Sabine Dardenne – Ihm in die Augen sehen

Sie, Sabine Dardenne, ist vermutlich die im Jahr 2004 bekannteste junge Europäerin, ohne ein Schlagerstar zu sein, weil sie ihrem Peiniger und Vergewaltiger beim Prozess im Frühjahr 2004 hoch erhobenen Hauptes ins Gesicht schaute.

Die junge Belgierin, deren Bilder bei ihrer Befreiung im Jahr 1996 um die Welt gingen, jene junge Belgierin, die acht Jahre später ihrem Peiniger im Gerichtssaal aufrecht ins Gesicht schaute und mit „crapule“ das Wort der Verachtung sagte, dass jeder Belgier aus ihrem Munde erhoffte. Und sie sagte es ohne zitternde Stimme … „Crapule“ – „Schurke“!

Am 26.04.1989 wird ein Mann namens Marc Dutroux erstmalig wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen zu einer Haftstrafe von dreizehn Jahren und sechs Monaten verurteilt. Wegen sogenannter „guter Führung“ wird er am 8. April 1992 – also nach rund drei Jahren – mit Gutheißung des damaligen Justizministers Wathelet aus der Haft entlassen.

Am 24. Juni 1995 werden die beiden achtjährigen Mädchen Julie Lejeune und Melissa Russo in Grace-Hollogne nahe Lüttich entführt und vermisst. Zwei Monate später, am 22. August verschwinden An Marchal (17) und Eefje Lambrechts (19) in der Nähe des belgischen Ostendes spurlos von der Bildfläche. Sie wurden zuletzt in einer Hypnose-Show in Blankenberge gesehen. Am 28. Mai 1996 wird die damals zwölfjährige und später überlebende Sabine Dardenne verschleppt. Laetitia Delhez, damals vierzehn Jahre alt und das zweite überlebende Opfer von Dutroux, verschwindet am 9. August 1996. Vier Tage später wird Marc Dutroux nach ersten Hinweisen verhaftet. Die intensiven Verhöre ergeben, dass die beiden Mädchen, die er zuletzt entführte, in dem Kellerverlies in Marcinelle nahe dem belgischen Charleroi lebend gefunden werden können.

Erst am 1. März 2004 beginnt in Arlon unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen der Prozess gegen Marc Dutroux und seine Komplizen. Der 17. Juni 2004 ist der Tag der Urteilssprechung: Marc Dutroux wird für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

„… Ich spürte, wie ich innerhalb von einer Sekunde, mit einer Hand auf den Mund gepresst und der anderen auf die Augen, vom Fahrrad gerissen wurde … Natürlich habe ich versucht, mich zu wehren, aber ich war viel zu klein. Ich war zwölf …“

Sabine Dardenne beginnt die Chronologie des Grauens mit ihrer Erzählung, wie sie, ein unbeschwertes Mädchen, zur Schule radelt, so wie sie es jeden Morgen tut. Sie erzählt von sich, dass sie immer ein sehr aufgewecktes Kind war und sich auch zu wehren wusste, sich auch daheim gegen Geschwister und Eltern gern behauptete.

Auch gegen ihre Entführung protestiert sie, doch „der Mann“, wie sie ihn nennt, ist stärker und zwang sie an jenem 28. Mai 1996, Medikamente zu schlucken, um sie während der Fahrt in einem Kleinbus ruhig zu stellen. Noch gleichen Tages macht er von dem vollkommen benommenen Mädchen Nacktfotos und steckt sie dann in einen eigens für seine Opfer gebauten Kerker, der die Größe einer Abstellkammer hat, rund 2 Meter lang und 1 Meter breit. Der Kerker ist durch ein 200 kg schweres und vollgepacktes Regalsystem verborgen.

Die Lügengeschichte, die Dutroux dem Mädchen auftischt, ist unglaublich: Dem Kind erzählt er, der „Chef“ habe ihre Entführung beauftragt, weil ihr Vater, der Gendarm sei, dem „Chef“ übel mitgespielt hätte.

Dutroux baut die Geschichte immer mehr auf, indem er sich als Beschützer erklärt, der sie versteckt. Und ihre Familie sei auch in Todesgefahr. Auch hätten sich die Eltern geweigert, rund 3 Millionen belgische Francs (ca. 75.000 Euro) zu bezahlen. Ein Bote hätte von der Mutter nur gehört, sie sei ein unartiges Kind.

Während dieser Lügengeschichte, die der kleinen Sabine „immer logischer“ vorkommt, kommt es zu ersten sexuellen Handlungen, die er an dem Mädchen vornimmt. Es sind in den ersten Wochen „Berührungen“, die das Mädchen sehr beschämen.

„… das Schlimmste, wenn dieser Geisteskranke verreiste, war der Toiletteneimer. Ein Alptraum. Ich konnte ihn nicht leeren, bevor er zurückkam. Und wenn er sechs Tage verreist war, hatte ich das Ding sechs Tage neben mir …“

Neben den sexuellen Handlungen erzählt Sabine, wie sie vor allem unter der mangelnden Hygiene litt. Ihr Peiniger ließ ihr nur die paar Kleidungsstücke, die sie am Körper bei der Entführung hatte. Er selber stank ekelhaft und hatte Haar wie „Frittenfett“, wie Sabine schreibt. Und sie, die Seife und Frottiertücher liebte, hatte nicht einmal eine Unterhose zum Wechseln. Gelegentlich wusch sie sie mit dem Wasser aus dem Kanister, der eigentlich ihr Trinkwasser sein sollte, weil sie sich vor sich selbst ekelte.

Gelegentlich kam Dutroux auf die Idee, sie zu „waschen“ und abzuschrubben, gelegentlich musste sie mit dem Kinderschänder baden. Das Wasser wurde nicht abgelassen, weil Dutroux es aus Geiz mit dem Eimer anstelle der Toilettenspülung nutzte.

Sabine versucht sich mit einem Kalender alles zu merken, schreibt ihr eigenes, kleines Tagebuch und schreibt Briefe an die Eltern, die natürlich nie dort ankommen. Mittlerweile redet sie sich ein, sie sei es Schuld, dass sie wegen Unartigkeit im Kerker säße, denn für Kinder, die nicht brav seien, würde niemand Lösegeld bezahlen. Herzzerreißend lesen sich die niedergeschriebenen Briefe, die später in den Utensilien von Marc Dutroux gefunden wurden.

„… Dienstag, 23. Juli. Er hat mich davor mit einem Gleitmittel eingeschmiert.“

Die Worte von Dutroux werden darin ebenfalls zitiert: „Hör auf zu heulen, das tut doch gar nicht so weh! Alle Mädchen machen das! Und beim ersten Mal tut es eben weh! …“

Nach mehreren Wochen reichen Dutroux sexuelle Handlungen nicht mehr, er vergewaltigt und entjungfert Sabine. In diesem Zusammenhang schreibt Sabine Dardenne, dass sie die Folgen mittlerweile, nach so vielen Jahren, überwunden hat. Aber der chronologisch nächste Brief an ihre Mutter, der später auch bei Dutroux gefunden wurde, erzählt über mehrere Seiten ihre Verzweiflung. Auch fragt sie, ob es stimmen würde, dass sie – die Mutter – hätte ausrichten lassen, die Sache „mit dem Sex“ sei ganz normal … Und für ihre mittlerweile anhaltenden Blutungen durch den erzwungenen Geschlechtsverkehr bekommt sie ein paar verblichene Pampers von ihrem Peiniger.

Auch die anderen verzweifelten Momente sind bedrückend beschrieben. Sie erhält teilweise Schokolade, deren Datum schon drei Jahre abgelaufen ist, muss sich von angeschimmeltem Brot ernähren, bekommt nur Milch und Wasser zum Trinken. Nur wenn sie Dutroux gefällig ist, bekommt sie mal einen Pudding oder einige Bonbons, oder sie darf auch mal eine Stunde Fernsehen.

Ansonsten hat sie ein einziges Spiel, das auf einem alten Fernseher läuft. Das TV-Gerät dient aber nur diesem Zweck und kann keine Programme empfangen.

Die folgenden Seiten beschreiben, wie ihre Verzweiflung immer größer wird. Es werden weitere Briefe der kleinen Sabine abgedruckt, die das Herz zerreißen. Die Einzelheiten über die sexuellen Perversionen, die sie ihrer Mutter beschreibt, werden teils ausgelassen, da sie zu persönlich sind. Später, im Prozess, wo diese Briefe, die bei Dutroux gefunden wurden, vorgelesen werden, bleiben die Eltern von Sabine Dardenne auf Wunsch der Tochter fern von diesem Gerichtstermin.

Die folgenden Seiten erzählen, wie dann eines Tages Laetitia Delhez als zweite Gefangene ankommt. Betäubt, nackt, später vergewaltigt. Erst jetzt erfährt Sabine von dem zwei Jahren älteren Mädchen aus Bertrix, dass in ganz Belgien, teils in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich ihr Foto auf Suchplakaten aushängt. Sehr imposant ist die für das Buch nachgestellte Unterhaltung. Sabine erfährt eine für ihre Seele wertvolle Nachricht: Niemand hat sie aufgegeben!

Vier Tage später werden die zwei Mädchen befreit, denn Dutroux wurde innerhalb der Ermittlungen endlich durchleuchtet und in die Mangel genommen. Er führte die Polizei schließlich zu dem Versteck der Mädchen. Und es entstanden die unglaublichen Bilder, die um die Welt gingen, wie zwei junge Frauen nach ihrer Rettung verängstigt in ein Auto gebracht werden …

Mit Eléonore Delair, Bettina Runge und Christa Trauter haben sich gleich drei Menschen um eine sehr präzise und korrekte Übersetzung bemüht. Als Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes wirkte Marie Thérèse Cuny mit.

Das schlimmste Verbrechen ist sicherlich die Vergewaltigung und sexuelle Ausbeutung des Kindes. Aber die Erlebnisse gehen noch viel tiefer. Die Medien stellen – nachvollziehbar und verständlich – vor allem das Verbrechen der Vergewaltigungen und auch der Morde von vier anderen Mädchen in den Vordergrund.

Sabine Dardenne aber geht noch weiter. Sie schildert 80 Tage der Einsamkeit, der Empfindungen und der Verzweiflung. Sie schildert den Ekel vor Schmutz und die Verzweiflung, sich nicht einmal waschen zu dürfen. Und sie schildert, wie sie sich zu beschäftigen versucht, indem sie Gedichte schreibt, selbst Kreuzworträtsel entwirft oder sich gar verbal mit Dutroux anlegt, um einen Pudding einzufordern oder ein paar andere Kleidungsstücke zu erhalten. Gut ist, dass sie viele Details der Vergewaltigungen und Aktivitäten des Schänders auslässt. Schließlich gibt es auch „Subjekte“, die sich gerade daran „aufgeilen“ möchten.

Dass diese junge Frau sich trotz Vergewaltigung, Gefangenschaft und Manipulation nicht hat zerstören lassen, bewies sie bei ihren Auftritten vor Gericht und in den Medien. Sie ist nicht mediengeil, sie ist nüchtern und sachlich wie ihr Buch. Es ist kein Buch des Jammerns, obwohl sie Millionen Gründe als Argument hätte. Es ist ein Buch von Kraft, Größe, Mut und Stärke. „Le Monstre“ hat sie nicht zerbrochen. Und Sabine hat inzwischen einen Partner und Freund, was den Leser auch erfreut.

„Crapule“ … Ja, das sagte sie in Verbindung mit einer Entschuldigung für ihre Ausdrucksweise vor Gericht. Ihr Buch ist wie ihr beherrschtes Auftreten: klar, bewundernswert und ungeschminkt.

Taschenbuch: 272 Seiten
Auflage: 1. März 2006
www.droemer-knaur.de