Michael Lewis – Flash Boys. A Wall Street Revolt / Flash Boys – Revolte an der Wall Street

Hochfrequenzhandel: Das Ende der Wall Street?

Im Jahr 2007 verändert sich die Wall Street, als der elektronische Handel eingeführt wird, 2008 folgt der Crash und in 2009 hat die Wall Street ihre Macht verloren – an wen? An die „Flash Boys“, die seit 2009 einen Hochfrequenzhandel (HFT) betreiben, der darauf basiert, dass eine Milli-, ja, selbst eine Mikrosekunde über Gewinn oder Verlust entscheiden kann. Willkommen in der neuen Welt!

Das Buch handelt davon, wie eine Handvoll Wall-Street-Broker dahinterkommen, dass sie seit 2009 systematisch ausgetrickst und ihre Kunden abgezockt werden. Aber wie und von wem? Und wie kann man dieses böse Spiel der Unsichtbaren beenden? Es ist die spannende Story von Brad, Ronan und vielen anderen ehrlichen Maklern, die einem unglaublichen Geheimnis auf die Spur kommen.

Der Autor

Der US-amerikanische Autor Michael Lewis war in den achtziger Jahren selbst Angestellter bei Salomon Brothers, einer Wall Street Firma. Aus seiner kritischen Erfahrung und Sicht hat er außer „The Big Short“ (2010/2011) folgende Bestseller geschrieben:

Bücher

• Wall Street Poker 1989, ISBN 3-430-15985-7 (amerikanisches Englisch: Liar’s Poker, 1989).
• Pacific Rift (1991)
• Geldrausch. 1991, ISBN 3-430-15986-5 (Originaltitel: The Money Culture.).
• Trail Fever: Spin Doctors, Rented Strangers, Thumb Wrestlers, Toe Suckers, Grizzly Bears, and Other Creatures on the Road to the White House (1997)
• Losers: The Road to Everyplace but the White House (1998)
• The New New Thing. A Silicon Valley Story (2000)
o dt.: Alle Macht dem Neuen. ISBN 3-430-15988-1.
• Next: The Future Just Happened (2001)
• Moneyball: The Art Of Winning An Unfair Game. W. W. Norton, New York City, USA 2003, ISBN 0-393-05765-8.
• Coach: Lessons on the Game of Life (2005)
• The Blind Side: Evolution Of A Game (2006)
• Panic. The Story Of Modern Financial insanity (2008)
• Home Game: An Accidental Guide To Fatherhood (2009)
• The Big Short. Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte. Campus, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-593-39357-5 (amerikanisches Englisch: The Big Short. Inside The Doomsday Machine.).[4]
• Boomerang. Europas harte Landung. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York City 2011, ISBN 978-3-593-39471-8 (Originaltitel: Boomerang: Travels in the New Third World. W.W. Norton & Co., New York 2011, ISBN 978-0-393-08181-7.).
• Flash Boys. A Wall Street Revolt. W. W. Norton, 2014, ISBN 978-0-393-24466-3.[5]
o deutsch: Flash Boys – Revolte an der Wall Street. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-593-50123-9.
• The Undoing Project: A Friendship that Changed Our Minds., 2016. ISBN 978-0-393-25459-4. (Quelle: Wikipedia.de)
• The Fifth Risk (2018)

Inhalt

Im Jahr 2008 hat ein Makler namens Dan Spivey eine umwerfende, wenn auch schwer zu verkaufende Idee: Was wäre, wenn man die Höchstgeschwindigkeit, mit der Telekommunikationsriesen wie Verizon Börsendaten zwischen Chicago und dem Wallt-Street-Rechenzentrum in New Jersey um mindestens zwei Millisekunden unterbieten könnte? Statt 14,5 bis 16 ms würde eine Nachricht nur noch 13 ms brauchen. Die Folgen erscheinen Dan Spivey noch unabsehbar, aber als er das nötige Glasfaserkabel mitten durch die Allegheny-Berge buddeln lässt, merken die schlausten seiner Interessenten, was das für sie bedeutet: Sie können jedes Angebot für Kauf oder Verkauf, das ein Wall-Street-Makler auf dem öffentlichen Markt macht, manipulieren, um ihn zu überlisten. Dan Spivey verkauft jede der maximal 200 Nutzungslizenzen für mindestens 10,6 Mio. US-Dollar – pro Jahr. Mehr Nutzer kann das Glasfaserkabel nicht unterstützen.

Ein Teich aus Dunkelheit

Der Plan B der Wall-Street-Broker mit ihren lahmarschigen Computern für den elektronischen Handel besteht darin, einen nicht-öffentlichen Verkaufsraum zu eröffnen: einen Dark Pool. Sein Betrieb kostet sie rund 4 Mio. Dollar – der Gewinn ist indes bescheiden. Es rentiert sich nicht. Brad Katsuyama ist der schlauste der Makler im New Yorker Büro der Royal Bank of Canada (RBC), der Nr. 9 weltweit. Als er herausfinden will, warum der Markt, den sein Computerbildschirm gerade eben noch dargestellt, plötzlich verschwindet, sobald er mit der ENTER-Taste einen Trade veranlasst („WTF!?“), befragt er die Programmierer. Sie haben keine Antwort und geben ihm selbst die Schuld.

Der schlafende Drache

Deshalb wendet er sich an seinen alten Kampfgenossen Ray Park im heimatlichen Toronto, der als Programmierer einen der zentralen Trading-Algorithmen der RBC geschrieben hat. Zusammen gehen sie in Manhattan und New Jersey auf die Pirsch und stellen Experimente an. Es gibt mittlerweile über ein Dutzend kleinere Börsen des E-Handels mit Aktien und Anteilen, verteilt über verschiedene Rechenzentren in ganz New Jersey. Durch das Takten einer Kauforder finden sie heraus, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man sie an Börse A, B oder C schickt. Immer wird man ausgetrickst. Erst wenn man die Order so taktet, dass alle Bösen gleichzeitig adressiert werden, gewinnt man die Oberhand: Der Markt verhält sich endlich wieder wie ein Markt, und man kann Angebote oder Kauforders abgeben.

Flash Boys

Die Frage ist also: Wer steckt dahinter, wenn Brad und Co. abgezockt werden? Es ist der Hochfrequenzhandel (HFT). Leider will keiner dieser Flash Boys mit ihnen reden, so als handle es sich um einen Geheimbund. Deshalb entwickelt Ray Park eine Geheimwaffe gegen den HTF: Einer von Brads Kollegen nennt es voll Begeisterung THOR: „der Hammer!“ Thor ist der Gleichmacher, der der RBC endlich echte Marktchancen verschafft. Doch er beseitigt nicht die Ursache des Problems: den HFT.

Die Rebellion

Die großen Hedge-Fonds sind ernüchtert bis wütend, als ihnen Brad erklärt, was hinter den Kulissen los. Sie wollen, dass Brad weitermacht, aber das kann er nur, wenn er sich in einer unabhängigen Position befindet: Er verlässt die kuschelige RBC und begibt sich in den Dschungel des HFT- und Börsenhandels. Natürlich tut er das nicht allein, sondern nimmt seine bisherigen Vertrauten mit, stellt aber auch neue ein. beispielsweise solche, die sich mit HFT auskennen. So finden sie heraus, dass die HFT-Trader lediglich die Vorteile ausnutzen, die ihnen die Börsenaufsicht an Schlupflöchern gelassen hat – und das sind eine ganze Menge.

Das Imperium schlägt zurück

Obendrein ist es keineswegs der Fall, dass die neun großen Wall-Street-Banken den HFT-Leuten abhold wären – ganz im Gegenteil: Sie lassen die HFTler in ihre Dark-Pools hinein, damit die HFTler hier gegen ihre eigenen Bankkunden wetten können. Dabei kassieren die Banken ganz hübsche Gebühren, für den Zugang allein und für jeden Trade. Neben diesen zwei Quellen verlangen die Banken von ihren Kunden gebühren und lenken dann die Gebote bzw. Kaufgesuche in ihren eigenen Dark-Pool um, wo keiner weiß, was passiert. Hinzukommen noch etwa 20 Börsen, die außerhalb der Banken agieren – und natürlich die Börse von Chicago. Das ist das US-System, und, obwohl es zutiefst unfair ist, wurde es in die ganze Welt exportiert. Der Dumme ist jeweils der Investor, ganz gleich, ob groß oder klein.

Brad Katsuyama muss also mit seinen Leuten einen Weg finden, seine eigene Börse möglichst fair agieren zu lassen. Aber das kann nicht im luftleeren Raum geschehen. Was Brad & Co. brauchen, ist die Mithilfe einer großen Bank. Am 19. Dezember 2013, fast drei Jahre nach Brads Ausstieg aus der RBC, geschieht das Wunder: Es geht richtig los!

Mein Eindruck

Die Stärke von Michael Lewis‘ Büchern liegt in den Porträts der Menschen, deren Schicksal er beschreibt. Das war in „The Big Short“ , das deshalb fulminant verfilmt werden konnte, aber auch in dem sehr lesbaren „The Fifth Risk“ (2018) (siehe meine Rezension). Nur so lässt sich auch ein derart abstraktes Phänomen wie der Hochfrequenzhandel unterhaltsam, spannend und anrührend beschreiben.

Der Handel mit Aktien und anderen Wertpapieren wie etwa Anleihen ist heute vollständig computerisiert, denn die gehandelten Mengen sind viel zu groß für einen Menschen. Außerdem erfolgt aufgrund der Computerisierung jeder Trade innerhalb von Millisekunden. Eine Millisekunde (ms) ist für den Hardcore-HFT sogar eine astronomisch lange Zeit: Hier geht es im Mikrosekunden, also um Millionstel Sekunden. Jede einzelne Mikrosekunde erlaubt es einem HFT-Trader, dem Investor, der im Schneckentempo agiert, zuvorzukommen, seine Absichten auszuloten (durch kleine eigene Gebote) und ihn dann zu übervorteilen. Er kann durch entsprechendes Agieren im Mikrosekundenbereich den Preis eines Papiers hinauftreiben oder ihn drücken, je nach Belieben. Hauptsache, keiner merkt was davon, besonders nicht der Investor.

Es gab anno 2010 sogar einen Crash, doch der „Flash Crash“ dauerte nur wenige Millisekunden – kaum eine Schlagzeile wert. Wie auch immer: All dies ist nicht besonders sexy, sondern sogar ziemlich kompliziert. Leser ohne Vorkenntnisse werden hier Mühe haben, sich zurechtzufinden. Am besten liest man vorher schon mal „The Big Short“ oder schaut den Film an.

Der Leser ist daher froh, wenn es um Menschen geht, Menschen, die in diesem Flash-Dschungel ein Auskommen mit ihrem Einkommen suchen. Es sind die unterschiedlichsten Typen, vom puren Hardware-Techniker über den Programmierer bis zum Sherlock-Holmes-Nachahmer. Alle verdeutlichen je einen kleinen Aspekt der Entwicklung. Aber kann „speed“ wirklich alles sein, worum es dem HFT gehen sollte? Hoffentlich nicht, meint Brad Katsuyama zu den Leuten, die er für seine Sache gewinnen will.

Ein Sündenbock

Von den Akteuren im großen Crash 2008/09, den der Autor in „The Big Short“ (und in „Panic“ und „Boomerang“) beschreibt, ist nur ein einziger Mann angeklagt, verhaftet und vor Gericht gestellt worden: Serge Aleynikov, ein russischer Immigrant. Das Schicksal dieses Programmierers zieht sich wie ein Roter Faden durch das ganze Buch, bis zum Epilog.

Doch was war das angebliche Verbrechen des Herrn Aleynikov? Nein, der Entwickler hat nie mit Aktien oder Anleihen gehandelt, hat nie HFT betrieben, sondern ganz brav seine Programme für Goldman Sachs geschrieben. Sein Verbrechen ist ganz banal: Er hat seinen Code per E-Mail an sich selbst geschickt. Auf diese Weise konnte er ihn an jedem beliebigen Arbeitsplatz herunterladen und bearbeiten. Der Haken: Obwohl es sich um quelloffenen Code mit einer GPL-Lizenz handelte, bestand Goldman Sachs, sein Arbeitgeber, darauf, dass dieser Code der höchsteigene Code der Bank sei. Wer ist denn nun hier der Verbrecher? Wie die Sache für Aleynikov ausging, darf hier nicht verraten werden, aber allein schon der Prozess machte deutlich, dass es kaum jemanden gab, der wusste, wovon überhaupt die Rede war. Und das ist ziemlich traurig und stimmt bedenklich.

Ironie

Im Nachwort darf sich der Autor gehörig auf die eigene Schulter klopfen: Sein Buch löste eine Lawine von Anklagen der Börsenaufsicht sowie juristische Verfahren aus. Offenbar hat jemand endlich etwas kapiert. Und der Autor besichtigte höchstselbst die Trasse der in Pennsylvania verbuddelten Glasfaserleitung, die er anfangs so eingehend beschrieben hatte. Er schloss sich zu diesem Vorhaben dem Women’s Adventure Club an und radelte auf die Hügel und Berge der Appalachen. Dort stieß er auf eine Technologie, die die angeblich so revolutionäre Glasfaserleitung schon bald überflüssig machen wird – eine ironische Kritik an dem ach so „großen Unternehmergeist“ der Flash Boys.

Schwächen

S. 12: „Jim Barskdale“ statt „Jim Barksdale“. Ein bedauerlicher Buchstabendreher.

S. 204: In dem Satz „It was one [of] the few times that the people in the room wound at each other’s throats“… fehlt das Wort „of“.

Unterm Strich

Der Autor der sehr lesbaren Bücher „The Big Short“ und „The Fifth Risk“ greift in „Flash Boys“ dasjenige Thema auf, das die Börsen in aller Welt heute antreibt: Hochfrequenzhandel (HFT). Er stellt sich aber nicht einfach hin und zeigt mit dem Finger auf die Bösewichte, die da angeblich unerkannt im Finstern an den Wurzeln des Börsensystems nagen. Nein, erst einmal muss er aufzeigen, was der HFT ist, warum es ihn gibt, wie er sich entwickelt hat und was ihn unfair macht.

Zweitens zeigt er auf, dass nicht etwa die neun großen Wall-Street-Banken die Geschädigten sind: Nein, diese beeilen sich, die HFT-Trader in ihre privaten, nicht offengelegten „Dark Pools“ hineinzulassen, wo die HFTler gegen die eigenen Bankkunden wetten können, um sie abzuzocken. Die heuchlerische Haltung der Banken anzuprangern, bringt aber auch nichts: Das ganze, von der Sicherheit überwachte System ist korrupt und darauf ausgelegt, den Investor abzuzocken.

Der Untertitel lautet „A Wall Street Revolt“. Anführer dieser Revolte ist Brad Katsuyama, und seine Kampfgefährten entwickeln mit ihm ein faires System, das eine Alternative zum Mainstream darstellen soll. Der Haken: Das System hat kein Interesse, irgendetwas vom großen Kuchen zu opfern. Man muss es dazu zwingen. Wie das gelungen ist und welche Folgen das hatte, beschreibt der Rest des Buches.

Für Leser, die sich bereits mit dem US-Börsenhandel mehr oder weniger INTENSIV beschäftigt haben, bietet das Buch, das den Zeitraum 2005 bis 2015 abdeckt, zahlreiche Augenöffner und Aha-Momente. Sachkenntnis ist also von Vorteil, aber nicht hundertprozentige Voraussetzung. Außerdem nimmt der Autor nicht in Anspruch, alleiniger Besitzer der Wahrheit zu sein, sondern verweist auf weitere hilfreiche Werke zum HFT.

Das Gesicht der Revolte

Für mich viel wichtiger waren die zahlreichen Menschenporträts der Mitspieler in dieser Revolte. Stets geht es darum herauszufinden, aus welchen Gründen jemand daran teilnimmt – oder sich für die andere Seite entscheidet. Der Autor pickt ein oder zwei dieser Abtrünnigen heraus und widerlegt deren Fake News. Am intensivsten interessiert ihn der Fall Serge Aleynikov, eines Programmierers der Goldman Sachs Bank, der für ein Verbrechen verurteilt wurde, das doch sehr zweifelhaft war. Doch kaum auf freien Fuß gesetzt, wurde er sofort wieder festgenommen – nur um sicherzugehen, dass er nichts anstellt. So paranoid ist die Wall Street inzwischen – auch dank der Bücher eines gewissen Michael Lewis.

Dank des bissigen und ironischen Humors des Autors war meine Lektüre alles andere als staubtrocken, sondern höchst spannend und unterhaltsam. Ich habe „Flash Boys“ binnen weniger Tage verschlungen. Wer Belege sucht, wird im detaillierten Stichwortregister fündig.

Taschenbuch: 304 Seiten
Originaltitel: Flash Boys. A Wall Street Revolt, 2015;
ISBN-13: 9780393351590

www.wwnorton.com

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)