Mary Hottinger (Hg.) – Horror. Klassische und moderne Gruselgeschichten von Charles Dickens bis Ernest Hemingway

22 kurze und längere Geschichten erzählen von einem Schrecken, der nicht immer übernatürlich ist, sondern im Menschenhirn geboren wird, wo er sich monströs entwickelt und für einen realen Horror verantwortlich ist, vor dem jedes Gespenst kapitulieren muss. Die Herausgeberin gibt sich streng literarisch, liegt dabei keineswegs immer richtig, legt aber insgesamt eine Sammlung vor, die ihre Wirkung nicht verloren hat, obwohl (oder gerade weil) manche Story inzwischen nostalgisch tüchtig angestaubt = veredelt ist.

Inhalt:

– Mary Hottinger: Apologia horroris: Eine Ehrenrettung der Gruselgeschichte

– Mary Hottinger: Die Reise der Mary Celeste (The Voyage of the Mary Celeste, 1961): Die Autorin beschreibt ein reales Rätsel der Schifffahrtsgeschichte; 1872 treibt das Frachtschiff „Mary Celeste“ intakt, aber völlig menschenleer auf dem Atlantik.

– Edgar Allan Poe: Der Rote Tod (The Mask of the Red Death, 1842): Fürst Prospero und seine vornehmen Gefährten verbarrikadieren sich vor der mörderischen Seuche in einem Schloss, doch der Tod weiß sie auch dort zu finden.

– Arthur Machen: Das freundliche Zimmer (The Cosy Room, 1929): Zwar konnte der Mörder flüchten, doch in seiner Angst vor Entdeckung stirbt er tausend Tode

– Charles Dickens: Der Bahnwärter (The Signalman, 1866): Er sehe einen Geist, wenn ein Zugunglück bevorstehe; darauf beharrt der Bahnwärter, was zu seinem (tragischen) Tod führt.

– Ambrose Bierce: Die Totenwache (A Watcher by the Dead, 1889): Eine dumme Wette bringt einem Mann den Tod und treibt einen anderen in den Wahnsinn.

– Rudyard Kipling: Eine Tatsache (A Matter of Fact, 1892): Die gesamte Besatzung des Schiffes hat zwei aus der Tiefsee aufgetauchte Ungeheuer beobachtet, doch die illusionsarm moderne Welt will dem partout keinen Glauben schenken.

– Philip MacDonald: Unsere gefiederten Freunde (Our Feathered Friends, 1931): Das junge Paar wird von süßem Vogelgesang in einen Wald gelockt, wo sich die trügerisch harmlosen Federbälle von ihrer schnabelharten Seite zeigen.

– Robert Louis Stevenson: Markheim (Markheim, 1885): Markheim ist ein Mörder, den der Teufel (?) noch am Ort seiner Bluttat auf die Probe stellt.

– E. F. Benson: Die Turmstube (The Room in the Tower, 1912): Der unheimliche Traum von einer bitterbösen Frau gipfelt in einer nächtlichen Begegnung der grässlich realen Art.

– Oliver Onions: Die lockende Schöne (The Beckoning Fair One, 1911): Das günstig gemietete Haus entwickelt ein Eigenleben, um den Mieter erst zu vereinnahmen und dann in den Irrsinn zu treiben.

– Rudyard Kipling: ‚Sie‘ (They, 1904): Ein verwunschen wirkendes Landgut beherbergt zahlreiche Kinder und ihre blinde Ersatzmutter – so scheint es jedenfalls, doch die Wahrheit ist entweder unheimlich oder traurig.

– Saki: Sredni Vashtar (Sredni Vashtar, 1910): Das geknechtete Pflegekind ersinnt sich einen Rachegott, der tatsächlich Gestalt annimmt.

– R. H. Mottram: Verlorene Vergangenheit (Lost Property, 1931): Die Rückkehr in seinen Heimatort wird für den erfolgreichen Geschäftsmann zur erschreckenden Begegnung mit einer nie bewältigten Vergangenheit.

– Martin Armstrong: Der Pfeifenraucher (The Pipe-Smoker, 1932): Der Wanderer ist zunächst froh über die Entdeckung des einsamen Hauses, doch dessen Bewohner benimmt sich zunehmend seltsamer.

– Evelyn Waught: Der Mann, der Dickens liebte (The Man Who Liked Dickens, 1933): Im brasilianischen Dschungel wird ein Reisender vor dem Tod bewahrt, doch sein Retter mag ihn nicht mehr gehen lassen.

– W. F. Harvey: Augusthitze (August Heat, 1910): Die Ankündigung seines Todes wird für den Betroffenen zur hässlichen Gewissheit.

– Shirley Jackson: Die Lotterie (The Lottery, 1948): Seit jeher wählt sich die Gemeinde einen Sündenbock, der oder die zur Vermeidung von Unglücksfällen buchstäblich den Kopf hinhalten muss.

– A. M. Burrage: Die Wachsfigur (The Waxwork, 1931): Von seiner Nacht im Wachsfigurenkabinett erhofft sich der Journalist eine interessante Story; eine Erwartung, die bei weitem übertroffen wird.

– Ernest Hemingway: Die Killer (The Killers, 1927): Sie suchen den „Schweden“, um ihn umzubringen, und er ist es müde davonzulaufen.

– John Metcalfe: Trauermarsch (The Funeral March of a Marionette, 1927): Die Lumpenpuppe ist ein wenig zu echt geraten, um künstlich zu wirken, und sie birgt in der Tat einen besonderen Kern.

– Evelyn Waugh: Miss Bella gibt eine Gesellschaft (Bella Fleace Gave a Party, 1932): Noch einmal will sie groß auftrumpfen, doch der Triumph scheitert tragisch an einem banalen Versäumnis.

– Richard Middleton: Das Geisterschiff (The Ghost-Ship, 1912): Der Sturm wirft ein Geisterschiff an Land, wo seine Besatzung für große Aufregung in einem kleinen englischen Dorf sorgt.

Entschuldigen Sie, dass wir Sie unterhalten

Man muss unwillkürlich und ein wenig mitleidig grinsen, liest man ein Vorwort, das ohnehin recht pompös mit „Apologia horroris“ überschrieben ist. Eine „Ehrenrettung“ hat die Gruselgeschichte (inzwischen) nicht mehr nötig – glücklicherweise, denn sie hat ihre Daseinsberechtigung längst unter Beweis gestellt.

Dies war zwar theoretisch selten anders, denn der Mensch liebt es seit jeher, sich unterhaltsam Angst einjagen zu lassen. Dafür musste er sich allerdings lange (und vor allem hierzulande) schämen: Der ‚gebildete‘ Leser widmet sich in seiner Freizeit gefälligst der „Literatur“. Eine Gruppe entsprechender Fachleute – die primär durch erbitterte Intern-Streitigkeiten geeint wurde – definierte, was ‚wertvoller‘ Lesestoff war. Gespenster und andere Gestalten aus dem Jenseits galten in der Regel als K.-O.-Faktoren.

Das war ein Vorurteil, wie Herausgeberin Mary Hottinger (1893-1978) völlig korrekt herausstellt, um dies ebenso einleuchtend zu erklären. 1961 stand sie damit – zumal im deutschen Sprachraum – noch auf etwas verlorenen Posten bzw. musste sich Mühe geben, ihr Publikum (sowie hoffentlich die strenge Kritik) zu überzeugen. Aus heutiger Sicht mag ihre Argumentation umständlich wirken, aber wir sind halt die glücklichen Nachfahren jener Generationen, die solcher Aufklärung (oder Entschuldigung) noch bedurften.

Das Wesen des Schreckens

Dabei treten in den hier gesammelten Geschichten erstaunlich selten ‚echte‘ Kreaturen der Finsternis bzw. des Jenseits‘ auf, die von (George) Oliver Onions (1873-1961) oder Rudyard Kipling (1865-1936) zudem eher angedeutet werden, statt ‚leibhaftig‘ aufzutreten, womit sie immerhin vermeidend, so profan und final leider auch banal zu wirken wie bei Philip MacDonald (1900-1980). Den von ihr thematisierten, zunächst vagen aber durchaus bedrohlichen Schrecken bezeichnet Hottinger als „Terror“. Er kann sich wie bei Edgar Allan Poe (1809-1849) oder Robert Louis Stevenson (1850-1894) verselbstständigen, wodurch die ohnehin kaum fixierte Grenze zwischen ‚realistischem‘ Terror und literarischem Horror verschwimmt. Mit einer eigenen Story gibt Hottinger den Tenor vor: Die Realität ist seltsam genug und oft eindrucksvoller als der erdachte Schrecken; John Metcalfe (1891-1965) verleiht dem eine wesentlich elegantere und eindringlichere Form als die Herausgeberin.

„Man kann den Menschen nur VOR den Kopf schauen“, lautet ein altes Sprichwort; es spricht die Furcht vor dem an, was HINTER der Stirn des Gegenübers lauern mag. Martin Armstrong (1882-1974), Evelyn Waught (1903-1966) und William Fryer Harvey (1885-1937) erzählen besonders eindringlich von jenem schauerlichen Moment der Erkenntnis, der sich langsam ankündigt, um sich schließlich spektakulär zu bestätigen: Wer mir da gegenübersitzt, ist wahnsinnig, und ich bin ihm ausgeliefert. Edward Frederick Benson (1867-1940) und Saki (= Hector Hugh Munro, 1870-1916) gehen noch einen Schritt weiter: Grauen wird durch Frustration und Hass quasi erzeugt und manifestiert sich mit körperschädlichen Folgen.

Ebenso einschüchternd kann der Blick des Autors ins (scheinbar) eigene Hirn wirken. Arthur Machen (1863-1947) schreibt über die Angst vor der Angst. Es ist zwar eine alte (und durchaus tröstliche) Erkenntnis, dass es meist deutlich weniger schlimm kommt, als man es sich vorgestellt und ausgemalt hat, doch das hilft nicht, wenn die Nachtmahre erscheinen. Ambrose Bierce (1842-1913/14) und Alfred McLelland Burrage (1889-1956) illustrieren die Folgen eines Irrtums oder einer Fehlinterpretation, die in einer fahrlässig heraufbeschworenen Krise gipfelt. Dagegen fürchtet sich der „Schwede“ in Ernest Hemingways (1899-1961) absolut geisterfreien Story völlig zu Recht – und diese Furcht hat ihn so ausgelaugt, dass er aufgibt, denn manchmal ist der Tod nicht so schlimm wie die Angst, zumal man seinem Schicksal ohnehin nicht entkommen kann, wie Charles Dickens (1812-1870) verdeutlicht.

Schattierungen des Schreckens

Wie man den Schrecken unheilvoll mit dem banalen Alltag verknüpft und glaubhaft gestaltet, demonstriert Shirley Jackson (1916-1965) mit ihrer trügerisch harmlos beginnenden und erst im Finale schockierend deutlichen ‚Schilderung‘ einer „Lotterie“, deren Schock auch darin begründet ist, dass der Tod keinen ‚Sinn‘ ergibt, sondern eine ‚Tradition‘ darstellt, die sich überlebt und ihren (sowieso obskuren) Sinn verloren hat. Jackson erschreckt auch deshalb so nachhaltig, weil sich fast schon übertrieben ‚normale‘ Menschen ganz selbstverständlich einer bösen Zeremonie ergeben. Wesentlich nüchterner schildert Ralph Hale Mottram (1883-1971) die eher tragische, jedoch ebenfalls düstere Begegnung mit dem eigenen Ich, das ein unwiderruflich vergeudetes Leben nicht mehr verdrängen kann.

Dass der Terror auch humorvolle Seiten besitzt, zeigen noch einmal Rudyard Kipling (in „Eine Tatsache“) und Richard Middleton (1882-1911). Ersterer stellt klar, dass ‚echter‘ Schrecken in einer modernen und allzu nüchtern gewordenen Welt durch handfeste Beweise belegt werden muss, weil der Mensch durch allzu viele Täuschungen und Falschmeldungen misstrauisch geworden ist. Middleton verzichtet auf jede Absicht, sein Publikum in Angst zu versetzen. Faktisch legt er eine absolut terrorfreie Gespenstergeschichte vor, die voller Witz auf alte Legenden zurückgreift und in dieser Sammlung eigentlich nichts verloren hat: Ungeachtet ihrer hehren Einleitungsworte dürfte Mary Hottinger sich der Tatsache bewusst gewesen sein, dass sich eine gute Geschichte gänzlich unakademisch durch ihren Unterhaltungswert auszeichnet, denn dies ist ein Qualitätsurteil, das auf die Mehrheit der hier gesammelten Storys zutrifft.

Die Taschenbuch-Neuausgabe von 1992 enthält leider nicht mehr jene 13 Zeichnungen von Paul Flora (1922-2009), die den literarischen Horror ‚künstlerisch‘ unterstützen sollten. Sie tragen so hübsche Titel wie „Verkleidetes Monster“, „Dämonische Insekten“ oder „Verwesendes Paar“ und wirken heute rührend altmodisch, ohne ihre Wirkung eingebüßt zu haben.

Herausgeberin

Mary Donald Hottinger wurde als Mary Mackie am 20. Juni 1893 im englischen Liverpool als Tochter schottischer Eltern geboren. Sie studierte Französisch und Deutsch in Cambridge. Nach ihrem Abschluss (1915) arbeitete sie als Übersetzerin für das War Office. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde Mackie Privatsekretärin im Luftfahrtministerium und unterrichtete Französisch am Bedford College der University of London.

Ende 1926 heiratete Mackie den Schweizer Markus Heinrich Hottinger, der als Rechtsanwalt in Zürich lebten und arbeitete, wohin Mary ihm folgte und an der Universität Englisch lehrte. Außerdem übersetzte sie deutschsprachige Autoren ins Englische. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Hottinger lange Jahre Dozentin an der Volkshochschule Zürich. Ab 1950 konzentrierte sie sich auf eine Tätigkeit als Herausgeberin zahlreicher Anthologien, die sie vor allem für den Diogenes Verlag zusammenstellte und kundig kommentierte.

Mit ihren Sammlungen genreprägender Kriminal- („Mord“, „Mehr Morde“, „Noch mehr Morde“) und Gruselgeschichten („Gespenster“, „Mehr Gespenster“) leistete Hottinger wichtige Pionierarbeit, die u. a. dadurch zementiert wurde, dass die genannten (sowie andere) Anthologien über viele Jahre neu aufgelegt wurden. 1978 ist Mary Hottinger gestorben.

Taschenbuch: 418 Seiten
Originalausgabe = dt. Erstausgabe (geb. u. unter dem Titel „Panik. Gruselgeschichten aus England und Amerika von Stevenson bis Hemingway“): 1961 (Diogenes Verlag)
Übersetzung: Peter Naujack, Marlies Wettstein u. a.
http://www.diogenes.de

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