, die sich um |PRAEGAIA| und |GEISTERDRACHE| verdient machen. Und leider im Augenblick unterbesetzt.

_Michael Birke:_
Der dritte Band um Kriecher, „Tetelestai!“, wird auf deiner Webseite mit einem ungewöhnlichen Appetizer als ein „Karmadrama in drei Aufzügen“ angepriesen. Was wird sich verglichen mit „Kriecher“ und „Adulator“ ändern und was ist ein „Karmadrama“ überhaupt?

_Marc-Alastor E.-E.:_
„Tetelestai!“ ist eine eigenartige Mischung aus Bühnenstück und Roman und vereinigt auch die daraus resultierenden Textkonventionen auf sich. Und da es dabei um das endgültige Schicksal Kriechers geht, nannte ich es ein Karmadrama. Während „Kriecher“ ja aus sechs beziehungsweise fünf Nachtschattennovellen zusammengesetzt war und durch die Perspektive eines Erzählers unnahbar und nüchtern erzählt wurde, wird in „Adulator“ – dem Schauerspiel – auf die Ich-Perspektive zurückgegriffen.

Erst am Ende wird klar, dass der Erzähler im Prinzip ein Teil von Kriechers noch menschlicher Seele gewesen ist, der sich absonderte und sein eigenes Wesen von außen betrachtete. Im dritten Teil nun wird die Erzählweise zwischen Erzähler und Kriechers Seelenpart wechseln. Grundidee war dabei, den dunklen Mörder aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Als objektiver Erzähler erscheint Kriecher dunkel, morbide und bösartig (Kriecher), als Bestandteil seiner Selbst (Adulator) erscheint er neutraler, besonnener und erreichbarer, fast schon milde, und im dritten Teil wird sich der Leser entscheiden müssen, denn er erfährt eben von den ganzen Wahrheiten und Lügen, die hinter allem abgelaufen sind.

_Michael Birke:_
Wird der Wechsel der Erzählperspektive zu einem Markenzeichen deiner Zyklen werden?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Das kann ich jetzt noch nicht sagen, sicher ist jedoch, dass ich immer für außergewöhnliche Textformate sorgen möchte. Dabei werde ich aber letzten Endes immer zu Gunsten des Textes entscheiden, und wenn jener denn etwas Konventionelles erfordert, dann werde ich mich auch darauf einlassen.

_Michael Birke:_
Kriecher erlebt im Verlauf des Zyklus eine Metamorphose – kannst du dazu etwas mehr verraten? Wird Kriecher in zukünftigen Zyklen eine Rolle spielen?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Die augenscheinliche Metamorphose hat mit besagten Sichtweisen zu tun und soll dem Leser im Endeffekt zeigen, dass viele Zustände abhängig sind von der Art und Weise, wie sie für den Einzelnen zu erkennen sind. Wenn wir in Adulator sehen, wie milde der Seelenteil Kriechers quasi über sich selbst richtet und wie neutral tatsächlich die Fragen, die er dabei aufwirft, beantwortet werden müssten, erscheint mit einem Male alles so verkehrt. Es mildert nicht die Vergehen, offenbart aber mit einem Male Motive, die nicht einmal ihm selbst gehörten, sondern denen er nur gefolgt ist.

Ob Kriecher in zukünftigen Zyklen eine Rolle spielen wird, kann ich an dieser Stelle noch nicht verraten, denn es würde das Ende von „Tetelestai!“ vorwegnehmen. Ich kann aber sagen: Durch Kriechers Verbindung zur Göttin ist zumindest bei ihm alles möglich. Zu jeder Zeit.

_Michael Birke:_
Zu Caracalla, dem Prinz der Pestilenz: Er ist offensichtlich der nächste Antiheld nach Kriecher. Ein Epileptiker und Söldner, der mit zahlreichen Seuchen und Krankheiten geschlagen ist, aber nicht stirbt. Ist Caracalla eine Art Anti-Caesar, kannst du schon einige interessante Details über den kommenden Zyklus |DE MORBIS SANGUINIS| preisgeben?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Caracalla entstammt ja einigen Kurzgeschichten, in denen zum Teil sowohl seine Vorgeschichte als auch seine Entwicklung dargestellt wurde, zudem hatte er einen kurzen Gastauftritt in „Adulator“.

Aber nein, Caracalla ist kein Anti-Caesar, er ist ein Verfluchter, dadurch ein psychisch angeschlagener Charakter und, wenn man so will, ein Halbgott der Krankheit, der aus diesem Fluch, die Krankheiten zu übertragen, ein grausames Geschäft macht. Er ist eine schillernde Persönlichkeit und in seinen Geschichten wird das Thema philosophisch aufgearbeitet, das uns allen am ehesten das Fürchten lehrt – Krankheit, Schmerz und Siechtum. Seine Vorgeschichte, wie er zum Verfluchten wurde, kann man online im Archiv oder im Winter in der Anthologie „Die Chroniken – Widerparte & Gefolge“ lesen. Sie heißt: „Die letzte Zisterne des Königs Awarkadnondur“.

Sein Zyklus wird aus zwei voneinander unabhängigen Romanen bestehen, die wichtige Bestandteile seiner Entwicklung wiedergeben; so den Versuch, seinen Fluch zu brechen, indem er die Urheberin zu finden trachtet. Dabei spielt auch ein anderer bekannter Charakter eine tragende Rolle – der Drache Nodranthatax. Und schließlich wird es um Caracallas ureigenen Aufstieg im weltlichen Gefüge gehen.

_Michael Birke:_
|Praegaia| ist eine große Welt, eine Weltkarte existiert bereits auf deiner Webseite. Führst du Buch über die Handlungsorte, zeichnest du sie vielleicht auf einer Karte ein, wie behältst du den Überblick? Werden künftige Bücher vielleicht Landkarten der Welt |Praegaia| enthalten?

_Marc-Alastor E.-E.:_
In den Chroniken, die im Winter erscheinen werden, sollen Landkartenausschnitte jeder Erzählung vorangehen. Sie entstammen dem Kartenmaterial, das zum Teil auf Praegaia.de bereits veröffentlicht ist und in den nächsten Monaten noch veröffentlicht werden wird. Heute führe ich natürlich akribisch Buch über die vielen Handlungsstränge und die damit verbundenen Bewegungen der unterschiedlichen Charaktere, die sich ja auch stets weiter entwickeln und bewegen.

Leider war ich nicht immer so umsichtig, und im ersten Jahrzehnt wurde kein Buch geführt, so dass ich heute versuche nachzuvollziehen, wo die Bewegungen stattgefunden haben. Und wir arbeiten zudem für alle Gegenden in der Welt Karten und Beschreibungen aus, aber da wartet noch viel Arbeit auf uns und es wird uns noch viele Jahre dauern, bis wir die meisten Bereiche abgedeckt haben.

_Michael Birke:_
Werden wir von Marc-Alastor in nächster Zeit – oder jemals – mit einem Helden oder einer wichtigen Figur rechnen können, die eher dem Typus „strahlender Held“ entspricht?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Das käme darauf an, wie man den definieren würde. Aus dem Bauch heraus würde ich „NEIN!“ sagen, denn ich finde strahlende Helden langweilig und eindimensional. Würde ich einen solchen entwickeln, wäre er bei mir derart überzogen, dass er schon wieder eher eine Verspottung seiner Selbst wäre.

_Michael Birke:_
Der Hintergrund zu |GEISTERDRACHE| geht, wie man auf deiner Webseite nachlesen kann, von einem zyklischen Weltbild aus, also von Untergang und neuer Schöpfung. Praegaia ist eine junge Welt, voller Barbarei und Gefahr, am Rande eines Kataklysmus – und Medoreigtulb trachtet danach, ihr den letzten Schubser zu geben. Planst du tatsächlich den Untergang deiner Welt oder werden wir noch lange Geschichten aus dem vertrauten |Praegaia| lesen dürfen? Oder wird es sich drastisch verändern?

_Marc-Alastor E.-E.:_
|Praegaia| wird sich drastisch verändern, jedoch ist dieser vernichtende Impuls der Göttin eher von schleichendem Charakter, der absolute Untergang steht noch aus. Aus irgendeinem Grund – den ich natürlich noch nicht vorwegnehmen möchte – scheint sie mit einigen Völkern zu spielen, sie gegeneinander aufzuhetzen, während sie andere gleich samt ihrer Kultur vernichtet. Ähnlich verfährt sie mit der Welt und ihrer Landschaft an sich. Es mutet an, als unterziehe sie alles und jeden erst eingehender Studien und Belastungsproben.

|Praegaia| selbst ist wie das uressenzielle Leben; quasi die Urmasse – |materia prima| oder wie bei den Alchemisten |massa confusa| benamt -, die sich zu formen beginnt. Die Schöpfungen und Zerstörungen wirken wie ein Spiel und die Welt scheint nur ein Ergebnis einer Kette von Zufällen und eines Zusatzes von Regeln. Mit etwas besserer Kenntnis über |Praegaia| und einige ihrer Geschichten wird man aber zu erkennen imstande sein, dass meine Welt im Grunde wissenschaftlichen Arbeiten über das deterministische Chaos und die Neuordnung komplexer Zusammenhänge Rechnung trägt, weil alles wie ein Glücksspiel anmutet, indem Gewinne und Verluste zwar gleichermaßen hervorgebracht werden, sich aber die Gewinne als Prinzipe durchsetzen.

Manchmal beginnt man sich dann zu fragen: Ist Medoreigtulb wirklich der Motor und Katalysator des Ganzen oder steht sie einfach nur für den gezähmten Zufall und die universellen Gesetze, nach denen sich die Welt, wie in unzähligen unserer Mythen überliefert, selbst vom Chaos zur Ordnung ausbildet?

Und genau darin fußt auch die Theorie, der ich persönlich zudem sehr zugetan bin, dass es vor unserer bekannten Zivilisation bereits andere gegeben haben muss. Lange vor unserer Zeitrechnung hat es bereits fortschrittliche Hochkulturen gegeben. Zum Einen gibt es viele unabhängig voneinander entwickelten Mythen, die trotzdem darin übereinstimmen, dass es frühe Kulturen gegeben hat, an die heute nicht mehr viel erinnert. So überlieferten beispielsweise die Azteken fünf solcher Hochkulturen in recht detaillierten Beschreibungen, und während die erste vom Wasser verschlungen wurde, was stark an den Untergang von Platos Atlantis erinnert, so wurde auch die fünfte beschrieben, in der wir noch heute leben. Man findet aber auch überall auf der Welt eindrucksvolle Hinweise für mögliche Frühkulturen, die bei genauerer Betrachtung keinen anderen Schluss mehr zulassen, als dass es solche gegeben haben muss und dass es sich auch bei diesen Kulturen um Entwicklungsprozesse und Endstadien gehandelt hat, die sich neu ordneten, aber scheinbar schlichtweg verschwanden. Belege und Zeugnisse finden wir in nahezu allen Kulturerbmassen; sie im Einzelnen hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Aber jedem kritischen Denker sei als Denkanstoß der Name Professor Charles H. Hapgood in Verbindung mit der Weltkarte von Admiral Piri Reis gegeben, alles andere fügt sich dann.

Hinzu kommen für mein Gesamtbild dann die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, dass unser Universum periodisch untergeht und neu entsteht. Paul Steinhardt, Professor der Astronomie an der |Princeton University New Jersey| und Neil Turok von der |University of Cambridge|, der auch ein früherer Mitarbeiter von Stephen Hawking war, gelangten zu einer neuen Sicht mit dem zyklischen Entstehen und Vergehen eines Universums und belegen somit ein Weltbild, das wiederum den Mythen vieler Völker zugrunde liegt.

Daher, um zu deiner Frage zurückzukehren, wird |Praegaia| untergehen, wenn Medoreigtulb alles getan hat, was getan werden musste, doch bis dahin wird noch Zeit vergehen und noch einiges geschehen – und erst dann sind wir in der nächsten Epoche…

_Michael Birke:_
Du hattest in der Vergangenheit einige Probleme mit deinen Verlegern, mit dem |BLITZ|-Verlag sind jedoch bereits zwei weitere Zyklen geplant. Werden diese bereits vorhandenen Stoff aus der |GEISTERDRACHE|-Welt aufarbeiten oder entwickelst du gerade völlig neue Ideen?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Der |Schattenwelt|-Verlag löste sich wenige Monate nach Erscheinen der ersten Auflage von „Kriecher“ auf, weil sich die beiden Teilhaber nicht länger grün gewesen sind. Für mich war das tödlich, denn die meisten Verleger wollten keinen angefangenen Zyklus fortführen und hätten lieber etwas Neues gehabt. Kriecher hatte sich jedoch sehr gut verkauft, die Resonanz war groß und jeder wollte den zweiten Teil. Ich gab also alles, um möglichst schnell neue Verträge einzustielen, doch es zog sich alles unglaublich hin.

|BLITZ| verwaltete damals Kriechers Restbestände, denn |BLITZ| hatte auch den Druck und Vertrieb für |Schattenwelt| übernommen und auf diese Weise blieb „Kriecher“ wenigstens lieferbar. Schließlich konnte ich mich mit Joerg Kaegelmann auf einen Vertrag für den zweiten Teil einigen, so dass ich wenigstens diesen gewährleisten konnte. Da war „Kriecher“ jedoch nahezu ausverkauft und wir kamen ins Gespräch über eine Neuveröffentlichung. Als ich ihm den Zyklus als Ganzes und meine Pläne für den Epos vorstellte, gewann für ihn alles ein Gesamtbild und wir machten daraufhin einen Serienvertrag.

Was die geplanten Zyklen angeht, so arbeiten sie natürlich vorhandenes Material auf. Es gab einige Kurzgeschichten zu Caracalla, dem Prinzen der Pestilenz, die sehr gut angekommen sind, so dass ich einen Romanzyklus um ihn schuf. Er wird als nächstes angegangen werden. Mit einem Buch über die Göttin entspreche ich dem Wunsch vieler Leser, die gerade über sie mehr erfahren möchten, und ich kann nur versprechen: Sie werden mehr erfahren, mehr als ihnen lieb sein wird.

Natürlich entwickle ich immer neue Ideen, die können und werden jedoch Eingang in die jeweils laufenden Projekte finden, seien diese nun zu |GEISTERDRACHE| oder einem anderen Romankonzept.

_Michael Birke:_
Wie ist die bisherige Resonanz, besteht die Chance, dass deine Bücher einmal im normalen Buchhandel auftauchen werden oder werden sie weiterhin ausschließlich als limitierte Fassungen angeboten?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Bis vor kurzem wurden alle |BLITZ|-Titel auch über den Buchhandel vertrieben, jedoch ist die wirtschaftliche Lage für den Buchhandel genauso schwierig wie für viele andere Wirtschaftszweige.

Selbst große Verlage wie |Heyne| stoßen ihr komplettes Phantastikprogramm ab. Die Entscheidung, sich vom Vertrieb des Buchhandels zu trennen, war ein rein wirtschaftlicher und ist Joerg Kaegelmann sicherlich nicht leicht gefallen, auf der anderen Seite werden die Gewinnspannen der Verlage immer kleiner, die Produktionskosten nicht billiger und der Absatz selten wesentlich größer, so dass die Entscheidung nachvollziehbar ist. Natürlich ist es für einen jungen Autoren immens wichtig, überall erhältlich zu sein, und ich habe lange gehadert, was ich von dieser Entscheidung halten soll.

Aber mir ist im Endeffekt für |GEISTERDRACHE| die Sicherheit, auch weiter dort veröffentlichen zu können, wichtiger, denn es nutzt niemandem etwas, wenn ein Verlag die Tore schließen muss. Und andere Titel von mir werden den Weg in den normalen Buchhandel finden, so dass sich in Zukunft auch eine andere Perspektive für |GEISTERDRACHE| bieten mag. Die exklusive Erstausgabe verbleibt einstweilen bei |BLITZ|.

_Michael Birke:_
Zum Abschluss: Was liest du persönlich zur Zeit, kannst du deinen Lesern einige Bücher anderer Autoren empfehlen?

_Marc-Alastor E.-E.:_
Im Augenblick muss ich mich auf zwei weitere Romanprojekte vorbereiten, so dass ich ausschließlich Sachbücher und Artikel lese. Was ich danach lesen werde, weiß ich noch nicht. Und Buchempfehlungen spreche ich generell ungern aus, weil sie im Grunde für jeden anderen wenig aussagen. Aber ich freue mich über jeden Menschen, der zu einem Buch greift und darin etwas zu finden imstande ist.

Marc-Alastor E.-E. bei Buchwurm.info:

[„Kriecher“ 319
[„Adulator“ 468

Fantasy als Flucht und Fluch

Im Zentrum der Kritiken an Peter Jacksons „Herr der Ringe III“ stand nicht, dass es gleich ganze sechs regenbogenfarbene Enden gab. Und kritisiert wurde auch nicht, dass das Pathos von Freundschaft und Tapferkeit, Macht und Versuchung fast zu schwer auf den Schultern der Protagonisten lastete. Nein, schlecht abfinden konnte man sich damit, dass es eben der letzte Teil war. Das Ende. Wenn es um den Abschied von altvertrauten Anderswelten geht, spricht selbst aus dem hartgesottenen Kritiker der Fantasy-Fan. Und der gibt sich mit einem läppischen Dreiteiler nicht zufrieden. Der ärgste Feind ist nicht Sauron. Es ist das Licht im Kinosaal, das den Träumer wieder in den profanen Alltag zurückholt.

Der Fantasy-Fan sehnt sich nach dem Vertrauten und dem Fremden gleichermaßen. Er möchte eine Welt, die anders ist, als die, in der er lebt. Eine Alternativwelt, in der Gut und Böse klar getrennt sind, in der noch Raum für Magie, Abenteuer und wahre Freundschaft ist. Und in der ein Held noch ein Held sein kann. Denn jeder Held ist bekanntlich nur so gut wie das Böse, gegen das er ankämpft, böse ist. Doch gleichzeitig sollen diese Welten mit der Zeit so vertraut werden, dass man sich in ihnen ebenso bewegen kann wie in der eigenen. Lieber eine Geschichte in zehn Bänden als zehn neue Bücher.

_Die Undurchschaubarkeit der Welt als Genre_

Mit Hilfe von Filmen und Büchern begibt sich der Fan ins Phantastische, um für einen Moment den Altlasten der Aufklärung zu entkommen. Um einer Realität zu entfliehen, die dem Menschen zwar eine bis ins Detail begreifbare Welt liefert, aber es ihm nahezu unmöglich macht, diese Detailfülle noch zu durchschauen. Das ist nicht nur die Hauptantriebskraft von Fantasy-Literatur, es ist auch der Generalvorwurf, der ihr gemacht wird: Lesen als purer Eskapismus, als Ausstieg aus einer allzu komplex und unverständlich gewordenen Realität.

Doch gerade der in der Fantasy-Literatur thematisierte Grundkonflikt, der Zusammenstoß zweier unvereinbarer Realitätsebenen, ist nicht als reiner Fluchtreflex abzutun. Er macht eben diese Welt-Bewusstseinskrise zum Ausgangspunkt. Fantasy erhebt die Undurchschaubarkeit der Welt wie kaum ein anderes Genre zum literarischen Prinzip. Damit reiht sie sich in die Kette der phantastischen Literatur und befriedigt das unerfüllte Bedürfnis nach Unerklärlichkeit in einer Welt, die dem Leser als erklärlich dargelegt wird, die er aber dennoch nicht versteht.

Tolkiens Mittelerde steht nicht ohne Grund im Zentrum des Fantasy-Booms. Seit Erscheinen des Epos muss sich jeder Fantasy-Autor an der gigantischen Saga messen lassen. Dabei wurde das Werk zunächst wenig beachtet und erst in den 1960er Jahren in den USA zum Bestseller und zum Wegweiser für die anspruchsvolle High-Fantasy. Tolkiens Werk machte aus Fantasy ein Genre, auch wenn bereits William Morris 1896 mit seinen Romanen wie „Die Quelle am Ende der Welt“ das Fundament für High-Fantasy gelegt hatte. Morris war der Erste, der eine gänzlich fiktive mittelalterliche Welt mit eigener Geographie und Geschichte als Folie für seine Heldengeschichten entwarf.

Mit Tolkiens Entdeckung kam der große Aufbruch in das viel versprechende Terrain der Alternativwelten. Fantasythemen hatten von nun an Hochkonjunktur und dienten als Aussteigerlektüre einer studentenbewegten Zeit, die in Mittelerde eine willkommene Gegenwelt zu Vietnam-Krieg und Rassenkonflikten gefunden hatte.

_Sturm auf den Thron_

Seitdem haben viele versucht, den Thron zu stürmen und in den Olymp der High-Fantasy aufzusteigen. Doch nach echten Weltengründern mussten die Fans lange vergeblich suchen. Viele Geschichten kranken daran, dass sie von Tolkien-Epigonen verfasst sind, aber nichts wirklich Neues erschaffen. Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis ein Autor mit einer selbstständigen Weltschöpfungsidee aufwarten und den hungrigen Lesern ein eigenständiges Universum präsentieren konnte: „Otherland“ von Tad Williams. Ein 3650 Seiten starkes Universum, das sich in kein bekanntes Schema pressen lässt, das seinem Autor aber dennoch, zwischen Fantasy, Science-Fiction, Cyberpunk, Abenteuerroman, Märchen und Krimi changierend, den Titel |Tolkien des 21. Jahrhunderts| von der Literaturkritik eingebracht hat.

Natürlich hat Williams in seiner „Otherland“-Tetralogie das Genre nicht neu erfunden. Auch seine Geschichte basiert auf dem Gut-Böse-Schema, auch seine Helden machen sich auf die Suche nach dem „Gral“, der die Welt vor dem Untergang bewahren soll. Aber Williams Tetralogie ist vor allem deshalb ein Novum, weil er das Basismaterial des Genres auf die Verhältnisse der Multimediawelt des 21. Jahrhunderts hochrechnet. Viele Fantasy-Autoren versuchen, ihre Leser in den Alternativwelten vor den Bedrohungen der Industrialisierung, der Preisgabe des Unerklärlichen, zu bewahren. Williams spitzt die Bedrohung der Technik zu, indem er sie eng an das Urvertraute von mehreren Jahrhunderten Literaturgeschichte koppelt. Er lädt seine Anleihen aus Mythologie und Weltgeschichte mit der Technologie von heute auf und erschafft so eine prozessorengesteuerte Gegenwelt, die den Leser ebenso absorbiert und erschreckt wie die Protagonisten.

_Die Magie der Technik_

Im Zentrum der Geschichte steht eine Gruppe multinationaler Helden, die im Internet einen geheimen Bereich entdecken, dessen Kunstwelten wie real erscheinen und dennoch die Grenzen der Wirklichkeit sprengen. Das „Otherland“ ist ein elektronisches multidimensionales Universum, errichtet von einer mächtigen Organisation der reichsten Männer der Welt. Diese Elite der Gralsbruderschaft ist drauf und dran, den nächsten evolutionären Schritt zu wagen – den Übergriff der VR (Virtual Reality) auf das RL (Real Life). „Otherland“ verheißt den Gralsbrüdern, was bereits die Cyber-Gnostiker düster prophezeiten: das ewige Leben. Das menschliche Gehirn wird gescannt, aus dem Gefängnis des Körpers befreit und als Sicherungskopie im elektronischen Netzwerk vor Alter und Krankheit bewahrt. Der ultimative Logout aus dem RL und der Eintritt in die VR. Doch die künstliche Intelligenz des Betriebssystems, „des Anderen“, verwendet als Ressourcen einige als Biochips missbrauchte Kinder, die in einem mysteriösen Koma auf den Intensivstationen der nicht-virtuellen Welt liegen. Um hinter die Ursachen dieser um sich greifenden Kinderkrankheit zu kommen, ist die bunt gemischte Heldentruppe ins mysteriöse Innere von „Otherland“ aufgebrochen, wo sie sich durch Fantasy-Landschaften kämpfen müssen, die gleichermaßen kühnsten Phantasien wie finstersten Albträumen entsprungen sind.

So wie Walter Benjamin gefordert hat, es sei jeweils die Aufgabe der Kindheit, eine „neue Welt in den Symbolraum einzubringen“, liegt Williams’ Leistung darin, die altbekannten Grenzen des Genres Fantasy mit den Möglichkeiten der neuen Medien zu erweitern, mit Hilfe der technologischen Ära eine neue Art von Magie und Unerklärlichkeit zu importieren. Damit zeigt er, wie sich literarische und mystische Vorbilder nicht nur variieren, sondern durch die Einbettung in einen veränderten Kontext auch zu neuen Erkenntnissen führen lassen – High-Fantasy als Wirklichkeit eines Grenzübertritts, der nicht nur trivial-eskapistisch, sondern erkenntnisfördernd ist. Damit entzieht sich „Otherland“ dem allgemeinen Vorwurf, Fantasy-Literatur sei stets Fluchtliteratur.

Das heißt nicht, dass der Leser nach der letzten Seite das Buch aus der Hand legt und freudig ins Hier und Jetzt zurückkehrt. Der Abschied tut weh. Williams selbst sagt: „Wenn die Figuren gestorben sind, sind sie gestorben. Wenn sie noch leben, leben sie. Es ist zu spät, etwas zu ändern. … Aber das Ende einer solchen mehrbändigen und vielschichtigen Odyssee ist nie wirklich befriedigend – einfach weil es kein sauberes, glattes Ende gibt.“ Kein Weltenbauer gibt seine Schöpfung gern aus der Hand. Deshalb gibt es wohl bald den Film zum Buch, das Computerspiel zum Film und die Actionfiguren zum Anfassen. A never ending story.

Tad Williams: Otherland. Stadt der goldenen Schatten. Band I. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 26,50 €.
Tad Williams: Fluss aus blauem Feuer. Band II. Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 26,50 €.
Tad Williams: Berg aus schwarzem Glas. Band III. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 26,50 €.
Tad Williams: Meer des silbernen Lichts. Band IV. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 26,50 €.

Wer’s in preiswerterer Ausstattung mag:

Tad Williams
[Otherland 1-4]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3608934251/powermetalde-21
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
2004, 4 Bände, ca. 3655 Seiten, broschiert
(Orig.: Otherland, Daw Books, New York)
EUR [D] 59,90
sFr 100,00
ISBN: 3-608-93425-1
erschien am 1. September 2004

_Wiebke Eymess_
|Dieser Essay wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung des Magazins für Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit, [_lit04.de_,]http://www.lit04.de/ veröffentlicht.
Es handelt sich hierbei um eine Kooperation des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und des Studiengangs für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus der Universität Hildesheim; die Herausgeber sind Stephan Porombka (Hildesheim) und Steffen Martus (Berlin).|

Buchwurminfos III/2004

Entgegen kompetenter Kritik an der neuen Rechtschreibung (60 Rechtswissenschaftler hatten sich an die Ministerpräsidenten gewandt) wurde diese nun doch auf der Kultusministerkonferenz rechtsverbindlich zum 1. August 2005 beschlossen. Ab dann muss die alte Schreibweise an Schulen von den Lehrern als Fehler gewertet werden. Die Kultusminister gründen einen „_Rat für deutsche Rechtschreibung_“, der alle fünf Jahre den Ministern einen Bericht über Fortgang der Reform und nötige Anpassungen erstattet. Der |Klett|-Verlag gab zuvor noch bekannt, dass sich die Schulbuchverlage keineswegs gegen eine Rückkehr zu den bewährten Regeln der alten Rechtschreibung sperren. Verleger Michael Klett findet die sogenannte Reform unnötig und unsinnig und bedauert, dass er – als die Reform durchgesetzt wurde – nicht protestierte. |Klett-Cotta| produziert, wo immer es geht, grundsätzlich in der alten Rechtschreibung. Auch der |Stolz|-Verlag zum Beispiel publiziert seine – nicht genehmigungspflichtigen – Lernhilfen weiterhin in alter Rechtschreibung. Ohnehin stehen nur 13 Prozent der Bevölkerung hinter der Reform. Nun fordert aber auch der niedersächsische Ministerpräsident _Christian Wulff_, erklärter Reformgegner, die Ministerpräsidentenkonferenz auf, sich mit der Rechtschreibreform zu befassen und die Zuständigkeit der Kulturministerkonferenz darüber zu beenden. Vom saarländischen Ministerpräsidenten _Peter Müller_ wird er bereits unterstützt, ebenso noch hochkarätiger von _Edmund Stoiber_. Mit der Kulturstaatsministerin _Christina Weiss_ hat inzwischen auch erstmals ein Mitglied der Bundesregierung sich dafür ausgesprochen, die Rechtschreibreform zu modifizieren, da die meisten der Deutschen die neuen Regeln nicht anwenden. Mehrere unionsregierte Länder fordern mittlerweile die Rücknahme der Reform. Der Verband |VdS Bildungsmedien| kritisiert diese neueste Entwicklung. Er rechnet vor, dass auf die Schulbuchverlage bei Rückkehr zur alten Rechtschreibung mehr als 250 Millionen Euro Kosten kämen. Die Umstellung der tausend wichtigsten Lehrwerke würde rund 60 Millionen Euro kosten. Die im Fall einer Rückkehr wertlosen Lagerbestände der Verlage beziffert der Verband auf 200 Millionen Euro. Die Präsidentin der Kulturministerkonferenz, die rheinland-pfälzische Bildungsministerin _Doris Ahnen_ (SPD) teilt diese Ansicht. Dieser Darstellung hat dagegen das |VdS|-Mitglied |Scholz|-Verlag widersprochen. Ungeachtet der jüngst aufgeflammten Diskussionen hält die Bundesregierung an der Rechtschreibreform fest.

Ein interessantes Urteil zur _Preisbindung_ hat es durch das Oberlandesgericht Frankfurt gegeben. Ein Journalist hatte neuwertige Rezensionsbücher, die er von den Pressestellen der Verlage erhält, über _eBay_ angeboten. Nach dem erfolgten Urteil gilt die Preisbindung auch für Privatpersonen, selbst wenn deren Angebote ohne Gewinnerzielungsabsicht – dafür aber wiederholt – getätigt werden. Das Internet ist beim Verkauf von Büchern kein rechtsfreier Raum. Auch der Begriff des Letztabnehmers wurde dabei definiert. Letztabnehmer ist nur, wer Bücher zu anderen Zwecken als dem Weiterverkauf erwirbt. Offen gelassen wurde dabei allerdings, ob eine Privatperson, die ein neues Buch für den eigenen Gebrauch erwirbt oder als Geschenk erhält, anschließend aber ungenutzt verkauft, als Letztabnehmer anzusehen ist.
Ein anderes Urteil zur Preisbindung, betreffend den 5-Euro-Startgutscheinen bei _Amazon_, wurde in erster Instanz gegen |Amazon| erwirkt, diese waren aber in Berufung gegangen. Das Oberlandesgericht Frankfurt bestätigte aber die Entscheidung des Landgerichts Wiesbaden. Auch bei Kundenbindungssystemen im Internet ist die Preisbindung zu beachten und die Startgutscheine stellen einen Verstoß gegen die Preisbindung dar.
Die einstweiligen Verfügungen von Preisbindungsvertretern gegen den _Bertelsmann Club_ hören ebenfalls nicht auf. Der Club verstößt mit seinen zeitgleich zu Originalausgaben erscheinenden preisgünstigeren Büchern ständig gegen das „Potsdamer Abkommen“. Die Gerichte plädierten auf außergerichtliche Einigung und diese ist mit Abstrichen für die Verlage auf Kompromissbasis zugunsten des Clubs ausgegangen. Der Mindestabstand zwischen Originalausgabe und Erstankündigung des Clubs kann vier statt bislang sechs Monate betragen (wobei es keine Rolle spielt, ob die Clubausgabe als Hardcover oder Broschur erscheint), die Preisdifferenz darf in diesem Falle im Gegenzug dafür 15 Prozent nicht überschreiten. Für den Weihnachtskatalog kann der Abstand auf drei Monate verkürzt werden, die Preisdifferenz darf dann nur bei fünf Prozent liegen. Erst sechs Monate nach Originalausgabe darf die Clubausgabe – wie bereits häufig praktiziert – bis zu 40 Prozent vom Originalpreis abweichen. Für Bücher, die sich auf kurzfristig anstehende, öffentliche Termine wie Sportereignisse oder politische Wahlen beziehen, gelten die Einschränkungen nicht. Nicht mehr zeitgleich dürfen dagegen Bücher zu aktuellen Kinofilmen und Fernsehserien erscheinen. Das _modifizierte Potsdamer Protokoll_ soll zehn Jahre gelten. Die Bestimmungen sind vereinfacht und dadurch verständlicher geworden. Alle Beteiligten mussten Zugeständnisse machen, konnten jedoch auch das für sie Notwendige erreichen. |Bertelsmann| hat sich auch verpflichtet, aggressive vergleichende Werbung zu unterlassen. Dies aber mit Kündigungsvorbehalt, wenn andere Wettbewerber in dieser Weise werben sollten. |Weltbild| zum Beispiel wird dahingehend von |Bertelsmann| nun sehr genau beobachtet.

Die deutsche _Bonnier Holding_ hat sich beim Bundeskartellamt über _Random House_ beschwert. Im Zuge der Aufteilung von _Ullstein Heyne List_ sind |Bonnier| die Taschenbuch-Reihen _Heyne Fantasy_ und _Heyne Esoterik_ zugesprochen worden. |Bonnier| wirft |Random House| nun vor, aus diesen Reihen erfolgreiche Titel herausgepickt und in der hauseigenen |Allgemeinen Reihe| des |Heyne|-Taschenbuchs platziert zu haben. Das |Heyne Fantasy|-Programm erscheint regulär eigentlich nun bei _Piper Taschenbuch_, das damit sein schon recht umfangreich gewordenes Fantasyprogramm noch mal kräftig aufstockt. Viele klangvolle Namen wie Robert Jordan, Terry Pratchett und Ursula K. Le Guin sowie sehr gut eingeführte Reihen gehören jetzt zu |Piper|. Diese Erfolgstitel erscheinen nun in neuer Ausstattung. Auf die kommende Fantasy-Vorschau des |Piper|-Verlages kann man zu Recht sehr gespannt sein.

2001 war auch der _Luchterhand Literatur Verlag_ von _Random House_ aufgekauft worden und obwohl er anfangs nicht wollte, blieb der ehemalige Verlagschef _Gerald J. Trageiser_ auch als Leiter im Konzern. Aus alters- und gesundheitsbedingten Gründen hört er aber Ende dieses Jahres auf. Nur durch ihn gelang die gute Integration von |Luchterhand| in |Random House| und seinetwegen sind auch die wichtigen Schriftsteller wie Christa Wolf, Antonio Lobo Antunes oder Hanns-Josef Ortheil geblieben. Ob sie ohne Trageiser aber die Treue halten werden, bleibt abzuwarten. Dies ist auch |Random House| bewusst, die Probleme hatten, einen wirklich „angemessenen“ Nachfolge-Kandidaten für die Verlagsleitung zu finden.
Hausintern wurde ab Januar 2005 _Georg Reuchlin_, Verleger von |Goldmann|, |Manhattan| und |btb|, die Leitung übertragen. Klaus Eck, verlegerischer Geschäftsführer von |Random House|, erklärt dazu, dass die Eigenständigkeit von |Luchterhand| nicht in Frage steht und dass die drei literarischen „Abteilungen“ |Luchterhand|, |Knaus| und |btb| noch ausgebaut werden. Die Gerüchte, dass das Taschenbuchlabel |Sammlung Luchterhand| eingestellt würde, stimmen nicht, „es soll so etwa in Richtung |KiWi| gehen“. Ganz gegen den Trend der Konzernbildungen erlebt die Branche in jüngster Zeit aber eine überraschend große Welle neuer autonomer Verlagsgründungen.

Angesichts solch politischer Weltlagen wie den Konflikten in der gegenwärtigen Zeit haben Religionen – selbst im Niedergang – auch immer wieder Auftrieb. Selbst das Christentum, dessen Bücher längst nicht mehr so gefragt sind wie in früheren Zeiten, machen mit den „Psalmen“ ein ganz gutes Geschäft. Aber auch im esoterischen New-Age-Bereich steigt die Anzahl der Titel, die sich auf unkonventionelle nicht-kirchliche Weise dem Christentum annähern. Der Zeitgeist weht überraschenderweise für das Christliche. Das ist vor allem auch an der eigentlich „christlichen Opposition“ abzulesen: In der okkulten Logenwelt wird Christentum mehr denn je ernsthaft diskutiert, die naturreligiösen Gruppen beginnen (trotz der Hexenverbrennungen des Mittelalters) sich im interreligiösen Dialog zu engagieren und die Gothic-Szene – die im öffentlichen Ansehen oftmals noch als satanistisch gilt und der man unterstellend eher Aufrufe zu Kirchenverbrennungen zutraut – überrascht in jüngster Zeit mit christlicher Toleranz (Beispiel: in der aktuellen Szenen-Zeitung _Zinnober_ sprechen in erstaunlicher Anzahl führende Szene-Ikonen über ihre Sympathie zur christlichen Kultur).
Auffallend dagegen ist dann die Position des Leiters des esoterischen Verlags _NEUE ERDE_, _Andreas Lentz_. In der aktuellen gemeinsamen Branchenzeitung _“Sichtung“_ der esoterischen Verlage, die an die Buchhändler geht, grenzt er sich radikal vom Christentum ab. Er weist auf den grausamen Gott der Christen hin und führt dabei die inhumanen Stellen sowohl im Alten Testament wie auch im Neuen Testament auf. Er stellt die Bibel nicht nur als inhuman, sondern auch äußerst gefährlich dar, denn sie legitimiert Völkermord und härtere blutige Strafen. Natürlich steht hinter solcher Position ein schwererer innerer Konflikt, denn im Bündnis mit anderen spirituellen Verlagen – die solche Art Literatur publizieren – bedeutet dies einen täglichen „Eiertanz“. Aber auch in anderer Angelegenheit zeigte Andreas Lentz schon seinen Mut und sein Engagement für Herausforderungen. Mit einer großen Anzeigeaktion hatte er sich vor wenigen Jahren von der Zusammenarbeit mit den Barsortimenten (Auslieferungen für Buchhandlungen) verabschiedet und war einer der wenigen, der sich deren kommerzielle Politik gegenüber Verlagen mit zu ungünstigen Konditionen nicht gefallen ließ.

_Zensur_ greift weltweit immer mehr um sich, nicht nur in den diktatorischen Ländern bzw. hauptsächlich der islamischen Welt. Leider vor allem in den _USA_ ist sie auf dem Vormarsch. Amerikanische Verleger müssen die Regierung um Erlaubnis fragen, was sie veröffentlichen dürfen. Das Verlegen von Literatur aus den Embargoländern, den so genannten „Schurkenstaaten“, ist genehmigungspflichtig. Auch in _Deutschland_ gibt es interessante Gepflogenheiten. Die Bundesbehörden sind berechtigt, bei Buchhandlungen und Bibliotheken Auskunft darüber einzuholen, für welche Bücher sich verdächtige Kunden interessieren und welche Werke sie kaufen. Nach der _internationalen Verlegerunion (PEN)_ wurden im vergangenen Jahr weltweit mehr als 1000 Autoren, Publizisten, Verleger und Journalisten verfolgt, davon 230 vor Gericht gestellt.
(Siehe dazu auch den Essay [„Die Geheimnisse der Zensur“]http://www.telos-verlag.de/seiten/kasrede.htm von Dr. Roland Seim M.A.)

Die _neoliberale Wirtschaftspolitik_ der 90er Jahre hat auch in den Verlagen deutliche Spuren hinterlassen. Die Tendenz zu immer größerer Konsolidierung und Kommerzialisierung hat mächtige Oligopole entstehen lassen und das Geschäft des Verlegens radikal verändert. Nicht mehr das Produkt, sondern dessen Vermarktung stehen im Vordergrund. |“Dabei sind für viele Nationen Bücher noch immer die einzigen Waffen im Ringen um die Freiheit und um das geistige Überleben“| (Hans Küng).

Das Gastland der _Frankfurter Buchmesse 2004_ – 17 Länder aus der _arabischen Welt_ – hat schon jetzt einen neuen Rekord aufgestellt. Mit 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist dies bislang die größte Gastland-Ausstellung seit Einführung dieser Einrichtung auf der Messe. Nicht beteiligt sind Algerien, Marokko, Libyen, Kuwait und Irak, die allerdings mit eigenen Beiträgen vertreten sind. Zur _Frankfurter Buchmesse 2005_ wird erstmals auch _Nordkorea_ teilnehmen. Zuvor nimmt Deutschland ebenso erstmals an der nordkoreanischen Buchmesse teil.
Realistisch betrachtet, gibt es allerdings keine wirkliche Verlagswirtschaft in Nordkorea, nicht zuletzt wegen der Papierknappheit, wodurch gar keine Bücher gedruckt werden können. Wenn ein neues Werk herauskommt, stammt es vom Großen Führer. Der Novitätenausschuss liegt in guten Zeiten bei 700 Titeln jährlich. 50 Prozent der literarischen Bücher rühmen die Revolutionsgeschichte, die anderen 50 Prozent den revolutionären Aufbau. Geschrieben wird nach Plan, die Autoren sind namenlose Kollektive. Untergrundliteratur wie im früheren Ostblock gibt es nicht. Kataloge und ein Verzeichnis lieferbarer Bücher gibt es nicht. Der Buchmarkt ist staatlich gelenkt. Oberste Behörde ist das Amt für Publikation. Selbst der Minister für auswärtige kulturelle Angelegenheiten beantwortet keine Fragen, sondern verweist auf dieses mysteriöse Amt. Die kulturelle Öffnung läuft derzeit recht breit – so ging auch beispielsweise die Eröffnung eines Lesesaals mit deutscher Literatur durch die Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach, in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang durch die Hauptnachrichtensendungen des deutschen Fernsehens. Denn dies ist die erste westliche Kultureinrichtung auf nordkoreanischem Boden.
Ob dort für koreanische Interessenten freier Zutritt möglich sein wird, muss kritisch beobachtet werden. Denn bisher werden selbst im germanistischen Institut der Kim-Il-Sung-Universtität Lexika und Gegenwartsliteratur vor den Studenten weggeschlossen. Die Leselisten für die ca. 50 Studenten stammen noch aus DDR-Zeiten, ebenso die Lehrmaterialien. Übersetzt wurden vor allem Goethe, Schiller, Heine, Remarque, Thomas Mann, Heinrich Böll und Anna Seghers. Harry Potter ist in Nordkorea unbekannt geblieben.
Vorsichtig öffnet sich Nordkorea für Kontakte nach Deutschland, die nach dem Zusammenbruch der DDR vollkommen eingestellt worden waren. Auf der Buchmesse 2005 wird Korea also Gastland sein und wiederum stellt sich dabei die riskante friedenspolitische Arbeit der Messe klar heraus. Denn Nordkorea wird dabei in die Gastlandpräsentation Korea integriert und für kurze Zeit sind dann beide Länder tatsächlich erstmals kulturell vereint. Südkorea stimmt dieser Politik zu, beide Hälften des Landes träumen von einer Vereinigung.
Mit der japanischen Kolonialherrschaft (1910 – 1945) begann für Korea ein von Kriegen und Konflikten geprägtes Jahrhundert, das Traumata und Zerstörungen zurückließ. Der Koreakrieg endete 1953 mit der Teilung des verwüsteten Landes. Norden und Süden sind militärisch gegeneinander abgeschottet und dazwischen verläuft ein vier Kilometer breiter, verminter Streifen Niemandsland. An der Grenze stehen sich waffenklirrende Truppenverbände gegenüber; allein im Norden sollen eine Million Soldaten stationiert sein. Telefonate, Briefverkehr oder Besuche sind von beiden Seiten streng untersagt.
Dennoch gibt es Versuche, sich einander anzunähern. Bereits in der sogenannten Berliner Erklärung hat der damalige südkoreanische Präsident Kim Dae-jung das kommunistische Nordkorea zu einer Politik der Versöhnung und Kooperation aufgefordert. Der nordkoreanische Kim Jong II. reagiert verhalten und nur aufgrund der wirtschaftlichen Not, aus der heraus es bereits zu einer Reihe von innerkoreanischen Projekten gekommen ist (z.B. die Sonderwirtschaftszone Kaesong). Das Interesse an einer Vereinigung ist bei den Großmächten Amerika, China und Russland sehr gering. Kulturell und politisch ist das für westliche Demokraten aber auch eine schwierige Annäherung. In Nordkorea gilt die Zeitrechnung nach der Geburt ihres Ewigen Präsidenten Kim Il Sung, zugleich Geburtsjahr der Staatslehre Juche, Werk des Großen Führers. 2004 ist in Nordkorea das Jahr 93. Aufgrund der Erfahrungen mit der japanischen Okkupation (1910 – 1945) und dem Koreakrieg setzte Nordkorea auf absolute Unabhängigkeit, mit dem Preis der Abschottung gegenüber dem Rest der Welt. Nun öffnet man sich, der wirtschaftlichen Not gehorchend. Eine Vorreiterrolle spielt dabei Deutschland, das seit 2001 diplomatische Beziehungen unterhält. Seit dem Ausbleiben von Wirtschaftshilfen aus dem ehemaligen Ostblock kann sich Nordkorea nicht mehr selbst versorgen. Die großen Hungersnöte 1994 – 1998 haben die deutsche Welthungerhilfe aktiv werden lassen.

Der diesjährige _Friedenspreis des Deutschen Buchhandels_ geht an den ungarischen Autor Péter Esterházy.

Im Juli verstarben gleich zwei der bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Zeichnerszene. _Chlodwig Poth_ (im Alter von 74 Jahren) galt als einer der wichtigsten deutschen satirischen Zeichner und erhielt noch im letzten Jahr die Goetheplakette der Stadt Frankfurt. Er hatte die Zeitschriften |Pardon| und |Titanic| mitbegründet.
Ebenfalls verstorben ist mit 45 Jahren der Karikaturist _Bernd Pfarr_, Vertreter der |Neuen Frankfurter Schule| und ebenfalls für |Titanic| tätig, aber auch für den |Stern| und das |Zeit-Magazin|. Außerdem illustrierte er Kinderbücher. Für sein Werk hatte er 1998 den Max-und-Moritz-Preis erhalten.

Ebenfalls im Juli verstarb _Joachim Radner_, Geschäftsführer der Verlagsgruppe |Beltz|, mit 46 Jahren an einem Herzinfarkt. Radner hatte 2001 die Führung der |Beltz|-Verlagsgruppe vom Senior-Verleger Manfred Beltz Rübelmann übernommen und den Verlag durch Ankauf mehrerer Fachbuch- und Kinder/Jugendprogramme ausgebaut.

|Das _Börsenblatt_, das die hauptsächlichen Quellen für diesen Essay liefert, ist selbst auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net |

Der Konflikt zwischen Israel & den Palästinensern

Norman G. Finkelstein, Nachkomme jüdischer KZ- und Holocaust-Überlebender, kritisiert aufs schärfste die derzeitige Politik Israels und es ist brisant und mutig, was er zur Vertreibungspolitik gegenüber den Palästinensern aufzeigt. Er setzt sich vehement für einen palästinensischen Staat ein, wie es auch die gesamte UNO eigentlich schon immer tut.

Es ist dabei erbärmlich zu sehen, dass eine Großmacht wie die Vereinigten Staaten ein alleiniges Vetorecht hat, mit dem sie alle Politik innerhalb der UNO bestimmen kann. Bei der Zwei-Staaten-Regelung wurde dieser z.B. in der UNO-Vollversammlung ohne Enthaltungen mit 151 zu 3 Stimmen zugestimmt. Die ablehnenden Stimmen kamen von Israel, der kleinen Insel Domenica und den USA, mit deren Stimme die Mehrheit der Nationen dieses Planeten immer gekippt werden kann. Die Konsequenz der Palästinenser, die 2000 eine zweite Intifada begannen, führte zu dem gegenwärtigen Konflikt, der so brisant ist, dass er die gesamte Welt in Aufruhr bringen kann.

Den 11. September und die Reaktionen Nordamerikas als Legitimation ausnutzend, um den letzten Rest des arabischen Widerstands gegen die Vorherrschaft Amerikas zu brechen, zieht Sharon am gleichen Strang mit dem Ziel, die Palästinenser endgültig vernichten zu können. Der Terror kommt Sharon gelegen, denn wenn die Terroranschläge nachlassen, geht Israel dazu über, führende Palästinenser zu ermorden, um den Kreislauf der Gewalt aufrecht zu erhalten. Palästinensische Gebiete wurden so lange systematisch zerstört, bis die palästinensische Reaktion die erwünschte Schwelle überschritten hatte, um den Krieg zu erklären und mit der Vernichtung der wehrlosen palästinensischen Zivilbevölkerung fortzufahren. Die ganze Gewaltspirale ist von Beginn an von den Israelis inszeniert. (Siehe dazu auch Noam Chomskys Buch „Offene Wunde Nahost“, eine weitere wesentliche Stimme der Kritik von jüdischstämmiger Seite.)

Es ist wichtig, dass diese Kritik von einem Juden kommt, denn in Deutschland ist es, wie aktuelle Ereignisse zeigen, ein Tabu Israel zu kritisieren. Jede Kritik hier wird als antisemitisch gewertet und für manche seiner Aussagen könnte ein deutscher Staatsangehöriger unter Umständen sogar Gefängnisstrafen bekommen. Kritik an dieser Politik zu üben, ist aber nichts Antisemitisches. Denn zahlreiche Juden fahren mit anderen internationalen Freiwilligen in die besetzten Gebiete, um palästinensische Zivilisten vor den Angriffen zu schützen und die israelischen Gräueltaten publik zu machen. Unter Juden in den amerikanischen Universitäten entsteht eine Anti-Apartheid-Bewegung großen Ausmaßes und führende jüdische Parlamentarier in „demokratischeren“ Ländern sprechen davon, dass die israelische Politik den Davidstern mit Blut beflecke. Davon ist hierzulande allerdings in den Medien wenig zu vernehmen.

Das sind auch keine jüdischen Ausnahmen. Die großen Persönlichkeiten, die wir in Deutschland mit dem Judentum identifizieren, wie z.B. der Philosoph Martin Buber oder Gershom Scholem, kritisierten schon immer die zionistische Bewegung und setzten sich für ein Zwei-Staaten-Modell Israel und Palästina ein. Scholem prophezeite schon damals, dass die zionistische Bewegung entweder zusammen mit den imperialistischen Nationen hinweggefegt würde oder aber im revolutionären Feuer des wieder geborenen Ostens verbrennen würde. Er mahnte, mit den Kräften der Revolution zu gehen und notfalls auf der richtigen Seite der Barrikaden zu fallen.
Für die Zionisten dagegen wohnen die Palästinenser nur zufällig in Palästina. Für sie gibt es kein palästinensisches Volk; genau wie in den Anfängen der amerikanischen Besiedlung sogar behauptet wurde, es gäbe gar keine Indianer, wurde das Land als unbewohnt dargestellt. Dieser Mythos vom „unbewohnten Land“ hat historische Vorbilder. Dasselbe wurde von den Briten in Nordamerika, von den Holländern in Südafrika wie auch von den Nazis in Osteuropa so dargestellt. Hitler verglich seinen europäischen Eroberungskrieg selbst schon mit der nordamerikanischen Eroberung. In Wirklichkeit hatte das Land eine arabische Mehrheit und eine jüdische Minderheit. Als Heimat des jüdischen Volkes beanspruchen die Zionisten sogar noch Transjordanien, die Golanhöhen, den Süden Syriens und das südliche Libanon. Der jüdische Staat, der ihnen nach dem Holocaust angeboten wurde, entsprach noch nie dem zionistischen Ziel. Der historische Anspruch der Juden auf das Land ist aber in Wirklichkeit völlig fantasiert.

Der Zionismus ist aus der romantisch-ausschließlichen deutschen, völkischen Form des Nationalsozialismus hervorgegangen. Der Nationalismus dieser Spielart besagt, dass die Blutsbande, der gemeinsame ethnische Ursprung, und nicht die Staatsbürgerschaft oder Vereinbarungen angemessene Grundlagen für Gemeinschaft sind. Auch das Eigentumsrecht der Juden auf Palästina ist von dieser deutschen Romantik gefärbt, die besagt, dass nur Juden eine echte organische Beziehung zu dem Boden Palästinas aufnehmen könnten, weil die Vorväter des jüdischen Volkes dort ihren Ursprung gehabt hätten und dort begraben seien. Dieses immer wiederkehrende Motiv im Zionismus ist deutschen Ursprungs: die mystische Beziehung zwischen Blut und Boden, die Verehrung der Helden, der Toten und der Gräber, der Glaube, dass Gräber die Quelle lebendiger Verbundenheit mit einem Land sind und dass sie die Loyalität des Menschen zu dieser Erde bezeugen, dass Blut den Boden buchstäblich befruchtet.

Das letzte Ziel des Zionismus ist es, die Juden von der Last zu befreien, mit Angehörigen eines anderen Volkes zusammenleben zu müssen. Die Lehre, dass Staaten nach ethnischer Einheitlichkeit streben sollten, wurde direkt von Hitler übernommen. Der zionistische Anspruch auf Palästina bezieht sich auf göttliches Recht, historisches Recht und zwingenden Bedarf. Keine dieser Begründungen hält einer näheren Prüfung stand. Vor allem der Glaube an das auserwählte Volk in göttlichem Auftrag ist pathologisch krank, aber die Juden waren schon früher biblisch überzeugt, dass Gott sie beauftragt hätte, die Kanaanäer auszurotten. Auch die Vereinigten Staaten unter Thomas Jefferson glaubten damals daran, dass die Amerikaner das neue auserwählte Gottesvolk seien und auf dem damaligen neuen Nationalsiegel sollten die Kinder Israels abgebildet werden, geleitet von einer himmlischen Lichtsäule. Sogar die Einführung der hebräischen Sprache als amerikanische Amtssprache war ernsthaft in Erwägung gezogen worden (Deutsch übrigens ebenfalls). Das historische Recht wurde genauso zuvor von den Nazis vertreten, um die Eroberung des Ostens zu rechtfertigen. Das ganze slawische Territorium – nicht nur Polen – wurde als ursprünglich deutsch angesehen und sei von edelstem deutschem Blut getränkt und schon germanisch gewesen, bevor irgendein Slawe seinen Fuß darauf gesetzt hätte. Die slawischen Einwanderer galten als Eindringlinge auf teutonisch-deutschem Volksboden. Genauso wenig wie im Falle dieser Nazipolitik gibt es aber ein historisches Recht des Zionismus auf Palästina. Es übergeht schlicht die zwei Jahrtausende nicht-jüdischer Besiedlung Palästinas.

Bereits die ersten zionistischen Siedler 1882 verhielten sich so, als seien sie die rechtmäßigen Herren des Landes. Die arabische Bevölkerung wurde mit der Peitsche geschlagen und der Umgang der Kolonisten mit ihnen ähnelte sehr stark dem Umgang mit Tieren. Die Araber wurden in Anspielung auf die talmudische Beschreibung der kanaanitischen Sklaven als „Volk von Eseln“ beschrieben. Sie galten als verschmutztes, verseuchtes Pack. (Einiges mehr an aktuellen derartigen Äußerungen und Ansichten kann man ebenfalls in „Offene Wunde Nahost“ nachlesen.)

Auch mit der Errichtung des heutigen Israel 1948 – der eigentliche Entwurf der UNO sieht von jeher eine Teilungsresolution in zwei Nationen vor – blieb das Vorgehen gegen das palästinensische Volk eine Ansammlung von Gräueltaten, die noch heute in ihrem vollem Umfang durch die Israelis geheim gehalten und den Historikern nicht zur Verfügung gestellt werden. Dem ehemaligen Direktor des israelischen Militärarchivs zufolge wurden in „jedem von uns während des Unabhängigkeitskrieges besetzten arabischen Dorf Handlungen verübt, die als Kriegsverbrechen gelten, wie etwa Morde, Massaker und Vergewaltigungen“. Die ursprüngliche Bevölkerung war völlig machtlos und floh in Panik vor dem Schrecken und der Gewalt. Angegriffen wurde um zu erobern, alles – Männer, Frauen wie Kinder – getötet und die Dörfer zerstört und niedergebrannt. Gnadenlos wurden Bombenflugzeuge, Kampfbomber, Artillerie-, Mörser- und Panzerbataillone zum Einsatz gebracht. Das Land lag in Schutt und Asche. „In Blut und Feuer sollte Juda auferstehen“. Diejenigen, die blieben und überlebten, wurden in Ghettos zusammengedrängt. Sehr detailliert werden von Finkelstein die Vernichtungsaktionen beschrieben, die Vergewaltigungen von minderjährigen Mädchen, das Totschlagen von Kindern, Schwangeren, Säuglingen und alten Frauen mit Stöcken. Die Täter kamen aus den Konzentrationslagern der Nazis und sie hatten von diesen gelernt – die Grausamkeiten unterschieden sich nicht. Es ging noch nie um eine Duldung der palästinensischen Bevölkerung, auch nicht um ein Zwei-Klassen- und Apartheidssystem, sondern von Anfang an um die völlige Vertreibung aller Araber aus dem Land. Selbst wenn es zur vorgesehenen Teilung des Landes durch die UNO in zwei Staaten gekommen wäre, hatte Israel bei genügender Macht vor, diese aufzuheben und sich auf ganz Palästina auszudehnen.

1955 versuchte Israel, sein Territorium auszudehnen und überfiel den Gaza an der ägyptisch-israelischen Grenze. Dieser Schlag steckte die Zündschnur in Brand, die das Pulverfass Naher Osten zum Explodieren brachte. Bis dahin zeigten die Ägypter nur wenig Interesse an den üblichen arabischen Hasstiraden gegen Israel. Nun waren aber auch ägyptische Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen. 1956 marschierte Israel im Sinai ein. Die nächste große Militäraktion Israels geschah 1966, als Israel in die Westbank einzog und Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und Werkstätten zerstörte und auch jordanische Soldaten tötete. Israel wollte damit den jordanischen König Hussein dafür bestrafen, dass er palästinensische Flüchtlinge in seinem Land aufgenommen hatte.

Obwohl diese Vergeltungspolitik gegen internationales Recht verstieß, ließ Jordanien sich einschüchtern und tat alles in der Macht Stehende, um Israel nachzugeben. In der Tat wurden bis zum Junikrieg 1967 mehr Palästinenser bei dem Versuch, nach Israel einzudringen, von jordanischen Soldaten getötet als von den Israelis selbst. König Hussein ließ den Großteil der PLO verhaften und deren jordanische Büros schließen. Damit vergifteten sich die Beziehungen der arabischen Staaten untereinander. Gegenseitig beschuldigte man sich der Tatenlosigkeit. Jordanien beklagte sich bitter über Ägypten, weil es dem Königreich gegen die israelische Allmacht nicht zur Hilfe kam.

Im April 1967 schoss Israel sechs syrische Flugzeuge ab und im Mai drohte es mit einem Angriff auf Syrien. Syrien hatte allerdings einen Militärpakt mit Ägypten, weswegen ägyptische Truppen sich im Sinai formierten. Der dortige Präsident Nasser konnte es sich nicht mehr leisten, erneut seine Hilfe einem arabischen Land zu verweigern, wenn er seinen Ruf in der arabischen Welt wahren wollte. Aber er wollte dennoch eine diplomatische Beilegung des Konflikts und schickte seinen Stellvertreter nach Washington. Bevor dieses Treffen zustande kam, schlug Israel allerdings mit einem Überraschungsangriff zu.

Ab nun war klar, dass Israel alle Araber aus dem Weg räumen will und das mit jedem Mittel. Die UNO war nicht in der Lage, sich den aggressiven und bewaffneten Besetzungen Israels entgegenzustellen. Vereinzelt kam es zu syrischer Verteidigung auf Siedlungen und militärische Stellungen in Israel, was aber vom UNO-Sicherheitsrat nicht kritisiert wurde. Die UNO sah die Hauptverantwortung für die Feindseligkeiten völlig klar von Israel ausgehend. Es wurde sowieso beklagt, dass die Israelis unverändert die wiederholten Aufforderungen der Resolution der UNO-Vollversammlung vom Dezember 1948 ignorieren, die besagt, dass die palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren dürfen oder sie für ihren verlorenen Besitz zu entschädigen sind. UNO-Generalsekretär U Thant zeigte völliges Verständnis dafür, dass die Palästinenser sich entschieden hatten, unabhängige Guerillaorganisationen zum Kampf gegen Israel zu gründen. Die Vereinigten Staaten aber signalisierten den Israelis, dass sie deren militärische Aktionen willkommen heißen.

Jordanische und ägyptische Gebiete wurden erobert. Beide arabische Länder versuchten nach diesem Krieg verzweifelt, die Israelis durch Friedensverhandlungen zum Rückzug zu bewegen. Auch alle UNO-Vermittlungsversuche erbrachten keine Lösung. Israel erklärte, dass es die eroberten Gebiete niemals mehr verlassen werde. Da alle diplomatischen Friedensversuche scheiterten, stand Ägypten 1972 vor der Entscheidung: bedingungslose Kapitulation oder Krieg. Ägypten entschied sich für Krieg und begann 1972 zusammen mit Syrien mit den Vorbereitungen eines konventionellen Angriffs mit dem einzigen Ziel, sich die besetzten Gebiete zurückzuholen. Wohl für keinen Krieg in der Geschichte wurde vorab soviel Reklame gemacht wie für diesen „Überraschungs“-Angriff Ende 1973. Eineinhalb Jahre lang wurde gedroht, ohne dass dies ernst genommen wurde und ein Einlenken erbrachte.

Israel war letztlich in der Tat überrascht und zuerst sah es sogar so aus, als würde der Krieg für Israel fatale Folgen haben. Der Durchbruch der ägyptischen Truppen machte möglich, dass der ägyptische Präsident 1977 in Israel vor der Knesset sprechen konnte. Er forderte die Zurückgabe des Sinai und auch die Grundrechte des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Gründung eines eigenen Staates. In den folgenden Verhandlungen wurden die anderen arabischen Staaten nicht mehr einbezogen. Ein Friede zwischen Ägypten und Israel stärkte die Macht Israels. Ägypten verfügt über die einzigen Invasionstruppen, die eine militärische Bedrohung darstellen.

Nach dem Friedensvertrag mit Ägypten begann Israel mit seinen weiteren Kriegsplänen zur Kontrolle der Westbank und des Gazastreifens. Die von Jordanien in den Libanon abgewanderte PLO war das nächste Ziel. 1982 bombardierte Israel den Libanon und es kamen zweihundert Menschen ums Leben, davon allein 60 Kinder in einem palästinensischen Kinderhaus. Daraufhin schlug die PLO zurück , tötete |einen| Israeli und lieferte damit den erwünschten Vorwand, um ins Land einzumarschieren und unter der wehrlosen Bevölkerung ein Massaker zu veranstalten, dem 20.000 Palästinenser und Libanesen zum Opfer fielen. Ein kleiner Zahlenvergleich: Bis Mai 2002 belief sich die Gesamtzahl der jüdischen Opfer seit Beginn der zionistischen Bewegung vor 120 Jahren auf etwa diese Anzahl. Nach Vorbild der Nazis werden gezielt palästinensische Rettungswagen und medizinisches Personal sowie Journalisten beschossen und palästinensische Kinder werden so ganz nebenbei getötet. Wahllos erfolgen Luftangriffe auf Wohngebiete, Häuser werden mitsamt den sich darin zusammendrängenden Menschen mit Bulldozern eingerissen.

Bei dem aktuellen Vorgehen gegen Palästinenser ist es wie eh und je. Es kommt zu ernsten Verstößen der israelischen Streitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht, juristisch gesehen handelt es sich um Kriegsverbrechen. Das Vorbild USA legitimiert Israel umso mehr, denn seit dem 11. September respektieren auch die USA nicht mehr das Völkerrecht und haben es als nichtig erklärt. Amerika bombardiert erstmals auch ohne das offizielle Einverständnis der Vereinten Nationen andere Staaten. Früher wurden noch durch geheime Operationen unbequeme Regierungen anderer Länder gestürzt. Israel hat von der derzeitigen Bush-Regierung völlige Rückendeckung und erhebliche finanzielle und militärische Unterstützung, nur dadurch konnte sich über internationale Konventionen hinweggesetzt und die UNO daran gehindert werden, im Frühjahr 2002 die Ereignisse in den Flüchtlingslagern – auf so demütigende Weise für die UNO-Mission – zu untersuchen. Die Amerikaner berufen sich in ihrer Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen auf die Bibel, Genesis 13 – 17. Die Vertreibung der Palästinenser hat für sie nach außen dargestellt keine politischen Gründe, sondern ist gottgewollt. Mit dieser Ausrichtung braut sich aber ein Feuersturm zusammen, der in der arabischen Welt eine Kettenreaktion auslösen wird, gegen die sich der 11. September wie ein Kaffeekränzchen ausmacht. Die Vertreibung der Palästinenser darf nicht unbekümmert ignoriert bleiben.

_Literatur:_

Norman G. Finkelstein – Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern – Mythos und Realität
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3720523683/?tag=buchwurminf08-21
400 Seiten, gebunden
Diederichs 2002
ISBN 3-7205-2368-3

ergänzend:

Noam Chomsky – Offene Wunde Nahost
– Israel, die Palästinenser und die US-Politik
360 Seiten, Paperback
Europa 2003
ISBN 3-203-76017-7
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3203760142/?tag=buchwurminf08-21
Onlinefassung: http://www.chomsky-forum.de/cf__book__toc.php?ISBN=3-203-76014-2 von 2002

_Weiterführende Informationen:_

siehe „Geschichte Palästinas“ https://buchwurm.org/geschichte-palaestinas/ – Historisches & Politisches zum Nahostkonflikt

Die EU auf dem Sprung zur Militärmacht (Teil 2)

|Der nachfolgende Artikel von _Winfried Wolf_ erschien zuerst am 15.07.2004 in der Tageszeitung [junge Welt]http://www.jungewelt.de/ und wird an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung der jW-Redaktion veröffentlicht. (Darstellung in alter Rechtschreibung)
Zuvor wird die Lektüre von Teil 1, [„Kein Europa der Bürger“,]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=16 empfohlen.|

Als Anfang der 1990er Jahre der geplante Zusammenschluß der Fluggesellschaften |KLM|, |SAS|, |Swissair| und |Austrian Airlines| scheiterte, wies das US-Wirtschaftsblatt |Business Week| auf eine bedeutende Schwäche der europäischen Wirtschaftswelt hin: |»Eine Restrukturierung der europäischen Industrie, die ohne Rücksicht auf nationalstaatliche europäische Grenzen erfolgte, wäre exakt der letzte, entscheidende Schritt hin zu Produktionseinheiten auf höherer Stufe. Es handelt sich jedoch um einen Schritt, den Europa offensichtlich nicht machen kann.«|

Tatsächlich gibt es knapp 50 Jahre nach der Bildung eines europäischen Wirtschaftsblocks kaum einen »europäischen« Konzern und – sieht man von Rüstung und Luftfahrt ab und berücksichtigt man die Übernahme von |Aventis| durch |Sanofi| – keinen bedeutenden deutsch-französischen Konzern. Versuche in dieser Richtung gab es – doch sie scheiterten. Genauer gesagt: Es setzte sich jeweils ein »Fusionsmodell« durch, bei dem die Flagge der Muttergesellschaft in der Regel national blieb. |NSU| wollte mit |Citroën| zusammengehen – tatsächlich verwandelte sich |NSU| in |Audi| und wurde |VW|-Tochter; |Citroën| wurde von |Peugeot| übernommen. |Hoesch| (BRD) und |Hogoovens| (Niederlande) gingen zu |»Estel«| zusammen – und scheiterten. Heute ist |Hoesch| Teil von |ThyssenKrupp|; |Hogoovens| wurde von |British Steel |übernommen. |Osram| sollte mit dem niederländischen Konzern |Philipps| zusammengehen; tatsächlich wurde |Osram| in |Siemens| eingegliedert; |Philipps| übernahm |Grundig|. |Renault| sollte mit |Volvo| mit »gleichberechtigtem Management« zusammengehen. Tatsächlich wurde |Volvo| in das |Ford|-Imperium eingefügt; |Renault| übernahm |Nissan|. |Beiersdorf| sollte zum französischen Unternehmen |Oréal| kommen; doch die deutsche Seite bestand darauf, daß die |Nivea|-Creme deutsch bleibt.

Als vor drei Monaten der deutsch-französische Pharmakonzern |Aventis| von dem französischen (und beim Umsatz halb so großen) Unternehmen |Sanofi| geschluckt wurde, äußerte der neue Boß Jean-Francois Dehecq den klassischen Satz, der in ähnlicher Form weltweit bei allen Fusionen zu hören ist: »Bei uns herrscht im neuen Vorstand Gleichberechtigung. Allerdings bin ich der Chef.«

Kurz: Unter den 200 größten Konzernen der Welt gibt es 76 US-amerikanische, 40 japanische und 68, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben. Rechnet man die Schweiz hinzu, sind es sogar 74. Doch es handelt sich nicht um »europäische Konzerne«. Es sind auch nicht, wie in der NAFTA (|North American Free Trade Agreement|), Konzerne, die zu einem dominierenden Nationalstaat – in der NAFTA zu den USA – zählen. Vielmehr sind es 22 deutsche, 17 französische, zehn britische, sechs niederländische, sechs italienische, drei spanische und je ein schwedischer bzw. luxemburgischer Konzern. Hinzu kommen mit |Unilever| und |Royal Dutch Shell| zwei britisch-niederländische Unternehmen, deren »Binationalität« allerdings kein Ergebnis der EU, sondern über fast 100 Jahre gewachsen ist.

|Basis und Überbau|

Damit aber haben die EU-Strategen ein Problem. Ohne Basis kein Überbau. Will sagen: Ohne ökonomische Basis, ohne europäisches Kapital, kann sich der gesamte Überbau – EU-Kommission, EU-Verfassung, Europäische Zentralbank (EZB) bzw. Einheitswährung Euro – als an die Wand genagelter Pudding erweisen. Kommt es nicht zu einer Europäischen Union mit entweder europäischen Konzernen oder mit überwiegend Konzernen, die zu einem führenden Nationalstaat zählen, dann wird die EU immer von inneren nationalstaatlichen Spannungen gekennzeichnet sein und Gefahr laufen, in Krisenzeiten auseinanderzubrechen.

Dieses Problem war fast ein halbes Jahrhundert lang kein zentrales – solange sich die Weltmarktkonkurrenz nicht verschärfte. Seit der Wende 1989/90 leben wir jedoch in der neuen alten Welt des klassischen, ordinären Kapitalismus. Die Konkurrenz verschärft und die Krisenerscheinungen vertiefen sich; die Militarisierung ist allgemein. Die Blockbildung ist für die Konzerne und Banken in Europa die einzige Chance, in diesem Kampf zu bestehen bzw. die Konkurrenz der US-Unternehmen auf die Ränge zu verweisen.

In dieser Situation gibt es theoretisch drei Wege, wie die EU sich im kapitalistischen Sinn »weiter« entwickeln kann: Erstens, indem die Dominanz der deutschen Konzerne und Banken weiter ausgebaut wird. Zweitens, indem die »Achse Berlin–Paris« als alleinige, strategische angesehen wird und deutsche und französische Konzerne die ökonomische und politische Macht in der EU an sich reißen. Und drittens gibt es den Weg von Militarisierung und Krieg, die Schaffung eines Europas im Feuer von Kriegen.

Der erste Weg wird seit langem beschritten. Das Gewicht der deutschen Ökonomie innerhalb der EWG (EG bzw. EU) hat sich im ganzen letzten halben Jahrhundert, seit Gründung der EWG 1957, von Jahr zu Jahr verstärkt. Die EU-Osterweiterung ist ein weiterer großer Schritt in diese Richtung. Die deutschen Unternehmen konnten seit 1990 ihre Positionen in Mittel- und Osteuropa weit stärker aufbauen als dies den Großunternehmen aus anderen EU-Staaten gelang. Dabei gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und österreichischen Unternehmen und Banken. Letztere agieren oft als deutsche Vorhut. Erstere können ohnehin davon ausgehen, daß es zu einem zweiten und »friedlichen Anschluß« kommt: Die österreichische Wirtschaft wird längst zu einem erheblichen Teil vom deutschen Kapital kontrolliert.

Doch dieser erste Weg gleicht einer Gratwanderung. Wenn es die deutschen Konzerne und Banken zu bunt treiben, wenn sie ihre reale Vormachtstellung zu brutal ausnutzen, werden sie »Rest-Europa« gegen sich aufbringen. Vor diesem Hintergrund war das Gerangel um das Abstimmungsprozedere in den EU-Institutionen wichtig. Vor allem Berlin drängte darauf, daß die Einigung über das Statut der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 (der sogenannte Kompromiß von Nizza) rückgängig gemacht und die Möglichkeit ausgebaut wurde, das deutsche Stimmengewicht im Verein mit wenigen Bündnispartnern zu Mehrheitsentscheidungen im deutschen Interesse zu führen. Durch die Abwahl der Regierung Aznar in Spanien und das Scheitern der Regierung Miller in Polen wurde in diesem Punkt auf der EU-Regierungskonferenz die deutsche Position weitgehend durchgesetzt.

|Spannungen|

Der zweite Weg, die deutsch-französische Zusammenarbeit, wird beim »Projekt Europa« ebenfalls seit fünf Jahrzehnten beschritten. Dabei gab es Höhen und Tiefen. Derzeit läuft die Achse Paris–Berlin wieder einmal nicht rund. Wer diese aktuellen deutsch-französischen Spannungen verstehen will, der sollte die Sätze zur Kenntnis nehmen, die am 23. September 1971 der französische Staatspräsident Georges Pompidou sprach: |»Im Aufbau Europas verfügt Deutschland über eine überlegene Wirtschaftsmacht – vor allem weil seine Industrieproduktion um fast die Hälfte größer ist als die unsere. Deshalb habe ich die Verdoppelung unserer Industriekapazitäten in den nächsten zehn Jahren als vorrangiges Ziel formuliert.«|

Diese Zielsetzung schlug nicht nur fehl. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich der wirtschaftliche Abstand zwischen Deutschland und Frankreich und vor allem derjenige zwischen den deutschen und französischen Topkonzernen nochmals vergrößert. 1980 lag der addierte Anteil des deutschen und des französischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) am BIP der EG mit 41,1 Prozent ähnlich hoch wie im Jahr 2000 (40,2 Prozent). Dabei zählte die EG damals lediglich zwölf Mitgliedsländer; im Jahr 2000 waren es 15 Länder – Österreich, Finnland und Schweden waren hinzugekommen. Das »spezifische deutsch-französische Gewicht« konnte selbst in einer erheblich vergrößerten EG/EU gehalten werden.

Doch das jeweilige Gewicht der beiden Räder an der Achse Paris–Bonn/Berlin hatte sich deutlich verlagert. 1980 lagen die Anteile Frankreichs und Westdeutschlands am EG-BIP sehr nahe beieinander: Der deutsche Anteil machte 22,1 Prozent aus, der französische 19 Prozent. Im Jahr 2000 liegt der deutsche Anteil am EU-BIP bei 24 Prozent, der französische bei 16,5 Prozent. Das heißt: Die Tatsache, daß die Achse Paris-Bonn/Berlin innerhalb der erweiterten EU weiterhin dominiert, war in erster Linie dem gesteigerten Gewicht der deutschen Wirtschaft geschuldet. Das hat zweifellos auch mit dem seit 1990 vergrößerten Deutschland zu tun. Doch bei einem Blick auf den Welthandel stellt sich ein ähnliches Ergebnis ein. Der Anteil der französischen Wirtschaft an den Weltexporten lag 1980 bei knapp sechs Prozent und sank seither kontinuierlich – bis auf unter fünf Prozent 2003. Die deutschen Exporte erreichten 2003 den Rekordwert von 12 Prozent; Deutschland wurde wieder Exportweltmeister. Der Abstand zwischen den deutschen und den französischen Exporten vergrößert sich damit kontinuierlich. Beim Vergleich der industriellen Produktion blieb es im großen und ganzen bei dem Abstand, den Pompidou vor 33 Jahren festgestellt hatte: Der Output der deutschen Industrie liegt um knapp 50 Prozent über demjenigen der französischen.

In der aktuellen deutsch-französischen Debatte geht es um die Schaffung »europäischer Champions«. Doch macht man die Frage zum Maßstab, welche deutschen und französischen Konzerne unter den sogenannten Global Players vertreten sind, dann wird das Ergebnis in Paris als bitter empfunden. 2003 befanden sich unter den 20 größten europäischen Industriekonzernen sechs deutsche, jedoch nur drei französische. Dabei nehmen in der Regel die deutschen Topunternehmen in ihrer jeweiligen Branche die Spitzenposition ein. Im Fahrzeugbau liegen |DaimlerChrysler| und |VW| vor |Peugeot| und |Renault|. Im Kraftwerksbau hat |Siemens| einen mehr als dreimal größeren Umsatz als |Alstom|. In der Stahlbranche ist |ThyssenKrupp| stärker als |Arcelor|, wobei es sich bei dem letztgenannten »nur« um einen luxemburgischen Konzern mit starkem französischem Einfluß handelt. Ähnlich sieht es im Bereich der Banken und Versicherungen aus: Die |Deutsche Bank| liegt deutlich vor der Nummer eins in Frankreich, der |BNP Paribas|. Die |Allianz| liegt vor |Axa|.

Klammern wir die Rüstung aus, dann verbleiben nur drei industrielle Branchen, in denen ein französischer Champion vor der deutschen Konkurrenz liegt: im Ölgeschäft, wo |Total| (zuvor: |TotalFinaElf|) keine deutsche Konkurrenz kennt; in der Bahntechnik, in der |Alstom| vor allem mit den TGV-Hochgeschwindigkeitszügen und der Niederflur-Tram »Citadis« deutlich vor |Siemens| rangiert, während der Münchner Konzern wiederum mit dem Diesel-ICE und den Combino-Straßenbahnen veritable Einbrüche erlitt – und in der Pharmabranche, in der der jüngst fusionierte Konzern |Sanofi-Aventis| auf Platz drei der Weltrangliste landete – hinter dem US-Konzern |Pfizer| und dem britischen Unternehmen |GlaxoSmithKline| und weit vor der deutschen Konkurrenz (|Boehringer-Ingelheim|, |Bayer| und |Schering|).

Nicht zufällig geht es beim aktuellen deutsch-französischen Zoff um zwei dieser drei Bereiche. Nicht zufällig erhöht die deutsche Seite seit Mitte 2004 den Druck auf die französische Regierung, den |Alstom|-Konzern ganz oder weitgehend an |Siemens| auszuliefern.

|Krieg als »dritter Weg«|

Die einzigen Bereiche, in dem es eine funktionierende deutsch-französische Zusammenarbeit gibt, sind die Luftfahrt, die Raumfahrt und die Rüstung. Dies ist der dritte Weg, aus der EU eine in sich geschlossene Blockkonkurrenz zu den USA zu machen. Es ist auch der Weg, die »wirkliche Souveränität« der EU zu demonstrieren. Zu einem »richtigen« Staat gehörte immer die Funktion, »eigene« Kriege führen zu können – und sie dann auch zu führen. Die gegenwärtige Emanzipation Europas ist nichts anderes als die Kriegsbefähigung der EU.

Dabei handelt es sich bei Luftfahrt und Rüstung um Sektoren, die in erheblichem Maß von staatlichen Aufträgen und Subventionen bestimmt sind und teilweise direkt unter staatlicher Kontrolle betrieben werden. Wenn man so will, handelt es sich um »Industriepolitik pur« oder, in den Worten von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, um einen »wettbewerbspolitischen Sündenfall«. So waren denn auch Jacques Chirac und Gerhard Schröder wie zwei Taufpaten zugegen, als im Herbst 1999 der deutsch-französisch-spanische Rüstungszusammenschluß |EADS| gefeiert wurde.

Seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurde das »Europa der Militarisierung« dynamisiert. Die EADS stellt den Kern eines großen militärisch-industriellen Komplexes dar. Indem EADS zu zwei Dritteln |Airbus| kontrolliert, gehen Rüstung und zivile Luftfahrt eine enge Symbiose ein – wie auch im Fall |Boeing| in den USA. Der einzige große europäische Rüstungskonzern, der bisher »außen vor« blieb, ist |BAe| (|British Aerospace Systems|). Dabei erhält |BAe| inzwischen mehr militärische Aufträge vom Pentagon als von europäischen Regierungen. Das hatte zweifellos die Partnerschaft, die Tony Blair mit George Bush im Irak einging, begünstigt. Die nächsten EU-weiten militärischen Zusammenschlüsse sind bereits in der Pipeline: Im Mai 2004 wurde der Zusammenschluß der deutschen Militärschiffbaukapazitäten (|HDW| in Kiel, |Deutsche Nordseewerke| in Emden und |Blohm & Voss| in Hamburg) beschlossen. Dieser Zusammenschluß zielt darauf ab, demnächst den deutsch-französischen Zusammenschluß aller Marinekapazitäten, eine »EADS zur See«, zu bilden. In Frankreich wären |Thales| und eine Sparte von |Alstom| Teil dieser Fusion im Kriegsschiffbau der EU. Weitere Zusammenschlüsse stehen zur Debatte – im Panzerbau und bei den Triebwerksherstellern (|MTU|/BRD, |Snecma|/Frankreich und |Fiat Avio|/Italien).

Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, daß in dem Entwurf für die EU-Verfassung steht: »Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. Es macht Sinn, wenn in dieser Verfassung der neuen EU-Rüstungsagentur exekutive Rechte zur Durchsetzung dieser Aufrüstungsverpflichtung gegeben werden. Und es macht Sinn, wenn in dem Protokoll über die »ständige strukturierte Zusammenarbeit«, das auf der letzten EU-Regierungskonferenz gleichzeitig mit dem Entwurf der EU-Verfassung verabschiedet wurde, der Aufbau eines militärischen Kerneuropas festgelegt wird. Dort heißt es, daß dieses militärische Kerneuropa »bis 2007 über die Fähigkeit verfügen (muß) … innerhalb von fünf bis 30 Tagen Missionen … aufzunehmen«. Gemeint ist: Kriege zu führen.

Die beschriebenen »drei Wege«, um zu einem neuen EU-Staat zu gelangen, sind nur in der Theorie getrennt. In der Praxis werden alle drei Wege gleichzeitig beschritten. Das Erschreckende ist: Der Weg, der am ehesten »Erfolg« haben wird, ist der dritte, derjenige über Rüstung und Krieg. Dies war auch der Weg, der 1871 zum Deutschen Reich führte. Ähnlich der EWG/EG 1957 bis 1990 hatte vor 1871 die vorausgegangene lange Phase des Freihandels (»Norddeutscher Bund«) nicht zur Herausbildung eines deutschen Kapitals geführt. Erst der Überfall Napoléons III. auf Deutschland 1870 und der dann folgende preußische Feldzug gegen Frankreich führten in den Spiegelsaal von Versailles, in dem das Deutsche Reich ausgerufen wurde. Wobei schon im Gründungsakt neue Aufrüstung, Imperialismus und Weltkrieg angelegt waren.

|Lenin revisited|

In einer frühen Debatte zum Thema Globalisierung schrieb ein Verfechter der Globalisierungsthese, es habe sich ein »Ultraimperialismus« herausgebildet. Dabei sei »an die Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das verbündete Finanzkapital« getreten. Demgegenüber stand eine zweite Position, die diese Art eines »neuen Kapitalismus« hinterfragte, auf die fortexistierende Konkurrenzsituation und auf die sich erneut abzeichnende offene Konfrontation mit den Sätzen verwies: |»Ultraimperialistische Bündnisse sind … in der kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise Atempausen zwischen Kriegen … Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nichtfriedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.«|

Diese Debatte fand ziemlich genau vor neunzig Jahren statt. Das erste Zitat stammt von Karl Kautsky, das zweite von Wladimir Iljitsch Lenin. Der letztere sollte auf erschreckende Weise recht behalten. Den scheinbaren »Ultraimperialismus« mit seinem »verbündeten Finanzkapital«, das die »gemeinsame Ausbeutung der Welt« organisiert, gab es nicht. Ansätze, die man dafür halten konnte, lösten sich bald auf zugunsten einer verschärften Konkurrenz und von Aufrüstung, mündend in den Weltkrieg.

Die »zivilen« Tendenzen, die heute von einigen dem Projekt EU zugeschrieben werden, und die dann besonders zivil aussehen, wenn sie als Kontrast zu dem »aggressiven US-Imperialismus« dargestellt werden, gibt es nicht. Vor allem begab sich die EU längst auf den Weg, eben diese Phase verschärfter Konkurrenz, Aufrüstung und Orientierung auf Kriege einzuleiten.

Die Kräfte, die dieses Europa der Militarisierung betreiben, sind oft weit geschichtsbewußter als die Linke. Sie demonstrieren gelegentlich offen, daß sie die »friedliche« Durchdringung Europas in einem engen Zusammenhang mit den zwei militärischen Versuchen der deutschen Konzerne und Banken sehen, ein Europa unter deutscher Hegemonie zu errichten.

Der |VW|-Konzern ließ am 15. März 1999 in den großen tschechischen Tageszeitungen ein ganzseitiges Inserat unter der Kopfzeile »Die große Frühjahrsoffensive« schalten. Er warb dabei für |VW| und für die |VW|-Tochter |Škoda|. Viele Tschechen wurden dabei an die große Frühjahrsoffensive erinnert, die auf den Tag genau fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte, als deutsche Truppen am 15. März 1939 das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren errichteten. Die graphische Gestaltung der Anzeige wies im Zentrum eine alte Militärkarte auf.

_Winfried Wolf_
|Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung der Tageszeitung [junge Welt]http://www.jungewelt.de/ veröffentlicht.|

Die EU auf dem Sprung zur Militärmacht (Teil 1)

|Der nachfolgende Artikel von _Winfried Wolf_ erschien zuerst am 14.07.2004 in der Tageszeitung [junge Welt]http://www.jungewelt.de/ und wird an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung der jW-Redaktion veröffentlicht. (Darstellung in alter Rechtschreibung)|

Die Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europaparlament am 13. Juni 2004 lag EU-weit bei 44,2 Prozent. In Polen, dem wichtigsten neuen EU-Mitgliedsstaat, erreichte sie 20 Prozent. Die |Süddeutsche Zeitung| kanzelte die Bevölkerung schon vor der Wahl mit dem Satz ab: »Das Europa der Bürger – es trägt sich beim Urnengang selbst zu Grabe« (12.6.2004). Dabei geht die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger offensichtlich davon aus, daß man nur zu Grabe tragen kann, was zuvor lebendig war. Es gab vor der Wahl kein »Europa der Bürger«, so wie es nach den Leibesübungen vom 13. Juni keinerlei Demokratie und nicht einmal eine ernsthafte demokratische Mitbestimmung auf EU-Ebene gibt. Dies zeigte sich bereits wenige Tage nach der Wahl, als um die Nachfolge des EU-Spitzenmannes Romano Prodi gefeilscht wurde. Es kam erst gar niemand auf die Idee, daß das soeben neu gewählte Europaparlament etwas damit zu tun haben könnte, wer den EU-Spitzenjob verrichtet.

Dabei geht es bei der EU um viel. Es geht sogar um das wichtigste Projekt, das es seit der Bildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert – und aus deutscher Sicht: seit der Bildung des Deutschen Reichs 1871 – gab. Den Eigentümern und dem Topmanagement der in Europa maßgeblichen Konzerne und Banken erscheint seit einigen Jahrzehnten der nationalstaatliche Rahmen, in dem sie sich bewegen – das heißt, in dem sie Arbeitskräfte ausbeuten, in dem sie Steuern (nicht) zahlen, in dem sie auf Infrastruktur, Polizei und Militär zurückgreifen und in dem sie eine Regierung kontrollieren – zu eng. Diese Herren und wenigen Damen sehen dies vor allem mit Blick auf die wichtigsten Konkurrenten so: Die US-amerikanischen Konzerne und Banken verfügten von vornherein über einen weit größeren Binnenmarkt, um den herum sie Schutzzölle und Handelshemmnisse errichten konnten, aufgrund dessen sie über eine weit mächtigere Regierung, die für sie militärisch die Eroberung der Weltmärkte absicherte, zurückgreifen konnten. Hier galt und gilt es, einen Gegenpol zu schaffen. Nicht ein »Europa der Bürger«, wohl aber ein Europa der Konzerne und Banken und eine EU der Bosse und Bürokraten war und ist das Ziel. Die Einrichtung des Europaparlaments, die Wahlen zum Europäischen Parlament und die Europäische Verfassung sollen dieses Projekt demokratisch ummänteln.

|Alte Ziele in neuem Gewand|

Die wichtigsten materiellen Ziele der Europäischen Union wie Zollunion, gemeinsame Wirtschaftspolitik, Europäische Zentralbank und einheitliche Währung, wie sie in der neuen EU-Verfassung, die Mitte Juni von den EU-Regierungen beschlossen wurde, festgeschrieben sind, wurden zu einem frühen Zeitpunkt wie folgt formuliert: »Die Einigung Europas … ist eine zwangsläufige Entwicklung. Die ungeahnten Fortschritte der Technik, die Schrumpfung der Entfernungen infolge der modernen Verkehrsmittel … und der Zug der Zeit … nötigen Europa zum engeren Zusammenschluß. Europa ist zu klein geworden für sich befehdende und absperrende Souveränitäten. Es besteht … das Ziel … einer europäischen Zollunion und eines freien europäischen Marktes, fester innereuropäischer Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Währungsunion.«

So lautete der Entwurf einer Denkschrift des deutschen Auswärtigen Amtes »über die Schaffung eines Europäischen Staatenbundes« vom 9. September 1943. (1)

Die klügsten Vertreter von Nazi-Deutschland und die mit ihnen eng verbundenen Bosse der großen deutschen Banken und Konzerne strebten an, nach einem militärischen Sieg im Zweiten Weltkrieg ein Europa zu schaffen, dessen wirtschaftliche Grundlagen denjenigen entsprechen, die heute mit der EU verwirklicht werden. Damit erfolgt keine Gleichsetzung zwischen der NS-Europapolitik und der EU-Politik bzw. der Berliner EU-Politik. Es wird lediglich nüchtern festgestellt, daß der materielle und vor allem der wirtschaftliche Gehalt der jeweiligen Europa-Strategien identisch ist.

Da die führenden deutschen Wirtschaftskreise und das deutsche Militär zweimal, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, dabei scheiterten, ein solches Europa mit militärischen Mitteln zu schaffen, lag nach 1945 der Versuch nahe, vergleichbare Zielsetzungen mit friedlichen Mitteln zu verfolgen. Stationen auf diesem Weg waren 1950 die Bildung der Montanunion (EGKS – Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), 1956 die Bildung einer »Europäischen Atomaren Gemeinschaft – Euratom« und 1957 die Bildung der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)«. Diese »europäische Zusammenarbeit« hatte von Anfang an eine militärische Komponente. So sollte – vorangetrieben durch die Regierungen in Paris und in Bonn – schon 1952 die »Europäische Verteidigungs-Union (EVU)« gebildet und damit vorzeitig eine deutsche Wiederaufrüstung betrieben werden. Bereits damals hätte dieses Projekt in Widerspruch zu einer transatlantischen militärischen Zusammenarbeit, wie es sie mit der NATO gab, gestanden. Die EVU scheiterte dann am französischen Parlament, in dem zu dieser Zeit noch die Furcht vor einem Westdeutschland mit eigenem Militär überwog. Anstelle der EVU wurde später als europäische militärische Struktur die Westeuropäische Union (WEU) gebildet, die allerdings bis in die neunziger Jahre hinein ein Schattendasein führte.

|F. J. Strauß: »Warum nicht wir?«|

Bereits bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 war die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit von Paris und Bonn entscheidend für deren Zusammenhalt und Zukunft. Aus französischer Sicht sprach für eine enge Kooperation der einstigen Kriegsgegner von 1870/71, 1914–1918 und 1939–1945 die Hoffnung auf eine deutsche wirtschaftliche Unterstützung bei der Umstrukturierung der eigenen Ökonomie. Nach Krieg und Besatzung war die Wirtschaft Frankreichs zusätzlich mit Kolonialkriegen in Indochina (bis 1954) und Algerien (bis 1962) und mit dem Verlust des größeren Teils seines Kolonialreichs belastet. Es war die EWG, die in dieser Hinsicht Frankreich eine Auffangstellung bot. Der EWG-Vertrag regelt explizit das spezielle Verhältnis Frankreichs zu seinen »überseeischen Ländern und Territorien«. Aus Kolonien wurden in der Sprache der EWG-Bürokraten »Überseeterritorien«. Diese Bestimmungen gelten bis heute fort. Als der Euro eingeführt wurde, wurde ausdrücklich festgelegt, daß die französische Regierung in ihren Kolonien und in den von Paris abhängigen Regionen, in der sogenannten Franc-Zone, eine eigene Währungspolitik praktiziert.

Es ist interessant, daß die westeuropäische Linke das »Projekt Europa« jahrzehntelang in seiner Bedeutung nicht erkannte. Nur vereinzelt gab es Kritik. So forderte der französische Intellektuelle Frantz Fanon, der sich im Algerien-Krieg auf die Seite der algerischen Befreiungsfront stellte, in seinem 1961 verfaßten Werk »Die Verdammten dieser Erde« dazu auf, die verlogenen Begriffe von einem Europa der »Demokratie« und »Menschenrechte« nicht nachzuplappern. Die nachfolgende Passage aus diesem Buch liest sich wie eine vorweggenommene Kritik am Schengener Abkommen und an der EU-Verfassung. |»Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. Nur beim Menschen hat es sich knausrig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch. Brüder, wie sollten wir nicht begreifen, daß wir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen.«|

Die französischen Regierungen erhofften sich, mit der Achse Paris–Bonn und später Paris–Berlin die bereits wieder erstarkte westdeutsche Wirtschaftsmacht in eine EWG einbinden zu können. Dabei sollte diese EWG politisch, militärisch und kulturell von Frankreich bestimmt sein. Aus Bonner Sicht sprach für das Bündnis mit Paris der Wunsch, die NS-Zeit und die daraus resultierende politische Isolierung überwinden zu können. Gleichzeitig bot eine Achse Paris–Bonn die Chance zur Herausbildung eines europäischen Wirtschaftsblocks, der langfristig zu einer Herausforderung für die Hegemonialmacht USA werden sollte.

1967 erschien in Frankreich das Buch »Die amerikanische Herausforderung«, verfaßt von Jean-Jacques Servan-Schreiber, einem führenden Wirtschaftsjournalisten. Darin wurde die EWG als europäische Antwort auf die Macht der US-Konzerne definiert. 1968 verfaßte Franz Josef Strauß, damals der wichtigste Politiker, der für einen wirtschaftlich und militärisch erstarkenden deutschen Imperialismus eintrat, das Vorwort zu dieser Streitschrift. Darin hieß es, die EWG sei bereits »zur Frontlinie der amerikanischen Industrie, zum Schlachtfeld ihrer Macht geworden«. Strauß stellte die rhetorische Frage: »Warum die Amerikaner? Warum nicht wir?« Strauß begründete kurz darauf in seiner Zeit als Finanzminister der Großen Koalition (1966–1969) die Ziele der deutsch-französischen Zusammenarbeit folgendermaßen: |»Mit dem Entschluß Frankreichs und Deutschlands, ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern … läßt sich die politische Einigung Westeuropas in Gang bringen. Unsere beiden Länder sollten ihre Mittel auf allen Gebieten der modernen Hochleistungstechnik für wirtschaftliche und militärische Zwecke zusammenlegen.«|

|EWG als »Resonanzboden«|

Doch genau zum letzteren kam es nicht. Trotz mancher politischer Gesten und Bemühungen dominiert auf der wirtschaftlichen Ebene auch innerhalb Europas die alte Konkurrenz der Konzerne und Banken. Außerdem hat sich der Abstand zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaft und ihren jeweiligen größten Unternehmen vergrößert. Darauf wird zurückzukommen sein. Sicher ist, daß das Projekt Europa auf der jeweiligen nationalen Seite immer so gesehen wurde – als ein Projekt, um die eigene Wirtschaftsmacht zu vergrößern und »Rest-Europa« zu dominieren.

So definierte auch der maßgebliche deutsche Industriellenverband BDI 1967 sein instrumentelles Verhältnis gegenüber der EWG. Danach diene diese in erster Linie als »Resonanzboden zur Verfolgung der spezifischen westdeutschen Interessen«. Die europäische Zoll- und Freihandelsunion schuf in erster Linie einen vergrößerten Raum für ein Wettrennen der jeweils nationalen Konzerne in die europäischen und internationalen Spitzenpositionen.

In der Globalisierungsdebatte wird in der Regel der Aspekt der Blockkonkurrenz und der »nationalen« Eigentümerstrukturen der großen Unternehmen nicht gesehen und von einer abstrakten »Macht der großen Konzerne« ausgegangen. Wenn überhaupt die »nationalen Farben« von Konzernen angesprochen werden, dann geraten die US-amerikanischen Konzerne ins Visier. Tatsächlich erschien das Projekt EWG/EG/EU lange Zeit eher als eine rein technische und kaum als eine machtpolitische Angelegenheit. Für diese Annahmen gab es historische und wirtschaftspolitische Gründe. Schließlich wurde die EWG lange Zeit von den USA gefördert. 1961 hatte der US-Präsident John F. Kennedy erklärt: |»Der Gemeinsame Markt … sollte unser größter und einträglichster Kunde sein. Seine Verbrauchernachfrage wächst ständig, vor allem die Nachfrage nach jenen Gütern, die wir am besten produzieren. … Es ist ein geschichtliches Zusammentreffen von Notwendigkeit und großer Möglichkeit: In demselben Augenblick, in dem wir dringend eine Steigerung unserer Exporte brauchen, um unsere Zahlungsbilanz zu schützen und unsere Truppen im Ausland zu bezahlen, entsteht jenseits des Atlantiks ein gewaltiger neuer Markt.«|

Für diese US-Position gab es damals drei gute Gründe. Erstens waren die USA mit großem Abstand Weltmarktführer; der Anteil der US-Wirtschaft am Weltmarkt lag bei 16 Prozent, der westdeutsche bei sieben und derjenige Frankreichs bei fünf Prozent. Der britische Anteil an den gesamten Exporten lag noch bei zehn Prozent, wobei Großbritannien damals kein EWG-Mitglied war.

Zum zweiten spielten in dieser Periode US-Konzerne innerhalb Europas eine deutlich größere, teilweise eine dominante Rolle. 1960 stammten von allen weltweit hergestellten Pkw noch 50 Prozent von den Fließbändern in US-Fabriken, wobei es in den USA nur »nationale« Pkw-Hersteller gab: General Motors (GM), Ford, Chrysler und American Motors. 25 Prozent stammten aus Europa, wobei damals ein gutes Drittel der europäischen Pkw-Produktion auf Produktionsstätten der US-Konzerne in Europa entfiel, also auf die Pkw-Fertigung bei GM Europe (bzw. die der GM-Töchter Opel und Vauxhall in Europa), auf Ford Europe und auf die damalige Chrysler-Tochter Simca (die später als »Talbot« bei Peugeot landete und inzwischen vom Markt verschwand). Rund zehn Prozent der weltweiten Pkw-Fertigung entfielen 1960 auf Japan. Ähnlich sah es in anderen wichtigen Branchen aus. Unter diesen Bedingungen profitierten die US-Konzerne in erheblichem Maß von einem wachsenden europäischen Binnenmarkt.

|Neue Blockkonkurrenz|

Vor allem aber gab es zum Zeitpunkt der zitierten Kennedy-Rede – drittens – noch ein gemeinsames »höheres« Ziel aller kapitalistischen Länder: die Rückgewinnung der Kontrolle über diejenigen Gebiete, die seit 1917 (Rußland) bzw. seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Mittel- und Osteuropa und China) bzw. in der Zeit des Kalten Kriegs (Kuba, Indochina) einen nichtkapitalistischen Weg eingeschlagen hatten. Solange dieses Ziel den Kapitalismus einte, solange standen gemeinsame Institutionen wie die NATO oder allgemeine politische Orientierungen wie die »transatlantische Zusammenarbeit« im Zentrum. Die innerimperialistische Konkurrenz war in dieser Periode teilweise verdeckt und schwelend. Allerdings hatten sich im Rahmen dieser fortgesetzten »stillen« Konkurrenz die Kräfteverhältnisse bereits erheblich verändert. Die westeuropäischen und die japanischen Konzerne und Banken eroberten von Jahr zu Jahr mehr Terrain und drängten die US-Konzerne zurück.

Insofern war die »Wende« 1989/90 auch eine Wende hinsichtlich der Dynamik, mit der sich der Kapitalismus bewegt. Mit dieser historischen Zäsur entfiel nicht nur die eine und andere soziale Rücksichtnahme. Es entfiel vor allem das übergreifende Interesse des Kapitals, die Kräfte gemeinsam darauf zu orientieren, die Arbeitskraft der mehr als 1,5 Milliarden Menschen in der UdSSR, in Mittel- und Osteuropa, in China und Indochina auszubeuten. Damit aber brach die innerkapitalistische Konkurrenz offen aus. Die Blockkonkurrenz verschärfte sich deutlich. Fast unmittelbar nach dieser Wende schlossen sich 1994 zunächst die USA und Kanada zur NAFTA zusammen, zum |North American Free Trade Agreement|. Kurz darauf wurde Mexiko in diesen Block einer nordamerikanischen Zollunion einbezogen. Derzeit versucht die US-Regierung, einen noch größeren Wirtschaftsblock zu schmieden, der auch Mittel- und Südamerika einschließt.

Fast zur selben Zeit wurde in der EG der »Maastricht-Vertrag« abgeschlossen. Während sich fast vier Jahrzehnte lang die innereuropäische Entwicklung im Schneckentempo vollzog, wurde nun mit dem Maastricht-Vertrag ein ehrgeiziger Zeitplan vorgegeben: Schaffung einer Europäischen Zentralbank, Abschottung der EU nach außen (Schengener Abkommen), Schaffung einer EU-Währung und EU-Osterweiterung. Mitte 2004 sind alle diese Ziele realisiert.

Die aktuellen innerimperialistischen Kräfteverhältnisse sind von einem krassen Widerspruch geprägt. Das führende EU-Land BRD war 2003 Exportweltmeister – deutlich vor den USA liegend. Die EU als Ganzes liegt bei den Weltmarktanteilen nochmals deutlicher vor dem nordamerikanischen Block NAFTA. Es gibt nur noch wenige Branchen, in denen US-Konzerne führend sind – so mit Microsoft im Bereich der PC-Software. Anfang 2004 konnte im wichtigen Segment der Herstellung von zivilen Flugzeugen der europäische Konzern Airbus erstmals Boeing von Platz Eins verdrängen.

Auf der anderen Seite ist die militärische Macht der USA unangefochten. Dies wurde im April 2004 deutlich. Damals zielte die Strategie des »shock and awe« (das Schockieren und in Ehrfurcht erstarren lassen) nicht nur auf das irakische Militär; sie wurde auch mit Blick auf die Militärs in Rußland, China und Europa in Szene gesetzt. Die aktuellen US-Rüstungsausgaben betragen mehr als 40 Prozent der weltweiten und mehr als das Doppelte der Rüstungsausgaben, die die EU-Länder in der Summe aufbringen.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, sondern logisch, daß ein Kernpunkt im Entwurf der neuen EU-Verfassung, auf den sich die 25 Regierungen der erweiterten EU am Wochenende nach der EU-Wahl einigten, in der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« und in der Verpflichtung zur Aufrüstung besteht.

Die wirtschaftliche und militärische Hegemonie deckten sich in der Geschichte des Kapitalismus immer. Vor ziemlich genau 100 Jahren hatten wir eine vergleichbare Situation und einen ähnlichen Widerspruch. Damals, am Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde der britische Imperialismus zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet von den USA auf Platz Eins abgelöst. Militärisch blieb er weiter die Nummer Eins. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Widerspruch aufgelöst – die USA rückten auch militärisch auf Rang Eins. Diese Doppelhegemonie wurde mit dem Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegsperiode zementiert. Die jetzt wieder gespaltene Hegemonie mit einer führenden Militärmacht USA und einer führenden Wirtschaftsmacht EU unter deutscher Dominanz stellt erneut einen antagonistischen Widerspruch dar, der nach einer Lösung drängt.

1) Das NS-Dokument von 1943 ist wiedergegeben in: Reinhard Opitz, |Europastrategien des deutschen Kapitals|, 1900-1945, Bonn 1994, S. 965

Der Artikel wird mit dem abschließenden zweiten Teil, [„Kerneuropa auf Kriegskurs“,]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=17 bei uns fortgesetzt.

_Winfried Wolf_
|Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung der Tageszeitung [junge Welt]http://www.jungewelt.de/ veröffentlicht.|

Gudrun Krämer – Geschichte Palästinas

Die Bevölkerung in Palästina war mehrheitlich schon immer arabisch, sowohl in der Frühzeit als auch unter der osmanischen und britischen Herrschaft. Die zionistisch-jüdische Einwanderung begann erst 1882. Da die Bibel in der westlichen Welt das „Buch der Bücher“ ist und die Juden in den Mittelpunkt dieses Landes rückt, erhoben diese auch Anspruch darauf. Und diesen sogar auf den ganzen Libanon, Syrien, Jordanien und Teile Ägyptens – das alles im Namen eines Gottes. In der Wissenschaft allerdings gilt die Bibel als Musterfall einer erfundenen Tradition. Denn selbst in diesen antiken biblischen Zeiten waren die Juden so unbedeutend, dass sie von der arabischen Mehrheit kaum wahrgenommen wurden. Damals nannte man das Gebiet noch |Kanaan| und war es eine ägyptische Provinz. Die Hebräer waren nomadisierende Hirten, aber keineswegs eine ethnisch eigenständige Gruppe. Wie auch alle anderen arabischen Länder verfügte Palästina bis zur britischen Kolonisation im 20. Jahrhundert über keine fest definierten Grenzen. Es war immer Durchgangsland und gehört, wenn man es genau nimmt, eigentlich zum heutigen Syrien. Ein großes „König-David“-Reich, wie es die Juden beanspruchen, hat es nie gegeben. Wohl aber für kurze Zeit einen geteilten Landanspruch auf Judäa und Israel, das aber sehr schnell in der Folge schon wieder von Assyrern, Babyloniern, persischen Archämeniden, Griechen, Römern und schließlich Muslimen beherrscht wurde. 400 Jahre, von 1516 bis 1918, währte die muslimische Herrschaft, bis das Gebiet von den Briten erobert wurde. Trotz solch historischer Tatsachen bleiben diese aber wenig nützlich, um in der Gegenwart politische Ordnung zu schaffen. Deswegen ist es viel interessanter, sich die letzten 200 Jahre anzuschauen, die aber zu vielfältig und wirr sind, um sie an dieser Stelle ebenfalls genauestens aufführen zu können.

Die Religionsfrage ist dagegen noch eine ganz andere Sache. Aber in diesen angeblichen abrahamitischen Linien unterscheiden sich Juden, Christen und Moslems gar nicht so sehr, sondern bedingen sich im Gegenteil gegenseitig. Wobei der Islam sich am radikalsten von den meisten der „Irrlehren“ seiner religiösen Vorgänger abzugrenzen verstand.

Der aktuelle Konflikt in Palästina dreht sich um die Gründung des Staates Israel. Es ist kaum möglich, diesen Konflikt neutral diskutieren zu können, denn es wird dabei viel zu wenig zwischen Juden und Zionisten unterschieden. Zionismus als „nationale“ Bewegung entstand im 19. Jahrhundert ausschließlich unter europäischen Juden, und die Mehrheit der in aller Welt verstreuten Juden interessierte das nicht. Erst durch den späteren ebenfalls in Europa aufkommenden Antisemitismus gewannen diese Ideen an Brisanz. Die große Mehrheit der Juden interessiert sich aber selbst heute nicht für diese Dinge und wanderte nach Amerika aus, um völlig neu zu beginnen und sich als Amerikaner zu definieren. Noch keine fünf Prozent siedelten sich in Palästina an. Und selbst unter diesen waren die Biluim („Haus Jakob“) auch nur eine ganz geringe Minderheit, die zionistische Ideen verfolgte. Theodor Herzl schuf mit seinem „Judenstaat“ die programmatische Schrift einer neuen Bewegung und gründete in Basel die „Zionistische Weltorganisation“, mit der er die Frage internationalisierte und gezielt die europäischen Mächte einbezog. Er richtete sich an die gebildete Elite der europäischen Juden und seine Staatskonzepte waren nicht religiös, dafür umso imperialistischer und kapitalistisch geprägt. In den jüdischen Gemeinden Europas, Amerikas und des Orients stieß dies auf Ablehnung. Die Mehrheit der in Palästina eingewanderten Juden lebte harmonisch mit den Palästinensern, nur die zionistischen Parasiten verfolgten die wahnhafte Idee, ihre Gastgeber zu vertreiben. Es entstanden religiöse Geheimbünde, die erste politische Parteien vorbereiteten. Diese entwickelten als Sprache das moderne Hebräisch. Andere in Palästina lebende Juden kommunizierten vergleichbar einer „babylonischen Sprachverwirrung“ in Jiddisch, Russisch, Polnisch, Rumänisch, Ungarisch, Deutsch, Spanisch, Arabisch usw. Die eigentliche arabische Bevölkerung nahm das, was sich anbahnte, nicht ernst, akzeptierte ja schon immer religiöse Gruppierungen und unternahm rein gar nichts. Sie achteten eher darauf, ob Europäer das Land okkupieren könnten. Ab dem 1. Weltkrieg begann man aber zu durchschauen, was da gespielt wurde und aus dem Trauma des europäischen Verrats entstand auch ein palästinensischer Nationalismus als Gegenbewegung und zur Verteidigung gegen die zionistische Okkupation. Dieser Widerstand setzte sich zusammen aus sunnitisch-muslimischen Strömungen, die sich auf den reinen Islam bezogen, wie auch sehr unterschiedlichen Strömungen von Geheimgesellschaften, die den Arabismus verfolgten mit Orientierung am Osmanischen Reich. Sie wollten Autonomie und Dezentralisierung des Reichs, keinesfalls die späteren nationalen Unabhängigkeiten und Souveränitäten. Aber auf einem Arabischen Kongress 1913 in Paris fand die palästinensische Sache keine Beachtung. Die in Palästina entstehende el-Fatat warnte vor der zionistischen Gefahr, aber weder die Vertreter des Osmanischen Reiches noch die arabische Bevölkerung Palästinas hatte zu dieser Zeit dafür ein Bewusstsein entwickelt.

Seit dem 1. Weltkrieg hatten die Briten die klare Vormachtstellung in Palästina erlangt, interessanterweise auch ganz „passend“, da die Briten bereits im 17. Jahrhundert unter Cromwell selber ja schon der Idee anhingen, das auserwählte Volk Gottes zu sein und daher als neuen geistig Verbündeten den unter Edward I. 1290 vertriebenen Juden anboten, auf die Insel zurückzukehren, was aber realpolitisch keine Auswirkungen zeigte. Natürlich ging es im 20. Jahrhundert aber für alle Europäer um reine Wirtschaftsinteressen, von Anfang an ging es ums Öl im Irak und Iran. Die Deutschen hatten mit der „Bagdad-Bahn“ bereits eine Vorrangstellung und die Briten wollten von Palästina aus ebenso eine eigene Einflusszone vom Mittelmeer bis zum Irak errichten, um von dort aus eine Öl-Pipeline zu bauen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, sah man es als Erfolg versprechend, den Zionisten zu einem Staat zu verhelfen, und während sie 1927 Bagdad eroberten, arbeiteten sie recht eng mit den zionistischen Organisationen in Palästina zusammen. Ihren Plänen nach war ein zionistischer Staat der Deckmantel für eine rein britische Kontrolle. Frankreich stimmte zu und die Nicht-Zionisten unter den Juden begannen zu bemerken, dass sie mit einem eigenen Staat ihre Integration in den anderen Ländern verlieren würden. In den Planungen sah man die in Palästina lebenden Muslime und Christen bereits lediglich als nichtjüdische Gemeinschaften. In Palästina wurden diese Pläne erst 1920 bekannt.

Während des Weltkrieges hatten die Araber schon den Jihad gegen die Alliierten ausgerufen und die Mehrheit der Juden der arabischen Welt hatte sich dem angeschlossen. In der Nachkriegszeit wurde der Widerstand gegen die Briten und Juden immer größer. Palästina blieb britisch besetzt, aber die Zionisten wurden damit überrascht, dass die Versprechen auf einen israelischen Staat nicht eingehalten wurden. Die vielen muslimisch-christlichen Vereinigungen bettelten bei ihren Besatzern gegen einen Judenstaat und hofften, dass Syrien sich Palästina holen würde. Der große Erfolg des 1. Weltkrieges war aber, die arabische Einheit zu zerstückeln. Das Arabische Königreich versprach gegen jüdisches Geld, sich für die Zionisten einzusetzen und wich erst, als keine Rückunterstützung für die dynastische haschemitische Familie erfolgte, davon wieder ab. Die Amerikaner entsandten gegen den Widerstand Englands und Frankreichs eine Kommission, um die Wünsche der Bevölkerung zu ermitteln. Diese waren ein unabhängiges Syrien mit einer palästinensischen Autonomie innerhalb eines syrischen Staates, Ablehnung zionistischer Einwanderer, aber gleichzeitig dennoch einen gleichberechtigten Bürgerstatus der in Palästina lebenden Juden. Amerika war bereit darauf einzugehen, aber nur, wenn das gesamte Syrien bereit sei, sich unter ein amerikanisches Mandat zu stellen. Als Antwort auf dieses Ansinnen rief der Allgemeine Syrische Kongress, dem auch Palästinenser angehörten, 1920 Faisal b. al-Husain zum König eines unabhängigen syrischen Staates aus. Die Franzosen zerschlugen dessen Armee und besetzten Syrien. Faisal flüchtete auf den irakischen Thron.

Jetzt erst setzte England in Palästina eine zionistische Zivilregierung unter britischem Mandat ein. Diese neuen Mandatssysteme in Arabien waren nichts anderes als der Kolonialismus in neuem Gewand. Unter all den annektierten arabischen Ländern bekam Palästina einen Sonderstatus als künftiger israelischer Staat. Die Bevölkerung dort sei kein Volk, wohne zwar im Lande, aber verfüge über keine nationale Identität. Also gebe es auch keinen Anspruch auf nationale Selbstbestimmung oder einen Staat. Stattdessen wurde das Ende einer jüdischen Macht durch einen Aufstand im Jahr 135 n. Chr. konstruiert. Seit dieser Zeit wäre das Land im Dunkeln verschwunden und alles seitdem Stattgefundene sei nicht der Rede wert. Die in Palästina lebenden Juden – die eigentlich ja allesamt Europäer waren – sahen das aber auch nicht so, weswegen die zionistische Zivilregierung angesichts des heftigen innerjüdischen Widerstandes von London aus „verwalten“ musste. Die Juden und Araber in Palästina verfügten aber auch im Gegensatz zu den Zionisten natürlich nicht über das Machtinstrument Geld, um weltweit ihre Positionen verbreiten zu können. In heute gesehen geradezu auffälliger Weise begannen nun recht plötzlich in ganz Europa Judenverfolgungen, um die Auswanderungen nach Palästina zu beschleunigen. Immer weitgefächerter konnte dort ein jüdisches Netzwerk von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Selbstverwaltungsorganen aufgebaut werden. Wiederum nicht von palästinensischen Juden, sondern in Paris, gründeten Zionisten 1925 die Revisionistische Partei mit dem Ziel der Schaffung des jüdischen Staates. Der große Anklang fand allerdings nur in Europa statt. 1928 erschuf man die Verfassung der Knesset als offizieller Vertreterin der Juden Palästinas, die aber von den dort lebenden Juden abgelehnt wurde. Alles geschah unverändert vom Ausland aus. In Europa kam es zu wirtschaftlichen Krisen und um kapitalkräftige Kreise einzubinden, erweiterte man 1930 die zionistischen Organe auch auf Nicht-Zionisten, um der Knesset das Aussehen einer Vertreterin des gesamten jüdischen Volkes zu verschaffen. Prominente Angehörige wie Albert Einstein und Leon Blum förderten das internationale Ansehen. Die innerjüdischen Konflikte konnten nun allerdings auch sichtbarer für die Welt ausgetragen werden.

Seit Anfang 1920 stellten die Zionisten den arabischen Widerstand nicht als politische Reaktion, sondern als angeblichen Antisemitismus dar. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, dass es in diesem Konflikt auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Die Briten waren erfolgreich mit ihrer Politik, das friedliche Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen zu spalten. Sie machten Palästina nach eigenen Worten zu einem „zweiten Irland“. Schrittweise islamisierte sich der Widerstand. Die Jihad-Bewegungen, die ihr Land im Namen des Islam von fremder Besetzung zu befreien versuchten, kamen auf. Dem Mufti von Jerusalem, al-Hajj Muhammed Amin al Husaini (1895-1974), gelang es, die islamischen heiligen Stätten in Jerusalem zum Symbol und Kristallisationspunkt des Widerstands gegen das zionistische Projekt zu machen. Die Husaini-Familie geht auf Fatima und Husain b. Ali, den Enkel des Propheten Muhammed, zurück. Sehr früh schloss al Husaini sich 1916 den arabischen Geheimgesellschaften an, trat für die Rechte der Araber und den Zusammenschluss mit Syrien ein. Aber er hielt auch ein ganzes Jahrzehnt lang die gewalttätigen Konflikte zurück, bis es 1928 zu den Ausschreitungen an der Klagemauer kam. Diese Mauer war in jüdischen Kreisen im 19. Jahrhundert zu einem Heiligtum popularisiert worden und die Zionisten verliehen ihr nationale Bedeutung.

Unter Muslimen verdichteten sich die Befürchtungen, die Juden planten, den nie wirklich zuvor existierenden Tempel wieder zu errichten und die islamischen heiligen Stätten anzugreifen. Als der Tempelbezirk gerade renoviert wurde, begannen Juden zum jüdischen Versöhnungsfest Yom Kippur am 24.9.1928, eine tragbare Wand vor der Klagemauer anzubringen, mit der sie ihre betenden Frauen von ihren betenden Männern trennen wollten. Gleichzeitig riefen sie die Briten dazu auf, die Klagemauer für sie zu enteignen. 1929 rief die Revisionistische Bewegung ein Komitee zur Verteidigung der Klagemauer und zur Wiedererrichtung des jüdischen Tempels auf. Die Muslime gründeten sofort ebenfalls ein Komitee zur Verteidigung der Klagemauer und eine Vereinigung zum Schutz der islamischen Stätten. Das Recht der Juden, die Klagemauer aufzusuchen, blieb nach islamischem Recht unangefochten, aber es war nicht statthaft, dort religiöse Objekte anzubringen und schon gar nicht, Schritt für Schritt Ansprüche auf den Tempelberg geltend zu machen. Gegenseitige „Die Mauer ist unser“-Demonstrationen begannen. Am 23. August 1929 explodierte die Gewalt, die der Mufti nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Auf der einen Seite kämpften Araber und Christen gegen Juden auf der anderen Seite. Die Gewalt griff auf ganz Jerusalem über. Auf Tote auf der arabischen Seite folgten Angriffe auf Hebron und Safed, wobei auch nicht-zionistische Juden attackiert wurden. Sechs Kibbuzim wurden zerstört. Dies wurde in Haifa und Jerusalem wieder durch einen jüdischen Mob gerächt. Die alteingesessene Gemeinde von Hebron musste evakuiert werden. Obwohl jüdische Nachbarn auch von Arabern geschützt wurden, war die Situation verheerend. Der Mufti bezog sich auf die „Protokolle von Zion“ und sah die Juden als die Aggressoren. Die Briten antworteten darauf mit Hinrichtungen von Arabern, welche dann in allen arabischen Ländern als Helden, Märtyrer und Opfer des Imperialismus gefeiert wurden. England musste auf diesen Druck hin eine Untersuchungskommission bestellen, was in zionistischen Kreisen Empörung auslöste. David Ben-Gurion (1886 – 1973), der Führer der Zionisten, glaubte England den Krieg erklären zu müssen, da diese auf einmal einen Einwanderungsstop für Juden erwägten. Dem Mufti gelang es, alle islamischen Staaten auf die Situation in Palästina aufmerksam zu machen und 1931 fand in Jerusalem eine Allgemeine Islamische Konferenz mit 145 Teilnehmern aus allen schiitischen und muslimischen Ländern statt, selbst Indien schickte Vertreter. Nur die Türkei fehlte.

Selbst zu dieser Zeit waren die Juden in ihren politischen Positionen nach wie vor zersplittert, jedoch führte die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland zu einer wachsenden Einigung der konkurrierenden Strömungen und Parteien. Erst jetzt begann der Großteil der palästinensischen Bevölkerung, eine tatsächlich existierende Bedrohung wahrzunehmen. Jetzt ging es nicht mehr um heilige Stätten, jetzt ging es um Palästina selber, das die Juden sich anzueignen versuchten. Schiitische Gelehrte im Irak wurden um ein Rechtsgutachten gebeten. Der Verkauf des heiligen Landes an Juden, die Beihilfe und stillschweigende Billigung wurden dort als Kriegführung gegen Gott und seinen Propheten gewertet. Ein Verbrechen, auf das normalerweise Todesstrafe steht, aber in der ausgesprochenen |Fatwa| blieb es bei der gesellschaftlichen Ächtung der Verräter. Indische und palästinensische Fatwas mit ähnlichen Urteilen folgten. Bei Auflösung palästinensischer Demonstrationen durch die Briten gab es als nächstes auch Tote unter den Delegationen, die aus Jordanien und Syrien angereist waren. Jetzt wurden als Antwort britische Einrichtungen angegriffen. Es bildeten sich neue Organisationen und Parteien. Die erfolgreichste war 1935 die Palästinensisch-Arabische Partei mit Jamal al Hussaini, einem Cousin des Muftis, als Präsident und dem griechisch-katholischen Unternehmer Alfred Rok als Vizepräsident. Den Juden wurde jedes politische Anrecht auf Palästina abgesprochen. Verschiedene andere politische Parteien erreichten nie so großen Einfluss, dafür allerdings die unzähligen unabhängig voneinander kooperierenden militanten Geheimgesellschaften, die den Jihad gegen Zionisten und Juden propagierten und jüdische Siedlungen und britische Einrichtungen angriffen.

Die Organisation „Heiliger Krieg“, ein Zusammenschluss islamischer und christlicher Kämpfer, spielte in den Aufständen von 1936 bis 1949 die tragende Rolle. In der englischen Presse als kriminelle Banden verurteilt, müssen sie aber als soziales und politisches Phänomen anerkannt werden. Eine andere Reformbewegung, die Salifiyya unter Izztal-Din al-Quassam, kämpfte ihren Jihad direkt gegen die britische Besatzung. Al-Quassim, ein Syrier, hatte zuvor bereits gegen die italienische Invasion in Tripolitanien (dem späteren Libyen) und gegen die Franzosen in Syrien gekämpft. Sein Jihad verstand er als gottgefälliges Leben, der nicht auf politische und militärische Dimensionen reduziert blieb. Der bewaffnete Kampf war Pflicht jedes Muslims und auf al-Quassam geht das Ideal des Märtyrers, der sich für die Sache des Islams opfert, zurück. Sein Islam wandte sich gegen alle Abweichler von den Bahais bis zu den Ahmadis. Er verband geschickt reformerische Predigt, Sozialarbeit, soziale Anliegen und nationale Bestrebungen mit Frömmigkeit, Kampf und Opfer. Er war eine Figur wie „Wilhelm Tell“, dessen Charisma man sich nur schwer entziehen konnte. In bewusster Anknüpfung an die Sufi-Traditionen kämpften unter ihm sowohl Bruderschaften wie auch Schwesternschaften mit der Waffe. 1935 starb er im Gefecht mit einer britischen Patrouille und genießt seitdem Kult- und Heldenstatus. Sein Grab ist noch immer Ziel von Pilgern. Auf ihn als „ersten Kommandanten der palästinensischen Revolution“ berufen sich Nationalisten jeglicher Couleur ebenso wie islamische Aktivisten, Linke und Rechte von der Fatah bis zur Hamas.

Palästina blieb von der Geschichte des übrigen Arabiens ausgeschlossen. Syrien, Irak, Ägypten und Jordanien wurden noch in den 30er Jahren unabhängig. Palästina aufgrund seiner jüdischen Bevölkerung nie. Die „Protokolle von Zion“, die seit 1905 kursierten, wurden in den 30er Jahren ins Arabische übersetzt, was den Muslims die Verschwörungstheorien untermauerte. Antisemitismus als solcher, begleitet von Rassenideologie, gab es dennoch nicht. Es gab auch keine Vorbehalte gegenüber der jüdischen Religion. Der Konflikt blieb allein der Antizionismus. Die Zionisten waren von „normalen“ Juden auch leicht zu unterscheiden. Da sie allerdings im Namen des jüdischen Volkes auftraten, sprach man in den arabischen Ländern dennoch pauschal von „den Juden“, die Palästina wegnähmen, genau wie von „den Engländern“ oder aber auch ganz abstrakt vom „Westen“ oder „Imperialismus“, der mehr und mehr zum Bösen stilisiert wurde. Die arabischen Rebellen nannten sich „Mujahidin“, aber der „Jihad“ war das Symbol des nationalen Befreiungskampfes, der seine spezifisch religiösen Note (Kampf auf dem Weg Gottes) verloren hatte. In diesem Sinn konnten auch Christen und Juden Mujahid sein und wurden, wenn sie ihr Leben ließen, ebenfalls als Märtyrer (Shuhada) gefeiert.

Neben den britischen Einrichtungen war die Unterbrechung der 1935 eröffneten Öl-Pipeline aus dem Irak ein wichtiges Angriffsziel. Die neuen arabischen Regierungen, die an guten Beziehungen zu den Briten interessiert waren, ließen die Palästinenser allein. Anders der Irak, der ein Komitee zur Verteidigung Palästinas einrichtete. Ebenso auch der indische Premier Pandit Nehru, der Palästina unterstützte. Ungeachtet der Politik seiner Regierungen standen die arabischen Menschen – vor allem in Syrien, Irak und Ägypten – völlig auf der palästinensischen Seite. Aufgrund der in Deutschland einsetzenden Judenvernichtung, die in der „öffentlichen“ Welt erst 1942 bekannt wurde, entwickelten die Engländer jetzt ein Zwei-Staaten-Modell. Die Juden begrüßten das, die Palästinenser lehnten selbstverständlich ab. Jetzt wurde die palästinensische Sache doch noch eine gesamtarabische. Arabische Organisationen in Syrien, Irak und Ägypten machten mobil, in Ägypten interessanterweise hauptsächlich die Frauenvereinigungen. Die Zionisten Ben-Gurion und Weizmann entwickelten Pläne, die Palästinenser nach Jordanien und in den Irak auszusiedeln.

Der englische Premierminister Winston Churchill gab die Beratungen über die Teilung des Landes an die UNO ab. Jetzt begann eine neue Widerstandsstrategie. Erstmals wurden Attentate auf jüdische Politiker verübt, was die offiziellen arabischen Politiker verurteilten und worauf sie mit Verhaftungen von Palästinensern reagierten. Es entstand der Guerillakrieg, ohne einheitliche Führung, ohne koordinierte Strategie, ohne Programme. Die Gruppen vertraten jeweils einzelne Familien und Clans. Das Büro der Arabischen Revolution in Palästina unter Vorsitz der vertriebenen Muftis versuchte von Damaskus aus vergeblich den Widerstand unter Kontrolle und Führung zu bringen. Die Zersplitterung der Guerilla hatte natürlich auch Vorteile: flexibleres Handeln und die Aktionen konnten weitergehen, selbst wenn einzelne Personen und Gruppen gefasst wurden. Frauen spielten in der Guerilla eine wichtige Rolle. Die Beteiligung der Christen an dieser Art des Widerstandes dagegen ließ nach. Die bisher neutralen Drusen wandten sich 1936 mehrheitlich den Juden zu. Unter ihrem Druck agierte ab 1937 der Libanon gegen die Palästinenser. Deswegen wurden jetzt auch von den Rebellen auch Drusen ins Visier genommen und im Krieg von 1948 kam es zur offenen drusisch-jüdischen Zusammenarbeit.

Um die Positionen und Identitäten offen sichtbar auszudrücken, entwickelten sowohl Palästinenser wie Juden neue Formen des Aussehens. Europäer und Juden europäischer Herkunft einschließlich der Rabbiner wählten den Hut, die Zionisten die Schirmmütze. Die Palästinenser wählten das Tuch, das zuvor keine traditionelle Kopfbedeckung war und Frauen begannen sich zu verschleiern, obwohl auch sie traditionell nicht verschleiert waren. Der Schleier war lediglich ein neues Statussymbol, das aber nicht anhielt. In wachsender Zahl legten die Frauen ihre Schleier wieder ab und das Zeichen des palästinensischen Widerstands blieb die |Kufiyya|, das schwarzweiße Tuch.

Als nächstes entstanden britisch-jüdische Sondereinheiten zum Schutz der Pipeline aus dem Irak. In erster Linie dienten sie aber der Bekämpfung arabischer Rebellen. Diese Einheiten trugen maßgeblich zur militärischen Ausbildung der |Hagama| bei. Jetzt begannen die ersten Palästinenser aus ihrer Heimat zu fliehen.

1939 begann der 2. Weltkrieg mit dem Überfall der Deutschen auf Polen, dem 1940 die Eroberung Dänemarks, Norwegens, Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande und Frankreichs folgten. Der Luftangriff auf England konnte von den Briten abgewehrt werden. 1941 Einmarsch in die Sowjetunion, Eroberung von Jugoslawien und Griechenland und 1942 standen die Deutschen an allen Fronten sehr gut da. Über ihre eingesetzte französische Marionetten-Regierung kontrollierten sie Algerien, Marokko, Tunesien, Syrien und den Libanon. Das faschistische Italien trat an der Seite Hitlers dem Krieg bei. Der Irak probte den Aufstand gegen britische Militärpräsenz und bat die Deutschen um militärische Hilfe. Die Briten gewannen durch Luftangriff, der Mufti floh über Iran und Italien nach Berlin. Die Briten marschierten mit Unterstützung von Einheiten des „Freien“ Frankreich unter General de Gaulle und Verbänden der jüdischen |Hagana| (Moshe Dayan verlor bei diesem Einsatz sein Auge) von Palästina aus in Syrien und Libanon ein und besetzten beide vollständig. Japan griff Pearl Habour an und die USA traten in den Krieg ein. In Russland waren die deutschen Truppen nicht aufzuhalten, in Nordafrika marschierte das deutsch-italienische Afrika-Korps unter Feldmarshall Rommel von Tunesien aus nach Ägypten. Das ägyptische Volk war auf der Seite der Angreifer, aber die Briten zwangen den ägyptischen König, auf ihrer Seite zu stehen. 1942 die überraschende Wende: USA siegten über Japan, die Deutschen verloren in Stalingrad und in Nordafrika brachten die Briten den deutschen Vormarsch zum Stehen.

Die Palästinenser hätten zwar gute Gründe gehabt, sich den Faschisten anzuschließen im gemeinsamen Kampf gegen England, sie hielten sich aber an diesem Punkt aus dem Geschehen heraus. Aufgrund des Augenmerks, das die Briten und Zionisten auf die anderen Kriegsfelder richteten, waren die Kriegsjahre für die Palästinenser dennoch gute Jahre. Die Zurückhaltung der Briten gegen die Palästinenser in jener Zeit war auch wohlüberlegt, denn es galt zu verhindern, dass diese sich dem Krieg der Deutschen anschlössen. Juden flüchteten allerdings massenweise nach Palästina. Die |Hagana| baute endgültig ihre Strukturen auf allen Ebenen aus: Gründung des illegalen Senders Kol Israel („Die Stimme Israels“), den eigenen Nachrichtendienst |Shai|, Sturmtruppen. Als neue Verbündete gewannen sie die Amerikaner, die entsetzt über die Berichte vom Holocaust waren. Die Briten merkten, dass sich ihre Macht in Palästina dem Ende näherte, denn nun begann eine zionistische Organisation „Kämpfer für die Freiheit Israels“ auch britische Ziele anzugreifen. Die zionistische Bewegung begann unter ihrem Führer Ben-Gurion eine neue Politik. Der frisch eingewanderte Menachem Begin übernahm 1943 die Führung. Es ging ihnen nun um ein Israel wie schon im angeblichen, rein mythischen Königreich Salomo, weit über Palästina hinaus bis nach Jordanien, den Libanon und Syrien. 1944 vollführten sie in Kairo ein Attentat auf den stellvertretenden britischen Staatsminister für den Osten. Churchill ging nun energisch gegen jüdischen Terror vor. Das Schicksal Palästinas wurde aber prinzipiell mit der Kapitulation des Deutschen Reiches und Japans 1945 und dem Ende des 2. Weltkriegs besiegelt.

Großbritannien war geschwächt, Kriegspremier Churchill erhielt eine unerwartete Wahlniederlage. Die neue |Labour|-Partei vertrat die zionistische Linie. Aber diese blieb antibritisch und in Palästina musste der Notstand ausgerufen werden. 1947 gaben die Briten Palästina auf und zogen ab. Die UNO stimmte für die Teilung in einen jüdischen und palästinensischen Staat. Die Juden feierten, die Araber waren entsetzt. Es konnte nicht sein, dass sie die Schuld der Europäer beglichen, die „ihre eigenen“ Juden erst diskriminiert, dann verfolgt und schließlich auszurotten versucht hatten, um ihnen dann mit großer Geste ein Land zu schenken, das ihnen nicht gehörte. Sie erkannten das Leid an, das den europäischen Juden angetan worden war, aber doch von Europäern und nicht von ihnen. Das Problem der Juden Europas sollte doch nicht mit dem Zionismus verwechselt werden.

1945 gründete sich die Arabische Liga mit Sitz in Kairo, die allerdings ihre rivalisierenden Mitglieder nicht einigen konnte. Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien misstrauten Jordanien, das seine Grenzen ausdehnen wollte. Diese hatten aber wiederum gute Beziehungen zum Irak. Einig war man sich aber in der Frage der Nichtanerkennung des Judenstaates, doch eine Exilregierung erlaubte man den Palästinensern auch nicht. Diese wurden nun im großen Stil von den Juden militärisch vertrieben. 1948 war Jerusalem plötzlich mehrheitlich jüdisch und so sollte es im ganzen Land wiederholt werden. Ganze arabische Ortschaften, in denen arabische und jüdische Einwohner friedlich zusammenlebten, wurden systematisch zerstört. Das „Fluchtfieber“ griff um sich. Die jüdischen Truppen waren militärisch hoch überlegen. Aber die Juden legten genauso auch Bomben an stark besuchten öffentlichen Plätzen, in arabischen Märkten, Cafés, Restaurants und Schulen. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt wurde in Bewegung gesetzt. Aber mit ihren Massakern selbst in palästinensischen Flüchtlingslagern übertrafen die Juden alles. Die |Intifada|, die Entscheidung, am heiligen Boden Palästinas festzuhalten bzw. in der Hoffnung auf Rückkehr erst einmal zu fliehen, wurde zur arabischen Nationalbewegung.

1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Arabische Liga griff an: Truppen aus Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon, Irak, Saudi-Arabien und Jemen marschierten ein, die ägyptische Luftwaffe bombardierte. Aber sie operierten unabhängig voneinander, eine Führung unter dem Irak wir ihren Namen nicht wert. Die arabischen Länder waren militärisch unerfahren und standen zudem teilweise immer noch unter dem Joch der Briten. Jordanien hielt sich nicht an den gemeinsamen Schlachtplan, sondern versuchte auf eigene Faust das Gebiet, das die UNO den Arabern zugedacht hatte, zu erobern. Jüdisches Territorium griffen sie gar nicht erst an. Es gab keine koordinierten Aktionen. Israel glorifizierte später diesen Krieg als einen von „David gegen die Vielen“, was in ezug zu ihrer militärischen Stärke keine reale Grundlage hat. Es folgte der Waffenstillstand, der von Israel, als sie dann noch mehr aufgerüstet hatten, gebrochen wurde. Sie rückten in Teilen Ägyptens ein, eroberten das restliche Galiläa und Dörfer im Süden Libanons. Hunderttausende weiterer Araber mussten fliehen. Nur den eroberten Sinai mussten die Israelis aufgrund internationalem Druck wieder abgeben. Seit 1949 besteht im Grunde weder Krieg noch Frieden. Die jüdische Bevölkerung schwoll bereits 1949 auf eine Million an, die Araber waren auf unter 100.000 reduziert (was den jetzigen Staat Israel betrifft). Trotz internationalen Drucks verhinderte Israel die Rückkehr der Flüchtlinge mit allen Mitteln. Auch die progressiv eingestellte |Kibbuz|bewegung wollte das nicht. Die arabischen Dörfer waren allesamt zerstört und unbewohnbar gemacht, die Hälfte der Palästinenser im Ausland.

1979 schloss Ägypten Frieden mit Israel, 1984 folgte Jordanien. Weder Syrien noch der Libanon haben das bis heute getan und noch immer gibt es kein unabhängiges arabisches Palästina. Es gibt kritische Historiker in Israel, aber diese werden von der eigenen Regierung unterdrückt. Bei all den geschehenen Schweinereien darf man aber auch heute noch nicht den Fehler begehen, Juden mit Zionisten gleichzusetzen.

Taschenbuch: 440 Seiten
C. H. Beck|, 3. Auflage 2002
ISBN 3-406-47601-5

_Weiterführende Texte:_

[Offene Wunde Nahost]http://www.chomsky-forum.de/cf__book__toc.php?ISBN=3-203-76014-2
Internetfassung des Buches von Noam Chomsky (|Europa|-Verlag, 2002)

|wikipedia:|

[Palästina]http://de.wikipedia.org/wiki/Pal%E4stina
[Nahostkonflikt]http://de.wikipedia.org/wiki/Nahostkonflikt
[Chronologie des Konfliktes Israel-Palästina]http://de.wikipedia.org/wiki/Israelisch-pal%E4stinensischer__Konflikt__%28Chronologie%29
(siehe dazu auch die Chronologie in Chomskys Buch)
[Geschichte Israels]http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte__Israels

Irland: Mythologie, Religion und Politik

Inhaltsstruktur

* Prolog
* Maeve und der Fluch von Ulster
* Politischer Abriss der Geschichte Irlands
* Interview mit John Anderson (Priester der Church of Ireland)
* Epilog
* Literaturempfehlungen
* Weiterführende Informationen

Prolog

Irland scheint seit Jahrzehnten, wenn nicht schon seit Jahrhunderten, Schauplatz eines christlichen Glaubenskrieges zu sein. Die irische Republik, die gemeinhin als katholisch gilt, erlebt seit vielen Jahren einen Tourismusboom, welcher der Bevölkerung wirtschaftlichen Aufschwung brachte und weswegen den Touristen auch sehr freundlich und aufgeschlossen begegnet wird. In Nordirland dagegen, welches als protestantisch gilt und das noch unter dem Einfluss der englischen Krone steht, besteht im Vergleich zur südlichen Republik geradezu Wohlstand. Dennoch sieht man hier viel weniger Touristen, denn Nordirland gilt als Kriegsschauplatz. Jahrzehnte bombte hier die IRA und trotz des in den letzten Jahren in Gang gekommenen Friedensprozesses beherrschen jeden Sommer, wenn die Märsche der Protestanten und Katholiken stattfinden, die Meldungen von gewaltsamen Anschlägen die Nachrichten.

Der Anlass, dieses eigentlich politisch erscheinende Problem zu behandeln, liegt darin, dass es wichtige Fragen des Christentums berührt.
Kämpfen hier tatsächlich Katholiken gegen Protestanten oder findet in Wirklichkeit etwas anderes statt? [Berthold Röth]http://www.powermetal.de/redaktion/anzeigen.php?redakteur=68 und Katrin Büker führten aus diesem Grund in Nordirland ein Interview mit einem protestantischen Pfarrer.

Zum globaleren Verständnis und zur thematischen Einstimmung erscheint es allerdings sinnvoll, zuvor eine Betrachtung nichtchristlicher Aspekte zu unternehmen. Zuerst möchten wir eine bekannte Legende aus der Mythologie Nordirlands (Ulster) wiedergeben und dann auch, in gebotener Kürze, einen groben Abriss der politischen Geschichte des Landes präsentieren. Nach dem Interview selbst folgt noch eine abschließende Betrachtung der politischen Situation.
Doch nun tauchen wir erst einmal ein in die Legendenwelt des mythenreichen Irlands:

Maeve und der Fluch von Ulster

Maeve ist die heroische Frauengestalt in der irischen Mythologie, die starke, unerbittliche Königin, vor der sogar die Erde erbebt.

Ein starker Prinz und Held des Volkes der Sidhe hielt um die Hand ihrer Tochter an. Der König an Maeves Seite fand diese Liaison gut, doch Maeve war beleidigt, da er nicht um ihre eigene Hand angehalten hatte. Es war die Zeit des Matriarchats und die Frauen konnten offen mit mehreren Männern ihre Sexualität ausleben. Sie stellte hohe, unerfüllbare Bedingungen, die dieser ablehnte. Aufgrund einer Intrige wurde er später von einem von Maeves Ungeheuern, über die sie befahl, schwer verletzt. Er überlebte nur, da ihm Maeves Tochter das Leben rettete. Dreimal fünfzig Frauen seines Volkes kamen ins Gebiet von Maeves Herrschaft, allesamt Priesterinnen und Heilerinnen, und innerhalb einer einzigen Nacht war er genesen.

Es war weiterhin nicht einfach in der Brautwerbung, Maeve blieb kalt und unerbitterlich. Sie zwang ihn – unter dem Vorwand, ihre Tochter zu beschützen – in die Kriegsvorbereitungen gegen das Volk von Ulster unter König Conchubar, da sie den „Braunen Stier von Cuilgne“ begehrte und gewaltsam in ihren Besitz bringen wollte. Dieser war der berühmteste Stier neben dem weißen Stier, den Maeve bereits besaß. Natürlich waren das mehr als gewöhnliche Stiere und sie stehen für die Erinnerung an das Zeitalter des großen Stierkultes. Königin Maeve und der König hatten das, was wir heute Gütertrennung nennen, und Maeves Besitz, die schon als Tochter des Großkönigs in die Ehe gegangen war, war dem ihres Gatten ebenbürtig. Die beiden Heere versammelten sich in der Nähe von Ulster und schon zu dieser Zeit waren die Krieger von Ulster geschwächt, da bereits der Fluch von Macha auf ihnen lag.

Über Macha gibt es zu viele Geschichten. Sie ist eine der großen Kriegsgöttinnen Irlands, die sich immer wieder inkarniert. Ihr besagter Fluch über Ulster geht auf folgende Begebenheit zurück: Müde von all ihrem bisherigen Wirken, ging sie unerkannt zu einem einfachen Mann aus Ulster, dessen Frau verstorben war und ihm die gemeinsamen Kinder zurückließ. Lange Jahre lebte sie im Verborgenen mit ihm und er erkannte mit der Zeit, wer sie wirklich war, schwor aber, es niemanden zu sagen. Eines Tages, als sie von ihm schwanger war und kurz vor der Entbindung stand, ging er alleine zu einem großen Fest des Königs von Ulster und trank zu viel Wein. In betrunkenem Zustand prahlte er, dass seine Frau schneller als alle Pferde Ulsters sei. Er wurde gefangen genommen und mit dem Leben bedroht, falls er nur geprahlt hätte. Macha wurde zum Königshof geschleppt. Sie wollte hochschwanger nichts unter Beweis stellen, aber der König von Ulster war unerbitterlich und forderte den Wettstreit. Macha beschwor das Volk, ihr beiseite zu stehen, aber es gab keinen, der Mitleid mit ihr gehabt hätte. So sagte sie zu, das Leben ihres Mannes zu retten, dafür aber niemals danach wieder zu ihm zurückzukehren. Das Rennen ging in die irische Folklore ein. Sie gewann unter Schweiß und Blut und gebar am Ziel einen Knaben und ein Mädchen – Machas Zwillinge. Sie verfluchte daraufhin alle Männer von Ulster bis in die kommenden Generationen.

Zurück zu den späteren Ereignissen: An der Seite der Männer von Ulster kämpfte gegen Maeve der größte Held der irischen Mythologie, Cuchulain, der kein Sterblicher, sondern der Sohn des Gottes Lugh war. Es war Machas Fluch, der ihn zwang, Ulster allein zu verteidigen.
Und es war ebenso ihr Fluch, der die Männer von Ulster später daran hinderte, ihm zu helfen, als er seinen einsamen Tod fand. Er allein verteidigte die Grenzen von Ulster und immer mehr von Maeves Kriegern wurden getötet. In letzter Auswegslosigkeit bot Maeve ihm die Tochter zum Lohn und diese willigte gegen ihre Herzensgefühle ein, um ihr eigenes Volk zu erretten. Dieser verschmähte sie, aber der Tauschhandel hatte sein Interesse geweckt. Er wollte nun an ihrer Stelle Maeve, die Mutter und Königin, selbst.

Allen möglichen Helden versprach daraufhin Maeve die Tochter zur Frau, wenn sie nur Cuchulain besiegen würden. Der Prinz der Sidhe, der um die Hand der Tochter angehalten hatte, war längst aufgrund all der Konflikte und des nicht endenden Blutvergießens spurlos verschwunden und hatte seine Liebespläne fallen gelassen. Maeves Tochter blieb begehrt, aber sie wollte niemanden und durfte auch nicht, denn sie war dem Willen ihrer Mutter ausgeliefert. Dann kam der Tag, an dem sie sich in einen Feldherrn aus dem feindlichen Ulsterland verliebte. Da kam Maeve ein neuer Schlachtplan in den Sinn. Sie redete ihrer Tochter zu, diesen Mann zu nehmen. Der Plan gelang und der Feldherr war der Tochter über alles ergeben. Er zog seine Heere ab und glaubte daran, wenn der Frieden danach käme, die Tochter heiraten zu können.
Insgeheim hatte aber Maeve auch schon zwölf Königen, die mit ihren Kriegern an ihrer Seite gekämpft hatten, die Tochter zur Frau versprochen, wenn der Sieg und Friede gekommen sei. Als sie das nun gegenseitig erfuhren, ging das Gemetzel um die Königstochter untereinander los. Als die Königstochter das fließende Blut und die Toten unter den Freunden sah und erkannte, dass sie der Grund dafür war, brachte sie sich aus Verzweiflung um.

Die Königin Maeve, heißt es, wurde später unter einer riesigen Steinpyramide auf dem Gipfel des Knocknarra begraben, der, in ganz Sligo sichtbar, bis heute nicht ausgegraben wurde. Die Königsburg von Ulster befand sich im Zentrum Nordirlands. Heute kann man in der Nähe von Armagh den mit Gras bewachsenen Ring einer großen Hügelfestung sehen. Diese wird Navan Fort genannt.

Politischer Abriss der Geschichte Irlands

Die einzige Art und Weise, den Konflikt um Nordirland heutzutage zu beschreiben, ist zu behaupten, es tobe ein Gotteskrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Tatsächlich steht aber weder die Missionierung der jeweils anderen Gruppe im Vordergrund, noch streiten Protestanten in Nordirland um die Interpretationen von Enzykliken oder Glaubenssätzen. Obwohl der Konflikt die beiden Glaubensgruppen voneinander abgrenzt, hat er eigentlich keinen religiösen Charakter. Die Katholiken begreifen sich als Iren und wollen eine ganze Republik inklusive ihres Nordens, die Protestanten sehen sich als Briten und fühlen sich Großbritannien zugehörig.

Die Spuren Irlands reichen lange vor das Christentum zurück. Die gälischen Kelten eroberten Irland erst gegen 350 vor Christi. Die vermeintlichen Ureinwohner sind also die ersten bekannten Eroberer. Ab dem 5. Jahrhundert begann der Heilige Patrick das Christentum zu verbreiten und machte aus der Bevölkerung eines der strenggläubigsten Völker der Welt. Einen einheitlichen irisch-keltischen Staatsverband gab es zu keiner Zeit, mehrere Königsreiche bekriegten sich ständig untereinander. Im 12. Jahrhundert landeten die Normannen in Irland, besiegten die Kelten und brachten Irland unter die normannische Krone. Sie vermischten sich aber mit diesen und die keltische Kultur blieb erhalten. Im 16. Jahrhundert versuchte die englische Krone, Irland zu Großbritannien zurückzubringen. Die Kelten und Normannen akzeptierten das, wollten aber nicht die Weise des englischen Christentums übernehmen. Dadurch wurde Irland für Großbritannien zum Einfallstor der Gegenreformation und potenziellen Verbündeten für die Feinde Englands: Spanien und Frankreich. Ab diesen Zeitpunkt waren die Iren zum Spielball zwischen Anhängern und Gegnern der Reformation geworden. Königliche Truppen besiegten zusammen mit loyalen keltischen Stämmen 1601 das Königreich der O`Neills in Ulster, dem heutigen Nordirland. Das Königshaus floh nach Rom und König Elisabeth teilte Ulster unter Siedlern aus England und Schottland auf. Dies waren allesamt reformierte Protestanten. Diese Ansiedlung, die sich von 1608 bis 1610 vollzog, war der Ausgangspunkt der heutigen Auseinandersetzungen. 1641 nahmen die enteigneten (katholischen) Iren Rache an den protestantischen Siedlern und ermordeten mehr als 12.000 Protestanten in Ulster. In England herrschte gleichzeitig Krieg zwischen Krone und Parlament. Die Iren kämpften an der Seite der Krone gegen die protestantischen Siedler, die von Oliver Cromwells Parlamentsarmee unterstützt wurden. Zwischen 1689 und 1691 unternahm der abgesetzte englische König James II. von Irland aus den Versuch, die Macht in London zurückzuerobern. Die Truppen des katholischen James unterlagen in der Schlacht von Boyne 1690 dem protestantischen Wilhelm von Oranien.

Für Protestanten wie Katholiken in Irland ist diese Zeit ein Trauma. Die protestantischen Nachfahren feiern die Siege von Oliver Cromwell und Wilhelm von Oranien noch heute mit den jährlichen Paraden als Rettung vor dem katholischen Genozid; die Katholiken sehen den protestantischen Triumph im 17. Jahrhundert als Beleg für die britische Unterdrückung.

Geschichtlich gesehen, übte die protestantische Minderheit, die „gesiegt“ hatte, tatsächliche Willkür gegen die übrige irische Mehrheit. Diese wurde vom gesamten öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die irischen Katholiken lebten fortan am Rande der Gesellschaft, verarmten, litten Hunger und arbeiteten als rechtlose Landarbeiter. Diese drakonische Bestrafung der Iren entfremdete sie dem englischen Königshaus, dem sie bislang loyal gewesen waren. Die englische Krone nahm ihnen 1728 das Wahlrecht. Der Kauf oder die Pacht von Farmland war ihnen verboten. Die Protestanten wurden immer mehr zur gehobenen Klasse, deren Leben sich nicht mehr von denen der Engländer unterschied. Die Katholiken bildeten Geheimbünde, die sich wie einst „Robin Hood“ zu wehren begannen.

1798 beginnt die Geschichte des irischen Republikanismus, als 30.000 Menschen ihr Leben verloren. Wohlhabende Presbyterianer hatten, begeistert von der Französischen Revolution, einige Jahre zuvor eine Bewegung für ein nationales, einiges Irland gegründet. Die Katholiken hatten zu dieser Zeit noch immer kaum Anteil am öffentlichen Leben. Und als England in den Krieg gegen Frankreich trat, sahen diese Iren ihre Chance und nahmen Kontakt zur französischen Revolutionsregierung auf und begannen den offenen Bürgerkrieg. Französische Flotten, die ihnen zu Hilfe kommen wollten, scheiterten wegen der Seestürme und kamen zu spät. Die Rebellion war bereits niedergeschlagen. Den damaligen Iren ging es gar nicht einmal um den Kampf gegen England, es war ein Armenaufstand ums nackte Überleben. Protestantische Iren standen wieder auf der Seite der englischen Armee gegen katholische Iren. Die erste Loge des protestantischen Oranierordens wurde gegründet, ganz Irland gehörte wieder zur britischen Krone. Zwischen 1845 und 1848 war das Elend so groß, dass es zur berüchtigten „Großen Hungersnot“ kam, die für die heutigen republikanischen Iren noch immer der endgültige Beweis englischer Unterdrückung darstellt. Ein Pilzvirus vernichtete den größten Teil der Kartoffeln und die gesunden Kartoffeln wurden allesamt nach England exportiert. Dieser versuchte Genozid brachte einer Million katholischer Iren den Hungerstod.

Zum Kämpfen waren die ausgehungerten Iren nicht mehr in der Lage. Aber in den Jahren danach begann immer wieder neu der Widerstand, der sich bis heute fortsetzt. Zwar errangen sie dadurch politisch auch immer wieder Zugeständnisse, doch diese mussten erkämpft werden. 1912 begannen die nordirischen Protestanten eine eigene Armee, die Unionisten, aufzustellen, die Englands Truppen zur Seite stand. Aber ihnen ging es nicht um die Unterstützung Englands, sondern in erster Linie um die Bekämpfung eines unabhängigen irischen Nationalstaates. Immerhin ging ihnen durch die sozialen Leistungen Englands weiterhin immer besser. 1913 gründeten daraufhin die Katholiken im Prinzip die heutige IRA.

1914 stand Irland erneut vor dem Bürgerkrieg. Der Kriegsausbruch zwischen England und Deutschland verhinderte dies. Beide irische Seiten stellten sich auf die Seite Englands. Die Katholiken erhofften dafür Belohnung und Autonomie. Als es klar wurde, dass das fruchtlose Phantasien bleiben, wechselten sie schnell das Lager und nahmen Kontakt zur deutschen Reichsregierung auf. Die Deutschen versprachen Waffenlieferungen. Die Iren begingen wieder offenen Aufstand und verloren erneut, die Waffen kamen nicht rechtzeitig an. 1916 wurden die Führer des Widerstandes in Dublin hingerichtet. Mittlerweile durfte aber wieder gewählt werden und die irischen Nationalparteien eroberten ihre demokratischen Sitze. Die Sinn Fein war auf Erfolgskurs. Die Mehrheit wählte sie, nur in Nordirland blieben sie natürlich in der Minderheit. Die nationale irische Republik wurde 1919 verkündet, aber auch diese musste gewaltsam erkämpft werden. England war zunehmend erstaunt über die plötzlichen militärischen Erfolge der Iren. 1921 konnten zwei unabhängige irische Parlamente gewählt werden. Das war die Geburtsstunde des heutigen Nordirlands. 1922 wurde der irische Staat gegründet, dessen Bevölkerung bis heute die Anerkennung einer wählenden Minderheit als eigenen Staat nicht verstehen kann. Um das Blutvergießen zu stoppen und die fortwährenden Kämpfe zu beenden, erkannte das irische Parlament schließlich die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich auch im Rahmen des internationalen Rechts an. Diese offizielle Linie hält für die Republik zumindest seither den Frieden. Es ist aber klar, dass es genügend andere irische Parteien und Gruppierungen gibt, die seitdem immer wieder für einen gesamtirischen Nationalstaat eintreten. Die Gruppen, die gewaltsam dafür kämpfen, sind bis heute völlig uneinsichtig und äußerst kompliziert zu verstehen. Seit 1969 tobt der Bürgerkrieg der IRA gegen Nordirland und lodert selbst während des Friedensprozesses der jüngsten Jahre immer wieder gefährlich auf.

Die englandtreuen Nordiren sind selbst heute nicht davon zu überzeugen, dass für Irland eine eigene Gesamtnation das Vernünftigste und Naheliegendste sein könnte. 1921 wurde die Insel in sechsundzwanzig Grafschaften geteilt, die nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehörten, und in sechs Grafschaften im Norden, die bis heute als Nordirland zu Großbritannien gehören. Daran hat sich nichts Wesentliches mehr geändert.

Dies war nun ein Überblick der politischen Entwicklung für das Verständnis der Grundsituation in Irland. Zuvor standen aber noch die mythologischen „Fakten“ aus der vorchristlichen Frühgeschichte. Es scheint, dass in Wahrheit Ulster bis heute einfach nur verflucht sein dürfte. Das Blutvergießen und Morden unter dem eigenen Volk reißt nicht mehr ab. Macha`s Fluch ist ungebrochen.

Um die Sichtweise eines Vertreters des gegenwärtigen Christentums zu diesen Konflikten betrachten zu können, entstand das folgende Interview.

Interview mit John Anderson (Priester der Church of Ireland)

Berthold & Katrin:
Dein Name ist John Anderson. Du bist Pfarrer der „Kirche von Irland“. Was für eine Kirche ist das? Hängt sie zusammen mit der „Kirche von England“?

John:
Die „Kirche von Irland“ ist Teil der anglikanischen Kirchengemeinschaft. Vor langer Zeit waren die „Kirche von Irland“ und die „Kirche von England“ eins, eine vereinte Kirche. Doch dann, im letzten Jahrhundert, wurde die „Kirche von Irland“ selbstständig. Der vorherige Zusammenschluss war dann nicht mehr Staatskirche von Irland und seitdem ist die „Kirche von Irland“ quasi die Schwesterkirche der „Kirche von England“, aber eine unabhängige Schwester.

Berthold & Katrin:
Mit 24 Jahren bist du der jüngste ordinierte Priester der „Kirche von Irland“. Schließt das auch die Republik Irland mit ein?

John:
Das tut es in der Tat, ja.

Berthold & Katrin:
Eure Kirche ist protestantisch, doch ihr habt das selbe Glaubensbekenntnis wie die katholische Kirche. Beide Kirchen beziehen sich in ihrem Glaubensbekenntnis auf die „heilige katholische Kirche“. Wo liegt der Unterschied?

John:
(lacht)… Hmm… das ist eine schwierige Frage.
Das Glaubensbekenntnis der Apostel wird von vielen Kirchen der Erde beibehalten und besonders hier in Irland. Doch wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen, sagen wir, dass wir an eine heilige katholische und apostolische Kirche glauben. Wir bestätigen damit unseren Glauben an ein ursprüngliches christliches Fundament, unabhängig von Raum und Zeit.
Und wirklich liegt der Unterschied zwischen katholischem und protestantischem Glauben mehr in den Strukturen und der Organisation der Kirchen als in irgendwelchen fundamentalen Glaubensunterschieden.

Berthold & Katrin:
Die katholische Kirche treibt einen großen Kult um die Person der Maria. Worauf begründet sich deiner Meinung nach diese Verehrung?

John:
Oh, die ganze Maria-Idee, ihre zentrale Funktion in der Kirche und ihre Verehrung wurde über die Jahre in der katholischen Tradition immer stärker. Auch die protestantische Tradition ignoriert Maria keineswegs. Sie hat eine sehr wichtige Rolle, welche von den ersten Kirchenvätern als Mutter Gottes definiert wurde, und daher darf sie nicht ignoriert werden. Aber nun ja, es ist schwierig zu erfassen, zumindest mir fällt es schwer zu verstehen, warum solch großer Nachdruck, solch eine Marienologie in der katholischen Kirche betrieben wird.

Berthold & Katrin:
Nur um es noch einmal deutlich zu machen. Die irischen Katholiken sind römisch-katholisch, sie betrachten den Papst als Kopf der Kirche?

John:
Ja, in Irland, denke ich, haben wir zwar die verschiedensten Namen, doch wenn wir von „katholisch“ sprechen, meinen auch wir in der Regel die römisch-katholische Kirche. Der Ausdruck „katholisch“ an sich hat aber auch die Bedeutung von „universal“ und „weltweit“. So könnte ich mich selbst genauso auch als anglikanisch-katholisch bezeichnen. Natürlich stelle ich mich als Anglikaner vor.

Berthold & Katrin:
Wie alt ist die Kirche von Irland? Sie geht ja zurück auf St. Patrick, der das Christentum nach Irland brachte. Wer war er und wann kam er nach Irland?

John:
St. Patrick kam im Jahre 430. Er war vom Papst und der englischen Kirche beauftragt. Er verbreitete das Evangelium zuerst an der irischen Westküste, reiste dann durchs ganze Land und gründete Kirchen und Konvente und immer mehr Menschen schlossen sich seinem Glauben an.

Berthold & Katrin:
Wie alt ist die irische Kirche selbst? Patrick kam also etwa 430 und begann mit der Missionierung. Aber ab wann kann man von einer wirklichen Kirche mit ihren Strukturen sprechen und war diese damals auch römisch-katholisch?

John:
Ja, die Strukturen der Kirchen entwickelten sich in der westlich-christlichen Welt allesamt erst, nachdem Jesus gekreuzigt wurde. Zu der Zeit, als St. Patrick nach Irland kam, wurde das ausschließlich von der päpstlichen Zentrale in Rom gesteuert. Sobald er missionierte, kann man auch von einer Kirche in Irland sprechen, auch wenn sich das alles erst über die kommenden Jahrhunderte hinweg klarer strukturierte. Alle Sukzessionslinien gehen auf die Arbeit von St. Patrick zurück.

Berthold & Katrin:
Es wird gesagt, dass Irland das einzige Land in der Welt sei, das friedlich missioniert wurde. Es gab keine Kriege, keine Märtyrer. Wir interpretieren das als ein freiwilliges positives Akzeptieren des christlichen Glaubens durch die heidnische Bevölkerung. In esoterischen Kreisen wird gesagt, dass auch die Druiden die neue Religion unterstützt hätten. Ist das wahr und in welcher Weise haben Elemente des keltisch-heidnischen Glaubens in der Kirche überlebt?

John:
Ja, ich stimme dem zu, dass die irische Missionierung friedlich verlief. St. Patrick hatte aber dennoch auch anfängliche Probleme. Er musste seine Position vertreten können. Es gibt die Legende von der Begebenheit am Shamrock, wo er geprüft wurde von den irischen Hochkönigen von Tara. Er musste den Glauben an den alleinigen Gott begründen. Wie lautete der Rest der Frage?

Berthold & Katrin:
Welche Elemente des Heidentums in der irischen Kirche bis heute überlebt haben. Vielleicht im Gegensatz zu anderen christlichen Kirchen.

John:
Vor allem im Namen. Wir sprechen von einem keltischen Christentum. Das weist auf eine Besonderheit des von St. Patrick begründeten Christentums hin und grenzt es ab von den Strukturen der zentralen römisch-katholischen Kirche, wie sie in anderen europäischen Ländern gegeben sind. Das entstand in dieser Form aber noch nicht zu der Zeit, in welcher St. Patrick gelebt hatte. Das passierte alles erst in der daraus entstehenden Kirche. Ich weiß nur sehr wenig darüber. Ich kann nicht sagen, was von einem heidnischen Glauben bis heute überlebt oder wo sich was vermischt hätte.

Berthold & Katrin:
Als Deutsche sind wir sehr überrascht darüber, dass es in Nordirland eine so große Vielzahl christlicher Kirchen gibt. Wir dachten, da gebe es auf der einen Seite die Protestanten und ihnen gegenüber die Katholiken und dass diese beiden im Gegensatz zu anderen Ländern Europas sehr getrennt voneinander bestünden. Aber wir sehen nun eine Aufsplitterung der Protestanten in Baptisten, Methodisten, Presbyterianer, freie Presbyterianer. Vergesse ich noch welche? Welche Positionen vertreten so viele verschiedene Kirchen gegeneinander?

John:
Die protestantischen Kirchen haben sich überall zersplittert. Das passiert seit Beginn der Reformation. In Irland, speziell in Nordirland, hat jede Zeit ihre Anzahl von neuen protestantischen Kirchen mit sich gebracht. Es sind viele sehr kleine Zusammenschlüsse, in kleinen Kirchenhäusern, organisiert wie kleine Geschäfte. Diese sind unbedeutend. Bedeutend sind nur die etablierten alten Kirchen wie die Presbyterianer, Methodisten, die Kirche von Irland, auch die Baptisten. Aber diese stehen alle unter dem universellen Glauben, der sie wieder vereint und nicht voneinander trennt. Nur die vielen kleinen sind sehr unabhängig und arbeiten auf nicht-universaler lokaler Ebene.

Berthold & Katrin:
Mit etwas besorgten Augen schaut das Ausland auf Nordirland und dessen politische Auseinandersetzungen. Sehr interessiert wird der gegenwärtige Friedensprozess beobachtet. Seit Jahren gibt es diesen Bürgerkrieg, in welchem die IRA die Katholiken repräsentiert und die Briten die protestantische Seite. Ist denn dieser Konflikt hier tatsächlich eine Frage verschiedener Glaubenssysteme oder Religionen? Oder gibt es da noch ein anderes Geheimnis? Könntest du den Hintergrund des Krieges aus deiner Sicht beschreiben, denn nach Gesprächen mit vielen verschiedenen Menschen in Irland haben wir den Eindruck, dass niemand in der Lage scheint, darauf eine wirkliche Antwort geben oder überhaupt den Konflikt verstehen zu können.

John:
Ja, es ist schon sehr emotionalisierend, überhaupt den Terminus „Krieg“ zu verwenden. Zu automatisch machen das die meisten. Es ist so, dass wir einen Konflikt haben, den man aber nicht Krieg nennen darf. Wir können auch nicht sagen, die IRA würde die Katholiken repräsentieren und die Loyalisten die Protestanten. Es ist stattdessen so, dass das Land verschiedene politische Identitäten hervorgebracht hat, die sich irgendwie mit den religiösen Identitäten vermischt haben. Dadurch kann das nicht mehr so einfach voneinander getrennt werden. Der Kampf, wie er sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, ist aber mehr ein politischer Konflikt zwischen Republikanern, Nationalisten, Unionisten und Loyalisten. Die verschiedenen Kirchen werden einfach von diesen politischen Aktivisten benutzt.

Berthold & Katrin:
In welcher Weise beteiligen sich die Kirchen am Friedensprozess? Was macht deine Kirche?

John:
Die Kirche von Irland sieht sich selbst als britische Kirche mit sowohl protestantischer wie katholischer Reform und Apostolik. Die Kirche von Irland gibt, wie auch alle anderen christlichen Kirchen im Lande, ihr Bestes, um den Frieden zu unterstützen, die verschiedenen politischen Seiten miteinander ins Gespräch zu bringen. Das passiert auch auf sehr persönlicher Ebene. Es gehört zur Struktur der Kirchen, Menschen zusammenzubringen. Es gibt natürlich keine Garantie, dass man auch auf uns hört und dass es zu dem Punkt kommt, wo man sich respektiert.

Berthold & Katrin:
Kannst du irgendeine Initiative nennen, die deine Kirche unternahm, um Katholiken und Protestanten zusammenzubringen?

John:
In der Kirche von Irland überhaupt oder speziell in meiner eigenen Gemeinde?

Berthold & Katrin:
In der eigenen Gemeinde.

John:
Es ist nicht so, dass die Kirchen untereinander abgegrenzt wären. Es gibt jede Menge ökumenischer Dialoge und auch Zusammenarbeit. Um ein Beispiel zu nennen: Als meine Gemeinde Spenden zum Wiederaufbau des abgebrannten Glockenturms sammelte, kamen die meisten der Spenden von der lokalen katholischen Bevölkerung. Da ging es nicht mehr um religiöse Fragen, da ging es einfach ums Helfen. Eine Kirche brauchte Hilfe und man war füreinander da. Die ganze christliche Gemeinde hilft in solchen Fällen gemeinsam.

Berthold & Katrin:
Also half die römisch-katholische Bevölkerung der protestantischen Bevölkerung, die protestantische Kirche wieder aufzubauen?

John:
Genau. Das passiert ständig. Gerät eine der Kirchen in Not und benötigt Hilfe, helfen alle anderen Kirchen dabei.

Berthold & Katrin:
Erstaunlich. Siehst du als junger Pfarrer einen Unterschied zwischen der jüngeren und der älteren Kirchengemeinde-Generation? Bezüglich der Arbeit am Friedensprozess?

John:
Ich persönlich habe nichts dergleichen bemerkt. Der Friedensprozess, der in den letzten Jahren in Gang gekommen ist, ist noch für jeden viel zu neu. Man kann da noch nichts sagen betreffs der Generationen, auch wenn der Krieg nun 30 Jahre währt. Aber ich glaube, jeder will jetzt Frieden und setzt sich dafür ein. Die Alten wie die Jungen, alle gemeinsam.

Berthold & Katrin:
Sind die Jüngeren in deiner Gemeinde engagiert im Friedensprozess? Interessieren sie sich aktiv für diese Entwicklungen?

John:
Was ich sagen kann, ist, dass die Jüngeren die alten Konflikte hinter sich gelassen haben. Vor allem verstehen sie nicht mehr, warum es Konflikte zwischen den Kirchen geben sollte. Sie nehmen auch einen anderen Standpunkt zum politischen Konflikt ein. Sie haben genug davon, aber sie wissen noch nicht, auf welche Weise das zu beenden ist. Nordirland verändert sich. Sie entwickeln ganz neue eigene politische Identitäten. Sie wollen etwas anderes und ändern sich in den Ansichten, die noch ihre Familien, die Eltern und Großeltern getragen haben. Es passiert etwas ganz Neues in diesem Land.

Berthold & Katrin:
Wie sehen sich die Leute in Nordirland: Britisch oder irisch?

John:
Kommt darauf an; die meisten sehen sich als Nordiren. Die meisten Unionisten sehen sich als Briten, wenn auch genauso als Iren. Die meisten der Nationalisten sehen sich als Iren, aber irgendwie dann doch auch britisch. Das bedeutet, es sind hier ganz einfach gleichzeitig zwei nationale Identitäten vorhanden. Es gibt zwei Pässe: den irischen und den britischen und vieles dergleichen mehr.

Berthold & Katrin:
Für uns als Deutsche ist es einfach so: Die Menschen, die in der Republik leben, sind die Iren. Diejenigen in Nordirland aber sind britisch, irisch oder britisch-irisch. Wir sehen ihre Suche nach einer Identität.

John:
Das könnte stimmen. Es ist hier nicht so, als würde man in der Republik leben und einfach wie die Leute dort Ire sein. Es herrscht ein sehr seltener Zustand, es gibt die Grenze im Land gegenüber dem Süden. Jeder sucht nach einer Lösung für dieses außergewöhnliche Identitätsproblem. Die einzige Hoffnung auf Frieden ist, dass dieses Identitätsproblem gelöst werden kann. Es ist notwendig, dass die Menschen ihre althergebrachten Konzepte hinter sich lassen. Und dass die sechs kleinen Länder Nordirlands gegenüber den sechsundzwanzig Ländern der Republik ein neues Verständnis ihrer selbst entwickeln.

Berthold & Katrin:
Mal etwas anderes. Wir sahen die Banner über den Straßen während des Monats Juli. Als Fremde konnten wir gar nicht glauben, was wir sahen. Sie sind voller Symbole der Freimaurerei: Hammer, Leiter, Schädel und Knochen und vieles dergleichen mehr. All das wird in den Städten präsentiert, während der Paraden zum 12. Juli. Wir empfanden das so, als würde das Land von den Freimaurern regiert, und kennen kein weiteres Land in der Welt, wo das so deutlich gezeigt würde. Kannst du uns dazu was sagen oder vielleicht die Symbolik der Zeichen erklären?

John:
Ich bin weder Freimaurer noch Mitglied des „Orange Order“ (Oranier). Deswegen kann ich diese Frage nicht wirklich beantworten. Soweit ich weiß, sind das die Objekte der Unionisten und Loyalisten, diese Sterne, Leitern… Aber auch christliche Symbole. Oder die Münze z.B. repräsentiert die britische Monarchie. Manche der Symbole glaube ich zu verstehen, viele Symbole kenne ich nicht und verstehe auch nicht ihren Sinn. Die einzigen, die wissen was das alles bedeutet, sind die Mitglieder des „Orange Order“.

Berthold & Katrin:
Du weißt also nichts über die Strukturen dieser Logen wie des „Orange Order“? Aber weißt du, ob es Katholiken, Protestanten oder Nicht-Religiöse sind?

John:
Der Orange Order ist eine protestantische christliche Organisation. Sie haben eine fundierte christliche Basis und weisen ihre Mitglieder ständig an, gottesgläubig zu leben. Sie sind Christen, die die britische Monarchie unterstützen. Deswegen sind diese Leute auch Mitglieder unserer Kirche und gehören den lokalen Gemeinden an.

Berthold & Katrin:
Gibt es neben dem Orange Order noch andere Logen?

John:
Ja. Neben den „Orange Lodges“ gibt es auch in der nationalen Gemeinschaft den „Ancient Order of Hibernians“ und der führt ebenso seine Märsche durch. Das Besondere dabei – was wohl niemand verstehen kann – ist die Tatsache, dass die beiden verfeindeten Organisationen dieselben Instrumente für die Aufmärsche benutzen. Sie tauschen sie je nach Bedarf gegenseitig aus. Ich persönlich finde das wundervoll und einen weiteren Beweis für die Kooperationsbereitschaft auf lokaler Ebene.

Berthold & Katrin:
Wer steht hinter den „Hibernians“?

John:
Da ich auch dort kein Mitglied bin, kann ich auch über diese Organisation wenig sagen. Jedenfalls repräsentieren die eher den katholischen Teil der Bevölkerung, die in der Mehrheit nationalistische Positionen vertreten.

Berthold & Katrin:
Wir würden gern noch von weiteren Beispielen für konkrete Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Protestanten hören, nicht nur so absurd klingenden wie dem Austausch der Parade-Instrumente…

John:
Es geht ja über diesen Austausch hinaus. Was in den letzten zwei Jahren geschieht, gab es vorher nicht. Alle kommen zu den jeweiligen Paraden und diese haben jetzt den Charakter eines Karnevals angenommen. Jeder aus der Bevölkerung kommt und es spielt keine Rolle mehr, welche Gruppierung die Parade veranstaltet.

Berthold & Katrin:
Zurück zu religiöseren Dingen. In Deutschland wenden sich die Menschen von den Kirchen ab. Sie interessieren sich für andere Religionen. Dadurch beginnen die Kirchen mit den Religionen in Dialog zu treten und vermischen sogar die christliche Lehre mit östlicher Meditation und anderen Techniken. Das ist in Irland sicher nicht der Fall. Was denkst du über den Austausch von Gedanken und Methoden mit anderen Religionen, die nicht christlich sind?

John:
In Irland gibt es nur sehr begrenzt andere religiöse Richtungen und diese findet man auch nur in den großen Städten. Ich begrüße jeden Dialog, der dazu dient, die Gefühle und Gedanken unter den Mitmenschen zu verstehen. Aber hier gibt es zuerst mal viele verschiedene christliche Kirchen und das Vorrangige ist, dass diese miteinander reden, um sich selbst verstehen zu lernen und einig zu werden. Das ist die erste Priorität, bevor man mit denen reden kann, die von ganz außerhalb kommen.

Berthold & Katrin:
Also auch wieder ein Problem der Identität. Zusätzlich zur nordirischen Identität ist auch noch die gemeinsame Identität als Christen zu finden. Erst wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich in die Welt hinausgehen, um andere Dinge zu finden?

John:
Ja. Unsere vorrangige Arbeit ist es, den Dialog mit den christlichen Kirchen zu führen, den Dialog mit jeder einzelnen Gemeinde. Für uns zum Beispiel ist das der Dialog mit den Presbyterianern und den Methodisten. Dies geschieht auf persönlicher Ebene, es ist nicht so, dass die ganze Kirche in einem offiziellen Dialog wäre.

Berthold & Katrin:
Es kommt auch nicht vor, dass andere Religionen von sich aus mit euch in den Dialog treten? Angenommen, der Dalai Lama würde Nordirland besuchen… ?

John:
Nein, wir haben keinerlei Erfahrung mit anderen Religionen. Dadurch wissen wir nur sehr wenig über sie.

Berthold & Katrin:
In Irland sind also keine anderen Religionen vorhanden und keine schaut nach Irland, um hier missionierend zu arbeiten. Buddhismus und New Age wäre hier wahrscheinlich etwas sehr Exotisches. Aber was ist mit der Alten Religion? Irland ist berühmt für seine Mythen und Feengeschichten und überall in der Welt bekannt als Insel des Heidentums. Von England ausgehend, findet eine große Renaissance des Druidentums und der Hexenreligion, „Wicca“ genannt, statt, die sich über die ganze Welt verbreitet. Hat die Alte Religion für irische Menschen von heute noch eine Bedeutung? Gibt es noch Menschen, die irgendeine Form des Heidentums praktizieren?

John:
Ich habe noch keine kennen gelernt. Aber dadurch, dass die Missionierung hier so friedlich verlief, könnte ich mir denken, dass keine alten Glaubenssysteme überlebt haben. Die christlichen Ideen wurden freiwillig anerkannt und als besser erachtet. Dadurch sind die meisten dieser alten Glaubensideen einfach ausgestorben. Es blieb nichts über die Jahrhunderte erhalten. Das Heidentum in Irland ist tot.

Berthold & Katrin:
Könnte es sein, dass die Marienverehrung für die Iren eine Fortsetzung der früheren Göttinnenverehrung darstellt? Es war ja für die frühen Christen sehr einfach, eine jungfräuliche Maria einer göttinnenorientierten Bevölkerung anzubieten. So bekamen sie zwar einen jungen Gott namens Jesus, aber hinter diesem stand weiterhin die Mutter Gottes.

John:
Ja, das weiß ich nicht. Da wäre ich auch vorsichtig. Die Mutter Gottes gibt es in allen christlichen Ländern der Welt. Aber wenn ich mir die Geschichte von St. Patrick und seinem keltischen Christentum anschaue, hatte darin die Mutter Gottes keinen bevorzugten Platz. Sie kann kein besonderer Grund für die Übernahme des christlichen Glaubens gewesen sein.

Berthold & Katrin:
Kennst du keinerlei Mitglieder in deiner Kirche, die in irgendeiner Form an Naturkräfte glauben, z.B., dass sie besondere Kraftplätze besuchen wie die Steinkreise und Gräber etc.? Welche die Ansicht vertreten, es wäre gut, sich dort aufzuhalten oder zumindest, dass man keinen Supermarkt daneben bauen dürfe?

John:
Natürlich gibt es ein Interesse, die historischen Denkmäler zu schützen. Das ist schon aus touristischen Aspekten notwendig. Aber das geschieht nicht aus religiösen Gründen.

Berthold & Katrin:
Die alte heidnische Geschichte ist aber gerade für Touristen ein wichtiger Grund, Irland zu besuchen. Vielleicht ist das in Nordirland nicht so der Fall, aber in der Republik sicherlich. Dort hören sie begeistert den mündlichen Überlieferungen zu, die von Feen, Geistern, Lapricorns und Banshees handeln. Dann besuchen sie gern all die Steinkreise.

John:
Irland ist ein rein christliches Land. Die Iren wissen, wie sie ihr Land touristisch verkaufen können und das ist der einzige Grund, warum sie den Fremden solche Geschichten aus alter Zeit erzählen. So einfach ist das. Wir wollen, dass die Menschen kommen, und wenn sie das brauchen, um zu kommen, geben wir es ihnen. (lacht).

Berthold & Katrin:
Wir sehen in Nordirland fast überall den Union Jack, die britische Flagge, hängen. Sobald wir aber selbst hier in Nordirland in Gegenden kommen, in denen sich wichtige alte Denkmäler und Steinkreise befinden, hängt stattdessen dort plötzlich die Fahne der irischen Republik. Es ist nicht zu übersehen, dass überall an solchen Plätzen keine protestantische, sondern eine durchweg katholische Bevölkerung lebt.

John:
Das ist mir noch nicht aufgefallen. Das kann auch nicht tatsächlich überall so sein. Mir ist das wirklich nicht aufgefallen.

Berthold & Katrin:
Jetzt interessiert uns eigentlich auch, ob unsere Fragen für dich neu und ungewöhnlich sind oder ob du mit solchen Fragen auch in deiner alltäglichen seelsorgerischen Arbeit konfrontiert wirst. Auch falls das nicht so sein sollte, ob du dir vorstellen kannst, dass dir in Zukunft vermehrt solche Fragen gestellt werden könnten.

John:
Ja, es gibt vieler Art Fragen, welche die guten Menschen in Nordirland sich stellen, um ein tieferes und besseres Verständnis zu erlangen. Aber das sind mehr solche Fragen, wie man sich lokal organisiert, wie man zusammenlebt. Sie fragen nicht nach der Bedeutung von Symbolen auf Bannern. Sie wissen einfach, dass das Banner der Orange Lodge sind und das genügt ihnen. Solche Fragen können nur von Fremden gestellt werden. Hier ist das alles so normal, dass niemand danach fragt.

Berthold & Katrin:
Was war deine persönliche Motivation, Pfarrer zu werden?

John:
Ich empfand den starken Ruf Gottes und fühlte mich berufen, Pfarrer zu werden. Es bedurfte vieler Jahre, in welchen ich an mir arbeiten musste. Ich musste in mir prüfen, was Gott von mir wollte und ich musste die Kirche prüfen. Als ich die Schule verließ, war ich motiviert Theologie zu studieren. Ich ging zur Universität in Belfast und studierte zusammen mit Presbyterianern und Methodisten. Nach diesem wissenschaftlichen Studium wandte ich mich an die Kirche von Irland und fragte an, ob die mich darüber hinaus ausbilden würden. Als sie das akzeptierten, wechselte ich nach Dublin zum Trinity College.

Berthold & Katrin:
In deinem Studium wurdest du in vielen verschiedenen christlichen Glaubensanschauungen unterrichtet?

John:
Ja.

Berthold & Katrin:
Welche waren das?

John:
Oh… ja… da waren viele Richtungen und Traditionen. Ich studierte sie eigentlich ziemlich allgemein. Vor allem die Kirchen der Reformation. Warum sie sich abspalteten und wie sie heute beschaffen sind. Ich studierte Ökumene im Allgemeinen. Die ökumenische Bewegung innerhalb des Christentums. Es war nicht der Fall, dass wir tief in verschiedene Richtungen des Christentums eindrangen. Wichtiger war, dass wir alle gemeinsam in einem Klassenzimmer saßen, so vermischt in unseren christlichen Traditionen. Wir spiegelten uns in unseren Reaktionen auf Dinge, wir stellten uns Fragen zu diesen Dingen. Und aus diesen Fragen heraus lernten wir sehr viel. Es war eine wunderbare Gemeinschaft.

Berthold & Katrin:
Ihr habt euch nicht im Detail mit der Verschiedenheit der christlichen Traditionen auseinandergesetzt?

John:
Es wäre zu systematisch zu sagen, wir hätten das getan. Wir hatten eine Sicht auf die Entwicklung des Christentums von seinen Anfängen bis zur Gegenwart und einen kurzen Blick auf die vielen Sekten. Damit meine ich keine Häresie. Ich meine die Kirchengeschichte und ihre politischen Dimensionen. Ihr seht, ich weiß ein wenig über diese Dinge, aber nicht sehr viel über spezifische Kirchen.

Berthold & Katrin:
Beschreib mal einen alltäglichen Arbeitstag.

John:
Jeder Tag ist verschieden. An einem normalen Tag gehe ich morgens ins Krankenhaus, verbringe bis mittags mit Patienten. Am Nachmittag gehe ich in Privathäuser, in welchen ebenso Angehörige der Gemeinden krank sind. Ich schaue, wie es ihnen geht. Abends habe ich viel zu organisieren, manchmal gehe ich auch ins Pub, um zu sehen, wer da ist, oder zu einem Treffen. Als Kirche haben wir viele soziale Organisationen und ich treffe mich mit den verantwortlichen Leitern und unterstütze sie. Dazu gehören auch so Dinge wie die Bowling-Gruppe oder die Badminton-Gruppe. Einfach auch nur Hallo sagen.

Berthold & Katrin:
Was sind die wichtigsten Probleme der Menschen in Nordirland?

John:
Eines ihrer Hauptprobleme ist, dass sie sich abgeschnitten vom Rest der Welt fühlen. Nordirland wird gemieden, weil hier Krieg sei. Dabei sehnen sich alle hier nach wirklichem Frieden. Das ist gleichermaßen bei den Loyalisten auf der einen Seite wie bei den Republikanern auf der anderen Seite der Fall. Und natürlich die schon erwähnte religiöse Identität. Ich als Protestant habe keinerlei Angst vor den Katholiken. Aber ich könnte Angst vor einem Katholiken bekommen, der seine Religion nicht mehr praktiziert. Die gewalttätigen Republikaner und gewalttätigen Katholiken sind keine Katholiken, wie auch die gewalttätigen Loyalisten keine Protestanten sind. Diese sind in keiner Weise Christen. Das sind totalitäre politische Tiere. Sie benutzen das christliche Mäntelchen, um sich Solidarität zu verschaffen. Ich möchte, dass diese im Land isoliert werden. Christen achten das Leben und schätzen ihre Nachbarn.

Berthold & Katrin:
Gibt es etwas, das wir vergaßen zu fragen und was du den deutschen Lesern mitteilen möchtest?

John:
Ja, wenn ihr die Bilder der Gewalt, der Dunkelheit und der Brände in den Medien seht, kommt dennoch hierher. Damit ihr die Menschen seht, die hier leben. Denn die haben ihre Heimat, ihre Familie, sie gehen zur Schule und zur Arbeit. Ihr werdet sehen, ihr seid sehr willkommen. Die Menschen werden freundlich zu euch sein. Es wird euch hier alles sehr normal vorkommen. Seit vier Jahren geht von uns der Ruf nach Frieden zu euch hinaus. In Belfast herrscht der selbe Frieden wie in Dublin. Die Straßen sind abends voll, die Cafés sind auf. Das ist ein Zustand, den wir seit Jahren nicht mehr hatten. Ich bin darüber sehr glücklich. Die Angst ist verschwunden. Es hat sich viel verändert. Kommt bitte und schaut es euch an.

Berthold & Katrin:
Danke für das Gespräch.

Epilog

Der Krieg der IRA ist vorbei, aber die Diskussion und Aufarbeitung dessen, was seit 1969 geschehen ist, noch lange nicht. Die Gründung der provisorischen IRA in Nordirland vollzog sich aus denselben Gründen, die eigentlich auch heute unverändert bestehen. Die katholische Minderheit wird von gewalttätigen Unionisten brutal angegriffen, Kinder sind gefährdet, die Schulen zu besuchen und benötigen massiven Polizeischutz. Solch brutale Gewalt und deren militärische Unterstützung Britanniens machten damals den organisierten bewaffneten Widerstand unvermeidlich. Den Aktivisten, die in Widerstand traten, ging es nicht um historische irische Begebenheiten oder republikanische Ideen. Ihnen ging es einzig und allein darum, sich zur Wehr setzen zu müssen. Es gab keinen wirklichen Einfluss der republikanischen Bewegung auf die entstandene Bürgerrechtsbewegung. Diese radikalisierte sich ab dem berüchtigten „Bloody Sunday“, wo gezielt vom Militär eine der Bürgerrechtsdemonstrationen angegriffen wurde und vierzehn Zivilisten ums Leben kamen. Erst heute zeigt das Beweismaterial der Untersuchungskommission, dass das Töten auf höchster Ebene im britischen Parlament vorbereitet wurde. Der lange Krieg hatte begonnen, die Spirale drehte sich in einem fort. Auf Tote der einen Seite folgten Tote auf der anderen Seite. Ein harter Guerillakrieg wurde geführt, der von der Bevölkerung unterstützt wurde. Die IRA wurde in einen sektiererischen Kampf verwickelt, in dem sie dummerweise Protestantenbars in die Luft jagten. Eine Reaktion auf die vielen Katholiken, die von Protestanten getötet wurden. Jedoch entsprach das auch dem Plan des britischen Geheimdienstes. Nach diesem Muster gingen die Briten in all ihren kolonisierten Ländern vor. Das Morden unschuldiger Katholiken entsprach einem Plan der Einschüchterung, damit sich die Bevölkerung aus Angst heraus von der IRA distanzierte. Es war konterrevolutionärer Terror.

Eine Veränderung in der Gewaltakzeptanz innerhalb der IRA erfolgte mit dem Hungerstreik inhaftierter IRA-Mitglieder. Bobby Sands und acht weitere wurden einfach sterben gelassen, ohne auf irgendwelche ihrer Forderungen einzugehen. Die IRA ging daraufhin nicht in gewohnter Weise in den Krieg, sondern verstand, dass der bewaffnete Kampf erfolglos bleibt. Die neue Strategie war Stärkung einer parlamentarischen Bewegung. Gerade weil die Briten sofort den Krieg erklärt hätten, wenn die Teilung Irlands von 1921 aufgehoben würde, und weil die Briten für ihre Brutalität bekannt sind, mit welcher sie in China wegen der Kontrolle des Opium-Krieges ganze Städte bombardierten oder in Indien wegen den Kronjuwelen massenweise Inder abschlachteten, lag die neue Strategie darin, das Bewusstsein der englandtreuen nordirischen Bevölkerungsanteile verändern zu wollen. Dies scheint dennoch fast aussichtslos, denn diese sehen sich ja nicht als Iren, sondern als Briten. Nordirland ist ein undemokratischer Staat, der mit harten Gesetzen radikal seine katholische Minderheit unterdrückt. Den Briten gelang es sehr geschickt, in der Weltöffentlichkeit diese Realität als Religionskrieg zu verkaufen. Das ist falsch und stimmt genauso wenig wie anzunehmen, in Palästina würde wegen des Talmud oder Koran gekämpft. Es geht stattdessen immer um wirtschaftliche Interessen und Ausbeutung. Allerdings sehen sich die presbyterianischen Unionisten durchaus als auserwähltes Volk, sympathisieren deswegen mit Israel und finden ihre Machtherrschaft als göttlich vorherbestimmt.

Seit dem Friedensprozess akzeptieren die Republikaner auch die Realität des geteilten Irlands. Sogar Dublin hat im Karfreitagsabkommen Irlands in der Verfassung festgelegten Anspruch auf Nordirland aufgegeben. Aber ohne den bewaffneten Kampf wäre nie etwas erreicht worden. Die IRA hat gegenwärtig allen Grund misstrauisch zu sein. Im Grunde hat sie tatsächlich verloren; seit 1921 hatten sie keine solche Niederlage mehr erlitten. Die Sinn Fein hat sich dazu verpflichtet, britische Herrschaft zu verwalten, und die Briten demonstrieren diese Herrschaft eindrucksvoll, indem sie immer mal wieder kurzfristig die Exekutive des nordirischen Parlaments einfach außer Kraft setzen. Was der Sinn Fein zugestanden wird, hängt von der Laune der Briten ab. Alles verläuft nach britischem Plan und leider berichten die internationalen Medien über Nordirland nur, wenn es eine größere Operation der IRA gab. Was dort jetzt geschieht, wird ignoriert. Es hat sich in dreizig Jahren nichts verändert, die Oranier marschieren und schlagen ihre Trommeln, stellen ihren bewaffneten Oranier-Staat groß heraus. Die IRA gab ihre Waffen ab, ohne militärisch besiegt zu sein, was es in der 200-jährigen Geschichte des militanten irischen Republikanismus noch nie gegeben hatte. Das Ziel bleibt nach zweiundzwanzig Jahren bewaffneten Kampfes so unerreichbar wie je. Die Entwaffnung geschah auf Druck internationaler Ereignisse.

Im August 2001 wurden drei ehemalige IRA-Mitglieder, die wohl einfach nur Urlaub in Kolumbien machten, wegen angeblicher Unterstützung der dortigen Guerilla-Bewegung verhaftet. US-Präsident Bush schickte verärgert einen Sondergesandten zur Sinn Fein nach Nordirland, um Druck auszuüben, und mitten in den ersten Gesprächen fanden zum 11. September 2001 die Anschläge von New York und Washington statt. Der internationale Kampf von Bush gegen den Terrorismus drohte sich auch auf Nordirland auszudehnen. Um das zu verhindern, gab es keine Alternative mehr zur Entwaffnung. Immerhin brachte das wahlpolitische Veränderungen. Die Sinn Fein ist bereits seit Juni 2001 die stärkste politische Kraft im Norden und seit Mai 2002 errang sie auch den wahlpolitischen Durchbruch im Süden Irlands. Sobald sie parlamentarisch beide „Länder“ führte, gäbe es die Hoffnung auf ein vereintes Irland. Seit Juni 2002 ist erstmals auch ein Republikaner Bürgermeister von Belfast. Ebenso ist seit Juni 2002 offiziell bestätigt worden, dass es eine jahrelange Zusammenarbeit zwischen der Polizei und loyalistischen Paramilitärs gab, mit dem Ziel, politisch missliebige Personen auszuschalten. Aber dennoch werden heutzutage Katholiken und ihre Kinder von den radikalen Unionisten gewalttätig angegriffen.

Es herrscht kein wahrer Frieden in Nordirland, die Iren galten in der Geschichte schon immer als besiegt und sind doch wieder aufgestanden. Noch gibt es die Real IRA, die aber immer isoliert war, weil sie gegen alles kämpfte – nur nicht gegen den Feind, die Briten. Seit ihrem Anschlag auf das Einkaufszentrum in Omagh, wobei zu viele unschuldige Menschen starben, gibt es keinerlei Sympathie für sie. Die Republikaner sind müde geworden. Die gleichen alten Lügen Woche für Woche. Die Briten aus Nordirland zu verdrängen, war nicht das eigentliche Ziel, sondern, ein gerechtes sozio-ökonomisches System zu errichten. Seit dem Friedensprozess hat sich der Graben zwischen Arm und Reich um das Fünfzehnfache vergrößert. [Die Parallelen zum Palästinakonflikt sind frappierend. Anm. d. Lektors] Die Ungleichheit ist größer denn je. Gerechtigkeit lässt sich nicht unterdrücken, der Kampf um die Freiheit wird eines Tages wieder von Neuem beginnen.

Literaturempfehlungen

Peter Neumann
IRA – Langer Weg zum Frieden
240 S., Pb., Rotbuch 1999
ISBN 3-454-53043-6

Dieses Buch informiert über die Gründung, die Hintergründe, Ziele und möglichen Perspektiven der Irisch-Republikanischen Befreiungsarmee. Die politische Geschichte des unterdrückten Volkes wird historisch ausführlich aufgeführt und es wird gezeigt, warum auch in Zeiten des Friedensprozesses die Aussöhnung verhindert bleibt. Es ist die erste Monografie über die IRA in deutscher Sprache.

Kevin Bean / Mark Hayes (Hg.)
„Republican Voices“
Stimmen aus der Irisch-Republikanischen Bewegung
152 S., Pb., UNRAST 2002
ISBN 3-89771-011-0

Das Buch erzählt die Geschichte der IRA von innen. Mitglieder der IRA, die 30 Jahre lang aktiv mit der Waffe kämpften, beschreiben den Konflikt. Aus ihren Erzählungen wird deutlich, dass es sich nicht um einen mythologisch hergeleiteten nationalen Instinkt handelte und dass die IRA schon gar keine kriminelle Vereinigung war.

Andreas Kloevekorn
„Die irische Verfassung von 1937“

Entstehung und Rezeption
199 S., Pb., Franz Steiner 2002
ISBN 3-515-07708-1

Die Reaktionen auf die Einführung der irischen Verfassung von 1937 schwankten zwischen begeisterter Zustimmung und radikaler Ablehnung. Der Grund: Katholische, nationale und gälische Elemente dominierten auf symbolischer Ebene, und Dublin erhob ausdrücklich territoriale Ansprüche auf Nordirland. Der Autor untersucht die Entstehung der Verfassung vor dem Hintergrund der irischen Teilung, der komplexen Beziehungen zu Großbritannien und der innenpolitischen Polarisierung seit dem Bürgerkrieg von 1922/23. Er betont die Bedeutung von Regierungschef Eamon de Valera, der diesen Prozess weitgehend kontrollierte. Die Verfassung reflektiert die Werte ihrer Entstehungszeit, einer der Gründe, warum sie in den folgenden Jahrzehnten zunehmend kontrovers diskutiert wurde.

Weiterführende Informationen

Portal Irland: http://de.wikipedia.org/wiki/PortalIrland (wikipedia)
Hier findet man ausführliche Artikel zu allem, was zum Verständnis benötigt wird, einschließlich einer Darstellung der Geschichte, der Konfliktsituation sowie weiterer Linkempfehlungen zur Thematik.

Europa rüstet für den Krieg

Mit Lichtgeschwindigkeit ist Europa von der Nachkriegsordnung in eine Vorkriegszeit geraten. Den Krieg gegen Jugoslawien feierten die EU-Eliten als „Geburtsstunde“ des „neuen Europa“. Gewaltige Rüstungsprogramme ermöglichen Europa die globale Angriffskriegsfähigkeit. Der österreichische Soziologe und Journalist Oberansmayr zeichnet mit seinem Buch die Herausbildung der militärischen Supermacht historisch nach.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa geteilt und Westeuropa wurde militärisch den USA im Kampf gegen den kommunistischen Außenfeind unterstellt. Frankreich hatte das am wenigsten gepasst und so befasste es sich bereits 1950 mit Plänen für eine eigenständige europäische Armee. Nur aufgrund der Vorbehalte gegen den einstigen Kriegsgegner Deutschland scheiterten diese Pläne. Deutschland wurde dadurch allerdings nicht behindert, sondern konnte innerhalb der NATO durchaus militärisch wachsen. Die westdeutschen Machteliten gehörten zu den Gewinnern der Nachkriegskonstellation, was Frankreich gar nicht gefiel. Der Preis, den Deutschland für seine Militarisierung allerdings zahlen musste, war seine Spaltung. Das sowjetische Angebot, den Osten zugunsten eines entmilitarisierten Gesamtdeutschlands aufzugeben, wurde sowohl von den USA wie auch Westdeutschland entschieden abgelehnt.

Konrad Adenauer sah in einer europäischen Armee den besten Weg, den deutschen Osten wiederzuerlangen. Franz Thedieck (CDU), Staatssekretär 1952 im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen sah „das Herzstück Europas, Böhmen, Mähren und Schlesien überschwemmt von einer asiatischen Flut“. 31 von den 38 Generälen der neu gegründeten Bundeswehr waren schon Mitglieder des Generalstabs von Hitlers Wehrmacht gewesen. General Adolf Heusinger 1949: „Der Eintritt in die Europa-Armee wird es uns ermöglichen, unsere frühere Kampffront völlig wieder herzustellen“. Jacob Kaiser (CDU), Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 1952: „Ein wahres Europa kann nur gebildet werden, wenn die deutsche Einheit wieder hergestellt wird. Sie umfasst außer Deutschland auch Österreich, einen Teil der Schweiz, die Saar und Elsaß-Lothringen“. Franz Josef Strauß, Verteidigungsminister ab 1957, kämpfte energisch für eine deutsche Nuklearmacht.

Frankreich unter Charles de Gaulle trieb diese Entwicklung der Atombombe aber im Alleingang an, ohne Deutschland und ohne Italien. 1961 legte Frankreich den Entwurf für eine über die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) hinausgehende Union der europäischen Staaten vor. Die Benelux-Länder lehnten ab, weil es ohne Beteiligung Großbritanniens nach französisch-deutscher Vorherrschaft aussah. Frankreich und Deutschland machten einen Alleingang mit dem deutsch-französischen Vertrag über Zusammenarbeit von 1963 (Èlysee-Vertrag). Das missfiel nun aber auch den USA. Frankreich wollte Europa damit unabhängig gegenüber den USA machen. Doch die inzwischen stärker „atlantisch“ orientierte Regierung unter Kanzler Ludwig Erhard zeigte sich wenig interessiert. 1966 tritt Frankreich aus der NATO aus. Deutschland wurde wichtiger. 1969 schlug der deutsche Kanzler Willy Brandt die Gründung einer europäischen Währungsunion vor, um sich vom Dollar als Leitwährung zu emanzipieren. Ende der 70er Jahre wurde das Europäische Währungssystem (EWS) eingeführt, aber schon da ging bereits das Gespenst der „Eurosklerose“ um. Großbritannien, seit 1973 Mitglied der EG, reagierte in traditioneller Anlehnung an die USA ohnehin allergisch auf deutsche Vormachtsbestrebungen.

Ab den 70er Jahren wurden ethnische Spannungen in den Nachbarländern geschürt. Der BND (Bundesnachrichtendienst) arbeitete auf die Verschärfung des Konflikts zwischen Zagreb und Belgrad hin. Unmittelbar vor dem Tode Titos war der deutsche Geheimdienst zu einem aktiven Gestalter der Balkanpolitik geworden. Der Innenminister Kroatiens, Krajacic, handelte nur noch in Absprache mit BND-Instituten und Ustacha-Repräsentanten im Ausland. Die Saat dieser Balkanpolitik ging Anfang der 90er Jahre auf.

1983 sah Otto Habsburg, Kaiserenkel und Europa-Abgeordneter der CSU, die Chance, die EG als „politischen Körper, in dem sich die Weltmacht Europa heranbildet“ neu zu strukturieren. 1984 erklärten die Außen- und Verteidigungsminister der sieben damaligen Mitgliedsstaaten in ihrer „Erklärung von Rom“, gemeinsam im Bereich der wehrtechnischen Grundlagen und der industriellen Wartung eingeführter Waffensysteme zusammenzuarbeiten, um die Führungsmacht USA auszuhebeln. Deutschland sah über eine atomare europäische Verteidigung die Möglichkeit, das ABC-Waffenverbot umgehen zu können. 1988 schritt man zu ersten militärischen Taten und entsandte europäische Minenräumboote in die Nahost-Golfregion. Dieser erste Einsatz außerhalb des NATO-Bündnisgebietes wurde auch mit deutschen Soldaten unter General Klaus Naumann vollzogen, der damit seine „höhere“ Karriere durchstartete. Beim NATO-Angriff 1999 war er dann Vorsitzender des NATO-Militärausschusses in führender Position.

Parallel dazu liefen die Zentralisierung der Rüstungsindustrie und Ankurbelung der Rüstungsforschung zur Herstellung eines gesamteuropäischen Rüstungsmarktes an. Bisheriger Kern der europäischen Verteidigung ist die deutsch-französische Brigade. Die früh verstorbene Galionsfigur der Grünen, Petra Kelly, war eine der entschiedensten Gegnerinnen dieses Rüstungswahns, die jetzige Gallionsfigur Joschka Fischer dagegen einer der Hauptbetreiber dieser Entwicklung. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme wirkte als enormer Katalysator. General Naumann 1993: „Es gelten nur noch zwei Währungen auf der Welt: wirtschaftliche Macht und militärische Mittel, sie durchzusetzen“.

Die Amerikaner jedoch sind nicht bereit, den „Platz an der Sonne“ zu teilen. 1992 entwarfen sie den „No Rivals“-Plan und metzelten zuvor hunderttausende Iraker nieder, um der Welt die Botschaft von der „New World Order“ (Bush sen.) einzubrennen: dass es selbstmörderisch sei, die Hegemonie der USA in Frage zu stellen. Die Militarisierung Europas darf ihrer Ansicht nach nur unter strikter politischer, organisatorischer und militärtechnologischer Abhängigkeit zu den USA geschehen. Die europäischen Vorstellungen dagegen sind andere und gleichen denen der Politik Hitler-Deutschlands. Mit der deutschen Wiedervereinigung verschoben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU zugunsten Deutschlands. Joschka Fischer 1992 (noch vor seiner Zeit als Außenminister): „Deutschland soll eine Art `sanfte Hegemonie über Europa` bekommen, eine Übermacht, die ihm aufgrund seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage auch zusteht“.

Das Konzept vom „Europa der Regionen“ läuft darauf hinaus, die kleinen Nationalstaaten zugunsten der ökonomischen Herrschaft des größten Nationalstaates – Deutschland – aufzulösen. Uraltprinzip: Teile und herrsche! „Der Osten ist als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt“ (Strategiepapier der CDU/CSU-Fraktionen zur Europapolitik (Schäuble/Lamers). Deutschland übernahm von Anfang an die Schrittmacherrolle bei der Zerstörung Jugoslawiens, indem es bei der Anerkennung von Slowenien und Kroatien voranpreschte. Die Amerikaner bezeichneten diesen Krieg als „Genscher-War“, denn erstmals wollten weder die USA noch die anderen Europäer (mit Ausnahme Österreich) dem Kriegskurs Berlins folgen. Die deutschen Eliten pokerten hoch, um diesen Krieg durchzusetzen, und riskierten sogar die Spaltung der EU. Sie setzten sich durch. Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) übernahm die deutsche Kontrolle des kroatischen Geheimdienstes für 800 Millionen DM in bar. Die US-Militärzeitschrift „Defense Foreigns Affairs Strategic Policy“ 1992: „Der Krieg in den früheren jugoslawischen Republiken wird durch ein massives und komplexes System von Waffenlieferungen per Schiff nach Kroatien und Bosnen-Herzegowina, finanziert und organisiert von Deutschland, angeheizt“. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung: „Deutschland hat hier ein Verbrechen begangen“.

Ab 1996 baute der BND systematisch die Verbindung zur kosovarischen Untergrundsarmee UCK auf. Deutschland legte in der NATO ein Veto gegen die Unterbindung des Waffenschmuggels für die UCK ein. 1998 fordert Deutschland bei der NATO-Tagung in Brüssel ein direktes militärisches Eingreifen der NATO im Kosovo. Die USA änderten ihre Ansicht, denn sie sahen nun die Gefahr, dass die NATO an Bedeutung verlieren könnte, und übernahmen 1999 die militärische Führung beim NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, nicht zuletzt, um die militärische Separation der EU von den USA zu verhindern – und erreichten das Gegenteil.

Die deutsche Präsidentschaft beim EU-Gipfel in Köln gab den Startschuss für eine – von der NATO unabhängige – EU-Interventionstruppe. Die deutsche Politik im Balkan geht in bewährter Weise weiter. Auch bei den letzten Kämpfen in Mazedonien hatte Deutschland mitgemischt, denn über den deutschen Besatzungssektor im Kosovo sickerten viele UCK-Kämpfer nach Mazedonien ein und destabilisierten nach bewährtem Muster das labile Land. Die Zerschlagung des blockfreien jugoslawischen Staates war notwendig, damit vor der EU-Erweiterung den Osteuropäern vorgeführt wurde, dass es zur Unterwerfung keine Alternative gäbe. Wer Weltmacht werden will, muss vor allem dafür sorgen, dass keiner mehr aus der Reihe tanzt. Wie gewohnt – ähnlich wie bei der Entmachtung Rumäniens und dem perversen Abschlachten von dessen Präsidenten (siehe auch http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=8 ) – wurden Nachrichten propagandagemäß gefälscht. Als die Untersuchungsergebnisse eines finnischen Ärzteteams die Meldung von einem „serbischen Massaker“ im Ort Racak nicht bestätigen wollte, hielt Fischer sie unter Verschluss und erzählte dagegen der Öffentlichkeit ungeniert: „Racak war für mich der Wendepunkt zum Krieg“ (1999).

General Naumann 1992: „Die Bundeswehr muss zum Alleingang bereit sein, wenn die NATO noch nicht handeln kann oder will“. Naumann 2003: „Die Bundeswehr muss die Soldaten wieder mit dem Tod vertraut machen“. Großbritannien, die weder beim Eurokorps noch bei der Währungsunion beteiligt sind, merkten inzwischen, dass sie mit massivem Bedeutungsverlust aus dem EU-Zentrum herauskippen könnten und versuchen sich an die Spitze der europäischen Militarisierung zu setzen, um deren Zentralisierung unter deutsch-französischem Kommando zu verhindern.

Der nächste große Coup war die Vorbereitung einer europäischen Verfassung, über die an anderer Stelle genügend berichtet wird (siehe http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=9 sowie http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=10 ). Die Zusammensetzung des Konvents ist aufschlussreich: Nur zwei von 65 stimmberechtigten Mitgliedern des Konvents waren deklarierte Gegner der EU-Militarisierung bzw. des Jugoslawien- und Afghanistankrieges (Jens Peter Bonde aus Dänemark und Sylvia Yvonne Kaufmann aus der BRD). Die Aufhebung der Vetomöglichkeit war Kernstück der neuen Verfassung. 310 der 460 Artikel, also ¾, wurden nie im Konvent diskutiert, sondern direkt zwischen den Außenämtern in Paris und Berlin ausgemauschelt.

Schwierigkeiten machen jedoch die neuen Ostmitglieder in der EU. Diese Länder sehen sich einer wirtschaftlichen Kolonisierung deutscher Konzerne gegenüber und lehnen sich deswegen militärisch eher an die USA an. Polen und Tschechen ordern Rüstungsprojekte bei den USA anstatt bei den europäischen Firmen, und im USA-Krieg gegen den Irak stellten sich weitere sieben Länder des „neuen Europa“ an die Seite der USA. Das „alte Europa“ formierte sich aber ebenso: Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg. In „ihrem“ Verfassungsentwurf ist die militärische Aufrüstung festgeschrieben. Abrüstungsbefürworter sind damit faktisch Verfassungsfeinde {Gegner des marktwirtschaftlichen Kapitalismus im Übrigen ebenso. – Anm. d. Lektors}.

Ein „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ kontrolliert die EU-Mitgliedsstaaten drauf hin, ob sie ihrer Verpflichtung nachkommen. Aufstandsbekämpfung überall in der Welt ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates ist ebenso in der Verfassung enthalten. Auf die Idee, den Kampf gegen den „Terrorismus“ in Verfassungsrang zu erheben, ist bislang nicht einmal Rumsfeld gekommen. Der Kampf gegen Terrorismus richtet sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Es besteht genügend Interpretationsraum, um politische Opposition zu kriminalisieren. Um zu verhindern, dass Staaten einfach so wieder austreten könnten, wurden die Austrittsbedingungen geändert. Bislang kann das noch jedes Land autonom entscheiden, mit Annahme der Verfassung jedoch nur noch mit Zustimmung der Mehrheit im europäischen Parlament. Und auch wer dort nicht drin ist, wird okkupiert. In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo hat die „westliche Wertegemeinschaft“ Kolonialregimes errichtet. Der „Hohe Repräsentant“ der westlichen Staatengemeinschaft verfügt dort über volle Exekutivrechte in allen zivilen Angelegenheiten. Er kann Parteien auflösen, Wahlergebnisse annulieren, gewählte Präsidenten, Regierungschefs und Bürgermeister abberufen, Richter entlassen, Gesetze oktroyieren und neue Behörden schaffen und tut es auch. Zum Beispiel gab es 2002 153 solcher Kolonialerlässe. 2001 überfiel man einfach die staatliche Bank, sprengte alle Tresore und nahm alles Geld und Wertpapiere mit.

In der Vergangenheit stellte sich Europa – von der Öffentlichkeit in dieser Art kaum wahrgenommen – sehr unrühmlich auf die Seite der Völkerrechtsverbrecher in Afrika (Ruanda), Afghanistan und manch anderer Region. Palästina ist als Mitgliedsstaat der EU fest eingeplant, um ein Gegengewicht zum zur USA gehörenden Israel zu schaffen. Das Europäische Parlament will bis 2009 Kriege in der Größenordnung des Jugoslawienkriegs als eigenständige EU-Kriege führen können. Das wurde von der Mehrheit des Europäischen Parlaments in einer Entscheidung vom 23.10.2003 beschlossen. Die Ausgaben für Rüstung sind gigantisch und sie werden nicht wie andererseits die sozialen Haushalte im Maastrich-Defizitskriterium eingerechnet. Auch der Weg der EU zur Atommacht geschieht geräuschlos. Bis 2008 wird eine neue Generation von atomaren Langstreckenraketen entwickelt, ebenso wird bis dahin eine neue Generation an Atom-U-Booten einsatzbereit sein. Der seit Jahrzehnten angestrebte Zugriff Deutschlands auf die Atombombe hat sich verwirklicht. Mit europäischen Atomstreitkräften sieht sich Deutschland nicht mehr an die Atomwaffensperrverträge gebunden und nutzt seine Atomanlagen für militärische Forschung. Der von Rot-Grün beschlossene schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie ist eine Farce. Der Reaktor Garching II bei München ging erst 2003 in Betrieb.

Bis 2008 wird das europäische Programm GALILEO mit einem Netz von 27 künstlichen Himmelskörpern die Erde umkreisen, den gesamten Planeten im Auge haben und mit der Genauigkeit von einem Meter den USA überwachungsmäßig um Jahre voraus sein. Hauptsitz des Instituts ist in Deutschland, das Milliarden Euro dafür zahlt. Bemerkenswert, wo doch behauptet wird, die Staatskasse sei leer und wo massive Sozialkürzungen beschlossen sind. Die in den Medien verbreitete Behauptung, GALILEO sei ein rein ziviles Projekt, ist schlicht eine Lüge. GALILEO bringt das US-Monopol auf High-Tech-Blitzkriege ins Wanken. Es gibt noch mehr Weltraumprojekte als nur dieses System, und Deutschland ist nach den USA und Russland das dritte Land mit Radarüberwachung aus dem Weltraum.

Einer der größten Akteure ist die Deutsche Bank, größte Bank Europas, und wiederum größter Aktionär von Daimler-Chrysler, der wiederum größter Aktionär des kontinental-europäischen Rüstungskonzerns ist. Damit wird auch verständlich, wieso erst vor kurzem durch die Nachrichten ging, dass Amerika die Deutsche Bank aufkaufen wolle. Wer für Angriffskriege rüstet, will nicht Reichtum produzieren, sondern andere ausplündern. Francois Mer, französischer Wirtschaftsminister, 2002: „Der Direktor der Deutschen Bank meint: Das beste Mittel, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, ist ein Krieg. Ich denke wie er“. Aus dem Geschäftsbericht der europäischen Rüstungsindustrie 2001: „Unsere Verpflichtung ist es, für alle unsere Aktionäre Mehrwert zu schaffen. Wir halten, was wir versprechen“. Die Rüstungsinvestitionen liegen 50 Prozent über dem Höchststand des kalten Krieges, dabei ist es ein Wettrüsten zwischen den Konkurrenten West-West geworden, mit dem Preis des Sozialabbaus, der schon jetzt die Erde in eine historisch beispiellose Spaltung von Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht gerissen hat. Hinter den Planern der EU stehen Kräfte, die künftig mit zwei Räuberbanden anstatt nur einer die Welt unsicher machen und unter sich auf aufteilen wollen. Das 20. Jahrhundert endete, wie es begonnen hatte: Mit einem gemeinsamen Kolonialkrieg der großen Nationen, um ihre imperialen Interessen durchzusetzen.

Weiterführende Informationen:

[Europäische Union]http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%E4ische_Union (|wikipedia|)

[Europäische Verfassung]http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%E4ische_Verfassung (|wikipedia|)

[Es begann mit einer Lüge:]http://online.wdr.de/online/news/kosovoluege/ |Monitor|-Dokumentation des WDR über den Kosovo-Krieg

[German Foreign Policy:]http://www.german-foreign-policy.com/ Informationen zur deutschen Außenpolitik (mit zahlreichen Artikeln und Berichten zur Rüstungsentwicklung sowie Militärbündnissen und -planungen)

[Europa: Friedensmacht oder Militärmacht?]http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/Welcome.html Beiträge zur Zukunft Europas von |Friedenspolitischer Ratschlag|, AG Friedensforschung, Uni Kassel

[EU für „Präventivkriege“ und „robuste Interventionen“. Die „Hard-Power“-Verfassung]http://www.imi-online.de/2003.php3?id=638 (G. Oberansmayr in: |guernica| Nr. 03/2003)

[“Spektakuläre Erfolge” im Waffenhandel]http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/002291.html (|Lebenshaus Schwäbische Alb|)

[Europa: Militär & Rüstung]http://www.bessereweltlinks.de/book12c.htm

[Deutschland: Militär & Rüstung]http://www.bessereweltlinks.de/book12e.htm

[Deutschland: Rüstungsexport]http://www.bessereweltlinks.de/book16c.htm

[EU-Armee – ein Papiertiger]http://www.juergen-elsaesser.de/de/artikel/home/jw040524euroarmee.html

[Die militärische Machtentfaltung der Europäischen Union]http://www.linksnet.de/drucksicht.php?id=1236 von Lothar Schröter (UK) in: |UTOPIE kreativ|, H. 164 (Juni 2004), S. 530-534

[Im Gleichschritt, marsch]http://www.jungewelt.de/2004/06-17/004.php Brüsseler Gipfel will mit europäischer Verfassung vor allem die Militarisierung der EU voranbringen

[EU macht mobil]http://www.jungewelt.de/2004/06-16/001.php »Friedensgutachten 2004« vorgelegt. Scharfe Kritik an EU-Aufrüstung und deutschen Militäreinsätzen

_Gerald Oberansmayr
[Auf dem Weg zur Supermacht]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3853712169/powermetalde-21
Die Militarisierung der Europäischen Union
144 Seiten, Paperback, |ProMedia| 2004
ISBN 3-85371-216-9 _

Interview mit Kai Meyer

|Das nachfolgende Interview führte _Valentino Dunkenberger_ im April 2004 im Auftrag unseres Kooperationspartners [X-Zine]http://www.x-zine.de. Wir bedanken uns für die freundliche Leihgabe der Kollegen.|

[Kai Meyer]http://www.kai-meyer.com wurde am 23. Juli 1969 in Lübeck geboren und ist im Rheinland aufgewachsen. Er hat in Bochum einige Semester Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert {sowie Germanistik und Philosophie – Nachtrag d. Lektors} und anschließend mehrere Jahre als Journalist für eine Tageszeitung gearbeitet. Sein erstes Buch veröffentlichte er 1993 im Alter von 24 Jahren. Seit 1995 ist er freier Schriftsteller und gelegentlicher Drehbuchautor. Mittlerweile werden seine Romane in vierzehn Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau Steffi, ihrem Sohn Alexander und Hund Motte am Nordrand der Eifel. (Quelle: Autoren-Homepage)
Für September 2004 ist sein nächster phantastisch-historischer Roman [„Das Buch von Eden“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3785721749/powermetalde-21 als Hardcover und Hörbuch in Planung und wird bei |Lübbe| erscheinen, seine bei |Loewe| veröffentlichte |Wellenläufer|-Trilogie fand kürzlich erst ihren Abschluss, außerdem sind die ersten Bände der siebenteiligen |Mythenwelt|-Reihe in Kooperation mit anderen Autoren erschienen.

_X-Zine: _
Hattest du schon immer den Wunsch, Schriftsteller zu werden, oder gab es da einen Wendepunkt in deinem Leben, an dem du dich entschlossen hast, ein Buch zu schreiben?

_Kai Meyer: _
Ich wollte schon sehr früh Geschichten erzählen, ganz gleich in welcher Form. Mit siebzehn, achtzehn wollte ich eigentlich zum Film, vorher dachte ich einmal, ich könnte vielleicht Illustrator oder Comiczeichner werden. Zum professionellen Schreiben kam ich mit neunzehn durch meinen allerersten Versuch, ein Drehbuch für einen Kurzfilm zustande zu bringen. Aus dem Film wurde nichts, und so habe ich mich hingesetzt und begonnen, das Ganze als Roman aufzuschreiben. Nach etwas über dreißig Seiten habe ich mich gefragt, für wen ich das eigentlich mache, habe den Stapel mit einem höflichen Anschreiben eingetütet und an Michael Schönenbröcher bei |Bastei| geschickt. Damals dachte ich, das könnte etwas für die „Dämonenland“-Serie sein. Er hat mir dann einen sehr ausführlichen und sehr freundlichen Brief geschickt, in dem er mir erklärt hat, warum er den Roman nicht gebrauchen konnte – damals wurden in der Serie nur Nachdrucke veröffentlicht –, hat ihn aber an die Taschenbuchredaktion weitergeleitet. Dort wusste mein späterer langjähriger Lektor Reinhard Rohn auch nichts damit anzufangen und reichte die Seiten an die Redakteurin der „Mitternachtsroman“-Reihe weiter. Von ihr bekam ich schließlich eine Zusage, allerdings unter gewissen Auflagen. Meine Geschichte war eher gedacht in der Tradition von italienischen Horrorfilmen wie „Suspiria“; statt dessen wurde dann ein Gruselroman „für Frauen“ daraus – was immer genau das heißen mag.
Auf diesem Wege habe ich aber Reinhard Rohn kennen gelernt, der mir zwei, drei Jahre später die Chance gab, mein erstes Buch zu schreiben, einen True-Crime-Roman mit dem Titel „Der Kreuzworträtsel-Mörder“. Von da an ging es beständig aufwärts. Der eigentliche Durchbruch kam zwei Jahre später mit meinem ersten Hardcover „Die Geisterseher“, der erste große Erfolg mit [„Die Alchimistin“ 73.

_X-Zine: _
Woher nimmst du die ganzen Ideen für deine Bücher? Sind das spontane Einfälle oder dauert es seine Zeit, bis du die Grundstruktur eines neuen Romans ausgearbeitet und vor Augen hast?

_Kai Meyer: _
Jeder hat Ideen für Geschichten. Der Mann am Bankschalter, die Frau in der Supermarktschlange. Allerdings behandeln die Wenigsten ihre Ideen mit dem nötigen Respekt und der angemessenen Ernsthaftigkeit, sei es, weil sie einfach kein Interesse daran haben oder aber schlichtweg keine Zeit für das, was die meisten anderen Leute „Spinnereien“ nennen. Für uns Autoren sind Ideen Kapital, und das meine ich nur am Rande im finanziellen Sinne. Ich notiere mir unendlich viele Einfälle, manchmal Unfug, oft aber eben auch eine wirklich gute Idee, aus der dann tausend Seiten werden können. Aus solchen Grundideen baue ich mir über mehrere Wochen oder Monate hinweg ein Exposé, also eine Art szenisches Konzept, an dem ich mich beim eigentlichen Schreiben des Romans entlang arbeite.

_X-Zine: _
Was für Bedingungen brauchst du, um gut und viel schreiben zu können? Musst du dazu ganz allein sein oder brauchst du im Gegenteil Menschen um dich herum? Könntest du uns beschreiben, wie dein Arbeitsplatz ungefähr aussieht?

_Kai Meyer: _
Ein Rundblick über meinen Schreibtisch: Neben all dem technischen Schnickschnack wie Monitor, einem neuen und einem alten PC (den ich seit mindestens einem Jahr wegräumen will), Drucker usw. sehe ich unter anderem ungefähr fünfzig Bücher herumliegen, eigene und von anderen Autoren; eine Ablage aus Plastikfächern, deren obere beiden Etagen unter den Papierbergen, die sich darauf auftürmen, gebrochen sind; viele, viele lose Zettel und Blätter, darunter ein paar handschriftliche Leserbriefe, die ich schon lange hätte beantworten sollen; das Foto eines Mädchens, das gedacht hat, sich bei mir für die Verfilmung der |Merle|-Trilogie bewerben zu können (ein Trugschluss); die aktuelle VÄRTTINA-CD „Iki“; die Fahnen meines neuen Romans „Das Buch von Eden“, der im September erscheint; Quittungen für meinen Steuerberater; eine Sideshow-Skulptur von Tolkiens Hexenkönig auf seinem Flugungeheuer; zwei „Fighting Furies“-Piratenfiguren aus den 70ern; die Videokassette des russischen Märchenfilms „Das gestohlene Glück“; eine leere Kaffeetasse; den chinesischen Roman „Die Rebellen vom Liang Schan Moor“ (auf dem die ähnlich betitelte TV-Serie basiert); ein Kaktus; eine |Merle|-Schneekugel, die mir der |Loewe|-Verlag geschickt hat; ein Foto von mir vor dem Pub „The Eagle and the Child“ in Oxford aus dem letzten Jahr; eine Schreibfeder, die ich noch nie benutzt habe; und, ähem, ein paar Hundehaare, was bei zwei Hunden nicht ausbleibt.

Und das ist nur das, was auf meinem Schreibtisch steht. Die übrigen knapp 80 Quadratmeter meines Arbeitszimmers sehen genauso chaotisch aus, mit zig Stapeln aus Büchern, die sich überall auf dem Boden auftürmen; Bücherregalen, in die keine einzige lose Seite mehr passt; Kinoplakaten von fragwürdigen Filmen aus den 80er Jahren (u.a. „Der Zauberbogen“ und „Metalstorm“ …); ein uralter Flipper, der leider nicht mehr funktioniert; allerlei Actionfiguren, etwa zur Comicserie „Bone“; zwei Ledersofas, die halb unter Büchern und Comics begraben sind; und viel zu viele DVDs, die ich vermutlich nie im Leben anschauen werde.
All das brauche ich manchmal zum Schreiben – und manchmal lenkt es mich derart ab, dass ich lieber im Wohnzimmer oder, im Sommer fast immer, im Garten arbeite.

_X-Zine: _
Du bist mit 34 Jahren noch ziemlich jung, hast aber schon, wenn ich richtig informiert bin, an die vierzig Bücher geschrieben. Hast du einen bestimmten Maßstab, wie viel du am Tag schreibst?

_Kai Meyer: _
Ich versuche, zehn Manuskriptseiten am Tag zu schreiben, fünfmal die Woche – niemals am Wochenende. In der Regel brauche ich für einen Roman, je nach Länge, zwischen drei und sechs Monaten. An „Das Buch von Eden“ habe ich fast ein Jahr gesessen.

_X-Zine: _
Du hast großen Erfolg mit deinen Büchern, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Wie gut kannst du von dem, was du mit dem Schreiben verdienst, leben?

_Kai Meyer: _
Ganz gut. Als ich mich 1995 selbstständig gemacht habe, habe ich mir als Limit gesetzt, im ersten Jahr mindestens so viel zu verdienen wie vorher als fest angestellter Redakteur bei einer Tageszeitung. Mittlerweile ist es ein Mehrfaches davon.

_X-Zine: _
Demnächst wird deine sehr erfolgreiche „Merle“-Trilogie verfilmt. Wie und vor allem warum kam es zu der Entscheidung, diese als Zeichentrickfilm umzusetzen und nicht als Realverfilmung, was ich persönlich sehr schade finde?

_Kai Meyer: _
Ganz einfach: Es war das erste seriöse Angebot einer Produktionsgesellschaft. Deutsche Produzenten – bis auf ganz wenige Ausnahmen – können mir noch so oft erzählen, dass sie die |Merle|-Bücher real umsetzen könnten. Ich würde ihnen, nach diversen Erfahrungen im Filmgeschäft, kein Wort glauben. Aber eine Zeichentrickverfilmung ist machbar. Und die Trickompany ist das beste Animationsstudio, das wir in Deutschland haben. Abgesehen davon, dass der Regisseur Michael Schaack und der Produzent Thomas Walker sehr nette und vor allem realistische Leute sind, was in dieser Branche keineswegs selbstverständlich ist.

_X-Zine:_
Ich habe mich ein wenig auf deiner [Homepage]http://www.kaimeyer.com umgesehen und war recht erstaunt, wie viel Zeit du dir für diese Seite und deine Fans nimmst. Ich finde das sehr lobenswert, denn es gibt nicht mehr sehr viele Autoren, die einen so guten Kontakt zu ihren Lesern pflegen! Folgere ich daraus richtig, dass dir deine Fans sehr am Herzen liegen?

_Kai Meyer: _
Klar, sonst würde ich das alles nicht machen. Das Ganze bedeutet eine Menge Arbeit – dessen technische Seite mir zum Glück abgenommen wird –, aber eben auch eine Menge Spaß. Ich kann mittlerweile schon gar nicht mehr recht nachvollziehen wie es war, als ich noch keinen so nahen Kontakt zu meinen Lesern hatte. Sicher, manchmal wird es auch ein wenig zu viel des Guten – die üblichen Fragen wiederholen sich ja sehr, sehr oft, gerade in E-Mails -, aber insgesamt überwiegen die angenehmen Seiten mit großem Vorsprung. Vor allen Dingen die Arbeit an der Rubrik „Journal“, eine Art Blog oder Arbeitstagebuch, ist klasse. Mittlerweile wird sie im Monat von 8.000 bis 9.000 Leuten gelesen, was eine ganz ordentliche Zahl für eine nicht-kommerzielle und weitgehend nicht beworbene Website ist.

_X-Zine: _
Du hast gerade zum neuen Jahr ein Projekt abgeschlossen, das unter dem Titel „Das Buch von Eden“ im Herbst auf den Markt kommt. Wieso liegt zwischen Schreiben und Veröffentlichung eine so große Zeitspanne?

_Kai Meyer: _
Tatsächlich ist sie diesmal sogar sehr kurz. Ich habe das Buch am 31. Dezember abgegeben. Im Mai müssen die fertig gedruckten Leseexemplare für Buchhändler und Medien vorliegen. Damit bleiben für Lektorat, Fahnenkorrektur, Titelbild, Innenillustrationen, Satz und die übrige Herstellung gerade einmal etwas über vier Monate. Das ist sensationell knapp. Zwischen Mai und September, dem offiziellen Erscheinungstermin, läuft dann noch die erste Pressearbeit.

_X-Zine: _
Kannst du uns schon Näheres darüber verraten?

_Kai Meyer: _
Der Roman spielt im Hochmittelalter. Es geht um die Suche nach dem wahren Standort des Gartens Eden. Im Prinzip ist es eine Queste, die Geschichte einer Odyssee durch das mittelalterliche Europa und den Orient. Sehr episch, sehr umfangreich. Die Hauptfiguren sind gerade einmal sechzehn Jahre alt, aber sie werden unter anderem von Albertus Magnus und ein paar anderen wunderlichen Gestalten begleitet.

_X-Zine: _
An welchem Projekt arbeitest du gerade? Worum handelt es sich dabei?

_Kai Meyer: _
Ich beginne in den nächsten Tagen ein neues Jugendbuch mit dem Arbeitstitel „Aurora“. Auch über die Arbeit daran werde ich auf meiner Homepage wieder Tagebuch führen. Aber es ist noch ein wenig früh, um jetzt schon etwas über den Inhalt zu verraten.

_X-Zine: _
Vielen Dank für das Interview! Ich wünsche dir noch ganz viel Erfolg für deine Zukunft!

Europa ohne Demokratie?

Die Europäische Verfassung soll dazu dienen, die nach dem Kalten Krieg neu eingetretenen Ostblockstaaten auf einen unumkehrbaren Markt der Gesetze des Profits und der Logik des Kapitals festzuschreiben. Dies geschieht im Hau-Ruck-Verfahren, wo ein Konvent in nur eineinhalb Jahren einen Entwurf schuf, der jetzt verabschiedet wurde (und noch durch die Mitgliedstaaten der EU ratifiziert werden muss).

Demokratie spielt im Entwurf keine wesentliche Rolle, dagegen die marktwirtschaftliche Absicherung und militärische Aufrüstung um so mehr. Das verläuft seit der Spaltung bezüglich des Irakkrieges zwar sehr schleppend, dafür gehen die Vorhaben, die Monopolunternehmen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands im militärisch-industriellen Bereich zu einer europäischen Rüstungsagentur zu vereinen, um so schneller voran. Der Philosophie des Neoliberalismus mit seiner freien Marktwirtschaft wird keine Alternative gestattet.

Interessant ist wohl auch, dass der Konvent eine reine Männerdomäne war, die 83 Prozent stellten. Unter den letztlich zwölf Stimmberechtigten gab es nur eine einzige Frau. Die Europäische Verfassung wurde somit fast unter Ausschluss der Frauen konzipiert. Aber auch in sonstiger Hinsicht stellte die Zusammensetzung des Konvents eine sehr groteske Verzerrung der politischen Realitäten in der Europäischen Union dar. Alles blieb in der Hand des strengen Präsidiums unter der Leitung von Giscard d`Estaing. Die Debatten wurden, trotz der multinationalen Zusammensetzung, ohne Übersetzung – nicht mal ins Englische – nur auf Französisch geführt. Natürlich sowieso auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zwar gab es einige Foren, die aber eine Farce waren, wo sich bestimmte Interessenvertreter jeweils drei Minuten äußern durften. Kritiker waren selbst dort ausgeschlossen.

Zu Recht wird bezweifelt, ob die von Giscard d`Estaing selbstherrlich am Ende als Konsens verkündeten Positionen überhaupt die einer Mehrheit waren. Schon gleich zu Beginn des Konvents gab es von Seiten der gewählten Abgeordneten des Europaparlaments Unterschriftensammlungen und eine mehrheitliche Kritik an der Arbeitsweise der Verfassungsentwurf-Gremien. Dies wurde ignoriert.
Eigentlich hätte die Verfassung bereits vor der Osterweiterung im Dezember 2003 verabschiedet werden sollen, war aber gescheitert. Nicht wegen der grundlegenden Inhalte, sondern wegen der Machtverteilung um die Vormachtstellung von Deutschland und Frankreich.

Die ganze Diskussion geht bislang an der Öffentlichkeit völlig vorbei und dies durchaus mit Absicht, denn seit dem Vertrag von Maastricht 1992 sind die europäischen Bürger misstrauisch. Sie haben früh erkannt, dass das Kapital die sozialstaatlichen Absicherungen massiv abbaut. Beitrittsabstimmungen in den Ländern – auch für den Euro – wurden so lange wiederholt, bis das Ergebnis passte und die manipulative Propaganda aus den eigentlich klaren Neins doch Zustimmung erschuf.

Das gefeierte neue Europa findet keine Sympathie, die Wählerstimmen zu den Europawahlen gehen kontinuierlich in die Tiefe. Das Europäische Parlament ist tatsächlich auch eine absurde Konstruktion. Es hat gegenüber den Kommissionen keinerlei Rechte und kann auch keine Gesetzesinitiativen einbringen. Die wichtigsten Teile der Politik der Europäischen Union sind außerhalb von parlamentarischer Kontrolle. Die mittels Wahlen ausgeübte Souveränität der europäischen Völker erstreckt sich nicht auf die zentrale Institution. Stellung darf man allerdings beziehen, aber, technisch unmöglich, von den Mitgliedsstaaten innerhalb einer Frist von sechs Wochen gefordert. Einspruch wird zugelassen, wenn dies neun der fünfundzwanzig Länder innerhalb dieser Frist gelingt. Für den Deutschen Bundestag ist das nicht zu schaffen, denn auch die Landesparlamente müssten noch Stellung beziehen. An begründete Stellungnahmen der Zivilgesellschaft ist dabei gar nicht zu denken. Aber selbst wenn es neun Ländern einmal fristgemäß gelänge, Einspruch zu erheben, kann die Kommission an ihrer Entscheidung festhalten und den Parlamenten bliebe nur der Weg der Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Auch das dürfte wenig Chancen haben, denn die Beweggründe der einzelnen Staaten werden unterschiedlich sein und der Gerichtshof darf auf keine nationalen Einwände eingehen, sondern muss auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage entscheiden. Die nationalen Parlamente der fünfundzwanzig Staaten haben keine wirksame Kontrolle mehr zur Wahrung ihrer Rechte. Das Europäische Amt für Rüstung unterliegt dann sowieso nicht einer Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs.

Wer überwacht eigentlich all diese Kommissionen? Eine spannende ungeklärte Frage. Es ist überaus wichtig, sich mit der europäischen Thematik auseinanderzusetzen. Was da gerade geschieht, ist für eine westliche Demokratie völlig unglaublich.

Zur weiterführenden Information: die [Europäische Verfassung]http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%E4ische__Verfassung bei |wikipedia| – mit einigen zusätzlichen Verlinkungen ins Netz

Verlagsinformation zum Buch:
|Die Europäische Union ist auf dem Weg zur Weltmacht. Ihre Osterweiterung schafft einen Binnenmarkt, der größer ist als der der USA. Und auch die Bildung einer globalen Militärmacht Europa droht weiteren Auftrieb zu bekommen. Gleichzeitig steht die demokratische Legitimität der EU auf tönernen Füßen. Die legislativen Rechte des Europäischen Parlaments und seine Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Exekutive sind weniger als bescheiden und entsprechen nicht einmal grundlegenden Normen parlamentarischer Demokratie. Daß der vorliegende Text für eine EU-Verfassung diesen Mangel an Demokratie festschreibt, ist der Öffentlichkeit noch kaum bewußt. Und auch nicht, daß er die permanente Aufrüstung wie den weiteren neoliberalen Sozialkahlschlag zur Verfassungspflicht erhebt. Höchste Zeit für eine breite öffentliche Debatte.|

_Andreas Wehr
[Europa ohne Demokratie?]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3894382724/powermetalde-21
Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen
154 Seiten, Paperback, PapyRossa 2004
ISBN 3-89438-272-4 _

Die europäische Verfassung im globalen Kontext

Wenn Europa weltpolitisch mitreden will, geht der Weg an einer Verfassung nicht vorbei. Europa will mit einer Stimme sprechen, aber die Realität erscheint ganz anders.
Der Irak-Krieg zeigte das drastisch. Von den drei Großen waren Deutschland, Frankreich und Russland (wenngleich Letztere allerdings nicht zur EU gehörend sind) antiamerikanisch (im Sinne des derzeitigen außenpolitischen Kurses der US-Regierung). England dagegen war völlig auf Kurs mit den USA und zeigte dies durch einen sehr überraschenden Paukenschlag mit einer gemeinsamen Erklärung von vier weiteren EU-Regierungschefs (Dänemark, Italien, Portugal, Spanien) zur Unterstützung der amerikanischen Irak-Politik, dem sich sogar drei weitere Regierungschefs aus den damals noch nicht angehörenden Beitrittsländern Polen, Tschechien und Ungarn anschlossen. Damit war Europa politisch gespalten und keine wünschenswerte einheitliche Linie mehr vorhanden.

Die Initiative für eine Verfassung ging von Deutschland aus. Im deutschen Bundestag wurde 1995 die Idee einer europäischen Charta behandelt und von 1999 bis 2000 wurde unter Bundespräsident Roman Herzog die Grundrechtcharta vorgelegt. Gerade diese Menschenrechte stoßen auf Blockaden, England kennt in seiner nationalen Verfassung keine Menschenrechte und wehrt sich vehement, solche in eine europäische Verfassung aufzunehmen. In Nizza war im Dezember 2000 die Grundrechtcharta zwar schon feierlich verkündet worden, ist aber nicht rechtsverbindlich. Ungeachtet dieser Tatsache wird sie von der europäischen Gerichtsbarkeit bis hin zum Europäischen Gerichtshof seitdem angewandt. Juristisch sehr zweifelhaft. Interessant im Buch sind auch viele Beispiele darüber, was da bislang überhaupt vor dem Gericht verhandelt wurde, denn der europäische Bürger bekommt davon ja überhaupt nichts mit. Dass Grundrechte in eine Verfassung gehörensollte – abgesehen von der englischen Position – keine Frage sein, denn schon bei der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten sollte man doch wissen, ob diese bereit sind, grundlegende Menschenrechte anzuerkennen. Konkretes Beispiel sind die derzeitigen Beitritsverhandlungen mit der Türkei. Da muss es um die Abschaffung der Todesstrafe, das Verbot der Diskriminierung von Minderheiten oder das Folterverbot und um Selbstverständlichkeiten wie Rundfunk- und Pressefreiheit gehen – nur um ein paar Rechte aus der Grundrechtcharta zu nennen. Eine Verfassung, die keine Grundrechte garantiert, sollte den Namen „Verfassung“ gar nicht verdienen.

Eigentlich sollte die Verfassung mit dem historischen Eintritt der zehn Ostblockländer im Mai 2004 schon eingeführt sein, aber dies ist nicht der Fall. Sieht man sich die Diskussionen – in welche die Bürger nicht einbezogen sind – an, gleicht auch alles einer Farce. Dies zeigt sich an einfachen Sätzen, die in diesem eigentlich seriösen Buch eher einer Satire gleichen:

|“Bei der Konstituierung des Konvents prägte der Konventspräsident Giscard d`Estaing den unbestreitbar richtigen, eindrucksvollen Satz: ‚Der Konvent ist der Konvent‘. Dies lässt sich nicht bestreiten und zeigt, dass es gelegentlich die Notwendigkeit gibt, unterschiedliche Perspektiven zu erkennen und sich gegenseitig zu überzeugen.“|

Bei der Diskussion zur Europäischen Verfassung lohnt sich ein Vergleich zur Verfassung der Vereinigten Staaten, da diese verschiedenen Staaten durchaus – wenn auch anders als im Vergleich zu Europa – ähnliche Beweggründe hatten. Bis diese sich letztlich durchsetzen konnte, war übrigens auch ein Prozess vonnöten, der fast hundert Jahre andauerte. Die Unabhängigkeitserklärung von Thomas Jefferson 1776 beendete das Joch von der englischen Krone, ähnlich will sich Europa heute wohl wiederum von der Vormachtstellung der USA lossagen, weswegen die USA das „alte Europa“ sehr argwöhnisch beäugen. Die Grundfragen, die es bei einer Verfassung zu beachten gibt, sind denen der USA von vor nunmehr 215 Jahren also ähnlich. Der große Unterschied ist allerdings, dass Europa kein Klon der USA werden will. Genau wie damals ist aber längst nicht vorhersehbar, wo künftig die geographischen Grenzen Europas überhaupt einmal sein werden.

Vorbildhaft am Beispiel USA allerdings wäre bereits deren Grundrechtekatalog |Bill of Rights| von 1791, der sehr demokratisch eingeführt wurde und ein Dokument der amerikanischen Bürger darstellt. Im Gegensatz zur europäischen Diskussion, von denen die Bewohner der Nationalstaaten überhaupt nichts inhaltlich mitbekommen und wo die Verantwortlichen an der Realisierung arbeiten, als wären sie in einem „Geheimbund“.

Eine europäische Identität ist aber auch durchaus etwas anderes bei all der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Wir Europäer sprechen keine einheitliche Sprache und sind stolz auf eine „Einheit in der Vielfalt“. Keine Kultur darf dominieren, um das demokratische Miteinander zu gewährleisten. In den USA sprachen eigentlich alle schon hauptsächlich englisch. Diese sprachliche und kulturelle Problematik wird aber auch in einem künftigen Amerika kommen. Um 1900 waren noch 90 % aller Amerikaner europäischer Abstammung (davon 25 % deutsch) und das ist mittlerweile auf 70 % gesunken. 90 % der jetzigen Einwanderer kommen aus dem spanisch sprechenden Raum. Kalifornien hat keine weiße Mehrheit mehr und Texas wird in 20 Jahren mehrheitlich spanisch sprechen.

Angst machen den USA der eingeführte Euro und auch eine eventuelle europäische Armee, die die NATO schwächen könnte. Andererseits blickt man aber auch mit Interesse und Respekt auf die europäischen Bemühungen. Es stehen ja tatsächlich auch konkrete Bestrebungen dahinter, die UNO, welche keinen Frieden organisieren kann, und die WTO, die keine Gerechtigkeit organisieren kann, mit europäischen Ideen zu reformieren.

Ganz unterschiedliche Meinungen gibt es zum Amt eines europäischen Präsidenten. Tony Blair (England) will einen Superpräsidenten wie in den USA. Deutschland will diesen nicht, schon gar nicht von einem obskuren europäischen Rat am Ende gegen den Bürgerwillen eingesetzt. Giscard d`Estaing (Frankreich) will einen Wahlkongress für den Präsidenten mit dem gesamten Europarat und gleich vielen Abgeordneten der angeschlossenen Nationalstaaten. Personalentscheidungen aus einem Kongress mit über 1.400 Mitgliedern zu treffen, dürfte sehr schwierig werden.

Information über all diese Dinge bleibt wichtig, und mitreden zu können, sollte auch möglich sein. Ein Blick ins Internet auf das |Institut für Europäisches Verfassungsrecht| lohnt, um aktuell zu bleiben: http://www.whi-berlin.de

_Ingolf Pernice / Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.)
[Die europäische Verfassung im globalen Kontext]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/383290512X/powermetalde-21
Forum Constitutionis Europae – Band 5
136 S., Pb., NOMOS 2004
ISBN 3-8329-0512-X _

Blick auf ein neues Europa

Der größte Umbruch in der Europäischen Union stand mit der Eingliederung der ehemaligen Ostblock-Staaten bevor, als Hofbauers „Osterweiterung“ erschien, und dies wurde und wird in allen Medien ohne Ausnahme als positives Ereignis kommentiert. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, das auch die Schattenseiten aufzeigt. Die nachfolgenden Darstellungen sind aus zeitlicher Perspektive der Veröffentlichung formuliert, liegen also vor den kürzlichen Neubeitritten in die EU.

Die heutigen Humanisten wissen, dass der Name „Europa“ auf die von Zeus entführte Tochter des Phönix zurückgeht. Dabei ist die Herkunft des Namens eigentlich noch viel älter und entstammt nicht der griechischen Mythologie. Etymologisch leitet sich der Name vom assyrischen |erp| ab, was soviel wie „düster, dunkel, finster“ bedeutet: wo die Sonne untergeht. „Asis“ nannten dem gegenüber die Assyrer das Helle, Leuchtende: wo die Sonne aufgeht, Asien. Genauso sprechen wir auch heute noch vom Abendland, wo die Sonne untergeht, und vom Morgenland, wo sie aufgeht.

Die ersten Ambitionen für ein großes Reich hatten die Römer, die den Lîmes als Grenzwall bauten, und innerhalb lebten die „zivilisierten“ römischen Bürger und außerhalb die „Barbaren“. Ihr Reich erstreckte sich vom Norden Englands über Belgien und Süddeutschland entlang der Donau bis ans Schwarze Meer und den Dnjestr. Als die Römer an Bedeutung verloren, bekam die Idee religiösen Charakter und wurde vom christlichen Denken als Maßstab bestimmt, in all den Jahrhunderten immer voran auch von den Deutschen mit ihrem „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Gespalten wurde dieses Reich 1054 durch das große Schisma, das die Kirche in einen lateinisch-römischen und einen griechisch-orthodoxen Lebensraum spaltete.

Dies genügt an dieser Stelle für das Wesentliche aus der Vergangenheit, im Buch selbst wird die Historie wesentlich detaillierter dargestellt. Interessant, um das jetzige Geschehen einschätzen zu können, ist hier nur die jüngere Vergangenheit. Nachdem der Expansionsdrang der Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg erst einmal wieder beendet war, wurde im Zuge des Kalten Krieges mitten in Europa eine imaginäre Mauer gezogen. Treibende Kraft dafür waren die USA, die Russen unter Stalin wollten eigentlich dem entgegen arbeiten und 1949 zur Gründung der NATO ersuchte Russland noch die Aufnahme. Auch wollte Russland nie die Teilung Deutschlands, und 1952 machte Stalin noch das Angebot, auf seine Besatzungszone zu verzichten, um Deutschland als Ganzes politisch zu neutralisieren und damit zu vereinen. Dies wurde vom Westen komplett ignoriert und zurückgewiesen. Die USA hat kräftig die westlich europäischen Länder aufgerüstet und investiert, aber davon auch so profitieren können, dass es durch die Kreditzinsen wirtschaftlich gut voranging.

Dass der Ostblock dann 1989 zusammenbrach, lag nicht am System, sondern daran, dass die dortigen Völker nicht mehr mithalten konnten. Vor allem die Computertechnologie, die diese nicht hatten und die den westlichen Unternehmen all ihre Einsparungen möglich machte, brachte das Aus für den Kommunismus. Die letzte sozialistische Regierung Ungarns wurde durch einen von Otto Habsburg, dem Sohn des 1918 abgedankten Monarchen Karl, vermittelten 500 Millionen DM-Kredit aus Bonn eingekauft und dafür machten sie 1989 die Grenzen nach Österreich auf. Millionen DDR-Bürger wurden erwartet und große Flüchtlingslager eingerichtet, aber es waren dann nur wenige Tausend – trotzdem wurde das spektakulär vermarktet. Die Durchreise nach Bayern war generalsstabsmäßig geplant. So gut wie alle von diesen hatten bereits ihre Arbeitsverträge mit bayrischen und baden-württembergischen Unternehmen in der Tasche. Nach und nach brach damit der ganze Ostblock zusammen. Wohin dieses für ein halbes Jahrhundert scheinbar verloren gegangenes Osteuropa „heimkehrte“, wurde erst später deutlich: in einen von Krisen und Kriegen arg in Mitleidenschaft gezogenen Kontinent, wie er vor der kommunistischen Zwangsmodernisierung bestanden hatte. In Jugoslawien, Albanien, Moldawien und Teilen Russlands kehrte der Krieg nach 45-jähriger Unterbrechung wieder auf die politische Bühne zurück. Und das übrige Europa wird von wirtschaftlichen Krisen gebeutelt, im Osten nun freilich noch um ein Spürbares höher als im Westen.

Die Revolution, von der gesprochen wird, ist ein Mythos. Die DDR wurde einfach mit Stumpf und Stiel ausradiert. Die anderen Länder, die über eine nationale Identität verfügten, schreckten nicht vor inszenierten Falschmeldungen zurück. In Prag präsentierte das Bürgerforum einen von Sicherheitskräften Erschlagenen. Das war im Westen tagelang der Headliner, derjenige dagegen, der am gleichen Tag in Göttingen bei einer antifaschistischen Demo von prügelnden Polizisten unter die Räder eines PKW getrieben wurde und verstarb, wurde kaum wahrgenommen. Später stellte sich heraus, dass es einen Toten in Prag gar nicht gegeben hatte. Auch Havels kometenhafter Aufstieg vom Dramaturgen zum Republikgründer ist Teil einer Inszenierung, die aus drei Massenkundgebungen und zwei Stunden Generalstreik eine Revolution gemacht hat.

Noch krasser ist der Widerspruch zwischen Mythos und Wirklichkeit in Rumänen. 1989 verfolgte unter dem Weihnachtsbaum die christliche Welt mit Genugtuung die Hinrichtung des Ehepaars Ceausescu, weil sie das für gerecht für einen solch blutrünstigen Dracula hielt. Tage zuvor sah man nämlich zehntausend bestialisch ermordete ungarischstämmige Rumänen in den Nachrichtenbildern. Als sich später die ganze revolutionäre Aufregung gelegt hatte, kam heraus, dass die gezeigten Leichen keine Revolutionsopfer waren, sondern Spitaltote, die mit Geld bestochene Wärter aus dem krankenhauseigenen Friedhof ausgruben und revolutionär drapierten. Es gab keine zehntausend Tote. 96 Tote waren lediglich registriert. Nur als Vergleich: Beim zeitgleichen Überfall der USA auf Panama gab es 7.000 tote Panamesen. Ceausescu wollte im Gegensatz zu den Präsidenten wie Honecker, Husak und Schivkoff, die für ihre Länder keine wirtschaftliche Perspektive mehr sahen, einfach nicht das Feld kampflos räumen. Denn er hatte gerade einen großen wirtschaftlichen Triumph gefeiert. Zehn Jahre lang hatte er seinem Volk die härtesten sozialen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds aufgebürdet, um sämtliche Auslandsschulden zurückzahlen zu können. Im April 1989 war Rumänien als einziges Ostblockland schuldenfrei. Zu spät, denn ringsherum begann sich der osteuropäische Wirtschaftsraum aufzulösen. Als einziger politischer Führer der ehemaligen Ostblockstaaten wurde der rumänische KP-Chef am weströmischen Christtag 1989 hingerichtet.

Die ganzen ehemaligen Ostblockländer stehen heute unter einem sozialen Schock, was natürlich verschwiegen wird. Nach Statistiken der UNICEF stieg die Sterberate in diesen Ländern von 1989 bis 1997 um 12 Prozent. Betroffen sind eher Männer als Frauen und vor allem Arbeiter im Alter von 35 bis 49 Jahren. Teile einer im Kommunismus großgewordenen Generation haben die wirtschaftliche Krise nach der Wende und deren heftigen sozialen Auswirkungen nicht verkraftet. Dass der westliche Kapitalismus drei Millionen Menschenopfer brachte, wird nicht bekannt gegeben. Im selben Zeitraum sanken die Geburtsraten aus Zukunftsangst um 20 Prozent. Demographische Katastrophen dieser Art wirken sich erst nach mehreren Jahrzehnten drastisch aus, wenn es dann in den peripher-kapitalistischen künftigen Gesellschaften darum gehen wird, Alterssicherung für jene sicher zu stellen, die die Wende überlebt haben.

Dass das kommunistische System an sich versagt hätte und deswegen von innen her zusammenbrach, ist ein Mythos. Den Menschen im Ostblock geht es heute noch weit schlechter als zu den Zeiten vor 1989. Sämtliche nationale Statistiken wiesen bereits in den ersten Jahren nach der Wende zweistellige Einbrüche des Bruttoinlandprodukts auf. Pro Kopf liegt es weit unter den EU-Werten. Auf dem fiktiven BIP-Konto hat jeder Deutsche 25.000 Euro, jeder Pole 4.600, jeder Ungar 5.100, jeder Balte 3.000 und jeder Bulgare sogar nur 1.500 Euro. Das angebliche Reformjahrzehnt ist ein einziges Desaster. Lohnabhängige und Rentner wurden enteignet und die großen ausländischen Konzerne gingen als Gewinner der Transformation hervor. Die Schrumpfung von Sparguthaben durch Hyperinflation sowie die Streichung von Arbeitsplätzen mittels Privatisierung und Schließung von Betrieben zählten zu den effektivsten Formen des sozialen Raubs.

Die Verschuldung der Regierungen im Westen ist enorm. IWF und Weltbank geben die groben Linien vor. 165 Milliarden US-Dollar umfassen die Schulden bei westlichen und amerikanischen Banken, Russland weist dazu weitere 160 Milliarden US-Dollar Auslandsschuld auf. Rumänien hat seine Verschuldung aus den Achtzigerjahren, die während der Herrschaft von Nicolae Ceausescu abgebaut worden war, nach wenigen Wendejahren wieder erreicht. Das große Druckmittel sind nun die Verschuldung und die Bereitschaft zur Anpassung im Hinblick auf den EU-Beitritt. Das ist alles nicht aufzubringen und wird nichts in diesen Ländern verbessern. Bei solchen Schuldenhöhen und circa 12 Prozent Zinsen wird der jährliche Kaptitalabfluss aus dem Osten beträchtlich sein. Das Kapital fließt also, entgegen der medialen und politischen Suggestion, Jahr für Jahr von Ost nach West. Daran ändern auch die groß angekündigten Hilfen für Osteuropa nichts. Das von Brüssel ausgeschüttete Programm für die EU-Beitrittskandidaten betrug ja gerade mal 11 Milliarden Euro. Ein wirtschaftliches Aufholen in den Ostblockländern ist völlig unmöglich.

Seit 1945 wurde Europa nicht von demokratischer, sondern ausschließlich durch wirtschaftliche und militärische Integration geprägt, sowie teilweise durch die noch bestehenden monarchistischen Kreise in Holland, Luxemburg, Belgien, Dänemark, Spanien und Großbritannien. Der Vertrag von Maastrich 1992 über eine „Europäische Union“, den damals zwölf Staaten unterschrieben, veränderte den Charakter Europas. Brüssel war zum Zentrum der politischen Macht geworden.

Im Dienste der großen, nach Markterweiterung und Marktvereinigung strebenden europäischen Konzerne häuft die von keiner Volkswahl oder ähnlichem demokratischen Akt belastete EU-Kommission Kompetenzen an, die weit jenseits derer der Regierungen jedes einzelnen Teilnehmerstaates liegen. Tausende nationaler Normen in so gut wie allen Branchen werden aufgehoben, auf dass europaweit agierende Konzerne in einer Wirtschafts- und Währungsunion produktionstechnisch rationalisieren und damit Kosten sparen bzw. Gewinne maximieren können. Von heute auf morgen bestimmten der EU-Rat und Kommissare des Brüsseler Großraums über die Finanz- und Währungspolitik, Wirtschaft, Außen- und Innenpolitik, Agrarpolitik sowieso auch über Verkehr, Forschung und Entwicklung, Bildung und Justiz. Im nationalen Rahmen blieben im Grunde nur noch die Kulturpolitik und Teilbereiche der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie der Justiz und Innenpolitik. Brüssel bestimmt den wirtschaftspolitischen Spielraum der nationalen Regierungen und der ist denkbar eng. Mittlerweile wacht auch die Europäische Zentralbank über den EURO als eingeführte gemeinsame Währung. Die Finanzminister der nationalen Mitgliedsstaaten stehen in der Rolle von Erfüllungsgehilfen einer restrektiven Budgetpolitik, deren Ziel es ist, den Konzernen Investitionssicherheit im Großraum herzustellen. Für Sozial-, Wohnungs-, Gesundheits- und Rentenpolitik fehlt dann logischerweise das Geld. Der Nationalstaat verliert Zug um Zug seine Existenzberechtigung.

Die Bevölkerungen Europas waren in heftigem Widerstand gegen eine solcherart Europäische Union, der nur unter Einsatz aller Mittel der Propaganda gebrochen werden konnte. Dänemark lehnte ab, aber bei Nachbefragung kam es zu einer knappen Mehrheit. Auch Frankreich stimmte nur mit einer hauchdünnen Mehrheit. Typischerweise entschieden die Deutschen über das Bundesverfassungsgericht. In Großbritannien blockierten die Konservativen. Die einzigen Länder, die still hielten, waren die ärmeren südlichen Staaten. Gleich nachdem die wirtschaftliche Struktur der neuen Supermacht stand, legte die Kommission 1993 bereits die Beitrittsbedingungen für die Ostblockstaaten fest, ohne dass von diesen überhaupt ein Antrag gestellt worden war. Die in den Beitrittserklärungen formulierte Definition von Demokratie hat aber nichts mit Volksherrschaft zu tun, sondern versteht darunter ein fest in der Hand der europäischen Kapitalgruppen befindliches Medien- und Parteiensystem, das sich dem Kapitalismus verpflichtet fühlt. Osteuropäische Parteien und Präsidenten, selbst wenn demokratisch von ihren Bevölkerungen mehrheitlich gewählt, gelten, sobald sie den Kapitalismus kritisieren, als nicht demokratisch. {Man betrachte dazu die verschiedentlich geäußerten US-amerikanischen Ansichten über den Begriff „Demokratie“. Zudem ist die Lektüre der neuen EU-Verfassung in Bezug auf die Wertstellung von demokratischen gegenüber marktwirtschaftlichen Aspekten sehr erhellend. – Anm. d. Lektors}

Die EU kostet die Mitgliedsstaaten eine Menge Geld. Deutschland ist dabei der größte Nettozahler und bestreitet 30 Prozent der gesamten Beitragszahlungen. Ein beträchtlicher Teil davon fließt in die vorbereitende Integration der beitrittswilligen Länder, aber nicht etwa an die Menschen dort. Die Gelder kommen den größten westeuropäischen Konzernen zugute, z.B. Volkswagen für die logistische Unterstützung der Investitionen in Tschechien und Fiat für Selbiges in Polen.

Die „großen“ Nationen begriffen recht schnell, dass sie zusammenarbeiten müssen, wenn sie die Macht innerhalb eines Großeuropas wollen. Nachdem sich 1989 zeigte, dass Deutschland den 2. Weltkrieg doch nicht so eindeutig verloren hat, wie man in den Jahrzehnten nach 1945 annahm, reichte Frankreich dem einstigen Kriegsgegner aus Einsicht in die neuen Machtverhältnisse die Hand. Deutschland und Frankreich zettelten gemeinsam die europäische Verfassungsdiskussion an. Die Beitrittskandidaten werden regelmäßig geladen und geprüft. Das verläuft nach dem sportlichen Muster einer Superstar-Gewinnshow – es werden Pluspunkte bei Übernahme vergeben und Minuspunkte bei kritischen Äußerungen. In diesem sogenannten „Screening“-Verfahren fallen die Nationen im Rennen vor und zurück und die einzelnen osteuropäischen Staaten stehen dabei im Konkurrenzkampf. Verhandlungen finden mit keinem der Beitrittsbewerber statt. Für diese geht es nur darum, den gesamten Bestand an Rechtsvorschriften und kapitalistischer Norm zu übernehmen, während die EU-Spezialisten das Gelingen dieser Maßnahme überprüfen. Rumänien und Bulgarien haben vorerst dieses Spiel verloren. Die Gewinner für Mai 2004 sind Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Dass das als Demonstration eines europäischen Friedens propagandagerecht beworben wird, ist reiner Zynismus. Der Krieg als Mittel der Politik ist nach Europa zurückgekehrt. Soldaten aus der EU und den USA sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und Mazedonien im Einsatz. Die Erweiterung der NATO Richtung Osten bringt US-amerikanisches, deutsches und britisches Militär in Stellung. Jetzt, wo die Soldaten aus den EU-Ländern auf dem Balkan, in Afghanistan und demnächst in einer Reihe anderer Länder und Regionen der Welt stationiert sind, kehren angeblich „Frieden, Demokratie, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent“ ein.

Nach diesem Abriss, der nur ein Drittel des Buches erfasst, folgen die Zustandsanalysen der neu hinzukommenden Beitrittsländer. Auf diese einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber er ist auch nicht als Ersatz zum Lesen des Buches gedacht. Auffallend sind in allen Ländern das gleiche Muster der erfolgten Übernahme der bedeutendsten wirtschaftlichen Sektoren durch westeuropäische Eigentümer, die einseitige Ausrichtung des Außenhandels, die De-Industrialisierung ganzer Regionen und damit das extreme Auseinanderdriften von Reich und Arm in regionaler und sozialer Hinsicht.

_Hannes Hofbauer
[Osterweiterung]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3853711987/powermetalde-21
Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration
Pb., 239 S., ProMedia, 2003
ISBN 3-85371-198-7_

|Dieser Essay erschien zuerst im alternativ orientierten Magazin [AHA.]http://www.aha-zeitschrift.de|

RatCon 2003

|Um die Wartezeit bis zur Ratcon dieses Jahres für alle Rollenspiel- und Fantasybegeisterten mit nostalgischem Verzücken zu versüßen, sei an dieser Stelle ein Bericht der Vorjahresveranstaltung als Appetithappen präsentiert. Dieser Con-Bericht wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht, dem großen deutschsprachigen Onlinemagazin für Fantasy, Science-Fiction, Horror und Rollenspiele.|

Die |RatCon| 2003 liegt zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, einen Tag hinter mir – Zeit für einen Bericht, der für alle Nicht-Con-Gänger die wichtigsten Ereignisse einigermaßen gerafft und schnell liefert, ohne nur aus Stichworten zu bestehen.

Die von |FanPro| in Dortmund ausgetragene Veranstaltung war – wie auch die Jahre zuvor – ein voller Erfolg: Schon Freitag am Spätnachmittag stand der doch nicht allzu kleine Platz vor dem Fritz-Henßler-Haus gerammelt voll mit Rollen- und Tabletopspielern, und meinen Nachfragen zufolge fanden sich unter diesen sogar einige, die es hier erst werden wollten. Mein Diktiergerät nahm Phrasen wie: „Ich bin hier wegen dem Rollenspiel, aber hauptsächlich wegen der vielen Freunde und Bekanntschaften aus der Internetszene, die ich hier treffen werde“ oder „Rollenspiel, Freunde, Spaß pur!“ auf, und ich versprach mir ein schönes, sonniges Wochenende. Denn auch der Wetterbericht spielte mit: Auch am Abend und in der Nacht sanken die Temperaturen nicht groß unter die noch T-Shirt-freundlichen 15 Grad, am Tag musste man häufig Schatten suchen, um es länger draußen (z. B. für eine der Spielrunden, die im Inneren keine Plätze mehr fanden und deshalb nach außen verlagert wurden) aushalten zu können.

Ebendiese Spielrunden fanden sich auch sehr schnell zusammen, sodass ab knapp nach Eröffnung um 18 Uhr bis abends (ca. 23 oder 24 Uhr) keine freien Spieltische mehr über das zentrale Vergabesystem zu beziehen waren – bis dahin beschäftigte man sich mit dem Treffen alter Bekannter (überall bildeten sich die Community-Menschenringe), dem Ausrollen von Schlafsäcken, dem Aufpumpen von Luftmatratzen oder schlicht Nichtstun und in der Abendsonne liegen. Todesmutige Spielgruppen, die sich auf Bäumen, Zäunen oder auf dem harten und sandigen Boden niederließen, waren ebenfalls zu beobachten – so auch wir. Direkt am Freitag war bis auf das sehr erfolgreiche und durchweg sehr positiv aufgenommene |Multiparallele Abenteuer| kein erwähnenswertes Programm aus dem Rollenspielbereich; die Tabletopper verzogen sich aber recht bald in ihre Sphären namens |MechWarrior|, |MageKnight| und |Battletech| und verließen diese auch nicht, um sich unter das |Pen&Paper|-rollenspielende Volk zu mischen. Nachdem eine grobe Übersicht über das Programm geschaffen wurde, plante man die Seminare für die folgenden Tage vor und ich brachte den Freitagabend bzw. die Nacht des Samstags gut hinter mich.

Am Samstag forderte der um 10 Uhr beginnende Workshop „Das ultimative Monster: Der Spieler“ von _Hadmar von Wieser_ ein recht frühes Aufstehen, das jedoch vielfältig belohnt wurde: Sowohl Spieler- und Spielleitergehirn als auch die Lachmuskeln wurden in einem gelungenen und spontanen Vortrag über die vier Typen des Rollenspielers und seine Wünsche aufs Angenehmste strapaziert, während Hadmar mit großem schauspielerischem Talent und unter Einbeziehung des zahlreich erschienenen Publikums über Crush, den Barbaren erzählte. Kaum einige Minuten Pause, dann setzte Hadmar von Wieser seine vielgelobten Vorträge fort: Diesmal jedoch mit Unterstützung durch _Tom Finn_, neben Bernhard Hennen und Karl-Heinz Witzko ebenfalls Autor des |Gezeitenwelt|projekts, die von sich selbst erzählten, ihr Projekt vorstellten und das Feedback und die Meinungen der Fans einholten. Im anschließenden Interview mit Tom Finn und Hadmar von Wieser, geführt von Oliver P. Bayer und mir, zeigten die beiden |DSA|- und |Gezeitenwelt|autoren erneut, dass sie für jede Frage der Fans eine Antwort haben – nur geben wollen sie nicht immer eine… Über den Tag hinweg fanden sich am F-Shop-Stand (der auch die druckfrischen Erstausgaben von „Stäbe, Ringe, Dschinnenlampen“ verkaufte) einige Autoren der neueren |Phoenix|-Romane ein, um sich Kritik, Lob und Unterschriftenjägern zu stellen. Der sehr sonnige Samstag klang dann in der berühmten Filmnacht aus, weshalb man am Sonntag in der Frühe die letzten verschlafenen Gesichter aus dem Kinosaal huschen und ob des hellen Lichtes im schummrigen Vorraum blinzeln sah.

Der letzte Tag der Con glänzte vor allem durch eins: Aufbruchstimmung. Diese durchzieht leider – wie auch die vorigen Jahre – den ganzen Sonntag, diesmal jedoch auch kräftig von den |FanPro|-Mitarbeitern unterstützt, die schon vorweg Zelte einklappten und die Schotten dicht machten. Der Hauptblock des Programmes war bereits vorüber, und man wartete nur auf eins: Die Podiumsdiskussion mit der gesamten anwesenden |DSA|-Redax. Vorher wurde man jedoch von der Siegerehrung des inoffiziellen Abenteuerwettbewerbs |Gänsekiel & Tastenschlag| unterhalten, in der sowohl die Juroren (Bewältigung von vielen hundert Manuskriptseiten) als auch die Preisträger und Teilnehmer viele Arbeitsergebnisse präsentieren konnten. Während des Sonntags standen viele Fans auch bei den beiden Zeichnerinnen _Caryad_ und _Sabine Weiss_, die auf Wunsch und gegen ein kleines Entgelt den eigenen Helden zeichneten. Die Podiumsdiskussion um 15 Uhr lockte schließlich doch noch alles, was von den 2.000 Besuchern auf der |RatCon| verblieben war, in den großen Kinosaal, schließlich bestand hier die Möglichkeit, die Ankündigungen neuen |DSA|-Materials zu hören und selbst mitzubestimmen, welche Projekte demnächst in Angriff genommen werden sollten. Die Informationen waren im Einzelnen:

Ein großer Marketingbereich (Tassen, T-Shirts, Schmuck, Fußmatten, Pinnwände…) wird für |DSA| und |FanPro| vom |DSA| spielenden _Oliver Nöll_ (Hersteller des |Einen Rings|) erschlossen werden: Erste Produkte (so die |Aventurien|-Pinnwand) erzielten auf der |RatCon|-Auktion Preise von bis zu 40 €.

In Zukunft werden viele alte |DSA|-Romane bei |Phoenix| neu aufgelegt werden, die |Heyne|-Romane werden mit der „Rhiana die Amazone“ nur noch als direkte Folgetitel weitergeführt werden, die einen größeren Soapfaktor haben – die bisher gewohnte Romanreihe wird |Phoenix| weiterführen (auch als Hardcoverausgaben), da die |Heyne|-Romane dem Anspruch von Autoren und Leserschaft nur selten entsprachen.

Im vielgefragten Bereich der |DSA|-Computerspiele konnte |FanPro|-Chef _Werner Fuchs_ nicht viel Neues vermelden: Zwar sei das Interesse weiterhin vorhanden, es fehle jedoch schlichtweg an den Mitteln und den geeigneten Partnern. Einer sei zwar „in der Hinterhand und im Gespräch“, aber die Entwicklungskosten würden such auf mindestens 2,5 Millionen € belaufen und so |FanPro|s Kapazitäten sehr stark belasten – zu stark für den Moment.

Verkaufszahlen zu |TDE| in Amerika lagen noch nicht vor, jedoch wird demnächst „Over the Griffin Pass“, eine Übersetzung von „Über den Greifenpass“ von Thomas Finn, und „World of Aventuria“ (Geographia Aventurica) erscheinen, die |Spielstein|-Kampagne von Don-Schauen ist ebenfalls im Gespräch. Eigenes Material für den US-Sektor ist im Moment allerdings nicht geplant und höchst spekulativ, Rückübersetzungen ins Deutsche sind aber auf keinen Fall geplant.

Nach „Götter und Dämonen“ wird es keine weiteren |DSA|-Boxen geben, die vier Kernregelwerke werden allerdings möglicherweise in Kompendien (andere Zusammenstellung, selber Inhalt) für Sammler und Themeninteressierte zusammengefasst werden. Zur |Spiel 2003| in Essen wird die Box erscheinen, eventuell auch als limitierte Sonderausgabe mit Unterschriften und einem kleinen Gimmick.

An weiteren Regelwerken folgt die Umsetzung von „Drachen, Greifen, schwarzer Lotus“ in Hardcoverform sowie die verschiedenen Regional- sowie evtl. spezifische Rassen(„Freakshow“ – Thomas Römer)bände, sofern diese nicht in den Regionalausgaben abgehandelt werden. Der Südmeerband (Piraten, Al’Anfa etc.) wird zur |Nürnberger Spielemesse| 2004 erscheinen, die Thorwalausgabe danach, möglicherweise zur |RatCon| in einem Jahr oder zur |Spiel| kurz danach.

Das „Liber Cantiones“ ist weiterhin als „Sammlerledersonderausgabe“ geplant, die jedoch nur in kleiner Stückzahl erscheinen wird.

Der Anteil der Soloabenteuer wird weiter zurückgefahren werden.

An Abenteuern sind vorerst nur Anthologien geplant, die sich bei der Spielerschaft offenbar großer Beliebtheit erfreuen.

„The Next Big Thing“ in Aventurien wird etwas mit heißblütigen Wesen mit Schuppenproblem zu tun haben – es geht um die Drachen…

Die Überarbeitung des |DSA|-Lexikons wird vorerst nicht in Angriff genommen, da sich dieses langweilige Mammutprojekt niemand vornehmen möchte – für Leidensarbeiten wie diese fehlen dann doch Mitarbeiter und zu viel Zeit, die |FanPro| lieber in neues Material gesteckt sehen will.

|DSA-Mobile| lässt ebenfalls Neues von sich hören: So schreibt Dr. Stefan Blanck „Die Grabräuber“ und Tom Finn an „Drachenfeuer“ – beide Abenteuer sollen noch dieses Jahr erscheinen.

Um 17 Uhr – also eine Stunde vor Ende der „48 Stunden Spielspaß“ – verließ ich dann schließlich die |RatCon| und werde an dieser Stelle noch kurz etwas wiedergeben, was noch keinen Platz im obigen Bericht gefunden hat:

So etwa die dringende Empfehlung, statt der FH-hauseigenen Cafeteria lieber die zahlreichen Imbissstuben der nahen Dortmunder Innenstadt zu stürmen – halbwarme, komplett weiße und fetttriefende unfertige Pommes sind nicht eben das, was man deliziös nennt und was auf einer Convention den knurrenden Magen beruhigt. Aber der Frühstücksteller für 3 € (immerhin zwei Brötchen + heißes Getränk) war noch annehmbar, auch wenn das Ei weggespart wurde. Dennoch boten zumindest am Samstag bestimmt fünf Bäckereien innerhalb eines Radius von ca. 800 Metern ums FHH eine gute Alternative.

Die Spieltischvergabe gestaltete sich dieses Jahr nach meinen Erfahrungen etwas unkomplizierter, hier hat |FanPro| offenbar aus den Riesendebakeln der letzten Jahre gelernt und den Service verbessert.

Alle anwesenden Autoren haben ein offenes Ohr für Fans – ich habe dieses Jahr mit so vielen Autoren gesprochen wie noch nie zuvor – nur anmelden sollte man sich vorher, um eine Chance zu haben und den Autoren eine zu lassen. Dann allerdings kann man nur vor spontanen, witzigen und durchaus privaten Gesprächen warnen – das |Gezeitenwelt|interview zog sich in meinem Falle unglaublich hin, weil Hadmar von Wieser und Tom Finn (etwas abseits von der Con) sehr angenehm und gesprächig waren.

Wer immer eine bunte Palette an Rollenspielshops (die allerdings nur ihre eigenen Produkte verkaufen und so keinen Preiskampf betreiben), Spielrunden aus fast allen Systemen und Seminare zum Rollenspiel und zur Fantasy sucht, ist auf der |RatCon| jedes Jahr wieder gut aufgehoben.

Con-Homepage: http://www.ratcon.de/
Veranstalter: http://www.fanpro.com
Nächster Termin: 10. – 12. September 2004

_Firunew_ für das [X-Zine]http://www.x-zine.de/

Roderick Grierson / Stuart Munro-Hay – Der Pakt mit Gott

Reliquienverehrung kennen wir nur zu gut innerhalb unserer christlichen Kultur des Mittelalters. Aber auch ältere Kulturen glauben an diese meist geheimnisumwitterten Dinge. Neben dem |Graal| galt lange die |Bundeslade| als eines der großen Mysterien der Menschheitsgeschichte. Sie wäre in unserem Kulturbereich fast in Vergessenheit geraten, wenn nicht vor einigen Jahren die Filmindustrie diesen Mythos wieder aufgegriffen hätte und mit „Indiana Jones – Jäger des verlorenen Schatzes“ Millionen weltweit auf diesen Mythos aufmerksam gemacht hätte.

Die bekannteste Version der Lade stammt aus dem Alten Testament der Bibel. Während der Flucht aus Ägypten, des Exodus, erstieg Moses einen Berg und wurde vierzig Tage und Nächte von einem Wesen, das sich als Gott offenbarte, instruiert. Während dieser Zeit war das Volk bereits ungeduldig geworden und glaubte nicht mehr an seine Rückkehr. Als er herabstieg, tanzten sie vor dem Goldenen Kalb und sein Bruder Aaron hatte die Führung übernommen. Voller Zorn zerschmetterte Moses die von Gott erhaltenen Gesetzestafeln und metzelte gemeinsam mit den Söhnen Levis etwa dreitausend andere Israeliten nieder. Damit hatten die Leviten, die bis dahin nur als zweite Klasse unter dem Stand der aaronitischen Priesterschaftslinie galten, die religiöse Macht übernommen. Anzumerken bleibt, dass die Aaroniten ebenso zum Stamm der Leviten gehören und dieser Zwist nur einer unter vielen innerhalb der Vielfalt noch anderer israelischer Stämme darstellt. Moses ging erneut für vierzig Tage auf den Berg und kam mit zwei neuen Gesetzestafeln zurück. In dieser Version wurde erst danach die Lade gebaut und diese Tafeln hineingelegt. Wundersame Ereignisse, die die meisten Juden und Christen kennen, sind mit der Lade verbunden, bis sie zu König David von Jerusalem gelangte und dessen Sohn Salomo ihr dann den berühmten Tempel erbaute. Irgendwann war sie verschwunden, über die Umstände hat die hebräische Bibel nichts zu sagen.

Tatsächlich ist die Lade aber viel älter, sie war bereits zu der Zeit, als der biblische Bericht verfasst wurde, eine alte und mysteriöse Reliquie. Der biblische Text, der Jahrhunderte nach den darin beschriebenen Ereignissen seine Endfassung erhielt, verkündet eine Religion, in der es nur einen Gott, einen wahren Ort der Anbetung und nur eine Lade gibt. Die Überlieferungen früherer Kulte widersprechen dieser Version. Die Lade hat Konkurrenz, es gibt zu ihr Alternativen, die vermuten lassen, dass mehrere Laden existieren. Zudem bestehen erhebliche Zweifel an der Authentizität der Gesetzestafeln, die Moses in die Lade legte.

Das ganze Bibel-Getue ist ohnehin etwas recht Willkürliches. Das Neue Testament und seine christliche Religion ist eine radikale neue Interpretation des Alten Testaments, aber auch das Alte Testament wurde in seiner heutigen Form als Kanon erst im 1. Jahrhundert nach Christus festgelegt und stellt nur einen Bruchteil der ursprünglichen hebräischen Schriften dar. Diese entsprechen auch keinen einheitlichen hebräischen religiösen Linien, es gab innerhalb der Stämme noch viel mehr religiöse Machtkämpfe als nur die zwischen den in der heutigen Bibel am deutlichsten auftretenden Jahwisten (Moses) und Elohisten (Aaron). Bei Letzteren hat die Lade aus den genannten historischen Gründen auch keinerlei spirituelle Bedeutung. Archäologisch sind die biblischen Geschehnisse sowieso nicht haltbar, es ist historisch nicht möglich, zwischen Kanaaiten und Israeliten zu unterscheiden.

Für die „reine“ Lehre der Priester- und Prophetenkaste wurden der Abfall von Gott und der Untergang des israelischen Volkes mit der Einführung eines Königs besiegelt. Das Königstum stellte bei allen Völkern des Nahen Ostens eine Institution dar und war mit Mythologien verbunden, die den Kampf zwischen Ordnung und Chaos darstellten, z.B. im Babylonischen der Kampf zwischen Marduk und dem Drachen Tiamat. Der König wurde überall als Sohn Gottes betrachtet. Für die israelische Lehre war das der Untergang und größte Frevel, den sie mit König David einführten und der dann nahtlos bis zum Messias Jesus, ebenfalls dem Hause Davids entstammend, führte. (|„Am Ende würden sie wegen des Königs, den sie sich selbst gewählt hatten, zu Gott um Hilfe schreien, Gott werde ihnen jedoch nicht antworten“|… 1. Sam. 8, 10–18).

Auch an anderen Stellen des Buches Samuel wird deutlich, wie beschämend für die Priester das Verhalten König Davids war, der anstelle der jahwistischen Konventionen die Riten der kanaaitischen |Baal|s-Religion integrierte. Offen feierte er die alten Fruchtbarkeitsriten, verhielt sich sexuell „sündig“ und beschränkte sich nicht mehr auf seine eigene Frauen. Sehr interessant hierbei ist, dass Gott wegen dieser Krönung den Bund mit dem Volk Israel brach, aber dennoch stattdessen einen ewig geltenden Bund mit dem Hause David geschlossen haben soll. Und dieser Bund war nicht mehr israelitisch, sondern gehörte zur Welt der „anderen Völker“.

Für den Tempel, den Salomo baute, wurden fremdländische Handwerker geholt. Auch Salomo gilt in allen jüdischen, christlichen und muslimischen Überlieferungen als großer Magier und Zauberer. Er huldigte den Göttern seiner ausländischen Frauen, die Weisheiten, die er überliefert hat, sind einwandfrei ägyptischen Ursprungs und seine Macht soll auf ein Buch zurückgehen, das Adam noch aus dem Paradies mit in unsere Welt herüber rettete. So sehen es zumindest die jüdischen Mystiker, die im 18. Jahrhundert den |Chassidismus| begründeten. Sie erheben die Erotik des „Hoheliedes Salomo“, das auch sonst überhaupt nicht in die übrigen Lehren der Bibel passt, zu einem wesentlichen Pfeiler ihres Glaubens, indem sie in ihrem kabbalistischen |Sohar| das Brautgemach verehren, das der Weisheit – |Sophia| – der Göttin entspricht. Allen Überlieferungen nach ist die Bundeslade mit der Königin von Saba dem israelischen Volke verloren gegangen.

Für den modernen Menschen ist das, was mit und in Israel läuft, in religiöser Hinsicht völlig undurchschaubar. |Israelisch| bezeichnet das weltliche Herrschaftsgebiet, das ihnen von den Siegermächten des 2. Weltkrieges auch wieder zuerkannt wurde, |hebräisch| dagegen bezeichnet die Religionszugehörigkeit. |Semitisch| wiederum umschreibt die ganzen Aufsplitterungen in die Stammeslinien, wobei auch die nachfolgenden Weltreligionen des Christentums wie des Islams im Grunde als semitisch bezeichnet werden müssen. Von anderen Völkern werden sie jedoch immer noch als |Juden| bezeichnet, was von den Judäern herrührt, einer der Familien im verwirrenden Stammeskontingent. Diese Familie ist auch der Anstoß, den die Christen an ihnen nehmen, denn Judas hatte Jesus, den Davidianer, verraten. Heutige Gegner dieser Religion und ihres Volkes verwenden den Begriff |Zionisten|. Die Herkunft des Wortes |Zion| ist am unklarsten, aber dieser Begriff ist untrennbar mit dem Königstum des Hauses David verknüpft und stammt etymologisch aus der |Baal|-Religion.

Der Tempel Salomos wurde zerstört und bis heute wird deswegen weltweit immer wieder Krieg geführt. An der so genannten „Klagemauer“ an der Stelle des ursprünglichen Tempels in Jerusalem versammeln sich alle, die unzufrieden sind. Die christlichen und muslimischen Palästinenser, die Griechen, Armenier, Juden und Marokkaner klagen und streiten vereint um diesen Verlust, der in seiner Bedeutung die gleichen Ausmaße angenommen hat wie die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.

Im Buch der beiden Autoren, auf das sich dieser Essay bezieht, geht es dann erst einmal nicht mit dem Geheimnis um die Bundeslade weiter. Es gibt einige Theorien, was aus ihr geworden sein könnte, aber der Faden spinnt sich von den Visionen Ezechiels, dem Buch Henoch, dem Erscheinen des Messias Jesus zu dem auf ihn folgenden letzten Propheten Mohamed. Mohamed räumte auf mit all den götzenhaften Vorstellungen der glaubensabgefallenen Völker der Juden und Christen, weswegen die Christen in ihm natürlich den Antichristen sahen, da für sie ja schon Jesus der Letzte und Einzige war.

Die Bedeutung, die Mohamed und sein Islam für die ursprüngliche Glaubenslinie einnimmt, ist zweifelsfrei wichtiger als die von Jesus Christus, die sich auch nur durch militärische Überlegenheit bis heute noch hat halten können. Die Muslime greifen auf die ursprünglichen Offenbarungen der Propheten zurück und können dies in ununterbrochener Kette der Überlieferung nachweisen, im Gegensatz zu den verfälschten und nicht verlässlichen Überlieferungsketten der Juden und Christen. Zudem ist die Geschichte der Juden voller Invasionen und Kriege, die Palästina zugrunde gerichtet haben. Bei allen drei heutigen Hauptreligionen bleibt der Angelpunkt ihres Streites untereinander aber Jerusalem. Selbst die Moslems gehen davon aus, dass am Tage des Jüngsten Gerichts die Kaaba von Mekka nach Jerusalem fliegen wird und als Braut auf dem Tempelberg erscheint.

Über die Legenden der muslimisch gewordenen Beduinenvölkerlinien findet die bisherige Geschichte der Lade aber eine überraschende Wendung, indem ältere Überlieferungen um die Bundeslade vor der Zeit Moses zu Tage treten, die in matriarchalische Göttinnenreligionen zurückreichen. Und damit tritt ein Geschehen zutage, auf das der Leser des zugrundeliegenden Buches bereits seit 250 Seiten hingeleitet wird, nämlich dass die Bundeslade noch heute in Äthiopien zu finden sei und dass die Königin von Saba sie dorthin aus dem Tempel Salomos brachte. Diese Königin wird im äthiopischen Volk auch mit der Königin Candaze oder Mekeda gleichgesetzt, die ihnen das Christentum überbrachte. Hier wird deutlich, dass sich die Mythen immer endlos wiederholen. In vielen alten Religionen dieses Kulturkreises geht diese Linie schon auf Lillith, die erste Frau Adams, zurück, die noch vor Eva von Gott geschaffen und noch vor dem Sündenfall aus dem Paradies vertrieben worden war.

Die Geschichte des Landes Zion ist äthiopischer Nationalepos und ihre religiöse Kultur steht in christlichem Traditionsfeld. Sie sehen den Religionskonflikt darin, dass Saulus der Jude, der sich später Paulus nannte, kam und alles verdarb. Denn auch die Äthiopier berufen sich auf eine Blutslinie aus dem Hause Davids, genau wie es auch einige magische Linien Europas tun. Allerdings bezieht sich der Anspruch dieses afrikanischen Volkes nicht nur auf den Sohn, den die Königin von Saba Salomo gebar, sondern darüber hinaus auf den Besitz der magischen Reliquie und damit auf den Anspruch auf den Bund mit Gott sowohl in alter wie in neuer Form. Und um diesen Bund geht es ja allen. Wenn man weiß, dass Salomo 700 Frauen und 300 Nebenfrauen hatte, kann man sich vorstellen, wie viele traditionelle Königslinien es heutzutage noch geben muss (nur am Rande vermerkt). Das Wichtige im äthiopischen Epos ist die Existenz der Lade, über deren wahre Bedeutung und wahres Alter sie als Besitzer deswegen auch die genauesten Kenntnisse von allen haben. Erst in ihrer Mythologie wird sie in der Bedeutung so etwas wie der Heilige Graal.

Um historisch alles noch besser zu verstehen, müssen wir noch tiefer in die Welt der arabischen Götter gehen und finden dabei die Geschichte des alten Königreiches Aksum, das dem alten Ägypten zuzuordnen ist, zu Gott Amun und seiner Göttin. Aksum gilt aber auch als Residenz dieser äthiopischen Königin von Saba. Dort stehen auch die größten Monolithe unserer Welt, was aber von den semitischen Religionen als viel später errichtetes heidnisches Zauberwerk datiert wird, und sie behaupten, ihre Kultur sei älter als diese Steine. In der heutigen äthiopischen Religion überschneidet sich dagegen der christliche mit dem jüdischen Glauben auf ganz eigene Weise. Sie haben die Mutter von Jesus, Maria, als Zion identifiziert. In der Gottesmutter, vermischt mit der wirklichen Blutslinien-Sichtweise, stellt es die perfekt gelungene heutige Version dar, was deshalb aufgrund seiner Attraktivität für den zukünftigen Weiterbestand dieses ganzen religiösen Dilemmas sorgen könnte. Und das alles in einem Land, wo sich in der Zeit nach Christus sowohl Heiden, Christen und Juden nicht nur gegenseitig sondern auch immer wieder untereinander wegen Glaubensfragen abgeschlachtet haben.

Geschichtlich ist diese neuere Ausprägung der Form des Volksglaubens aber auch verständlich, denn für die christlich liebäugelnden Äthiopier droht von den Juden keine Gefahr, wohl aber von den Moslems. Christen und Juden teilen darüber hinaus ja auch eine gemeinsame Schrift, was bei Christen und Muslimen nicht mehr der Fall ist. Und das funktioniert heutzutage alles, obwohl es historisch so war, dass Äthiopien Mohamed Schutz vor den Juden gewährte. Das christliche Interesse an Äthiopien ergibt sich dagegen aus der Tatsache, dass es zwei konkurrierende Davidslinien sind, die Äthiopier aber auch noch die Bundeslade haben, welche in den Händen der Christen den absoluten Machtanspruch auf den Bund mit Gott darstellen würde. Damit hätten die Christen auch die Chance, über den Anspruch der Lehren Mohameds triumphieren zu können. Die äthiopischen Christen haben weltweit die Marienverehrung am detailliertesten in ihren Glauben integriert, da ihrer Überlieferung nach Maria nach ihrer Himmelfahrt im Himmel Jesus dann das Versprechen abnahm, dass jeder, der in ihrem Namen eine Kirche baue, der die Nackten kleide, die Kranken besuche, die Hungrigen und Dürstenden speise, die Trauernden tröste und so fort der strafenden Hölle entgehen soll. Im heutigen Äthiopien ist man, seit all diese Geheimnisse jetzt erst in den letzten Jahren vermehrt ins Interesse der Weltöffentlichkeit gelangen, besorgt, dass ihnen von Geheimdienstgruppen die Lade gestohlen werden könnte.

Neuere Forschungen identifizieren Moses mit dem ägyptischen Eschnaton. Das goldene Kalb, um das, als Moses vom Berg herabstieg, sein Volk tanzte, war nichts anderes als der Apis-Stier, der als Inkarnation des Gottes Osiris verehrt wurde. Die Ägypter sehen deswegen die Juden als diejenigen an, die gottlos geworden sind. Nach ihrer Ansicht nach wurde ihnen die Lade von Moses gestohlen. Interessant dabei ist, dass die äthiopische Kirche noch bis 1959 der Autorität der älteren Kirche in Ägypten unterstand. Im äthiopischen Christentum sind viele Elemente der Religion König Davids integriert geblieben, die von den älteren Fruchtbarkeitskulten stammen. Bestandteil ihrer Riten sind diese ekstatischen Tänze zu Trommeln, die Nacktheit unter Männern und Frauen während der Taufzeremonien, die nicht nur einmal bei den Gläubigen durchgeführt werden, sondern immer wieder begangen werden. Die christlich-afrikanische Religion stellt ein Wunder dar – zweifelsfrei verhält sie sich in ihrer Geschichte genauso imperialistisch wie alle anderen Ausprägungen dieser semitischen Religionslinien, aber sie heilt auch alte Wunden und führt in ihren Ritualen die feindlich gegenüberstehenden Glaubenssätze der ursprünglichen ägyptischen, hebräischen, mesopotamischen und christlichen Kulte zusammen.

Die mosaische Prägung ist seit dem Erscheinen Christi vor 2000 Jahren ein Quell von Schmerz und Leid. Der äthiopische Kaiser, der sich seiner Abstammung nach auf die Königin Saba und den König Salomo berief, wurde 1974 gestürzt. In einem neuen Exodus mussten über zwei Luftbrücken wieder einmal Tausende von Juden der verlorenen Stämme Afrika verlassen. In Israel wurden sie nicht als Juden anerkannt, sondern als Christen gewertet. Es bleibt also trotz dieser vorbildlichen Integration in der äthiopischen Religion wohl auch in der Zukunft ein nicht aufhörender Religionskrieg zwischen den semitisch-ägyptischen Völkern. Auch vom Islam, der jede Heiligenverehrung und Bildnisse Gottes ablehnt, ist kein Aufeinanderzugehen zu erwarten. Und in unseren westlichen politischen Kreisen gärt ja dieselbe Bluts- und Messiaslinie im Verborgenen von den Merowinger-Dynastien über die fränkischen Kaiser seit Pippin II. bis ins heutige vatikanische Rom.

Alle, denen es um weltliche Macht geht, spielen dieses Poker-Ass irgendwann einmal aus. So wie in der |Tyndale|-Bibel der Ausgabe unter Jakob I., bei den Calvinisten, bei Oliver Cromley, der gar England als das auserwählte Volk sah und sich als zweiten Moses aus dem Hause Ägypten bezeichnete, bei den Anglikanern, den Anhängern von Thomas Müntzer, den Quäkern… Immer wieder sollen die zehn Gebote mit Waffengewalt durchgesetzt werden. Die Auswanderungen in die Neue Welt geschahen aus diesen den Exodus nachahmenden religiösen Gründen. Diese Neue Welt ist die heutige USA, deren Verfassung von einer zionistischen Priesterschaft des alten Ordens des Melchisedek entworfen wurde. Benjamin Franklin und Thomas Jefferson wählten nicht nur die Symbole des Sieges Israels über Ägypten, sondern diskutierten sogar, ob nicht Hebräisch die ideale Sprache für das neue ausgewählte Volk von Amerika sein könnte. Viele im damaligen Amerika entstehenden Sekten beriefen sich auf direkte Abstammungen zu verlorenen Stämmen Israels. Auch Indianer galten plötzlich als solche verlorene Stämme.

Joseph Smith fand eine neue Art Lade, die das Buch Mormon enthielt, und die Mormonen – die Heiligen der letzten Tage – wollen in Amerika ein neues Zion aufbauen. Tatsächlich sind sie seit dem Aufkommen des Islam die erfolgreichste Religion. Sie sehen sich als Nachfahren der alten Israeliten und setzten die alttestamentarische aaronitische und melchidekische Priesterschaft wieder ein. Ihre Tradition gründet historisch auf die Freimaurerei und in diesen Kreisen wird oft das Mormonentum auch als die „wahrhaftige Freimauerei“ bezeichnet. Ungeachtet all dieser religiösen Kriege beschäftigen der Tempel Salomos, die Lade und all die mit diesen Dingen verbundene Komplexität einer Sternenweisheit natürlich auch alle Philosophen, Wissenschaftler, Gelehrten und Historiker. Es ist zweifellos ein spannendes Thema um die Menschheits- und Kosmosrätsel. Die Freimaurer, die solches Wissen bewahren, üben den stärksten Einfluss auf Politik und Kultur der westlichen Welt aus. Ihre Wurzeln liegen im Ägyptischen und sie beglückwünschten in Telegrammen auch 1930 Ras Tafari zu seiner Wahl als Kaiser Haile Selassi I. von Äthiopien mit den Worten: „Grüße von den Äthiopiern der westlichen Welt“.

Eine neue Religion dringt auch mit den Mitteln der Musik in die Welt – |Reggae|… Für Bob Marley und alle anderen |Rastafari| ist ihr Glaube mit einem neuen Zion verbunden, in dem ein schwarzes Israel aus der Unterdrückung Babylons befreit wird… Der Kampf geht weiter. Warum kann die Religion nicht dahin zurückkehren, wo sie herkommt – zur Gemeinsamkeit der Menschheit, zur Vermischung in der Verschiedenheit, anstatt immer weiter in die Trennung zu führen und den Anspruch des Ausgewähltseins aufrechtzuerhalten? Die Lade sollte wahrscheinlich einfach wieder in die Hände der Heiden gelangen.

Das vorgestellte Buch wurde vor dem 11. September 2001 geschrieben…. Seit diesem Zeitpunkt tauchen weitere Fragen auf, wie: Was verbirgt sich im Namen von Osama Bin Laden? Etwa auch die Lade? Bundesladen überall – da lehnen wir uns doch lieber zurück und kiffen einen… Hail Selassi, Rastafari!

_Roderick Grierson / Stuart Munro-Hay
„Der Pakt mit Gott“
Auf der Suche nach der verschollenen Bundeslade

504 S., geb., Gustav Lübbe 2001
ISBN 3-785-72048-3

Broschur, Bastei Lübbe April 2003
ISBN 3-404-64191-4

Hannover spielt! 11

Zu den so genannten „Traditionscons“ gehört auch die Veranstaltung „Hannover spielt!“, die auch dieses Jahr im Haus der Jugend stattfand. Auf zwei Etagen fanden etliche Spieler am 22. und 23. Mai zum elften Mal eine Vielzahl von Spielrunden, interessanten Events und auch genügend Futter sowohl für ihren Magen als auch für die gut bestückten Regale zu Hause. Neben dem Verlag |Pegasus| waren |Truant|, die Redaktion |Phantastik| und als besonderes Highlight die Mannschaft des Rollenspiels |Degenesis| mit einem Promotionstand zugegen. Letztere bewarben die Erstausgabe des |Degenesis|-Rollenspiels mit Signierstunden, Zeichnungen und unverwechselbarem Charme. Doch Klaus Scherwinski und Marko Djurdjevic waren nicht die einzigen bekannten Gesichter auf der |H.spielt!| Florian Don-Schauen, André Wiesler, Thomas Römer, Wolfgang Schiemichen und Frank Heller waren zumindest körperlich anwesend, um nur ein paar zu nennen und gleichzeitig eine Menge anderer nennenswerter Personen zu unterschlagen. Wer Lust hat, sich auf einen Plausch mit den Machern der Rollenspielszene einzulassen, hat auf der [H.spielt!]http://www.hspielt.de/ weitaus bessere Chancen als auf jeder anderen Veranstaltung. Auf der Con geht es gemütlich zu und es fehlt die Hektik der Messe und der großen Cons.

Eine große Attraktivität der Veranstaltung sind nicht nur die wirklich vielfältigen Spielrunden, die sich auf die Räume gut verteilen. Es sind die besonderen Events. So fanden Lesungen, Workshops, ein Quiz und eine Preisverleihung statt. Die verschiedenen Aktionen wurden hervorragend angenommen und waren durchgehend gut besucht.

Sensationell gut kam das Quiz zum Rollenspiel „Das Schwarze Auge“ an. |Fantasy Productions| hatten das Ratespiel bereits in ihrem Newsletter angekündigt und der Zulauf war dementsprechend groß. Der Ablauf verlief witzig und unterhaltsam. Dabei hatte sich die Redaktion wirklich knackige Fragen ausgedacht, die selbst eingefleischte DSA-Fans vor Schwierigkeiten stellten. Es war eine durchaus ernsthafte Herausforderung, die mit genügend Humor durchgeführt wurde und Lust auf mehr machte.

Ein besonderer Event war die Verleihung des |Deutschen Rollenspielpreises| 2003. Die Premiere der Preisverleihung kam nicht nur bei den Machern, sondern auch beim Publikum gut an. Der |Deutsche Rollenspielpreis| ist ein Jurypreis, der als Anerkennung für die besten Leistungen im Bereich der Rollenspiele verliehen wird. Die durchweg von bekannten Szenenasen besetzte Jury verlieh die Preise unter lautem Applaus an die |Redaktion Cthulhu|, die Macher von |Arcane Codex|, an André Wiesler und an das Team von |Projekt Odyssee|. Mit der Nominierung und der letztendlichen Preisvergabe zeigte die Jury sowohl hohe Kompetenz wie auch Fingerspitzengefühl. Die allgemein gut angenommene Aktion lässt die Hoffnung aufkommen, dass damit eine Institution geschaffen wird, die weiterhin gute Leistungen prämiert.

Die Veranstaltung bot die Möglichkeit, über das Wochenende durchzuspielen, was vom harten Kern der angereisten Rollenspieler auch gerne angenommen wurde. Am Sonntagmorgen verlangten einige durchwachte Personen mit müden Augen nach Koffein, der genauso wie die anderen Nahrungs- und Genussmittel fast zum Selbstkostenpreis angeboten wurde. Eine gute Idee war dabei die Souvenirtasse für 9 Euro, bei der so viel Kaffee oder Tee inklusive war, wie der Magen vertrug.

|Hannover spielt!| ist immer wieder eine Anreise wert. Die verkehrstechnisch gute Anbindung macht dies auch geradezu einfach. Wer in der Region wohnt, sollte sich die Veranstaltung nicht entgehen lassen. Wer weiter entfernt wohnt, dem sei angeraten entweder durchzuspielen oder die gute Infrastruktur der Messestadt zu nutzen, in der die Bettenpreise zur Nebensaison – also zur Nicht-Messe-Zeit – durchaus erschwinglich sind.

_Jens Peter Kleinau (jpk)_
|Dieser Con-Bericht wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht, dem großen deutschsprachigen Onlinemagazin für Fantasy, Science-Fiction, Horror und Rollenspiele.|