Unter den so alltäglich und harmlos daherkommenden Erzählungen der preisgekrönten US-Schriftstellerin Kate Wilhelm („Früher sangen hier Vögel“) tun sich oftmals Abgründe auf. Die 1928 geborene Autorin (siehe unten) ist seit 1963 mit dem Science Fiction-Herausgeber Damon Knight verheiratet und eine der wichtigsten Genreschriftstellerinnen. Sie hat sich durch zahlreiche Romane und Storysammlungen den Ruf erworben, im Genre ausgezeichnete Wissenschaftsromane zu schreiben und außerhalb des Genres gute Kriminalromane.
Meines Erachtens ist Wilhelm am besten in ihren Kurzgeschichten, die stets eine bewegende oder witzige Pointe haben. Sie erzählen das Neue aus der Ausgangssituation des gewöhnlichen Familienlebens heraus, kippen dann Science Fiction- oder Fantasy-Situationen und brechen am Punkt der größten Erkenntnis unvermittelt ab: sehr wirkungsvoll.
Die Kurzgeschichten und Novellen sind bei uns in zwei Collections sowie in zahlreichen Anthologien des Heyne-Verlags erschienen. Die Originale erschienen oftmals in den ‚Orbit‘-Anthologien ihres Mannes Damon Knight, die in Deutschland beim S. Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.
Die Erzählungen
1) Selbst in der relativ harmlos beginnenden Story „Die Hunde (The Hounds, 1974)“ legt sich beim Erscheinen zweier schöner goldäugiger Windhunde vor Rose Ellens Haus ein Alpdruck aus dem Unterbewusstsein über die erzählte Welt. Die Hunde folgen nur Rose. Sie bekommt gewalterfüllte Alpträume und erschießt schließlich die beiden Symbole eines vitaleren, freieren Lebens, um ihre Verstand, ihre Ehe, ihre heile Welt zu retten.
Diese Erzählung wurde vom Autor des Vorworts R. Glenn Wright als Neugestaltung des antiken Artemis/Diana- und Aktäon-Stoffes interpretiert – mit Rose in der Rolle der Göttin.
2) Die Begegnung (The Encounter“ (1970)
Der Versicherungsvertreter Randolph Crane ist mit dem Überlandbus unterwegs, als ein Schneesturm den Fahrer zwingt, in einem Provinzkaff das Ende des Sturms abzuwarten. Acht bis zehn Fahrgäste steigen aus und werden mit Vorsteher des Busbahnhofs angesprochen: Es gebe vier Hotels und einen Diner, aber dazu müsse man ein kleines Stück durch den Sturm gehen. Crane bleibt lieber im Wartesaal, nachdem der Vorsteher gegangen ist. Er entdeckt, dann noch eine Frau dageblieben ist, jung und ebenso unpassend gekleidet. Zusammen gelingt es ihnen, die Heizung zu überlisten, so dass es wärmer wird. Crane glaubt, sie schon einmal gesehen zu haben.
Der Versicherungsvertreter Randolph Crane, vermutlich ein Mittdreißiger, ist mit dem Überlandbus unterwegs, als ein Schneesturm den Fahrer zwingt, in einem Provinzkaff das Ende des Sturms abzuwarten. Acht bis zehn Fahrgäste steigen aus und werden vom Stationsvorsteher des Busbahnhofs angesprochen: Es gebe vier Hotels und einen Diner, aber dazu müsse man ein kleines Stück durch den Sturm gehen. Einige Männer und eine junge Frau marschieren los.
Crane bleibt lieber im Wartesaal, nachdem der Vorsteher gegangen ist. Er entdeckt, dann noch eine Frau dageblieben ist, jung und ebenso unpassend gekleidet. Zusammen gelingt es ihnen, die Heizung zu überlisten, so dass es wärmer wird. Crane glaubt, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie erinnert ihn an seine geschiedene Frau Marie Louise, die ihn stets getadelt hat. Auf einem Skiurlaub fuhr sie den Abhang mit einem ihrer Verehrer hinunter und warf ihm, Crane, einen Skistock zwischen die Beine, so dass er stürzte. War es ein Mordversuch?
Crane ist anscheinend paranoid und womöglich sogar schizoid, denn die Erinnerungen an Marie-Louise verknüpfen sich übergangslos mit den Dialogen, die er mit der jungen Frau führt, die im Warteraum sein Schicksal teilt. Sie zeichnet, benutzt die Damentoilette und hat ein paar geniale Einfälle, wie sich die Tür gegen den Sturm schließen lässt. Dennoch bricht sein Tötungstrieb wieder durch und er schlägt zu. Es hindert sie nicht daran, einfach weiterzumachen, bis am nächsten Morgen eine Rettungsmannschaft eintrifft. Diese Männer finden nur die namenlose junge Frau vor…
Mein Eindruck
Der Autor des aufschlussreichen Vorworts hat sich gar nicht erst mit dieser Kurzgeschichte befasst, denn sie ist ebenso unvorhersehbar wie verwirrend. Am Schluss weiß der Leser zwar fast alles über Cranes Leben – vom Koreakrieg über den Militärgeheimdienst bis zum Job als Versicherungsmakler – , aber fast nichts über die Frau, die mit ihm das Wartezimmer teilt: Sie ist Illustratorin, sagt sie. Umso merkwürdiger daher, dass nicht Crane am Ende übrigbleibt, sondern sie. Durchaus denkbar, dass dies eine Gespenstergeschichte ist.
3) Somerset träumt (Somerset Dreams, 1969)
In der Titelgeschichte ist Somerset nicht die englische Grafschaft, sondern eine Kleinstadt irgendwo in Neuengland. Hier wollen Wissenschaftler aus der Stadt die Träume von ländlichen Dorfbewohnern messen und untersuchen. Eine junge Frau, die früher als Anästhesiologin gearbeitet hat, hilft den Wissenschaftlern und ihren Studenten bei ihrer Studie.
In einer beklemmenden Zuspitzung der psychischen Situation endet das Unterfangen in weitverbreiteten Alpträumen: Der Todeswunsch erscheint als schönes junges Tier.
4) Meine Damen und Herren, hier ist Ihre Krise (Gentlemen, This Is Your Crisis!, 1976)
Das Wochenende bringt für Das Ehepaar Lottie und Butcher immer eine besondere Attraktion mit sich: das Millionenspiel. Es handelt sich um eine als Livesendung inszenierte Krisentherapie, die die vier Teilnehmer auf eine harte Überlebensprobe in den Bergen stellt. Butcher wettet auf den starken Schwarzen Clyde, Lottie auf die „fette Frau“ Mildred. Gebannt verfolgen sie von Freitag bis Sonntagnacht die Fortschritte ihrer Favoriten.
Allerdings führt sich Lotties Mann auf wie ein Chauvi. Er säuft Bier wie ein Loch und futtert Butterbrote. Natürlich erwartet er von seinem Eheweib, dass es hinter ihm aufräumt und für neuen Proviant sorgt. Als Lottie dies nicht mehr erträgt und aufmüpfig wird, kommt es zur Krise in der Ehe. Die Balgerei endet erst, als wieder mal ein Rotsignal an ihrer Fernsehwand aufleuchtet, das einen Zwischenfall anzeigt. Sie müssen zwar 15 Jahre für die Fernsehwand Kredite abstottern, aber nach der Krise sind sie sich einig, dass sich die Investition gelohnt hat, um ihre Ehe zu retten.
Mein Eindruck
Äh, Moment mal. Eigentlich sollte die Krisentherapie doch auf der Fernsehleinwand stattfinden, nicht etwa im Wohnzimmer der Zuschauer. Aber darin liegt eben die ironische Umkehrung, die die gewitzte Autorin vornimmt. Kate Wilhelm ist eine der führenden Figuren in der amerikanischen SF-Szene und weiß genau, wie sich eine so banale Story am besten erzählen lässt.
Bei ihr wird der psychologische Zusammenhang zwischen Konfliktbewältigung bzw. -verdrängung und der Rolle des Reality TV sehr deutlich. Reality TV spielt noch heute eine wichtige Rolle im Privatfernsehen: Das Leben als Show und als Substitut für das eigene Leben der Zuschauer. Durch Substitution und die emotionale Beteiligung am Schicksal der Spielfiguren verdrängen die Zuschauer nicht nur ihr Leben, sondern auch dessen Konflikte. Jedenfalls meistens. Es sei denn, jemand wie Lottie rebelliert.
Der Titel, in dem sich scheinbar ein Moderator ans Publikum wendet, könnte der Titel der Live-Show des Millionenspiels sein – aber genauso gut die Ereignisse im Hause von Lottie und Butcher.
5) Eine Planetengeschichte (Planet Story, 1975)
Wie der Allerweltstitel schon nahelegt, geht es um den üblichen Zweck dieser Forschungsexpedition: Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob dieser erdähnliche Planet für die Besiedelung geeignet ist. Alle Umstände scheinen optimal, doch einer der Forscher nach dem anderen stirbt mit einem Ausdruck extremen Entsetzens. Nach vier solcher Todesfälle wird der Planet als unbewohnbar eingestuft, ohne dass jemand sagen könnte, warum eigentlich.
Der Selbstversuch
Die Medizinerin ist unsere Chronistin, und mutig setzt sie sich – nach immerhin schon zwei Todesfällen – einem Selbstversuch aus. Sie begibt sich selbst in die paradiesische Wildnis. Es gibt keine Fleischfresser oder Beutegreifer, die sie fürchten müsste – nur sich selbst. Natürlich ist sie durch ihren Schutzanzug und das Atemgerät gegen eventuelle Mikroben in der Umgebung abgeschirmt.
Kleine Pflanzenfresser laufen vorbei und beachten sie nicht. Dennoch fühlt sie sich auf einmal verfolgt. Der Verfolgungswahn wird immer stärker, bis sie vor einer unausweichlichen Wahl steht: Sich jeden Schutzes zu entledigen und in den Dschungel abzutauchen, um sich zu schlagen – oder sich schreiend in den Untergrund zu graben…
Sie erwacht im Lazarett, misstrauisch beäugt vom Kapitän. Es habe zwei weitere Verluste gegeben. Tony sei in den Dschungel gerannt, nicht ohne zuvor Francine das Genick zu brechen. Es ist klar, dass sie nicht mehr warten und mehr Verluste riskieren können. Wie seltsam, dass ausgerechnet eine ideale Welt nicht für die Besiedlung geeignet sein soll, denkt sie, als das Raumschiff die Welt und sämtliche Satelliten zurücklässt.
Mein Eindruck
„In der Geschichte klingen die Ängste von Adam und Kain nach“, merkt der Autor des Vorworts an. Adam erwacht im Paradies und sein Sohn Kain ist daraus verbannt. Was ist geschehen? Der Sündenfall, erklärt uns die Bibel. Doch die Expeditionsteilnehmer wissen nichts davon, und ahnen auch nichts Böses. Dennoch fühlen sie sich von irgendetwas verfolgt, und Ito erhängt sich, Jeanne und Tony rennen in Panik in den Dschungel. Alle anderen berichten von ausgeprägten Angstgefühlen.
Zwei Dinge fallen auf: Es gibt keine Gefahren, gegen die man sich verteidigen müsste. Und alle gehen allein auf Expedition, so dass sie keinen Beistand und keinen Referenzpunkt besitzen, der ihnen zur Selbstvergewisserung und Selbstbewertung dienen könnte. Es geschieht schließlich sogar ein Totschlag – von kaltblütigem Mord an Francine ist nicht auszugehen. Dies ist der erwartete Sündenfall. Die Vertreibung aus diesem höllischen „Paradies“ ist unausweichlich.
Oder es liegt nicht am Unterbewussten, sondern am Unbewussten: Der Tag auf dieser Welt ist 34 Stunden lang, der Monat hat 37 solcher Mega-Tage. Diese Rhythmen stehen in krassem Kontrast zum menschlichen zirkadianischen Rhythmus, der auf 24-Stunden-Tage eingestimmt ist. Der Tag-Nacht-Wechsel bestimmt unbewusst den menschlichen Kreislauf, Störungen wie etwa Schlafentzug lassen sich als Folter einstufen. Diese Theorie würde aber nicht die Paranoia und die Gewalt erklären.
6) Mrs. Bagley fliegt zum Mars (Mrs. Bagley Goes to Mars, 1978)
Mrs. Bagley ist von ihrem stumpfsinnigen Job angeödet, der offenbar darin besteht, Panzerabdeckplanen aneinanderzunähen. Ihr Mann arbeitet im New Yorker Stadtteil Bronx, ihr flegelhafter Sohn Joey steht trotz seiner Beschränktheit vor dem Abitur, bettelt aber ständig um Geld. Ständig driftet Mrs. Bagleys Phantasie an fremde Orte und wundersame Welten ab.
Um dieser Mühsal und der Hoffnungslosigkeit zu entgehen, fährt Mrs. Bagley erst einmal nach New Jersey aufs Land und entdeckt das Raumschiff: Sie fliegt zum Mars, aber bei den Marsianern sind die Verhältnisse exakt die gleichen. Sie haben ihre Quellen, sagen sie. Zum Spaß erzählt sie den Typen, dass irdische Damen niemals Stuhlgang hätten, nie. Sollen sie doch DAS mal in ihren Quellen finden!
Also fliegt sie – nach einem kurzen Zwischenstopp in ihrem Heim – weiter zum Saturnmond Ganymed. Dort ist es zwar etwas exklusiver, aber der Job ist nicht viel besser: Reinigungsexpertin.
Mein Eindruck
Schon die Tatsache, dass das marsianische Raumschiff ganz weit draußen auf dem Land in New Jersey auf sie warten soll – sie kommt immer zu spät – , deutet darauf hin, dass der Leser die Geschichte nicht ernstnehmen sollte. Der Mars ist kein glamouröser, exotischer Ort, sondern die gleiche Routine wie in der Bronx: Unterdrückung und Ausbeutung. Nie wird Mrs. Bagley als Mensch, geschweige denn als Frau, wahrgenommen und geschätzt. Selbst ihr eigener Mann behandelt sie wie eine Dienerin, die er nicht bezahlen muss. Der Ganymed ist das Gleiche in Grün: Man hat Verwendung für sie als Putzfrau.
Mrs. Bagley verbirgt ihr großes Talent, phantasievolle Orte und Ereignisse zu erträumen. Ihr Geist driftet ständig an solche Phantasieorte ab – entweder weil sie das kann oder weil sie dann das dumme Geschwätz der anderen (fast alle sind Männer) nicht mehr mit anhören muss. Der Kontrast zwischen Alltag und Phantasie verleiht der Geschichte ihren ironischen, aber auch tragischen Unterton.
7) Symbiose (Symbiosis, 1972)
Beacham, Indiana, hat nur 1200 Einwohner, aber für die mutterlose Tochter des Dorfdoktors sind nur die McInallys wichtig, die draußen etliche Hektar mit Mais anbauen. Sie ist die engste Freundin von Laura McInally, der jüngsten Tochter, wird aber von deren Mutter wie eine eigene Tochter verhätschelt. Folglich wachsen die beiden Freundinnen zusammen auf. Erst als ihr eigener Vater mit 45 Jahren beschließt, nach Chicago zu ziehen, um eine Ärztin zu heiraten, merkt sie, wie die Zeit vergeht.
Beide gehen ans Purdue College, sie selbst, um Biologie, Laura, um Mathematik zu studieren. Laura bekommt einen Verehrer, einen Studenten vom Harvard College, Laura kümmert sich nicht um ihr Liebesleben: Laura ist ihr offenbar genug. Sie besucht auch regelmäßig ihren Vater und dessen neue Frau.
Schließlich sagt ihr Laura, ihre Mutter habe sich und ihren Vater mit Gas aus dem Herd umzubringen versucht und sei in die Nervenheilanstalt gebracht worden. Nun erinnert sie sich an die vielen besorgten besorgten Blicke, mit denen Mr. McInally seine schöne Frau bedacht hat, wenn er sich unbeobachtet fühlte.
Als sie Mrs. McInally besuchen dürfen und all die Sicherheitsmaßnahmen durchlaufen, ist der Schock ziemlich groß. Mrs. Inally ist abgemagert und wirkt verhärmt, aber das Schlimmste ist, dass sie Lauras Freund vollkommen ignoriert. Laura erzählt, dass ihre Mutter nie zu Boden schaut aus Angst, dort die Flammen der Hölle zu erblicken.
Die Folgen dieses Wandels sind für Laura tiefgreifend. Sie schafft zwar noch die Abschlussprüfung, doch danach heiratet sie Billy Washburn und bekommt fünf Kinder. Als ihre Mutter nach Hause zurückkehren darf, kümmert sie sich um sie, als wäre sie ein weiteres Kind. Und unsere Chronistin sieht McInallys nur noch selten, denn sie arbeitet längst in Maine an einer biologischen Forschungsstation.
Mein Eindruck
Bis auf die eingebildeten Flammen der Hölle enthält die Handlung keinerlei übernatürlichen Elemente. Das wirft die Frage auf, ob die Story die Kriterien für eine phantastische Erzählung erfüllt. Nein, tut sie nicht. Der Titel ist der einzige Hinweis, dass etwas Ungewöhnliches als Thema behandelt wird. Immerhin bleibt der Grund für Mrs. McInallys Selbstmordversuch völlig rätselhaft. Keine Ermittlung folgt, die diese Bezeichnung verdient hätte. Der Leser muss selbst zum Detektiv werden.
Mrs. Inally ist eine emotionale Symbiose mit Laura und deren Freundin eingegangen. Doch der Abnabelungsprozess bringt unweigerlich Stress in diese emotionale Bindung. Als dann auch noch Laura ihre Unschuld an Billy verliert, wie es scheint, mangelt es Mrs. Inally an etwas: das Kümmern, die Nestwärme? Vielleicht kam sie sich nutzlos vor. Selbst noch in der Anstalt bemüht sie sich, etwas Schönes für ihre Tochter herzustellen: ein Kette aus Glasperlen. Die Botschaft ist auf einer unterbewussten Ebene klar: Es ist ein letzter Hilferuf um Liebe. Er wird von Laura erhört, die in Beacham bleibt und ihre eigene Familie gründet: Das Kümmern setzt sich fort.
Alles in allem schildert die Kurzgeschichte ein psychologisches Drama zwischen drei Frauen, völlig ernst, bewegend und engagiert. Man könnte meinen, die Autorin erzähle von sich selbst. Die Autorin wurde in Toledo, Ohio, geboren, nicht weit weg von Waukegan, Illinois, wo 1920 Ray Bradbury geboren wurde, der „Die Mars-Chroniken“ und den ländlichen Roan „Löwenzahnwein“ über seine 15-jährige Jugendzeit in Waukegan schrieb.
8) Stand der Gnade (State of Grace, 1977)
In Kentucky lebt die arbeitslose Ehefrau mit ihrem Mann Howard, einem gutverdienenden Flugzeugmechaniker, relativ zufrieden, bis sie in dem großen Eichenbaum vor dem Haus lemurenhafte Gesichter zu erspähen glaubt. Bestimmt haben diese Wesen Zauberkräfte, mit denen sie je nachdem Glück oder Unglück bringen können. Sie kauft ihnen ein Vogelbad und ein Vogelhäuschen, legt ihnen passende Nahrung aus.
Nachdem sie Howard davon erzählt hat, versucht er herauszufinden, ob da wirklich Lemuren leben, schießt Fotos mit einer Infrarotkamera. Die Feuerwehr kommt, um ihn vom Niederbrennen der Eiche abzuhalten, und auch die Baumsäge versagt ihm den Dienst. Er schafft einen Hund an, aber der beschützt seine Frau und jagt lieber Katzen als Lemuren.
Sein Scheitern ist ziemlich kläglich und nimmt ihm jede Würde. Nur seine Frau scheint sich im „Stand der Gnade“ zu befinden, dank ihres Glaubens. Er bekommt Weihnachtsgeld, und ihre schickt ein Geburtstagstelegramm. Es ist offensichtlich, dass sie sich endlich im „Stand der Gnade“ befindet – solange sie keine Blue Jeans trägt…
Mein Eindruck
Es ist das „heidnische“ Ritual der Verehrung von Haushaltsgöttern, die die Ehe der beiden vergiftet, denn die Verehrung ist schließlich ein Akt des Glaubens. Es dauert seine Zeit, bis Howard zum rechten Glauben bekehrt ist, und auch die Verweigerung von sexueller Gunst ist dabei ein wirksames Druckmittel. Ausdrücklich zitiert die Tagebuchchronistin C.G. Jung und dessen Theorien über Religion und Archetypen.
Dabei erzählt die Autorin nicht bierernst, sondern durch die Übertreibung von Ritualen und missglückten Antimaßnahmen durchaus ironisch-vergnügt. Auch der O-Titel kann ironisch verstanden werden, denn mit „Grace“ ist vielleicht die Ich-Erzählerin gemeint, und mit „State“ nicht nur ihr Zustand, sondern auch ihr Staat: Howard gehört zu den Nixon-Republikanern, sagt sie an einer Stelle; da sie (Grace?) das Gegenteil verkörpert, dürfte sie eine Demokratin sein. So entpuppt sich nun der Ehe- und Religionskrieg auf einer konkreteren Ebene als politische Auseinandersetzung.
Unterm Strich
Meines Erachtens ist Wilhelm am besten in ihren Kurzgeschichten, die stets eine bewegende oder witzige Pointe haben. Sie erzählen das Neue aus der Ausgangssituation des gewöhnlichen Familienlebens heraus, kippen dann Science Fiction- oder Fantasy-Situationen und brechen am Punkt der größten Erkenntnis unvermittelt ab: sehr wirkungsvoll.
Wie auch in ihrem in Deutschland verfilmten Roman „Winterlicher Strand“ besticht Wilhelms Erzählen durch die Souveränität, mit der sie eine labile psychologische Situation erfasst und sie der Entscheidung zuführt –mit großem Lerneffekt für ihre Leser.
Dabei legt sie mitunter feinen ironischen Humor an den Tag, wie er einem Briten gut zu Gesicht stünde. Allerdings sind ihre Frauenfiguren wesentlich zupackender und unverblümter als Britinnen, so dass klar ist, dass die Handlung in den USA spielt, vorzugsweise im östlichen Mittelwesten, irgendwo zwischen Indiana und Kentucky.
Unterm Strich
Meines Erachtens ist Wilhelm am besten in ihren Kurzgeschichten, die stets eine bewegende oder witzige Pointe haben. Sie erzählen das Neue aus der Ausgangssituation des gewöhnlichen Familienlebens heraus, kippen dann Science Fiction- oder Fantasy-Situationen und brechen am Punkt der größten Erkenntnis unvermittelt ab: sehr wirkungsvoll. Die Kurzgeschichten und Novellen sind bei uns in zwei Collections sowie in zahlreichen Anthologien des Heyne-Verlags erschienen. Die Originale erschienen oftmals in den ‚Orbit‘-Anthologien ihres Mannes Damon Knight, die in Deutschland beim S. Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.
Wie auch in ihrem in Deutschland verfilmten Roman „Winterlicher Strand“ besticht Wilhelms Erzählen durch die Souveränität, mit der sie eine labile psychologische Situation erfasst und sie der Entscheidung zuführt –mit großem Lerneffekt für ihre Leser.
Die Autorin
Die 1928 geborene US-Autorin ist seit 1963 mit dem Science Fiction-Herausgeber Damon Knight verheiratet und eine der wichtigsten Science Fiction-Schriftstellerinnen (nur in Europa liest man kaum noch etwas von ihr). Sie begann bereits 1956 Stories zu veröffentlichen und hat sich über die Jahrzehnte hinweg durch zahlreiche Romane und Storysammlungen den Ruf erworben, im Genre vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsromane zu schreiben und außerhalb des Genres gute Kriminalromane.
Die Frau aus Toledo, Ohio hat es ihren Lesern nie leicht gemacht – nur ganz am Anfang schrieb sie ein paar auf Action getrimmte Romane wie etwa „Der Clewiston-Test“, die man getrost vergessen kann. Doch sonst hat sie stets einen literarischeren Ton angeschlagen. Der war auch nötig, um die subtile Art des Grauens zu erzeugen, die ihr Markenzeichen ist. Ich habe mit faszinierter Begeisterung „Margaret und ich“ (1971) gelesen, das von dene rotischen Wahnvorstellungen einer jungen Frau erzählt. Die Handlung funktioniert nur, wenn sie richtig erzählt wird.
Der Mangel an Action kann sich auch nachteilig auswirken, wie ich bei ihrem etwas gekünstelten Roman „Wacholderzeit“ feststellen musste. Da soll eine Wissenschaftlerin eine geheimnisvolle Botschaft aus dem All entschlüsseln – im Grunde eine Story wie das verfilmte „Contact“ von Carl Sagan, doch die Handlung, die nur wenige Science Fiction-Untertöne aufweist, zieht sich ebenso träge dahin wie in Sagans Buch.
In der amerikanischen SF-Gemeinde genießt Wilhelm einen prominenten Ruf. Erstens leitete sie einen der wichtigsten Lehrgänge für angehende SF-AutorInnen: den „Clarion Science Fiction Writers‘ Workshop“ und zweitens schaffte sie es (wie neben ihr wohl nur noch Ursula K. Le Guin) eine Brücke aus dem Genre-Ghetto hin zur allgemeinen Belletristik zu schlagen.
Bei uns erschienen von ihr folgende Bücher (alle bei Heyne):
Der Clewiston-Test (1976),
Hier sangen früher Vögel (1976),
Fühlbare Schatten (1981),
Huysmans Schoßtierchen (1986)
Inseln im Chaos (1991),
Kinder des Windes (Collection, 1989),
Margaret und ich (1971),
Somerset träumt (Collection),
Die Tür ins Dunkel,
Verrückte Zeit,
Winterlicher Strand (1981) und
Wacholderzeit (1979). “ Winterlicher Strand“ wurde verfilmt.
Die |Barbara Holloway|-Reihe:
1. „Death Qualified: A Mystery of Chaos“ (1991)
2. „The Best Defense“ (1994)
4. „Defense for the Devil“ (1999)
5. „No Defense“ (2000)
6. „Desperate Measures“ (2001)
7. „The Clear and Convincing Proof“ (2003)
8. „The Unbidden Truth“ (2004)
9. „Sleight Of Hand“ (2006)
10. „A Wrongful Death“ (2007)
11. „Cold Case“ (2008)
12. „Heaven Is High“ (2011)
Taschenbuch: 237 Seiten,
O-Titel: Somerset Dreams, 1978,
Aus dem US-Englischen übertragen von Sylvia Brecht-Pukallus.
ISBN-13: 978-3453027800
www.heyne.de
Der Autor vergibt: