Reto Wehrli – Verteufelter Heavy Metal

Ein Sachbuch zu unserem innig geliebten Musikgenre steht diesmal auf dem Rezensionsprogramm. Und welch edler Fund überdies! „Verteufelter Heavy Metal – Forderungen nach Musikzensur zwischen christlichem Fundamentalismus und staatlichem Jugendschutz“ – Der auf den ersten Blick irreführende Titel scheint auf ein weiteres Hetz-Pamphlet hinzuweisen, das im Metal das Wirken Satans ausmachen möchte. Doch mehr als weit gefehlt; das Wörtchen „Fundamentalismus“ sollte stutzen lassen und ein Blick auf Buchrückseite sowie Inhaltsverzeichnis räumt dann jeden Zweifel aus, welche Seite dieses scheinbar endlosen Feldzuges für Anstand und Moral in diesem Werk unter Beschuss stehen wird. Zudem erschien Reto Wehrlis umfassende Schrift im Telos-Verlag, geführt von Dr. Roland Seim, der auch im Netz durch verschiedene Anti-Zensur-Webseiten präsent und wirkungsvoll in Aktion tritt. Wehrli selbst ist Psychologe, scheinbar eine für die Thematik unwesentliche Fachausbildung, doch auch hier: weit gefehlt. Die psychologischen Aspekte in dieser ganzen Streit-Thematik sind absolut wesentlich, und da sich der Autor seit fast zwanzig Jahren mit dem Phänomen Heavy Metal – selbst ein kritischer und merklich kundiger Fan – befasst und zudem das Augenmerk fachkundig auf Medienzensur richtet, sind hier optimale Voraussetzungen für eine vielversprechende Auseinandersetzung gegeben.

„Verteufelter Heavy Metal“ ist ein Fachbuch, eine wissenschaftliche Studie und Arbeit, die durchaus voraussetzungsvoll ist und sich gelegentlich in akademischen Ausdrucksformen ergeht, aber dennoch in erfrischender und faszinierender Weise geschrieben wurde, stets begleitet von einem geradezu sarkastischen Unterton und persönlichen Einwürfen, ohne dadurch unsachlich zu werden. Und die Sachlichkeit hat es in sich: Im Gegensatz zu den oberflächlichen Anwürfen der fundamentalistischen Apologeten und staatlichen Kontrollinstanzen ist hier jedes Faktum sorgsam recherchiert und durch unzählige Quellen belegt. Ein endloses Literaturverzeichnis sowie ein ausgiebiges Sachwortregister und Autorenverzeichnis runden die Wissenschaftlichkeit der Arbeit ab. Wehrli bemüht zudem ausgiebig Originalquellen sowie sorgsame Eigenrecherchen und vermeidet es, Aussagen von Abgeschriebenem abzuschreiben, wie dies so gern und bequem anderenorts praktiziert wird – was die ärgsten Peinlichkeiten verursacht und zu Gelächter einlüde, wären die Folgeerscheinungen nicht gar so unerfreulich. Kulturhistorische Details, psychologische, soziologische, politische und musikwissenschaftliche Informationen in Hülle und Fülle porträtieren ein umfassendes Bild von Rock- und Metal-Szene, moderner Musikentwicklung, Medienlandschaft, Moralgebäuden und Zensurbemühungen.

Zensur? Minderheiten- und Randgruppendiskriminierung? In einer Demokratie? Gar in Deutschland? Unsinn! möchte der Leser an dieser Stelle vielleicht abwinkend ausrufen. Nun, gesetzlich gibt es eine Zensur natürlich nicht, doch betrachtet man sich die reale Umsetzung verschiedener Grundrechte wie Meinungs­- und Religionsfreiheit usw. genauer, hat man vielleicht eine Andeutung davon, wie es mit zensorischen Maßnahmen aussieht. Hier kann man vielleicht eher von einer gezielt aufgebauten ‚Filterung‘ sprechen, einer geradezu automatisierten und durch Zwänge und Gegebenheiten bestimmten Selbstkontrolle – allerdings nicht ganz so freiwillig, wie die bekannte Kontrollinstanz dies namentlich vermuten lassen möchte. Die Demokratie ist hier gezwungen, subtiler vorzugehen, doch die Wirkungsweise ist effektiver als man glauben würde. Bis zu direkten Zugriffen, Polizeirazzien etc. reicht das Repertoire der besorgten Ordnungsinstanzen in der Musik- und Kunstlandschaft allerdings ebenfalls, auch wenn der Durchschnittsbürger solche Szenarien allzu leicht ins Reich der paranoiden Phantasterei verbannen möchte. Wehrli geht hierauf ausführlich und mit belegten Fallbeispielen vor allem aus den USA (wo Bücher-Barbecue ein recht beliebtes Spektakel zu sein scheint; ein Schelm, wer dabei Parallelen zieht), Skandinavien und dem deutschsprachigen Raum ein, doch dazu später mehr, zunächst der Reihe nach zum Buchinhalt (Ihr merkt, ich könnte mich diesmal wieder etwas ausführlicher auslassen. Ich hoffe, der Kaffee steht griffbereit.):

Bereits der Einleitungstext meißelt zentrale Probleme und Fragwürdigkeiten im Umgang mit der Thematik des Heavy Metal und seiner Subkultur heraus, von Gesellschaftsunterwanderung und Amoralität bis hin zu Satanismusprojektionen und der Frage, wie gesichert und vertrauenswürdig so manche Studie sein mag, die sich letztlich auf nichts als urbane Mythen berufen kann.

Damit überhaupt fachkundig auf die zentralen Themen eingegangen werden kann, muss zunächst abgeklärt und analysiert werden, wovon überhaupt die Rede sein soll und worum es sich beim Heavy Metal eigentlich handelt. Dazu bietet Reto Wehrli in den ersten vier Kapiteln einen ausführlichen Überblick zur musikwissenschaftlichen Entwicklung des Metal, zur kulturhistorischen Bedeutung und Einordnung, zu den verschiedenen Metal-Stilen, zur Subkultur und den damit verbundenen soziologischen, politischen und psychologischen Mustern. Hierbei wird, das muss angemerkt werden, deutlich, durchaus nicht einseitig argumentiert und so manche Skurilität, (chauvinistische) Klischeelastigkeit und Blöße der Metal-‚Philosophie‘ aufgezeigt. Für jeden Metal-Fan eine bildende Bereicherung und für jeden Schimpftiradenkanonier Pflichtlektüre, denn wie sagte Dieter Nuhr so beflügelnd: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten!“

Wie wenig Ahnung die Ankläger im Regelfall von ihrem Streitobjekt haben, zeigt Wehrli in einem Hauptblock des Buches, nachdem er mit Kapitel 5 vorweg einige der beständig gleichen Kernvorwürfe und interessante Statistiken und Begebenheiten kurz als Appetizer anreißt. In diesem zentralen und sehr umfangreichen Kapitel „…And Justice for All“ gibt der Autor einen Überblick über alle historisch wesentlichen Bands, die für die Thematik bedeutsam sind, von den BEATLES 1960 bis zu MARILYN MANSON 1989. Die Großmeister des Heavy Metal fehlen dazwischen natürlich auch nicht. Dabei wird jeweils die Bandgeschichte präsentiert, teils mit interessanten Details gespickt, sowie die jeweils mit der Band verknüpften Skandale, Prozesse und zensorischen Maßnahmen aufgeführt. Zugleich wird der Großteil dieser Anwürfe als unsinnig zerpflückt, prozessierte Texte im Original verglichen und interpretiert, beschlagnahmte Platten-Cover präsentiert und desgleichen mehr. Da wird es manchmal schwierig, den Text im Auge zu behalten, da der Kopf beständig in ungläubigem Staunen (oder Entsetzen?) hin und her geschüttelt wird. Bei soviel kirchlichem, staatlichem, in jedem Falle aber amtlichem Stumpfsinn musste meine Schreibtischkante arg leiden, da ich mich veranlasst sah, allzu oft mit einem Homer Simpson’schen „Nein!“ auf den Lippen die Stirn gegen selbige zu schlagen. Kann man für geistige Schmerzen eigentlich Schadensersatzforderungen einklagen?

Auf den offenbar fragwürdigen geistigen Zustand der Ausführenden solch fabulöser Hexenjagden geht Wehrli angebrachterweise später noch ein, doch zunächst widmet er sich einer der beliebtesten urbanen Legenden des Heavy Metal: der „Backward Maskings“ oder unterschwelligen Botschaften. Hier wird zum ersten Mal in der mir bekannten Fachliteratur wirklich wissenschaftlich argumentiert. Dies mit der durch keinen Gegenbeleg zu entkräftenden Folgerung, dass diese heiß geliebten „Satansbotschaften“ etwa so wirkungsvoll sind wie Hufeisen über der Haustür und in den meisten Fällen überdies gar nicht vorhanden und krampfhaft in Gehörtes hineininterpretiert – da kann man die Tonspur noch so besessen [sic] rückwärts laufen lassen. Darauf geht der Autor bei den einzelnen Bands und im Verlauf des Buches gelegentlich jeweils noch ausführlicher ein.

Es schließt sich ein wahres Genusskapitel an, in dem sich Wehrli nun genauer den Gegnern des Heavy Metal widmet, sie institutionell und psychologisch durchleuchtet und die Beweggründe aufzuspüren sucht. Traditionalisten, Fundamentalisten, Christensekten und Anthroposophen bilden hier den Schwerpunkt.

Hernach folgt ein ausführliches Rezensionskapitel, in dem der Autor die führenden und gern als Fachreferenz herangezogenen Pamphlete, Entschuldigung, Fachbücher über Rock, Metal und ihr satanisches Wirken komplett und genüsslich zerpflückt und dabei nicht im geringsten zimperlich oder verbal zurückhalten verfährt. Da kommt Freude auf.

Die folgenden beiden Kernkapitel widmen sich nun den Zensurinstanzen und ihrem Wirken sowie den einzelnen Zensurfällen, die bedeutsam waren. Hier gibt es übrigens allerlei Bild- und Schriftmaterial für Genießer zu begutachten. Da das meiste davon indiziert wurde, wundert es mich, dass diese schwer beschaffbaren Quellen hier in dieser öffentlichen Form herangezogen werden konnten, ohne die Fürsorge des Großen Bruders auf den Plan zu rufen. In jedem Falle: Respekt! Da gehen einem wahrhaft die Augen über und die permanente Scheibenwischergeste beim Lesen ist vorprogrammiert; man mag kaum glauben, zu welchen Einzelfällen es dabei auch hier in deutschen Landen kam, aber auch die Lage in Übersee wird natürlich ausgiebig beleuchtet. Wehrli wirft auch einen vielsagenden Blick auf andere Medienbereiche, vornehmlich Horrorfilme und Comics. Auch da gibt es allerlei Auswüchse von beiden Seiten der Front.

Das letzte Kapitel vor dem nachdenklichen Schlusswort richtet den Blick gen Norden, zu den Auswüchsen des Metal-Underground in Skandinavien. Hier gibt es dann tatsächlich einmal Grund zu aufrichtig angebrachter Sorge, denn was sich hier in einer Vermischung aus Pseudosatanismus, Nationalsozialismus und hartem Metal zusammengebraut hat und auch vor Folgeerscheinungen in Deutschland nicht Halt machte, ist in der Tat erschreckend. So werden also wirkliche Problemzonen, wie eingangs schon angemerkt, nicht ausgeblendet oder beschönigt. Was glänzend und völlig daneben ist, wird von Wehrli ebenso beim Namen genannt wie er dies bei den etwas fehlgeleiteten Metalgegnern und Randgruppenhetzern (Gesellschaftliche Feindbilder sind noch immer eines der wirksamsten Werkzeuge der Macht.) zuvor tat. Allerdings kommt auch hier letztlich zum Ausdruck, dass nicht der Metal, wie gern angeführt, das ursächliche Problem, sondern nur ein Symptom der Krankheit ist, von deren Wurzeln die Gesellschaft anklagend ablenken möchte, um sich nicht mit den wahren Pathologien ihres Daseins befassen zu müssen.

Alles in allem ist „Verteufelter Heavy Metal“ zum Thema das zweifelsohne umfassendste und bestrecherchierte Werk im Buchsektor. Für den Fan finden sich zahllose Fakten und Details und die Aufmerksamkeit für Problemzonen der scheinbar freien Demokratie wird deutlich geschärft. Für Szenegegner ist dieses Buch unverzichtbar, wenn sie ernsthaft an einer Diskussion interessiert sein sollten und bestrebt sind, sich mit wahrhaften Hintergründen und Zusammenhängen auseinanderzusetzen. Betrüblich ist, dass dieses Mitte 2001 erschienene Buch noch immer in der ersten Auflage von 750 Exemplaren steckt, während allerlei Schundwerke sich zu Zehntausenden verkauft haben und als Referenzmaterial herhalten müssen. Auch preislich bewegt sich das Buch im grünen Bereich, denn die 400 kleinstbedruckten Seiten mit mehr als 100 Abbildungen entsprechen etwa dem Umfang eines 800-seitigen Taschenbuches. Und für Fachliteratur, gerade von Kleinverlagen, sind die Kosten normalerweise geradezu exorbital. In jedem Falle: Zwei enthusiastisch erhobene Daumen für diese Glanzleistung.

Grobes Inhaltsverzeichnis:

Intro
1. Ein Phoenix aus der Asche der Jugendkultur: Heavy Metal
2. „Stampfen, Toben, Fäuste schwingen“ – Eskapismus als Lebensrealität
3. Schwer und leicht, schwarz und weiß
4. „Recognize your age – it’s a teenage rampage!“
5. „Sex, Gewalt und Satanismus“: Auf jeder Platte ein Dämon!
6. „…And Justice for All“: Die verteufelten Bands im Überblick
7. Der Satan kommt von hinten: ‚Backward Maskings‘
8. Jäger des verlorenen Schamgefühls – Wer sind die Gegner des Heavy Metal?
9. Am Anfang war das letzte Wort: Bücher gegen den Heavy Metal
10. Wer zensiert was? Die Unterschiedlichkeit des Unzulässigen
11. Große allgemeine Verunsicherung! Musikzensur in Deutschland
12. Auswüchse aus dem Untergrund
13. Schluss
Literatur
Diskografien
Autorenverzeichnis
Register

Verlags-Homepage: http://www.telos-verlag.de

_Nachtrag:_ Am 21. März 2005 erschien die stark erweiterte Neuauflage des Buches.

Reto Wehrli: Verteufelter Heavy Metal – Skandale und Zensur in der neueren Musikgeschichte
Münster: Telos Verlag 2005, 2. Auflage (März)
ISBN [3-933060-15-X]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/393306015X/powermetalde-21
740 Seiten
ca. 300 Abbildungen
Bilderdruckpapier, broschiert, Farbcover
Format: 21 x 15 cm
Bibliographie, Diskographie
EUR 37,50
http://www.telos-verlag.de/seiten/buch5rw.htm