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Buchwurm, seit ich lesen kann :-)

Lukianenko, Sergej – Wächter der Nacht (Nochnoi Dozor)

Wieder einmal gerät ein Buch in die Schlagzeilen, das laut einigen Kritikern besser und spannender sein soll als „Der Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“, doch den Vergleich gegen das große Werk von J.R.R. Tolkien haben vor Sergej Lukianenkos „Wächter der Nacht“ schon andere Bücher verloren. In Russland allerdings ist Lukianenkos Trilogie tatsächlich erfolgreicher als das meistverkaufte Fantasybuch, und auch der zugehörige [Film]http://www.waechter-der-nacht.de schlägt dort alle Rekorde. Inwiefern dieser Vergleich zwischen den verschiedenen Fantasybüchern überhaupt gerechtfertigt ist, wollen wir uns nun ansehen.

_Lichtgestalten_

In Moskau leben die Lichten und die Dunklen in einem wackligen Waffenstillstand, die Lichten sorgen als Wächter der Nacht in den dunklen Stunden für Ordnung, während die Dunklen tagsüber die Wache übernehmen. Anton arbeitet als lichter Magier bei der Nachtwache und muss eines Nachts beobachten, wie eine Vampirin den 12-jährigen Jegor anlockt, um dessen Blut zu trinken. Doch dies ist verboten, und so kann Anton gerade noch rechtzeitig einschreiten, doch sowohl der Junge als auch die Vampirin können fliehen. Viel beunruhigender sind allerdings andere Ereignisse: Auf seiner nächtlichen Runde hat Anton in der U-Bahn eine Frau beobachtet, die einen bedrohlichen schwarzen Wirbel über ihrem Kopf schweben hat. Im Grunde genommen sind solche Wirbel alltäglich und werden durch Flüche hervorgerufen. Die verfluchte Person wird nun einige Unglücke zu verkraften haben, doch der besagte Wirbel über dem Kopf der unbekannten Frau ist anders. Anton schafft es nicht, ihn aufzulösen, der Wirbel nimmt eher noch dramatischere Ausmaße an.

Antons Chef beschließt daraufhin, den schwarzen Wirbel von seiner Nachtwache aufhalten zu lassen, muss aber zusehen, wie dieser größer und größer wird und schließlich eine Höhe von über dreißig Metern annimmt. Dies würde eine Katastrophe bedeuten, die große Teile von Moskau zerstören und viele Menschenleben kosten würde. Schließlich kommt es zum Showdown, bei dem Anton eine große Rolle spielen wird.

_Der neue Tolkien?_

Vergleiche mit J.R.R. Tolkien versprechen immer einen Anstieg der Verkaufszahlen, auch wenn sie in den seltensten Fällen angebracht sind. Lukianenko schreibt zwar ebenfalls im Fantasygenre wie sein berühmter Vorgänger, doch da hören die Ähnlichkeiten fast schon auf. Während Tolkien mit Mittelerde eine ganz eigene Welt entworfen und seinen Elben sogar eine eigene Sprache verpasst hat, greift Lukianenko auf das bekannte und existente Moskau zurück und lässt dort lediglich die Anderen auf den Plan treten. Die Anderen sind Lichte oder Dunkle mit magischen Fähigkeiten, die zwar auf unterschiedlichen Seiten des Rechts kämpfen, doch beide ihre Schattenseiten haben. Das Zwielicht – die Schattenwelt – ist das Reich, in dem sie sich bewegen und wo sie unbeobachtet durch normale Menschen bleiben können. Lukianenko greift also auf das bekannte Erfolgsmuster zurück, nämlich auf den Kampf zwischen Gut und Böse, wobei allerdings die Grenzen in diesem Fall stark verwaschen sind. In „Wächter der Nacht“ haben auch die Lichten ihre dunklen Seiten. So intrigiert sogar der Chef der Nachtwache gegen seine eigenen Wächter. Und auch Anton tut nicht nur Gutes. Um an eigene Kraft zu gelangen, muss er Menschen ihre Freude nehmen. Bei Sergej Lukianenko gibt es erfreulicherweise also keine Schwarzweiß-Zeichnungen, auch wenn die Sympathien dennoch klar verteilt sind. Die gesamte Geschichte ist nämlich aus Antons Sicht erzählt, sodass er der Sympathieträger schlechthin ist.

„Wächter der Nacht“ hat weder mit dem „Herr der Ringe“ noch mit „Harry Potter“ viel gemeinsam, daher erscheint dieser Vergleich weit hergeholt. Dennoch muss sich Lukianenko nicht verstecken, sein Buch weiß zu unterhalten und präsentiert uns eine spannende Welt jenseits der uns bereits bekannten. Der unsichere Waffenstillstand zwischen Licht und Dunkel birgt genug Lesestoff für den langen ersten Teil der Trilogie, es werden uns insgesamt drei Episoden erzählt, in denen stets Anton, Swetlana – die Frau mit dem schwarzen Wirbel – und der kleine Jegor im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Welche Rolle diese drei Figuren im Gesamtkontext einnehmen, erahnen wir dabei erst nach und nach. Lukianenko versteht es gekonnt, uns zunächst im Dunkeln zu lassen und einige falsche Fährten auszulegen.

Die Welt, die Sergej Lukianenko uns präsentiert, ist düster und erscheint nahezu hoffnungslos. Wenn sich schon die Lichten und die Dunklen gegenseitig bekriegen, obwohl sie doch den Frieden bewahren sollen, wie soll es dann weitergehen? Viele Szenen spielen sich nachts ab, wenn die Wächter der Nacht ihren Dienst antreten – solcherart zeichnet Lukianenko ein bedrohliches und furchteinflößendes Bild Moskaus. „Wächter der Nacht“ kommt ganz ohne friedliche Oasen im Sinne des Auenlandes aus und auch märchenhafte Figuren wie die Elben fehlen völlig. Das vorliegende Buch wirkt dadurch auf der einen Seite realistischer, auf der anderen Seite fehlt ihm aber ein wenig vom magischen Glanz eines „Herr der Ringe“. Dennoch halte ich beide Bücher weiterhin für nicht miteinander vergleichbar, beide stehen nicht in Konkurrenz zueinander, da sie sich stark voneinander unterschieden und Lukianenko seine ganz eigene Fangemeinde um sich scharen wird.

_Einsamer Held_

Der erste Teil der Trilogie um die Anderen in Moskau ist aus Sicht Antons geschrieben, der seinen Dienst bei der Nachtwache angetreten hat, aber gleich vor große Aufgaben gestellt wird. Seine magischen Fähigkeiten sind zwar schon gut entwickelt, doch kann sein Chef bereits sehen, dass Anton nie über den zweiten Grad hinauskommen wird, die Laufbahn eines großen Magiers ist Anton also verwehrt. Trotzdem wird er mit wichtigen Aufgaben betraut, die die Zukunft der Lichten beeinflussen werden. Wir begleiten Anton dabei stets auf seinen Wegen, erfahren aber nicht alle seine Pläne. In der dritten Episode erfährt er Dinge über das Schicksalsbuch, die er uns vorenthält, und auch über sein Vorhaben lässt er uns im Dunkeln. So lernen wir Anton zwar kennen und freunden uns mit ihm an, eine gewisse Distanz wird dabei aber nie überbrückt. Nichtsdestotrotz mag ich mir gar nicht vorstellen, dass die nächsten beiden Teile der Trilogie vielleicht nicht mehr aus seiner Sicht erzählt sein könnten, denn dann würde mir definitiv etwas fehlen. Gerade durch seine kleinen Fehler und Eigenarten wirkt Anton authentisch und sympathisch. Manchmal ist er ein Einzelkämpfer, obwohl es neben ihm doch viel mächtigere Magier gibt. Dennoch versucht Anton manchmal das Unmögliche, hat dabei aber stets das Gute im Blick und möchte ebensolches bewirken.

Neben Anton spielen Jegor und Swetlana eine wichtige Rolle, doch tauchen sie in diesem Band noch nicht so häufig auf, werden aber sicherlich in den Folgebüchern noch größeres Gewicht erhalten. Sowohl Swetlana als auch Jegor bleiben für uns undurchsichtig, auch wenn Teile ihrer Zukunft deutlich dargelegt werden. Aber es scheint, als habe sich ihr Schicksal noch nicht entschieden, und so dürfen wir gespannt sein, wie sich Swetlana und Jegor in der Trilogie weiterentwickeln. Zumindest eines ist klar: Auch sie erhalten einen Teil der Lesersympathien, auch wenn sie uns lediglich aus Antons Sicht geschildert werden und wir die beiden daher nicht gut genug kennen lernen.

_Mehr davon_

„Wächter der Nacht“ ist der Auftakt zu einer Trilogie, die sich dem Schattenreich Moskaus widmet und bereits viele Fragen aufwirft. Das Buch ist zwar in sich abgeschlossen, dennoch erklärt es am Ende nicht alles und lässt uns mit einigen Spekulationen zurück. Schon jetzt dürfte daher die Ungeduld der Leser auf die zu erwartende Fortsetzung groß sein. Sprachlich bedient Sergej Lukianenko sich einfacher Mittel, schmückt aber mit ausführlichen Beschreibungen und fantastischen Details seine Geschichte aus. Man merkt dem Text an, dass kein wortverliebter Literaturprofessor am Werke war, sondern ein kreativer Autor, der seine Leser dennoch zu fesseln weiß und an einigen Stellen viel Sinn für Humor beweist. Das Buch zu lesen, bereitet viel Freude, da man sich in einer ganz fremden Welt verlieren kann, außerdem macht es neugierig auf die Fortsetzung, die hoffentlich bald in deutscher Sprache erscheinen wird.

|Siehe ergänzend hierzu auch die [Rezension 1828 von Dr. Michael Drewniok.|

Baltscheit, Martin / Schwarz, Christine – Ich bin für mich

Lesen ist wieder „in“: Wenn Elke Heidenreich im Fernsehen Buchtipps gibt und mit glänzenden Augen von ihren Lieblingsbüchern berichtet, dann verkaufen sich diese Bücher daraufhin meist erstklassig. Verfolgt man im Anschluss an ihre Sendung „Lesen!“ die Bestsellerlisten, so wird sich der Großteil ihrer Empfehlungen recht weit oben anfinden, so auch „Ich bin für mich“, ein nur 40-seitiges Bilderbuch mit wenig Text, das in Deutschland aktueller denn je ist. Denn bei den Tieren herrscht Wahlkampf, genau wie bei uns.

Alle vier Jahre wird im Reich der Tiere der Löwe einstimmig zum König gewählt, doch in diesem Jahr kommt alles anders. Die kleine Maus muckt nämlich auf und beschwert sich, dass es immer nur einen Kandidaten gäbe und man somit ja kaum von einer Wahl sprechen könne. Daraufhin beschließen die Tiere, weitere Kandidaten aufzustellen. Aus jeder Tiergruppe tritt jemand vor, um eine flammende Wahlkampfrede zu halten. So versprechen die Mäuse, dass von nun an keine Katze mehr eine Maus verspeisen solle, sondern dass es andersrum kommen werde. Wird die Maus gewählt, dann jagen fortan die Mäuse die Katzen. Die Katze verspricht das genaue Gegenteil, nämlich dass es nie mehr an Mäusefleisch mangeln solle und dass die Jagd auf die Maus eröffnet sei. Auch der Karpfen schwingt sich zu einer Rede auf, wird unter Wasser aber von niemandem verstanden. Der Strauß zeichnet blühende Bilder seiner kommenden Regentschaft, möchte einen teuren Flughafen mit allerlei Schnickschnack erbauen lassen, steckt aber schnell den Kopf in den Sand, als jemand sich anmaßt, danach zu fragen, wie das denn finanziert werden solle. Auch bei den Tieren läuft es also nicht viel anders als bei uns Menschen.

Der Tag der Wahl rückt näher und bringt ein überraschendes Ergebnis (vertrauenswürdig durch den Maulwurf ausgezählt …), denn jedes Tier – außer dem Löwen – hat für sich selbst gestimmt. Fortan regieren daher mehrere Könige gleichzeitig, das Chaos ist vorprogrammiert …

In wunderschönen und mehr als treffenden Bildern präsentieren uns Martin Baltscheit und Christine Schwarz eine vordergründig so lustige Geschichte, die uns zum Schmunzeln bringt, aber auch eine Geschichte, hinter der sich mehr verbirgt. „Ich bin für mich“ überzeichnet die Problematik im Wahlkampf zwar deutlich und verkürzt alles auf nur knapp 40 Seiten, doch erkennt der Leser viele wirkliche Probleme wieder. Dort lassen sich nämlich Tiere bzw. Tierparteien aufstellen, die nur ihre eigenen Interessen vertreten wollen und die natürlich auch im krassen Gegensatz zu den Interessen einer anderen Partei stehen. So sind die Schwierigkeiten natürlich vorprogrammiert, wenn am Ende die Mäuse neben den Katzen herrschen, denn ihre beiden Wahlversprechen sind nicht miteinander vereinbar. Auch bei den Tieren werden also mitreißende Reden geschwungen, die für die potenziellen Wähler das Paradies auf Erden versprechen, aber nicht so weit denken, wie das denn finanziert werden solle oder wie realistisch solche Pläne überhaupt sein können. Zunächst geht es nur darum, genug Wähler zu überzeugen und die Wahl zu gewinnen. Erst im Anschluss bemerken die Tiere, dass es solcherart wohl doch nicht geht, denn im Tierreich bricht die Anarchie aus.

„Ich bin für mich“ vermittelt in Grundzügen das Prinzip der Demokratie, und die kleine Maus ist es in diesem Buch, die bemerkt, dass man von einer richtigen Wahl gar nicht sprechen könne, wenn es gar keinen Gegenkandidaten gibt. Da ist wohl etwas Wahres dran. Zwar könnte man den Löwen immer noch abwählen, aber wenn das Tierreich dann unregiert wäre, kämen ganz andere Probleme auf die Tiere zu. Was also tun? Die Lösung ist ganz einfach: Neue Kandidaten müssen her und werden auch schnell gefunden. Aber der Lernprozess für die Tiere ist bitter, denn die erste Lösung ist offensichtlich auch nicht die beste, wenn am Ende jeder Kandidat genau eine Stimme bekommt und somit auch kein eindeutiger König gefunden ist. Und wieder ist es die kleine Maus, die auf den Plan tritt und versucht, die Situation im Tierreich wieder in den Griff zu bekommen. Auch dort scheinen Neuwahlen die einzige Lösung zu sein. Ohne Mehrheit regiert es sich offensichtlich selbst bei den Tieren schlecht.

Auf amüsante Weise und mit einem Augenzwinkern dargeboten, führen uns die Tiere vor, wie man es besser nicht machen sollte. „Ich bin für mich“ ist dabei durchweg farbig bebildert und macht somit auch einfach Spaß beim Durchblättern, selbst wenn man den Text dabei nicht liest. Dabei verdeutlichen die Bilder auf eindrucksvolle Weise in der Mimik und Gestik der Tiere, wie diese sich fühlen und was sie momentan denken. So sieht man beispielsweise auf dem ersten Bild den glücklichen Löwen, wie er stolz seine Krone trägt und in den Händen einen Bierkrug und eine angebissene Bockwurst hält, die es zur Feier seiner Wiederwahl gab. Auf einem anderen Bild erscheint uns der Löwe dagegen ängstlich, als er das professionelle Wahlplakat der Mauspartei entdeckt, das sein eigenes Plakat deutlich übertrifft. Nach der verloren gegangenen Wahl ist der Löwe in bedrückter Pose auf einer Wiese abgebildet, dieses Mal jedoch ohne seine Krone. Immer unterstreichen die Bilder auf treffende Weise den nebenstehenden Text. Herzallerliebst sieht auch das kahle Schaf aus, das für sein Recht auf Wolle plädiert und darauf besteht, dass fortan Pullover selbst gestrickt werden müssen. Der Schäferhund dagegen, der für Recht und Ordnung steht, zeichnet sich durch einen strengen und fast schon gemeinen Gesichtsausdruck aus. Alle Bilder sind wirklich sehr gelungen und tragen zum schönen Gesamteindruck des Buches bei.

Geeignet ist „Ich bin für mich“ für Jung und Alt, wobei Kinder sicherlich die Hintergründe nicht so gut verstehen können, sich aber dennoch an den hübschen Bildern erfreuen können. Auch wenn der Preis für die wenigen Seiten recht hoch erscheint, so rechtfertigen die schönen Zeichnungen und das Din-A4-Format des Buches diesen doch wieder. Das Buch ist sehr schnell durchgelesen und durchgeblättert, doch nach dem ersten Durchlesen und einer kleinen Überraschung am Buchende beginnt man eigentlich gleich von vorne, um alle Bilder nochmals genau unter die Lupe zu nehmen. „Ich bin für mich“ ist ein Buch, das gerade hochaktuell ist und damit umso empfehlenswerter, zumal man es immer wieder gerne durchblättert. Ausnahmsweise kann ich mich Elke Heidenreich daher nur anschließen: „Ich bin für mich“ sollte man definitiv lesen!

Franzen, Jonathan – Schweres Beben

Jonathan Franzen hat sich mit den [„Korrekturen“ 1233 einen Namen gemacht als großartiger Erzähler, der seine Leser auch in Büchern epischer Länge mit nur wenig Inhalt zu unterhalten und zu fesseln weiß. Seine Stärken liegen in einer scharfen Beobachtungsgabe und einem fantastischen Erzähl- und Formuliertalent, die zum Erfolg seines Bestsellerromans deutlich beigetragen haben. Aus verkaufsstrategischen Gründen ist es nur verständlich, dass nun auch Jonathan Franzens frühere Werke ins Deutsche übersetzt werden. „Schweres Beben“ wurde bereits im Jahre 1992 in den USA veröffentlicht und damit neun Jahre vor den „Korrekturen“, sodass man als Leser seine Erwartungen niedriger halten sollte. Allerdings ist dies nach der mehr als erfreulichen Lektüre der „Korrekturen“ nur schwer möglich …

_Erschütternd_

In Massachusetts bebt die Erde. Kaum ist Louis Holland in die Nähe seiner ungeliebten Schwester Eileen gezogen und kaum hat er sich mit seiner Stiefgroßmutter Rita Kernaghan verabredet, platzt dieses Date auch schon wieder, da Rita das einzige Opfer des kleinen Erdbebens geworden ist. Louis‘ Mutter Melanie erbt daraufhin große Aktienpakete des Chemiekonzerns Sweeting-Aldren im Wert von etwa 20 Millionen Dollar. Doch das Unternehmen gerät in die Schlagzeilen, als behauptet wird, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer nicht korrekt entsorgt. Mehrfach erschüttern kleine Beben die Stadt, manchmal sind die Beben so schwach, dass Louis sie gar nicht bemerkt.

Zufällig lernt der 23-jährige Louis die sieben Jahre ältere Seismologin Renée Seitchek kennen, die eine interessante Theorie hat. Bei einer umfassenden Literaturrecherche hat sie nämlich Hinweise darauf gefunden, dass das Chemie-Unternehmen über tiefe Bohrlöcher verfügt, über die eigentlich nach Erdöl gesucht werden sollte. Doch Renée glaubt nicht daran. Sie ist der Überzeugung, dass Sweeting-Aldren seine Abwässer in den Boden pumpt und dadurch diese Erdbeben hervorruft. In den 70er Jahren hatte es bereits eine erste Erdbebenwelle gegeben, die ganz plötzlich aufgehört hat.

Louis und Renée verlieben sich ineinander, doch als die beiden Louis‘ Sachen aus seiner Wohnung holen, damit er bei seiner neuen Freundin einziehen kann, steht plötzlich eine alte Bekannte vor der Tür. Überraschend taucht nämlich Lauren auf, in die Louis einst verliebt war. Geblendet von ihren optischen Reizen, mit denen die bereits 30-jährige Renée nicht mithalten kann, entscheidet sich Louis daher für Lauren. Renée versucht daraufhin auf eigene Faust, Sweeting-Aldren zu überführen und begibt sich damit in große Gefahr. Doch das Schlimmste steht der Gegend rund um Boston noch bevor, denn eine weitere (Natur-)Katastrophe wird die Erde erbeben lassen …

_Franzen goes Brockovich_

Während das erste Erdbeben zunächst noch völlig harmlos wirkt, zumal es so schwach ist, dass kaum jemand es wahrnimmt und es auch nur ein Todesopfer zu beklagen gibt (welches zufällig im angetrunkenen Zustand auf einem Barhocker gestanden und sich beim Sturz tödlich verletzt hat), so spitzen sich die Ereignisse schnell zu, als eine Folge von Erdbeben zu verzeichnen ist. Darüber hinaus scheint mehr hinter den Beben zu stecken als eine natürliche Ursache, denn Renée Seitchek kann anhand wissenschaftlicher Veröffentlichungen plausibel machen, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer in den Boden pumpt und dadurch die Erdbeben auslöst. Doch das Chemieunternehmen ist mächtig, und somit begibt Renée sich unwissentlich bald in Lebensgefahr.

Thematisch zieht sich die Aufdeckung eines großen Umweltskandals durch das ganze Buch und hält ein wenig die losen Handlungsfäden zusammen. Immer wieder entdeckt Renée neue Hinweise auf die dubiosen Machenschaften des Chemiekonzerns und immer wieder bebt die Erde und erinnert die Menschen an die drohende Gefahr. In Art einer Erin Brockovich versucht auch Renée Seitchek, andere Leute von ihrer zunächst abwegig klingenden Theorie zu überzeugen. Die Beweise sind dünn, dennoch verdichten sie sich im Laufe von Renées Nachforschungen.

Jonathan Franzen greift sich hier ein Thema heraus, das auch heute noch brandaktuell ist, da nach wie vor das Problem einer umweltgerechten Entsorgung von schädlichen Abwässern besteht. Unternehmen standen schon häufig unter dem Verdacht, heimlich ihren Müll so einfach wie möglich zu entsorgen. Welche Auswirkungen dies haben kann, zeigt Franzen in „Schweres Beben“ auf.

_Familiengeschichte_

Aber es geht um mehr: Die Umweltthematik taucht zwar immer wieder auf und hat dem Buch auch seinen Titel verliehen, doch wäre Jonathan Franzen nicht Jonathan Franzen, wenn er nicht auch die Geschichte einer auseinander brechenden Familie erzählen würde. In diesem Falle erfahren wir die Geschichte der Familie Holland, die nach dem ersten kleinen Beben einen unerwarteten Geldsegen zu verkraften hat. Während das Erbe den Marihuana-rauchenden Vater kaum interessiert, zerbricht Mutter Melanie fast an der Angst, das Geld wieder zu verlieren. Und während Eileen sich von ihrer nun reichen Mutter gleich eine teure Eigentumswohnung sponsern lässt, geht Louis wieder einmal leer aus. So weit ist dies für den männlichen Holland-Sprössling nichts Neues, denn Eileen kam noch nie mit ihrem eigenen Geld aus und bettelte schon immer (erfolgreich) ihre Mutter an. Aber dieses Mal kommen auch private Probleme hinzu, denn nach einer anfänglich glücklichen Liebelei mit Renée lässt Louis sich zu schnell von der hübschen Lauren den Kopf verdrehen. Auch beruflich läuft es für Louis alles andere als erfolgreich, denn seinen Job bei einem kleinen Radiosender hat er verloren, nachdem ein fanatischer Abtreibungsgegner den Sender gekauft hat. Louis’ Leben hat also ebenfalls schwere Beben zu verkraften, zeitgleich gehen sein Privat- und Berufsleben den Bach herunter und von seiner Familie kann er auch kaum Rückhalt erwarten. Wäre Louis zumindest an seiner privaten Misere nicht selbst schuld, könnte er einem fast leidtun.

Anders als in den „Korrekturen“ setzt Franzen seinen Schwerpunkt ganz klar auf die Vorstellung nur eines Protagonisten, nämlich die von Louis Holland, über den Rest seiner Familie lesen wir nur ganz nebenbei etwas. Neben Louis erhalten auch Renée Seitchek und ihr Kollege Howard Chun eine ausführliche Präsentation, doch während Renée im Laufe des Romans eine wesentliche Rolle spielt, bleibt Howard immer nur im Hintergrund und ist für die Handlung nicht wirklich wichtig. Warum Franzen sich also viel Zeit nimmt, um auch Howard darzustellen, ist mir nicht klar geworden.

_Thematische Überfrachtung_

Jonathan Franzen scheint ein Faible für lange Romane zu haben, „Schweres Beben“ füllt in der deutschen Übersetzung ganze 685 Seiten und ist voll gepackt mit Informationen über die handelnden Personen, die Spekulationen über mögliche Umweltsünder, über Episoden, die die Handlung ausschmücken und auch bestückt mit allerhand Beiwerk. Die Geschichte wirkt etwas zusammenhanglos. An einer Stelle braucht Franzen einen etwa 50-seitigen Exkurs, bei dem er sogar einen Schlenker über die Geschichte der Indianer macht, um Louis zu erklären, welche familiären Verwicklungen die Familie Holland mit dem Chemiekonzern aufzuweisen hat. Oft entsteht der Eindruck, dass Franzen nicht genug zu sagen hat, als dass es 685 Seiten spannend füllen könnte. Während er sein Meisterwerk mit liebevoller Figurenzeichnung ausgestattet hat, die gerne eien solchen Umfang einnehmen konnte, schafft er es nicht, uns die Familie Holland so zu präsentieren, dass sie uns ans Herz wachsen könnte. Familie Lambert war einfach etwas Besonderes, wir haben sie lieb gewonnen, weil sie eigen und ein wenig chaotisch, aber doch so normal war. An Familie Holland ist kaum etwas normal, auch werden einem die Menschen kaum sympathisch, da sie immer wieder von einem Unglück ins nächste geraten und sich dies meist selbst eingebrockt haben.

Kurz: Der Funke mag nicht so recht überspringen. Der Leser wird nicht recht warm mit dem Buch und auch die Figuren erscheinen uns teilweise sehr nervig (wie Lauren) oder unentschlossen (wie Louis). Besonders Louis‘ Verhalten bleibt meist nicht nachvollziehbar, er dreht sich wie die Fahne im Wind und scheint gar nicht zu wissen, was er eigentlich möchte. Zwar ist er erst 23, dennoch würde ich einem selbstständigen jungen Mann in diesem Alter doch etwas mehr Entschlossenheit zutrauen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Franzen oftmals unangekündigt in der Zeit hin- und herspringt. Wir bleiben über lange Strecken stets bei Louis Holland und begleiten ihn überall hin, allerdings auch in seine gedanklichen Ausflüge in die eigene Vergangenheit. So ist es eine echte Herausforderung für den Leser, an jeder Stelle den Überblick zu behalten über die Zeit, in der die momentane Handlung spielt.

_Wortgewandt_

Während Franzen leider keine so mitreißende (Familien-)Geschichte zu erzählen hat, wie ich es mir erhofft hatte, so punktet er deutlich im sprachlichen Bereich. Schon 1992 in seinem zweiten Roman beweist Franzen, dass er mit Sprache umgehen kann. Lange Schachtelsätze, die sich teilweise über ganze Absätze ziehen, sind keine Seltenheit, doch sind sie stets so formuliert, dass man beim Lesen nie den Überblick verliert. „Schweres Beben“ ist wunderbar zu lesen und macht auf sprachlicher Ebene auch einfach Spaß.

An einigen Stellen zeigt Franzen auch hier, dass er den geübten Blick für Kleinigkeiten hat. So beobachtet er oftmals Dinge, die den meisten Menschen gar nicht auffallen würden. Diese Eigenart hat die „Korrekturen“ zu etwas Besonderem gemacht, im vorliegenden Buch ist davon leider noch zu wenig zu spüren. Man merkt einfach, dass Jonathan Franzen erst eine Entwicklung durchmachen musste, bevor er zu solch überzeugendem Erzähltalent gelangen konnte, wie er es in seinem Bestseller bewiesen hat.

_Warten auf einen neuen Franzen_

„Schweres Beben“ kann praktisch nur enttäuschen, will man es doch mit seinem Nachfolgeroman vergleichen. So ungerecht der Vergleich mit einem so viel jüngeren Buch auch ist, so gerechtfertigt erscheint er doch angesichts der Begeisterung, die die „Korrekturen“ ausgelöst haben. Das vorliegende Buch zeigt in Ansätzen, wo Jonathan Franzens Stärken liegen. Natürlich steht auch hier eine kuriose Familiengeschichte im Mittelpunkt des Geschehens, wobei die Handlung zusammengehalten wird durch den vermuteten Umweltskandal der Firma Sweeting-Aldren. Thematisch hat Franzen sein Buch etwas überfrachtet, oftmals schweift er in seiner Erzählung ab und verlangt von seinen Lesern dadurch einen langen Atem. Inhaltlich ist „Schweres Beben“ durchaus interessant und auch hochaktuell, dennoch weiß das Buch nicht mitzureißen. Für die 685 Seiten sind Ausdauer und Durchhaltevermögen erforderlich. Auch wenn „Schweres Beben“ sicherlich nicht schlecht ist, gehört es nicht zu den Büchern, die man unbedingt gelesen haben muss.

Jodi Picoult – Beim Leben meiner Schwester

Dürfen Eltern sich ihr Wunschkind aussuchen, um damit bestimmte Zwecke zu erfüllen? Was ist, wenn Eltern ein krebskrankes Kind haben und sich den idealen Spender „designen“ lassen? Die heutige Wissenschaft macht vieles möglich, doch führen manche Praktiken zu schier unlösbaren ethischen Problemen. Jodi Picoult schildert in ihrem neuen Roman eine dramatische Familiengeschichte, die genau diese Fragen aufwirft und den Leser zum Nachdenken anregen soll und auch wird.

Ich will leben

Anna Fitzgerald ist nur 13 Jahre alt, als sie ihrer krebskranken Schwester Kate eine Niere spenden soll. Dies ist der Moment, in dem Anna beschließt, sich einen Anwalt zu nehmen, um ihren Eltern die Entscheidungsgewalt in medizinischen Fragen wegnehmen zu lassen. In den Gelben Seiten findet sie den erfolgreichen Anwalt Campbell Alexander, der ihren Fall übernehmen soll. Der jedoch zeigt sich zunächst skeptisch und lässt sich nur durch die ihn erwartende Publicity zu diesem Pro-bono-Fall hinreißen. Annas Eltern Sara und Brian sind überrascht, als sie eine Vorladung vom Gericht bekommen. Sara, die früher als Anwältin gearbeitet hat, beschließt spontan, ihren Fall selbst zu vertreten.

Doch geht es nicht nur um Annas Leben, sondern auch um das ihrer älteren Schwester Kate. Im Alter von zwei Jahren wurde bei Kate eine spezielle Form der Leukämie festgestellt. Da ihr Bruder Jesse als Spender nicht in Frage kam, beschlossen Sara und Brian damals, noch ein Kind zu zeugen und zwar eines, das in allen Punkten als Spenderin für Sara passen würde. Schon das Nabelschnurblut wird für Kate gespendet, in den Jahren danach schließen sich Lymphozyten-, Granulozyten- und sogar eine Knochenmarksspende an. Einen Großteil ihrer Kindheit hat somit auch Anna im Krankenhaus verbracht, geholfen hat es ihrer Schwester immer nur zeitweise. Als schließlich Kates Nieren versagen, könnte nur Anna ein Organ spenden, da ansonsten das Risiko für Kate zu groß wäre. Die Zeit drängt, denn Kate geht es immer schlechter.

Die Verfahrenspflegerin Julia wird vom Gericht bestellt, um sich ein Bild von Anna und ihrer Familie zu machen. In vielen Gesprächen lernt sie Annas Motive und die ihrer Eltern kennen. Doch auch Julia ist ratlos angesichts der sich ihr dargestellten Situation. Gleichzeitig kämpft sie mit privaten Problemen, denn zu ihrer Highschoolzeit hatte sie einst eine kurze Affäre mit Campbell Alexander, damals allerdings hatte er sie sitzen gelassen. Nun flammt die alte Liebe erneut auf.

An allen Fronten erleben wir persönliche Dramen mit, denn in der Familie Fitzgerald liegt einiges im Argen …

Perspektivenwechsel

„Beim Leben meiner Schwester“ ist aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Zunächst lernen wir Anna kennen, die uns ihre Entscheidung mitteilt, dass sie keine Niere für ihre Schwester spenden möchte, da sie bereits oft genug im Krankenhaus gewesen ist. Anna schaltet daraufhin Campbell Alexander als ihren Anwalt ein. Auch aus der Sicht des erfolgreichen Staranwalts erfahren wir einen Teil der Geschichte, er gibt offen zu, dass er Annas Fall zunächst als reine Werbung für sich selbst ansieht und daher den Fall pro bono übernimmt. An Alexanders Seite begleitet ihn stets sein Servicehund Judge, obwohl der Anwalt doch gar nicht blind ist. Welche Funktion Judge in seinem Leben einnimmt, erleben wir hautnah mit, als Anna gerade vor Gericht ihre Aussage macht. Auch die Verfahrenspflegerin Julia erzählt ihren Teil der Geschichte, sie berichtet von den Verletzungen, die Campbell Alexander ihr zugefügt hat, als er sie damals zu Schulzeiten fallen gelassen hat, wir lernen ihre Schwester kennen und begleiten Julia auf ihren Besuchen bei Anna und ihrer Familie.

Aus Saras Perspektive wird die Familiengeschichte von Kates Krankheit erzählt. Dieser Teil der Geschichte setzt ein, als Kate zwei Jahre alt ist und Sara zum ersten Mal merkwürdige blaue Flecken bei ihr entdeckt, woraufhin nach etlichen Tests schließlich Leukämie diagnostiziert wird. Sara berichtet von ihrer Entscheidung, ein passendes Kind zu bekommen, das als Spenderin für Sara fungieren kann, und sie ertappt sich dabei, wie sie dieses ungeborene Kind gar nicht als eigenständige Persönlichkeit wahrnimmt, sondern nur als geeignete Spenderin: „Obwohl ich im neunten Monat bin, obwohl ich reichlich Zeit zum Träumen hatte, habe ich mir über dieses Kind noch keine besonderen Gedanken gemacht. Wenn ich an diese Tochter denke, dann nur daran, was sie für die Tochter tun kann, die ich bereits habe.“ Später erfahren wir aus Saras Sicht, wie Kates Krankheit sich weiterentwickelt, wie Kate schließlich bei der Chemotherapie einen anderen Patienten kennen lernt, in den sie sich verliebt. Wir werden Teil von Kates Krankengeschichte und erfahren insbesondere Saras Gründe für die vielen Behandlungen und auch für Annas Spenden.

Brian dagegen begleiten wir häufig zu seinen Einsätzen. Der Familienvater arbeitet als Feuerwehrmann und rettet andere Leben, wo ihm dies bei seiner eigenen Tochter so schwer fällt. Die Feuerwehr hat mit einem Brandstifter zu kämpfen, der verlassene Hütten anzündet und zunächst nicht gefasst werden kann. Doch aus Jesses Perspektive werden wir recht schnell Zeuge der Brandstiftungen, denn Jesse hat seine eigenen Probleme zu verarbeiten. Während seine Schwestern ständig im Mittelpunkt des Familiengeschehens stehen – die eine wegen ihrer schweren Krankheit und die andere wegen ihrer Spenden – bleibt er außen vor und rebelliert gegen die Nichtbeachtung durch seine Eltern. Sein Zimmer verfügt über einen separaten Eingang, sodass Jesse unbemerkt kommen und gehen kann.

Zunächst ist dieser ständige Perspektivenwechsel sehr gewöhnungsbedürftig, da man sich zu Beginn jedes Kapitels neu einfinden muss, doch später empfand ich dies als gelungenes Stilmittel, da uns die handelnden Personen dadurch sehr nahe gebracht werden. Wir erleben die Probleme und Sorgen jedes Einzelnen hautnah mit und lernen auch die Gründe für ihr Handeln kennen. So paradox es auch erscheinen mag, so verstehen wir dadurch sowohl Annas Weigerung zu einer Organspende als auch Saras Gründe für die Nierentransplantation. Jodi Picoult schafft es überzeugend, uns jede Perspektive deutlich zu machen, wir begleiten jeden Protagonisten immer wieder auf Schritt und Tritt und fühlen auch mit jedem mit. Das Handeln jeder Person wird verständlich, auch wenn besonders Annas und Saras Wünsche miteinander kollidieren.

Nach und nach wird offenkundig, welche Probleme die Familie Fitzgerald mit sich auszumachen hat. Die Interessen ihrer beiden Töchter stehen praktisch im Gegensatz zueinander. Um die kranke Tochter gesund zu machen, muss die gesunde Tochter immer wieder ins Krankenhaus und sogar eine schwere Knochenmarkstransplantation über sich ergehen lassen, die Anna nicht gut verträgt. Die Familie ist kurz vor dem Auseinanderbrechen, was auch den Eltern auffällt, die sich plötzlich nichts mehr zu sagen haben. Zusammengehalten werden die fünf eigentlich nur durch die zu überstehenden Krisen und durch Kates Krankheit, die nur bekämpft werden kann, wenn alle füreinander da sind. Doch speziell Jesses und Annas Interessen bleiben dabei häufig auf der Strecke. So darf Anna nicht auf das Eishockeyseminar fahren, auf das sie sich so gefreut hatte, weil sie in der Zeit eventuell für weitere Spenden gebraucht werden könnte.

„Bis dahin ist ausgeschlossen, dass sie nach Minnesota fährt. Nicht weil ich Angst habe, Anna könnte dort etwas passieren, sondern weil ich Angst habe, Kate könnte etwas passieren, wenn ihre Schwester nicht da ist. […] Und dann brauchen wir Anna – ihr Blut, ihre Stammzellen, ihr Gewebe – und zwar hier.“

Unlösbar

Jodi Picoult hat einen sehr persönlichen Roman vorgelegt, der uns die Personen wunderbar näher bringt und der es schafft, mit jedem mitfühlen zu lassen. Inhaltlich hat sie sich ein Thema herausgesucht, das ethisch schwierig zu beurteilen ist und gerade moralisch unlösbar erscheint. Wir können Annas Standpunkt sehr gut nachvollziehen, dass sie ihre Niere nicht spenden möchte, da dies einen schweren Eingriff in ihre eigene Gesundheit darstellen würde und sie danach ihr geliebtes Eishockeyspiel aufgeben müsste. Anna möchte mit ihren 13 Jahren endlich die Chance auf ein einigermaßen normales Leben haben und die Chance darauf, erwachsen zu werden (obwohl sie uns in den meisten Situationen doch schon sehr erwachsen vorkommt). Doch verbunden ist dies unweigerlich mit Kates Tod. Wie soll man hierzu eine Lösung finden? Jodi Picoult hat sich ein Ende ausgedacht, das dem Leser das Nach- und Weiterdenken ermöglicht. Sie präsentiert uns nicht ihre eigene Lösung, sondern schafft es sehr geschickt, diese Schwierigkeit zu umschiffen. Vielleicht trägt Picoult am Ende ein wenig dick auf, doch vielleicht war dies auch die einzig mögliche Auflösung in diesem Buch?!

„Beim Leben meiner Schwester“ regt zum eigenen Nachdenken an. Wie würde man selbst in dieser Situation reagieren? Ist es überhaupt gerechtfertigt, sich ein Wunschkind wie Anna erschaffen zu lassen, welches von Anfang an die Aufgabe des Spenders zu übernehmen hat? Aber ist es nicht auch völlig normal, dass Eltern alles Menschenmögliche versuchen wollen, um ihr krankes Kind zu retten? All dies sind Fragen, auf die es keine richtige und keine falsche Antwort gibt, daher fällt es uns schwer, das Buch aus der Hand zu legen und abzuschalten. Wenn wir das Buch am Ende zuklappen, rollt uns vielleicht sogar die eine oder andere Träne über die Wange, denn wir müssen loslassen von uns lieb gewonnenen Figuren. Durch die so persönlichen Schilderungen im Laufe der Geschichte haben wir uns besonders mit Anna richtig angefreundet, eine so „persönliche Beziehung“ habe ich nur selten zu Romanfiguren aufgebaut – und das, obwohl die reine Handlung des Buches nur eine gute Woche umfasst.


Etwas Besonderes

„Beim Leben meiner Schwester“ drückt auf die Tränendrüse, vielleicht ist es daher eher ein Buch für Frauen, ganz bestimmt ist es jedoch ein Buch, das Einfühlungsvermögen benötigt und die Bereitschaft, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Jodi Picoult hat ein Buch vorgelegt, das mich tief bewegt und mitgerissen hat. Der Roman ist flüssig geschrieben und schnell durchgelesen, dennoch ertappt man sich immer wieder dabei, dass man über die geschilderte Situation nachdenkt. Ein wenig störend empfand ich die beginnende Liebesgeschichte zwischen Campbell und Julia, ein reiner Familienroman wäre auch passend gewesen, insgesamt fügt sich aber sogar diese Liebelei ganz gut in das Gesamtgeschehen ein, da wir dadurch auch den Staranwalt aus einer ganz anderen Perspektive kennen lernen dürfen.

Das vorliegende Buch ist ein ganz persönliches Erlebnis, das ich jedem, der sich für dieses Thema und die damit verbundenen Fragen interessiert, nur wärmstens ans Herz legen kann.

Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: My Sister’s Keeper
ISBN-13: 978-3492247962
www.piper.de

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Mankell, Henning – Vor dem Frost

Nachdem seine erfolgreiche Krimireihe rund um Kurt Wallander mit der „Brandmauer“ seinen Abschluss gefunden hat und Mankell seine Leser in der „Rückkehr des Tanzlehrers“ mit dem Kommissar Stefan Lindman bekannt gemacht hat, ermittelt in „Vor dem Frost“ erstmals Linda Wallander, obwohl sie eigentlich noch nicht offiziell im Polizeidienst angefangen hat. Der Generationenwechsel in Ystad hat nun stattgefunden, und nach dem Erfolg des Krimis mit Stefan Lindman als Hauptfigur hat dieser nun auch seinen Einsatzort gewechselt und arbeitet fortan ebenfalls in Ystad an der Seite des alternden und immer noch schlecht gelaunten Kurt Wallander. Ob Henning Mankell seiner neuen Krimiheldin ein überzeugendes Debüt gewidmet hat, wollen wir uns nun näher besehen …

_Bitte melde dich!_

Frisch von der Polizeischule kehrt Linda Wallander zurück nach Ystad. Da sie noch auf eine eigene Wohnung warten muss, zieht sie zunächst zu ihrem Vater Kurt, auch wenn dies zu allerlei Schwierigkeiten führt, da beide sehr impulsiv reagieren und somit immer genug Zündstoff für Streitereien gegeben ist. Leider reicht das Geld bei der Polizei nicht aus, um Linda sofort einzustellen, sodass sie ungeduldig auf ihren Einsatz warten muss. In der Zwischenzeit baut sie zwei alte Freundschaften zu ihren Schulfreundinnen Zebra und Anna wieder auf. Doch eines Tages ist Anna verschwunden, obwohl sie sonst doch immer so pünktlich und zuverlässig war. Mit Hilfe eines Dietrichs verschafft Linda sich Zugang zu Annas Wohnung und beginnt auf eigene Faust, das Verschwinden ihrer Freundin zu untersuchen. Vater Kurt hat dafür allerdings gar kein Verständnis, da er nicht an ein Verbrechen glaubt, zumal auch Annas Mutter überhaupt nicht beunruhigt zu sein scheint.

Gleichzeitig geschehen noch weitere mysteriöse Dinge in Ystad: Über dem Marebosjö fliegen brennende Schwäne, kurze Zeit später berichtet ein Bauer, dass jemand eines seiner Kälber angezündet hat. Kurt Wallander befürchtet Schlimmstes, sein Gefühl sagt ihm, dass hier nicht nur ein verrückter Tierquäler am Werke ist, sondern dass diese Taten Auftakt sind zu mehr. Und wirklich, nahe von Schloss Rannesholm wird in einer versteckt liegenden Waldhütte eine brutal ermordete Frau gefunden, der Kopf und Hände abgeschlagen wurden. Neben den Leichenteilen entdecken die Polizisten auch eine Bibel, in die jemand eigene Gedanken und Interpretationen hineingeschrieben hat.

Zufällig findet Linda in Annas Tagebuch einen Hinweis auf die ermordete Frau aus dem Wald und schafft dadurch eine Verbindung zwischen Annas Verschwinden und dem Mord an Birgitta Medberg. Auch führt ein Hinweis die junge Polizeianwärterin nach Kopenhagen, wo sie von einem hageren Mann bewusstlos geschlagen wird. Ihr Vater ist außer sich und bezieht seine Tochter nun offiziell in die Ermittlungen mit ein. Doch die Zeit rennt den Polizisten davon …

_Alles neu macht der Frost_

Um Wiederholungen zu vermeiden, beendete Henning Mankell zur Trauer seiner treuen Leser die erfolgreiche Kriminalreihe um Kurt Wallander, nur um allerdings mit einem kleinen Trick Kurt Wallanders Tochter in das Zentrum des Geschehens zu rücken. Wollte Linda in den vergangenen Romanen noch Möbelpolsterin werden, so eröffnete sie ihrem Vater am Ende seines letzten offiziellen Kriminalfalles zu seiner großen Überraschung (aber auch Freude), dass sie den gleichen Weg einschlagen möchte wie er. Nun also begleitet der Leser Linda bei ihren Ermittlungen und Gedankengängen, während ihr Vater in den Hintergrund rückt.

Doch so ganz kann Mankell hiermit nicht überzeugen. Zunächst schafft er es nicht glaubwürdig, uns Lindas Entscheidung für die Polizeikarriere zu erklären. Zwar hatte Mankell bereits in den vergangenen Romanen immer angedeutet, dass Lindas Berufswünsche mehrfach wechselten, doch plötzlich scheint sie vollkommen überzeugt zu sein von ihrem (neuen) eingeschlagenen Weg. Darüber hinaus nimmt ihre Vorstellung zu viel Raum in diesem Buch ein. Ein großes Plus in Henning Mankells Büchern ist seine liebevolle Figurenzeichnung, die immer weiter chronologisch fortgesetzt wird, sodass uns seine Krimihelden richtig ans Herz wachsen. Doch da Linda bislang immer nur eine kleine Nebenrolle innehatte, muss Mankell fast von vorne beginnen. In der „Rückkehr des Tanzlehrers“ gelang ihm die Gratwanderung zwischen einer überzeugenden Charakterisierung und einer, die die Spannung zu sehr ausbremst, sehr gut. In seinem ersten Linda-Wallander-Roman verliert er allerdings oftmals den eigentlichen Kriminalfall aus den Augen.

Da Linda noch nicht offiziell als Polizeianwärterin arbeitet, ermittelt sie wie schon ihr Vater zuvor auf eigene Faust und eher am Rande der Legalität. An den eigentlichen Ermittlungen in dem Fall der brennenden Tiere und der brutal ermordeten Frau Birgitta Medberg nehmen wir daher kaum Anteil. Genau das war es allerdings, was mich bei den bisherigen Mankell-Krimis so fasziniert hat. Wir waren bei jedem Schritt der Polizei hautnah dabei, wir haben an den Besprechungen und an den leidigen Pressekonferenzen teilgenommen, wir haben Nybergs schlechte Laune und Kurt Wallanders Ungeduld gespürt, doch dieses Mal ist alles anders. Von Anfang an rückt Linda Wallander in den Mittelpunkt des Geschehens, wir erfahren einiges aus ihrer Vergangenheit, über ihre abgebrochenen und gescheiterten Selbstmordversuche, über die schlechten Launen und Wutausbrüche ihres Vaters und über ihre Freundschaft zu Anna und Zebra. Allerdings bekommen wir von der eigentlichen polizeilichen Ermittlung viel zu wenig mit. Die personelle Komponente überwiegt in weiten Teilen der Romanhandlung, sodass der Spannungsbogen in „Vor dem Frost“ erstmals nicht perfekt gelungen ist, wie wir das inzwischen von Henning Mankell praktisch erwarten.

Interessant dagegen ist es, die bereits bekannten handelnden Personen aus Lindas Blickwinkel kennen zu lernen. So erscheinen besonders ihre Eltern unter ganz anderem Licht, aber auch Ann-Brit Höglund lernen wir von einer neuen Seite kennen.

Manchmal fehlte mir der rote Faden, der durch das Buch führt. Zwischendurch wechselte häufiger die Perspektive; so haben wir nicht nur Linda bei ihren Nachforschungen begleitet, sondern auch Birgitta Medberg auf ihrem unbekannten Pfad, der geradewegs zu ihrem Mörder geführt hat, und auch einen Unbekannten, der in der Eröffnungsszene die Schwäne in Brand steckt und auch weitere Pläne und Gedanken kundtut. Darüber hinaus erschienen mir Lindas Ermittlungen oftmals wenig zielgerichtet und vor allem wenig vernünftig. Sie tappt blindlings in die eine oder andere Falle und verliert natürlich im entscheidenden Augenblick ihr Handy (dessen Akku selbstverständlich fast leer war). Stellenweise häufen sich die Zufälle etwas zu sehr, sodass der Roman an Glaubwürdigkeit verliert. Auch erschienen mir einige Situationen nicht schlüssig zu sein; so werden wir Zeuge, wie Linda Wallander aus Wut ihrem Vater einen Aschenbecher an den Kopf wirft, woraufhin eine Platzwunde seine Stirn ziert. Wenn Kurt allerdings wirklich solche Wutausbrüche hat und impulsiv handelt, wie uns vorher weisgemacht wurde, passt seine relativ gelassene Reaktion nicht zu seinem sonstigen Verhalten.

_Thematisches_

Wie gewohnt greift sich Henning Mankell ein heißes Thema heraus, um das er seine Romanhandlung herum aufbaut. In „Vor dem Frost“ spielen fanatische religiöse Gemeinschaften eine Rolle, die ihr ganz eigenes Ziel verfolgen. Darüber hinaus setzt die eigentliche Handlung Ende August 2001 ein und spielt sich somit kurz vor den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center ab. An Lindas erstem offiziellen Arbeitstag muss sie schließlich im Fernsehen die tragischen Bilder der Terroranschläge ansehen. Sehr bewusst legt Mankell hier seine eigene Romanhandlung parallel zu den damaligen Ereignissen an, sodass nicht nur die Mankell’schen Figuren gerade ihre Anschläge planen, sondern im wahren Leben die Terroristen ebenfalls.

Leider bleiben am Ende die wahren Gründe für die geplanten Anschläge der religiösen Fanatiker etwas im Dunkeln. Mankell deutet zwar eine schwache Begründung an, doch weiß diese nicht zu überzeugen. Gerade die Hintergründe und die Motivation der religiösen Gemeinschaft hätte Mankell noch weiter ausführen können, um ihr Tun und Handeln vielleicht in Ansätzen erklärbar zu machen.

_Altbewährtes_

Selbstverständlich bleibt Henning Mankell sich weiterhin treu; seinem Roman stellt er einen Prolog voran, der im Jahre 1978 spielt und zunächst keinen Zusammenhang zu den späteren Ereignissen hat. Erst nach knapp 200 Seiten erfährt der Leser die Verbindung zwischen den weit zurückliegenden Geschehnissen und dem aktuellen Kriminalfall. Hier führt Mankell seine Handlungsstränge zusammen und beantwortet mit einem Schlag zahlreiche Fragen. Doch das mindert die Spannung nicht im Geringsten, da die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt und Linda gar nicht ahnt, welchen Gefahren sie sich aussetzt. Mit unserem Wissensvorsprung können wir Linda, ihrem Vater und seinen Kollegen also bei ihrer Arbeit zusehen und überprüfen, ob sie die richtigen Spuren verfolgen.

Obwohl die Handlung nicht so strafft erzählt ist wie gewohnt, ist auch der vorliegende Roman schwer aus der Hand zu legen. Nach einem gemächlichen Einstieg mit den brennenden Schwänen und der ausführlichen Vorstellung Linda Wallanders lässt Mankell seine Akteure auf den Plan treten. Zwar geschieht am Anfang kein brutaler (Menschen-)Mord, doch animieren auch die brennenden Tiere zum Mitfiebern, da bereits klar ist, dass sie nur Auftakt zu größeren Taten sein können. Doch dann dauert es auch nicht lange, bis Birgitta Medbergs Leichenteile merkwürdig drapiert entdeckt werden und Lindas Sorgen um Anna immer schwerwiegender werden.

_Nach dem Frost_

Obwohl „Vor dem Frost“ seine Erwartungen nicht alle erfüllen kann, ist es dennoch ein Krimi der Extraklasse. Lediglich verglichen mit Henning Mankells bisherigen Kriminalromanen fällt die Begeisterung etwas geringer aus. Fast alle bekannten Erfolgskomponenten des schwedischen Bestsellerautors finden sich hier wieder, nur Linda überzeugt als neue Krimiheldin (noch?) nicht ganz. Ihr Vorgehen ist zu unüberlegt und auch ihre Person wirkt nicht so sympathisch wie die ihres Vaters. Zeitweise hält Mankell sich zu sehr mit seinen Beschreibungen auf und bremst dadurch die Handlung aus, auch häufen sich die Zufälle manchmal zu sehr, wodurch die Glaubwürdigkeit etwas leidet. Lesenswert ist der erste Linda-Wallander-Fall allemal, doch muss sie sich ihre Lorbeeren erst noch verdienen.

Magnusson, Kristof – Zuhause

|“Alles war in bester Ordnung. Warum auch nicht? Ich hatte nichts gegen Weihnachten. Das Problem war, dass Weihnachten oft etwas gegen mich hatte.“|

Kristof Magnusson hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Vor fast genau einem Jahr habe ich ihn durch Zufall auf einer Lesung erleben dürfen, bei der er aus seinem damals noch unvollendeten Erstlingsroman „Zuhause“ vorgelesen hat. Der sympathische junge Autor und seine eindrucksvolle Lesung sorgten dabei für zahlreiche Lacher im Publikum und für eine ausgelassene Stimmung, sodass ich sicherlich nicht die Einzige bin, die seitdem erwartungsvoll auf die Veröffentlichung von Magnussons Debütwerk gewartet hat (und nun auch sehnsüchtig auf eine Fortsetzung hofft).

_Merry Christmas_

Lárus Lúðvígsson dreht Dokumentarfilme über Vögel in seiner zweiten Heimat Hamburg und möchte nun Weihnachten zusammen mit seiner Jugendfreundin Matilda und ihrem Freund Svend in Island feiern. Was er aber nicht weiß, ist, dass sich Matilda von Svend getrennt hat, weil er und ihre ganze Beziehung ihr zu perfekt vorgekommen sind. Nur nach und nach eröffnet Matilda Lárus, dass sie nun in eine schmuddelige Wohngemeinschaft gezogen ist, obwohl sie doch so stolz auf ihre eigene Wohnung war. Außerdem möchte sie nicht mehr als wandelnder „Expo-Pavillon“ (also als Reiseleiterin) arbeiten, sondern lieber Suppenköchin werden. Doch auch Lárus verschweigt seiner langjährigen Freundin einiges, denn er traut sich nicht zu sagen, dass sein Freund Milan ihn vor kurzem verlassen hat. Dennoch ist Lárus enttäuscht und versteht nicht, warum Matilda ihm nicht gleich alles anvertraut hat. Gleichzeitig bringt er es nicht übers Herz, Matilda von seiner Trennung zu erzählen. So brechen die beiden zusammen zum Flughafen auf, um Milan abzuholen, obwohl Lárus sehr genau weiß, dass dieses Vorhaben völlig vergeblich sein wird. Erstmals muss ihre Freundschaft größere Krisen überstehen …

Doch so kurz vor Weihnachten passiert noch mehr in Island: Matilda und Lárus werden Zeugen, wie die Wohnung von Lárus‘ ehemaligem Schulkameraden Dagur abbrennt. Da dieser ganz in der Nähe ist, kann er noch zur Rettung einiger ihm lieb gewonnener Dinge eilen. Todesmutig (oder auch lebensmüde) stürzt Dagur sich in die Flammen und wirft Teile seiner CD-Sammlung und einige Kleidungsstücke aus dem Fenster. Anschließend zieht Dagur ebenfalls in Matildas Wohngemeinschaft ein. Lárus und Dagur, die sich zu Schulzeiten nicht ausstehen konnten, freunden sich zaghaft an. Doch Lárus wird nicht schlau aus Dagur, der immer wieder auf seine Familie schimpft, aber nicht verraten möchte, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Als Dagur sich in Lárus verliebt, sein merkwürdiges Verhalten aber nicht erklären möchte, rasen die beiden auf eine Katastrophe zu …

Gleichzeitig versucht Lárus, seine Erinnerungen an Milan und ihre gescheiterte Beziehung in Worte zu fassen. Diese Briefe möchte er an ein Institut für Liebeskranke in Zürich schicken, das anonym diese Erinnerungen aufbewahrt, damit ihre Besitzer sich nicht mehr mit ihnen herumquälen müssen. Durch diese Briefe gelangt Lárus zu ganz neuen Einsichten, die er langsam verarbeiten muss.

_Lebenskrisen_

Kristof Magnusson erzählt einen Roman über eine Gruppe von Menschen um die 30, die ihre ganz eigene Lebenskrise überstehen müssen und dabei einige Hindernisse zu überwinden haben. Zunächst beginnt „Zuhause“ als „Feel-good“-Roman, der mit viel Wortwitz geschrieben ist und zu Beginn trotz der beiden Trennungen sehr heiter klingt. Es hat den Anschein, als würden sich Lárus und Matilda über ihr Wiedersehen und auf das bevorstehende Weihnachtsfest freuen. Erst nach und nach bröckeln die Fassaden und beide müssen sich eingestehen, dass viel geschehen ist und nicht nur ihre Freundschaft sich verändert hat, sondern auch Lárus und Matilda selbst. Auf ihre jeweils eigene Art versuchen die beiden nun, mit diesen Veränderungen und ihrem Leben klarzukommen. Während Lárus, der komischerweise in Island für tot erklärt wurde, seine Hoffnungen in die aufgeschriebenen Erinnerungen setzt und gar nicht bemerkt, in welches Unglück sich Dagur stürzt, flüchtet sich Matilda in ihre Wohngemeinschaft und lässt sich mit einem fragwürdigen DJ ein, der es auf Lárus abgesehen hat.

Auf nur knapp mehr als 300 Seiten erkennt vor allem Lárus, dass er in der Vergangenheit einige Fehler gemacht hat und die Trennung von Milan eigentlich nicht ganz plötzlich kam, sondern ziemlich vorhersehbar war. Dennoch fällt Lárus diese Einsicht sehr schwer, da er in seinen aufgeschriebenen Erinnerungen zum ersten Mal sein eigenes Verhalten reflektiert und zu seinen Fehlern stehen muss. Erst im Laufe der Zeit bemerkt Lárus, dass er selbst sich ändern und sein eigenes Zuhause finden muss. Dabei kommt er ganz unbeabsichtigt hinter ein altes Familiengeheimnis.

Zusammen mit seinen Protagonisten macht der Roman eine spürbare Veränderung durch. Während die Erzählung anfangs vor Wortwitz sprühte und es keine Seite gab, auf der man nicht zumindest zum Schmunzeln verleitet wurde, wird die Wortwahl mit der Zeit ernster und melancholischer. Der feine Humor ist zwar durchweg spürbar, doch werden die erheiternden Episoden seltener und Magnusson präsentiert uns nicht mehr allzu abstruse Geschichten, von denen er zu Beginn zahlreiche einstreute. So merkt man auch der Erzählweise an, dass Lárus durch ein ziemlich tiefes Tal wandern muss, welches sowohl seine Gedanken betrifft als auch seine körperliche Gesundheit, die unter einigen Unfällen schwer zu leiden hat.

_Achtung: Wortwitz_

„Zuhause“ weiß auf seine eigene Art zu begeistern, das Buch ist sehr liebevoll geschrieben und genau beobachtet. Mit seiner treffenden Wortwahl und seinen teilweise mehr als passenden Metaphern verleiht Kristof Magnusson seinem Debütroman das gewisse Etwas und beweist, dass er mit Worten spielen kann und dies offenbar auch gerne tut. Es sind die kleinen Geschichten am Rande und die eingestreuten Episoden, manchmal aber auch nur einzelne Füllwörter, die mich mitgerissen und begeistert haben. Besonders auf der ersten Hälfte unterhält „Zuhause“ auf grandiose aber feinsinnige Weise. Kein Witz kommt aufdringlich daher oder wirkt peinlich, jede Zeile macht einen sympathischen Eindruck, sodass man sich einfach nur wohlfühlt in diesem Buch und in diesen Worten.

Magnusson beschreibt teils urkomische und herzerfrischende Episoden, deren Lektüre einfach Freude bereitet; er beobachtet selbst feine Nuancen wie beispielsweise den Unterschied zwischen „sich gegenseitig anschweigen“ und „jeder für sich schweigen“ und hebt sich damit positiv von der Masse ab.

S. 30: |“Das hatte sie von ihrem Vater. Der war beim Straßenbauamt von Reykjavík für die Geschwindigkeitsbegrenzungen zuständig, setzte Eisenrohre in den Asphalt und ließ Betonschwellen vor Kindergärten sowie Blindenheimen gießen. Er war auf einem Bauernhof am Ende einer langen holprigen Schotterpiste im Südland groß geworden, und problemlos befahrbare Straßen schienen ihm noch immer suspekt zu sein.“|

S. 32: |“Es war einer von diesen stillen, triumphalen Momenten, in denen ich gern die Fähigkeit besessen hätte, nur die linke Augenbraue heben zu können.“|

„Zuhause“ steckt voller Musik; in der Art eines Nick Hornby streut Kristof Magnusson zu vielen Situationen die passenden Musikzitate ein, die allerdings größtenteils eher unbekannt sind und daher eher weniger zu Ohrwürmern beim Leser führen. Dennoch könnte ich mir gut einen Soundtrack zu diesem Buch vorstellen, der die beschriebenen Situationen unterstreicht.

_Iceland meets Germany_

Obwohl die Romanhandlung komplett in Island spielt, gibt es immer wieder Rückbezüge auf Deutschland, da Lárus an Ereignisse aus Hamburg zurückdenkt oder seine Beziehung zu Milan reflektiert, die sich in Deutschland abgespielt hat. Lárus ist 30 Jahre alt und hat in beiden Ländern eine Wohnung, obwohl er schon als Kind mit seinem Vater nach Hamburg umgezogen ist. Dennoch zieht es Lárus immer wieder in seine Heimat, da er sich ihr weiterhin verbunden fühlt. Auch gibt es dort Matilda, mit der ihn eine tiefe Freundschaft verbindet. Es wird deutlich, dass Lárus sich noch nicht für sein Zuhause entschieden hat und erst noch herausfinden muss, ob er es in Island oder Deutschland finden wird.

Für Lárus stehen seine zwei Zuhause für völlig unterschiedliche Kulturen und für zwei voneinander getrennte Leben. Mit Deutschland verbinden ihn die Erinnerungen an Milan und die Angst, in einige Städte zu reisen, in denen die beiden gemeinsam gewesen sind. Zu Weihnachten verlässt Lárus daher seine deutsche Heimat, um sich in seine isländische Vergangenheit zu flüchten, nur um allerdings festzustellen, dass die Zeit dort auch nicht stehen geblieben ist und Matilda nicht mehr sein Fels in der Brandung ist, sondern ihr Leben in eine andere Bahn gelenkt hat. So begleiten wir Lárus auf einer ganz persönlichen Reise, auf der er mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird und sich darum bemühen muss, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.

_Home Sweet Home_

Am Ende bleibt eigentlich nur noch festzustellen, dass „Zuhause“ einfach Freude bereitet; Kristof Magnusson schreibt sympathisch, liebevoll und mit viel Wortwitz. Dabei zeichnet er Figuren, die zwar eine chaotische Phase durchmachen, aber gerade dadurch menschlich wirken, sodass wir beim Lesen mit ihnen fiebern und uns stellenweise durchaus mit ihnen identifizieren können. Inhaltlich geht es um Lárus‘ Identitätsfindung und um eine geheimnisvolle Familiengeschichte, die im Grunde genommen nicht wirklich spannend ist. Wen interessiert bei dieser wunderbaren Schreibweise noch, was mit Lárus‘ Mutter wirklich passiert ist? Wir registrieren diese Informationen ganz am Rande, konzentrieren unsere Aufmerksamkeit aber weiterhin auf die persönlichen Schicksale und Lárus‘ Weiterentwicklung und natürlich auf die amüsanten Episoden, die uns zum Lachen bringen.

„Zuhause“ beginnt sehr vielversprechend und überzeugt durch seinen Wortwitz, zum Ende hin lässt dies etwas nach, dennoch macht Magnussons Erstlingswerk Lust auf mehr, sodass ich schon jetzt auf eine Fortsetzung hoffe.

Franz, Andreas – Teuflische Versprechen

_Auf der Flucht_

Bei einem Einkaufsausflug kann die junge Maria ihren beiden Bewachern entkommen. Völlig orientierungslos läuft sie durch die Straßen und flüchtet sich in die Praxis einer ihr unbekannten Psychologin. Dort erzählt Maria einen Teil ihrer Lebensgeschichte. Mit 17 wurde ihr in ihrer Heimat Moldawien versprochen, dass sie in Deutschland als Aupairmädchen arbeiten könne. Doch zunächst wird Maria nach Jugoslawien verschleppt, wo sie Deutsch lernen muss und gefügig gemacht wird. Mehrere Männer vergewaltigen sie abwechselnd. Auch in Frankfurt arbeitet sie nicht als Aupairmädchen, sondern als Edelhure in einem geheimen Bordell, in welchem nur berühmte Männer verkehren, die in den höchsten Kreisen sitzen und als Politiker oder auch Anwalt bekannt sind.

Die Psychologin Verena Michel weiß sich keinen Rat und ruft noch spätabends bei ihrer besten Freundin Rita Hendriks an, von der sie sich Hilfe erhofft. Auch Rita ist entsetzt von der Geschichte, die Maria zu erzählen hat. Am nächsten Tag trifft sich Rita mit einem befreundeten Journalisten, der zur Zeit an einem Buch über das organisierte Verbrechen in Deutschland arbeitet. Dietmar Zaubel kennt sich aus in diesen Kreisen und verweist Rita an Hauptkommissarin Julia Durant. Doch leider erreicht Rita Hendriks telefonisch nur Julia Durants Kollegen und kann Julia lediglich eine Nachricht zukommen lassen. Bevor Rita sich mit Durant treffen kann, erhält sie Besuch von einem angeblichen Blumenboten, der sie zu Tode foltert, weil er Marias Aufenthaltsort erfahren möchte.

Am gleichen Tag findet man auch den Journalisten Zaubel ermordet auf. Da Julia Durant von Hendriks und Zaubels Bekanntschaft weiß, ahnt sie sofort eine Verbindung zwischen beiden Morden. Ritas letztes Telefonat führt die Polizei schließlich zu Verena und zu der verängstigten Maria. Julia Durant kümmert sich um Maria und besorgt ihr eine sichere Wohnung. Anschließend stellt sie sich dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität, auch in dem Bewusstsein, dass sie diesen Kampf wohl nur verlieren kann, weil so hochrangige Persönlichkeiten darin verwickelt sind, dass keine Verfahren gegen sie eingeleitet werden können. Dennoch findet sich eine kleine Gruppe zusammen, die das geheime Bordell ausheben möchte. Um den Drahtziehern auf die Schliche zu kommen, macht Polizist Kullmer sich auf die Suche nach dem ominösen Marco Martini, von dem er angeblich 15 junge Frauen aus den Ostblockstaaten kaufen möchte. Das Spiel beginnt …

_Sodom und Gomorrha_

Andreas Franz fasst in seinem aktuellen Julia-Durant-Krimi ein heißes Eisen an, nämlich das organisierte Verbrechen, das sich hauptsächlich in den oberen Schichten der Gesellschaft abspielt und daher meist ungesühnt bleibt, weil immer jene Leute darin verwickelt sind, die alles vertuschen können. In seinem Roman zeichnet Franz ein düsteres Bild, das den Leser erschreckt und sicherlich auch erschrecken soll. Etwas paranoid beginnt man sich beim Lesen zu fragen, ob die Missstände in der heutigen Gesellschaft tatsächlich so groß sind und ob Macht und Ansehen wirklich reichen, um von Gefängnisstrafen verschont zu bleiben.

In der Person der Julia Durant bezieht Franz eindeutig Stellung zu diesem Thema und macht deutlich, dass es immer noch Menschen mit Idealen gibt, die nicht davor zurückschrecken, diesen aussichtslosen Kampf gegen die organisierte Kriminalität aufzunehmen. „Teuflische Versprechen“ zeigt, dass der Kampf zwar aussichtslos erscheint, aber die Mühen dennoch wert ist, auch wenn es vielleicht nur darum geht, ein Zeichen zu setzen. Inhaltlich gefällt „Teuflische Versprechen“ vom Grundkonzept daher sehr gut, an Düsternis und Hoffnungslosigkeit könnte der Krimi durchaus mit einem Mankellschen Roman konkurrieren, nicht jedoch, wenn es um die geschickte Inszenierung eines mitreißenden und ausgefeilten Plots geht. Hier offenbaren sich bei Andreas Franz einige Schwächen und Unstimmigkeiten.

So halte ich es für ziemlich unrealistisch, dass eine alleinstehende Frau sofort eine Wildfremde bei sich aufnimmt und gleich am ersten Abend sofort eine Vertrauensbasis zwischen den beiden Frauen zu spüren ist. Verena und Maria haben keine Scheu voreinander, entkleiden sich in Gegenwart der anderen Frau und bewundern gegenseitig ihre Figur, was ich doch etwas übertrieben finde. Auch dürfte so viel Hilfsbereitschaft, wie Verena Maria entgegenbringt, eher die ganz große Ausnahme sein. Aber hier setzt Franz dem Ganzen noch die Krone auf, als Rita Hendriks sich nämlich zu Tode foltern lässt, um nur nicht Marias Aufenthaltsort preiszugeben. Rita hat Maria nur ein einziges Mal getroffen und kennt sie kaum. Man kann wohl annehmen, kein normaler Mensch würde sich foltern lassen, um einen (fast) Unbekannten zu schützen.

Später inszenieren Julia Durant und ihre Kollegen schließlich eine Undercoveraktion, die mir wie eine ziemlich unüberlegte Hauruck-Aktion vorkommt; innerhalb weniger Tage wird ein Polizist in die Kreise des organisierten Verbrechens eingeschleust und hat sofort einen wasserdichten Lebenslauf parat, der jeglicher Überprüfung durch die Verbrecher standhält. Und obwohl bei dieser Aktion zahlreiche Menschen eingeweiht werden müssen, haben Durant und Co. so viel Glück, dass kein Verräter dabei ist (obwohl doch eigentlich überall die organisierten Kriminellen sitzen). Mir erscheint dies mehr als unwahrscheinlich, insbesondere vor dem Hintergrund der doch so ausweglos erscheinenden Situation. Auch das Buchende wirkt weichgespült, als hätte Andreas Franz den Mut verloren, seinem Kriminalfall ein angemessenes Ende zu verpassen.

Diese Unstimmigkeiten trüben den Gesamteindruck des Buches dann doch ein wenig, zumal gerade der Schluss nicht überzeugen kann.

_Krimihelden wie im Bilderbuch_

Auch die Figurenzeichnung macht einen schlichten Eindruck. Julia Durant erscheint zu perfekt, obwohl sie als alleinstehende und sich manchmal einsam fühlende Krimiheldin doch eigentlich recht realistisch wirken müsste. Aber auch hier relativiert Andreas Franz die negativen Seiten, fast als würde er seinen Lesern etwas anderes nicht zumuten wollen. So kommt Julia Durant mit einem pensionierten Pfarrer als Vater daher, der seine Tochter über alles liebt und der Meinung ist, dass Gott etwas ganz Besonderes mit seiner Tochter vorhat und sie daher aus gutem Grund Kriminalkommissarin geworden ist. Natürlich ist Julia Durant nicht einmal ansatzweise korrupt und umgibt sich auch nur mit vollkommen vertrauenswürdigen Kollegen, die sich ebenfalls ganz selbstlos in den Kampf gegen das organisierte Verbrechen stürzen. Am Ende greift Andreas Franz dann noch tiefer in die triefende Kitschecke und zerstört dadurch eigenhändig das vorher so düster beschriebene Bild.

Neben Julia lernen wir nur wenige Kollegen näher kennen, aber auch hier treffen wir nicht auf normale Alltagshelden, sondern auf Menschen, die selbst in großer Angst nie den Mut verlieren und immer den kühlen Überblick behalten. Die Klischees und Absonderlichkeiten setzen sich auch bei den anderen auftauchenden Personen fort, wie eben bei der völlig selbstlosen Rita Hendriks.

Leider wirken diese eindimensionalen Charaktere kein bisschen authentisch oder realistisch, sodass eine Identifikation nicht möglich wird und man sich auch nicht so recht in die Situationen einfühlen kann. Alles erscheint zu abstrus, als dass wir in die Geschichte eintauchen könnten.

_Pageturner par excellence_

Dem gegenüber muss man Andreas Franz zugute halten, dass er seine Leser dennoch fesseln kann. Besonders während der Einleitung der Undercoveraktion kann man das Buch kaum aus der Hand legen, weil die Ereignisse sich überschlagen und an mehreren Fronten gleichzeitig entscheidende Dinge passieren. Hier werden dann auch zwei Handlungsstränge zusammengeführt, sodass der Leser sich langsam ein klares Bild davon machen kann, was denn nun eigentlich vorgefallen ist und welche Verbrechen aufzudecken sind.

Andreas Franz‘ Schreibweise ist kurz und prägnant und trägt dadurch ebenfalls zum flüssigen Lesevergnügen bei. Der Roman ist kurzweilig und unterhaltsam, auch wenn sich die Unstimmigkeiten später immer mehr häufen.

Insgesamt bleibt ein mittelmäßiger Eindruck zurück. In Ansätzen gefällt „Teuflische Versprechen“ dabei wirklich gut. Anfangs zeichnet Andreas Franz ein düsteres Bild des organisierten Verbrechens und fesselt seine Leser durch die schrecklichen Dinge, die Maria hat erleiden müssen. Eigentlich hätte Franz daraus eine packende Geschichte schreiben können (müssen!), wenn er den Mut bewiesen hätte, nicht jede negative Seite durch positive Ereignisse zu relativieren. Ein weichgespültes Buchende passt so rein gar nicht in das Gesamtkonzept und wirkt ziemlich lieblos. Wäre dies nicht bereits der achte Krimi um Julia Durant und ihre Kollegen, würde ich behaupten, in der Figurenzeichnung wäre noch viel Raum für Weiterentwicklung, so allerdings empfinde ich diese eindimensionalen Charaktere als enttäuschend. Positiv fällt dagegen die flüssige Schreibweise auf, die dazu beiträgt, das Buch zu einem Pageturner zu machen.

La Galite, John – Zacharias

S. 5: |“Eine Schneeflocke hat sich auf den Ärmel meines Anoraks gesetzt, ich habe hochgeschaut. Die Frau ist auf der Höhe vom sechsten Stock. Meine Mutter und ich wohnen im siebten. Die Frau auch. Sie ist unsere Nachbarin. Sie hat sich gerade aus dem Fenster gestürzt. Die Tür der Dachterrasse darüber ist abgeschlossen; kein Mieter hat den Schlüssel. Außer mir. Niemand weiß es. Der Verwalter hat ihn eines Tages im Schloss vergessen.“|

„Zacharias“ wurde von der Kritik mit Lob überhäuft, verkaufte sich in Frankreich 100.000-mal, wurde dadurch zum Bestseller und gewann den renommierten „Grand Prix RTL/Lire“. Wenn man das schmale Buch aber in die Hand nimmt und die ersten Seiten liest, wundert man sich doch ein wenig über die Lobpreisungen. Von einem psychologischen Spannungsroman ist nichts zu spüren und die kurzen aneinandergereihten Hauptsätze stören den Lesefluss erheblich. „Zacharias“ braucht einfach seine Zeit, um sich zu entwickeln … Beginnen wir beim Inhalt:

Zacharias ist zwölf Jahre alt, recht kleingewachsen und an Diabetes erkrankt. Jeden Tag muss er sich daher zwei Insulinspritzen setzen, außerdem versuchen seine Mutter und er, Standardrituale einzuhalten, um der Zuckerkrankheit Einhalt zu gebieten. Einen Vater gibt es nicht, warum, wird uns vorenthalten. Gleich in der ersten Szene beobachtet Zacharias, wie sich die Frau aus der Wohnung nebenan aus ihrem Fenster im siebten Stock in die Tiefe stürzt. Er kann genau beobachten, wie ihr Haar nach oben gezogen wird und die Frau mit den Armen rudert, kurz darauf landet sie auf dem Boden und Zacharias deckt seinen Anorak über den reglosen Körper und wundert sich, dass in der Nachbarschaft Frauen überfallen werden. Ein Mörder hat schon drei Opfer auf seinem Gewissen.

Kurze Zeit später bezieht ein unbekannter Motorradfahrer die nachbarliche Wohnung der toten Frau. Zacharias beobachtet den merkwürdigen Mann, der des Nachts von der gegenüberliegenden Seite aus die Wohnungen in Zacharias‘ Haus ausspioniert. Während bei Zacharias Zweifel und Abneigung entstehen, beginnt seine Mutter, sich auffällig für den Nachbarn zu interessieren. Doch dann hat der Nachbar – Jacob – einen schweren Unfall, bei dem er sich den Hals bricht. Fortan liegt er als Pflegefall in seiner Wohnung. Zacharias‘ Mutter, die als Krankenschwester arbeitet, springt aufgrund ihrer finanziellen Sorgen als Pflegerin für Jacob ein. Da fasst Zacharias einen Plan: Nach einem selbstinszenierten Ohnmachtsanfall in der Schule besucht er seine Mutter beim gemeinsamen Nachbarn. Er hilft bei der Pflege mit und macht sich stückchenweise für seine überarbeitete Mutter unentbehrlich. Es dauert nicht lange, bis seine Mutter ihn mit Jacob alleine lässt, um ihren Schlaf nachzuholen.

Nun kann der Plan in die nächste Phase gehen, Zacharias beginnt kleine Psychospielchen mit dem Nachbarn und verhört ihn. Handelt es sich womöglich bei Jacob um den gesuchten Mörder? Immerhin haben die Morde aufgehört seit seinem Unfall. Durch gezielte Fragen und Beobachtungen kommt Zacharias dem Mörder langsam auf die Spur …

Lange dauert es, bis man sich in diesem Buch warm gelesen hat. Zunächst ahnt man nicht, worauf die Erzählung hinauslaufen wird, außerdem sind die kurzen Sätze und die schlicht gestrickte Sprache sehr ungewohnt. Der verschwenderische Umgang mit kurzen Hauptsätzen stört den Lesefluss erheblich, da man ständig an den nächsten Punkt gerät, nach dem man neu ansetzen muss. Auch sind die Kapitel meist nur zwei oder drei Seiten kurz; so werden künstlich immer wieder Zäsuren eingefügt, die die Erzählung unterbrechen. Sprachlich empfinde ich „Zacharias“ daher als sehr ungewöhnlich, ich würde die Sprache nicht einmal als kindlich bezeichnen, sondern eher als hektisch. Die Geschichte macht den Eindruck, als wäre sie in Konzeptform flüchtig aufs Papier geworfen worden, um hinterher vielleicht einmal entsprechend ausformuliert zu werden. Doch irgendwie passt dies zu der zugrunde liegenden Geschichte, in der ein kleiner Junge sich heimlich auf die Suche nach einem Mörder macht und in dessen Kopf dabei die merkwürdigsten Ideen zu entstehen scheinen.

Wir begleiten Zacharias stets in seinen Gedanken, er präsentiert uns seine Ideen und seinen Plan, wir sind dabei, wie er in der Schule den Ohnmachtsanfall provoziert, wie er seinen Arzt genau beobachtet und wie er sich nachts mit seinem neu erworbenen Fernglas davonstiehlt, um ebenfalls fremde Wohnungen auszuspionieren. Doch obwohl wir eigentlich immer dabei sind, enthält Zacharias uns gewisse Informationen vor, er präsentiert uns gefiltert nur die Dinge, die er uns zeigen möchte. Am Ende erfahren wir, was er uns verschwiegen hat, sodass der Leser hinterher einige Bilder verwerfen muss, die beim Lesen entstanden sind. So führen uns John La Galite und Zacharias geschickt vor, denn die meisten Leser werden von dem uns dargebotenen Ende sicher überrascht sein.

So schlicht wie „Zacharias“ erzählt ist, so tiefsinnig ist das Buch doch auch. Obwohl die Hauptfigur erst zwölf Jahre alt ist und durch seine kleine Statur und die Zuckerkrankheit so verletzbar wirkt, schafft Zacharias es dennoch, durch oscarreife Schauspielleistungen sein Umfeld zu täuschen. In kleinen psychologischen Spielchen zeigt er, dass er nicht nur seine Mutter im Griff hat, sondern dass er auch den schwer verletzten Jacob beeinflussen kann, auch wenn er hier erstmals an seine Grenzen zu stoßen scheint. Vordergründig werden uns die Figuren nur recht oberflächlich beschrieben, doch zwischen den Zeilen kann man so viel mehr herauslesen. Nur durch Zacharias‘ Denken und Handeln können wir uns ein adäquates Bild zurechtlegen, wobei man hier mit viel Einfühlungsvermögen zu Werke gehen muss, da Zacharias nicht nur seine Mutter hereinlegen möchte, sondern auch seine Leser. Dadurch erhält das Buch aber seinen besonderen Reiz, da man somit viel in die Erzählung hineininterpretieren kann, aber am Ende dann doch überrascht wird. So sitzt man im Anschluss an die Lektüre erst einmal da, blättert im Buch zurück, liest einige Passagen noch einmal und muss den Aha-Effekt nachvollziehen. Hier kann der Groschen schon einmal pfennigweise fallen, aber dann trifft uns die Erkenntnis mit voller Wucht. Klasse gemacht!

Wer jedoch mit den Erwartungen an einen (Psycho-)Thriller nach bekanntem Strickmuster an das Buch herangeht, der dürfte enttäuscht werden. Trotz der nur zweihundert Seiten, braucht „Zacharias“ mehr als hundert davon, um ins Rollen zu kommen. Die Geschichte beginnt zwar mit einem Knalleffekt, nämlich dem Fenstersturz der Nachbarin, doch anschließend plätschert die Handlung ein wenig vor sich hin und der Leser ahnt nur ganz allmählich, welchen Plan Zacharias verfolgt. Der kleine Junge ist uns immer mindestens einen Schritt voraus und nur er weiß, was noch passieren wird. Wir tappen im Dunkeln und warten auf den Beginn der Verhöre und auf die ersten Schritte auf der Mörderjagd. Doch müssen wir uns lange Zeit gedulden, denn zunächst erfolgt eine ausführliche Vorstellung von und durch Zacharias. Diese Figur steht immer im Mittelpunkt und die Suche nach dem Mörder geschieht eigentlich nur am Rande. Allerdings erfahren wir am Ende auch, wie beides miteinander zusammenhängt, erst auf der allerletzten Seite fügt sich das letzte Mosaiksteinchen in das Gesamtbild ein und rundet die Erzählung ab.

„Zacharias“ ist ungewöhnlich, unaufdringlich und anders, die Sprache schreckt etwas ab und wirkt ziemlich holperig und unausgegoren, doch ist sie ein bewusst eingesetztes Stilmittel, welches durchaus in das Gesamtkonzept passt. John La Galite präsentiert uns eine innovative Geschichte, die zu allerlei psychologischen Mitteln greift und den Leser zum Miträtseln auffordert. Alles scheint klar und eindeutig, aber das ist es nicht; am Ende wartet eine Überraschung auf uns, die es in sich hat. Man muss sich schon auf die spezielle Erzählweise des Buches einlassen und seine normalen Erwartungen an einen Spannungsroman abschalten, dann überzeugt diese so unauffällig daherkommende Geschichte und begeistert sogar, allerdings erst, nachdem man noch einmal eine Nacht darüber geschlafen und die Eindrücke auf sich wirken gelassen hat.

Anika Krüger – Charlotte & Pauline und die Erpresser

„Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.
Ein Freund bleibt immer Freund – und wenn die ganze Welt zusammenfällt.
Drum sei auch nie betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt.
Ein Freund, ein guter Freund, das ist der größte Schatz, den´s gibt.“

Dem Thema Freundschaft hat sich die Braunschweiger Autorin Anika Krüger angenommen, die mit „Charlotte & Pauline und die Erpresser“ ihr erstes Kinderbuch vorgelegt hat. Das Buch richtet sich an junge Leser ab neun Jahren, die sich auf einen kurzweiligen Kinderkrimi freuen dürfen.

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Nichol, James W. – Ausgesetzt

Als Autor von Theaterstücken hat James W. Nichol sich in Kanada einen Namen gemacht, und schon für seinen ersten Roman „Ausgesetzt“ wurde er zum „Crime Writer of Canada“ im Jahre 2004 ernannt. Bei „Ausgesetzt“ handelt es sich um einen Psychothriller, allerdings nicht im herkömmlichen Sinne …

_Auf den Spuren der Vergangenheit_

Walker Devereaux wurde im Alter von drei Jahren am Straßenrand ausgesetzt. Nur schemenhaft kann er sich noch an seine Mutter und ihre letzten Worte erinnern, mit 19 nun möchte er endlich seine wahren Eltern finden. Aufgewachsen ist Walker im Heim und bei verschiedenen Pflegeeltern, und obwohl er in seiner jetzigen Familie glücklich ist, wird der Wunsch nach dem Wissen über seine eigene Kindheit immer größer. So hebt er schließlich sein gesamtes Erspartes vom Konto ab und macht sich alleine auf den Weg nach Toronto, um dort ausgerüstet mit nur zwei Erinnerungsstücken an seine Mutter die Suche nach der Wahrheit beginnen zu lassen. Doch Walkers Anhaltspunkte sind spärlich, er besitzt nur ein Foto von zwei jungen Mädchen und einen Brief, dessen Inhalt kaum Informationen über Walkers Mutter preiszugeben scheint.

In Toronto angekommen, macht Walker sich zunächst auf Wohnungssuche. Doch schnell braucht er auch einen Job und landet schließlich bei einer Taxifirma, für die er des Nachts fahren soll – auch ohne Taxischein. Dabei lernt er die behinderte Krista kennen und entwickelt ganz allmählich Gefühle für sie. Krista ist ihm bei seinen Nachforschungen eine große Stütze; selbst als ein Unbekannter Kristas Auto in Brand gesteckt und Walkers Beweisstücke gestohlen hat, hält sie fest zu ihrem neuen Freund. Doch die Gefahr wird immer größer. Bei seiner Suche stößt Walker auf Geheimnisse, die seine eigene Familie gerne weiterhin in Vergessenheit wüsste.

Parallel lernen wir einen Jungen namens Bobby kennen, der von seinen Eltern auf eine Militärschule geschickt wird und dort entdecken muss, dass ihn andere Jungen sehr reizen. Doch diese Neigungen führen zu Gewaltausbrüchen, sodass er einen Mitschüler schwer verletzt und der Schule verwiesen wird. Zu Hause bei seinen Eltern dauert es schließlich nicht lange, bis Bobby einen Nachbarsjungen brutal ermordet …

_Parallele Welten_

In zwei Handlungssträngen erzählt uns James W. Nichol die Geschichte von Walker und Bobby, ohne dem Leser zu früh zu verraten, wie beide Lebensläufe miteinander zusammenhängen. Zunächst widmet Nichol sich dabei der Vorstellung Walkers und der beginnenden Suche nach seiner eigenen Herkunft. Er präsentiert uns neben Walker auch eine weitere Hauptfigur dieses Romans, nämlich Krista, die den nächtlichen Taxifunk betreut. Erst später erzählt eine Rückblende aus Bobbys Leben und seiner Schulzeit. Jedoch dauert es einige Zeit, bis der Leser erfährt, welch abartige Neigungen
Bobby entwickelt.

Beim Lesen und Zurechtfinden in diesem Buch ist erhöhte Aufmerksamkeit gefordet, da Bobbys Geschichte nicht durchweg chronologisch erzählt wird, sondern häufiger in den Zeiten hin und her springt. Dabei begegnen uns zahlreiche Figuren, deren Namen man sich meist gut einprägen sollte, um der weiteren Erzählung folgen zu können. Als reiner Unterhaltungsroman ist „Ausgesetzt“ daher eher weniger geeignet.

Dennoch versteht es James W. Nichol, seine Leser bei Laune zu halten und an das Buch zu fesseln. Nur häppchenweise erzählt er uns Bobbys Geschichte, sodass wir lange brauchen, um die Verbindungen zwischen Bobby und Walker zu erahnen. Auch streut Nichol zwischendurch einige Überraschungsmomente ein und schafft es, seine Leser erfolgreich an der Nase herumzuführen. Stets an den entscheidenden Stellen wechselt Nichol die Perspektive und widmet sich dem jeweils anderen Handlungsstrang, sodass man immer verleitet ist weiterzublättern, um die Geheimnisse um Walker Devereaux aufzudecken.

Die Spannungsmomente in diesem Buch sind dabei allerdings rar gesäht, auch blutige Szenen, wie sie in Thrillern sonst häufig zu finden sind, bleiben abzählbar. Nur die geschickte Weiterentwicklung zweier Biografien ist es folglich, die zum Weiterlesen und vor allem zum Mitraten animiert. Dabei schafft es der Autor überzeugend, seine Figuren vorzustellen, und verleiht ihnen im Verlauf des Romans immer mehr Kontur. Speziell Krista, die durch ihre verkrüppelte Hüfte viele Einschränkungen im alltäglichen Leben hinnehmen muss, erscheint uns als starke Persönlichkeit, die nicht so schnell den Kopf in den Sand steckt. Trotz ihrer Sorgen um Walker steht sie ihm stets tatkräftig zur Seite und begleitet ihn auf seinem Weg in die Vergangenheit. Selbst die aufkeimende Liebe zwischen Walker und Krista fügt sich stimmig in das Gesamtkonzept des Buches ein. Die Struktur der Erzählung gefällt insgesamt sehr gut und wirkt gut durchdacht, auch wenn die zahlreichen Zeitsprünge manchmal verwirrend sind und dafür sorgen, dass man zwischendurch einige Male zurückblättern muss, um Passagen ein zweites Mal zu lesen.

_Ein etwas anderer Thriller_

Auf dem Klappentext wird „Ausgesetzt“ als Psychothriller bezeichnet, doch handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Thriller voller blutiger Szenen, in dem in einer rasanten Hetzjagd ein Psychopath verfolgt wird. In „Ausgesetzt“ kennt der Leser den Mörder lange Zeit nicht und weiß nicht, welche Gefahr Walker droht, wer das Auto in Brand gesteckt und die Briefe gestohlen hat. Spannung wird hier nur sehr subtil erzeugt und entsteht dadurch, dass der Leser die düsteren Geheimnisse um Walkers Familie noch nicht erahnen kann.

Zugute halten muss man Nichol, dass er stets bemüht ist, seinen Leser die handelnden Charaktere und die Szenerie bildlich vor Augen zu führen. Der Autor beschreibt dabei sämtliche Situationen so detailreich, dass man sich darin wiederfindet, und auch die Figuren wirken authentisch.

Am Ende erwartet den Leser ein temporeiches Finale, das leider nicht durchweg überzeugen kann. Wenn sich alle eingestreuten Informationen zu einem Gesamtbild zusammenfügen, wirken einige Details konstruiert und mindern den Gesamteindruck des Buches ein wenig. Zudem lässt die Glaubwürdigkeit der Geschichte stark nach, die glücklichen Zufälle häufen sich am Schluss zu sehr.

_Lesenswert mit kleinen Einschränkungen_

James W. Nichols Debütwerk zeichnet sich durch eine geschickt erzählte Geschichte in zwei Handlungssträngen aus, die dem Leser wichtige Informationen nur häppchenweise präsentiert, sodass man stets zum Weiterlesen aufgefordert wird. Die Charaktere sind glaubwürdig gezeichnet, auch wenn sie größtenteils nicht allzu eingehend beleuchtet werden; mehr Wert legt Nichol auf die Beschreibung der Situationen. Der Plot wirkt ausgeklügelt, erfordert allerdings durch die zahlreichen Zeitsprünge viel Aufmerksamkeit, sodass „Ausgesetzt“ eher nicht zur reinen Unterhaltung gelesen werden sollte. Trotz fehlender psychologischer Tiefe und kleiner Abstriche in Bezug auf das Buchende gefällt „Ausgesetzt“ insgesamt sehr gut.

Holt, Anne – Wahrheit dahinter, Die

_Auf den Hund gekommen_

Kurz vor Weihnachten erreicht Hanne Wilhelmsen die Schreckensnachricht, dass vier Leichen gefunden worden sind, die von Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen durchlöchert wurden. Ihr Urlaub muss folglich erst einmal verschoben werden und auch an ruhige Feiertage ist selbstverständlich nicht zu denken. Drei der Opfer zählen zur reichen Familie Stahlberg, doch das vierte Opfer gibt der Polizei Rätsel auf; zunächst ist seine Identität unklar, doch auch als Knut Sidensvans als viertes Mordopfer identifiziert ist, fehlt sämtlicher Zusammenhang zur Familie Stahlberg. Erschwerend für die Ermittlungen kommt hinzu, dass ein Hund zuerst am Tatort gewesen ist und sich dort an den Leichen gütlich getan hat. Viele Spuren sind dadurch verwischt worden.

Dennoch zeichnet sich schnell ab, dass Familie Stahlberg einiges zu verbergen hat. Das Familienoberhaupt Hermann Stahlberg und seine Ehefrau Tutta sind ermordet worden, sowie der älteste Sohn Preben. Zurück bleiben die Kinder Carl-Christian und Hermine, die beide mehr zu wissen scheinen, als sie zugeben wollen. Zudem besitzt Carl-Christian einen Waffenschein und hatte sich offensichtlich mit seinem Vater überworfen. Hermine dagegen hat zwar ein Drogenproblem, scheint aber dennoch von ihren Eltern bevorzugt worden zu sein. Billy T. findet über zweideutige Kontakte im Osloer Untergrund heraus, dass Hermine illegal Waffen gekauft und sich in den letzten Wochen seltsam benommen hat. Auch die Alibis der beiden Stahlbergkinder sind mehr als dünn, sodass der Schluss nahe liegt, dass eine Familientragödie aufzuklären ist.

Doch Hanne Wilhelmsen will sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und bemüht sich, mehr über das vierte Opfer herauszufinden, das ihrer Meinung nach nicht nur zufällig in das Familiendrama geschlittert ist, sondern eine wichtige Rolle spielen könnte. Dennoch macht sich Hanne mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden keine Freunde. Am Ende steht aber allen Beteiligten eine große Überraschung bevor …

_Interessant und überraschend, aber konstruiert_

In einer Art Prolog begleiten wir einen herumstreunenden Hund bei seinem blutigen Leichenfund, der für das ausgehungerte Tier ein wahres Festmahl darstellt. Gleich darauf beginnen auch schon die Ermittlungen, als Billy T. spätabends seine Kollegin Hanne Wilhelmsen zum Tatort beruft, obwohl diese kurz vor ihrem wohlverdienten Weihnachtsurlaub steht. Der begangene Mord ist grausam, doch verdichten sich die Hinweise schnell zu einem konkreten Tatverdacht, denn es ist offensichtlich, dass Carl-Christian und auch Hermine Stahlberg einiges zu verbergen haben. Beide lügen und können kein entlastendes Alibi vorweisen.

Wie nach einem Rettungsanker greifen die Polizisten dankbar diese Verdachtsmomente auf, um ihre Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen zu können. Der Mord hat viel Aufsehen erregt, außerdem sind die Beamten urlaubsreif und übermüdet, sodass man es ihnen fast nachsehen kann, dass sie viele Hinweise nicht hinterfragen, sondern sich nur noch in eine Richtung fortbewegen.

Dem gegenüber steht allein Hanne Wilhelmsen, die zwar auch nicht so recht an die Unschuld der Stahlbergkinder glauben kann, da diese sich immer mehr in Lügen verstricken, doch Hanne möchte sicher sein und die Verbindung Knut Sidensvans zur einflussreichen Familie Stahlberg herausfinden. Dennoch entwickelt der Kriminalfall sich relativ einseitig weiter, es wird kaum in andere Richtungen ermittelt und für den Leser zeichnet sich auch kein anderer Tatverdächtiger ab. Erst mit Kenntnis der Auflösung bemerkt der Leser, dass Anne Holt ganz unbemerkt zwischendurch Hinweise eingeflochten hat, die sehr wohl einen weiteren Verdächtigen bemerkbar machen. Diese Andeutungen sind allerdings so geschickt eingestreut, dass ich sie überlesen hatte und am Ende von der Autorin überrascht wurde. Um sich das ganze Lesevergnügen zu erhalten, empfehle ich, die Inhaltsangabe auf Seite 2 nicht zu lesen, da hier ein wenig vorgegriffen wird.

Trotz alledem war ich mit der Auflösung am Ende nicht vollauf zufrieden; es war klar, dass Anne Holt noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde und am Ende nichts so ist, wie es scheint, allerdings kam mir das Buchende künstlich konstruiert vor. Obwohl zwischendurch kleine Hinweise eingeflochten waren, fiel der wahre Schuldige vom Himmel und auch die Hintergründe des Mordes und der Tatablauf scheinen nicht sonderlich realistisch, zu viele Zufälle kommen hier zusammen. Hier schießt Anne Holt in ihrem Wunsch, ihre Leser zu überraschen, meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus.

_Personalien_

„Die Wahrheit dahinter“ ist ein weiterer Krimi aus der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, der mit einem kleinen zeitlichen Bruch nach „Das letzte Mahl“ die Serie fortsetzt. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dringend dazu raten, die Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen, um der personellen Weiterentwicklung folgen zu können. Anne Holt verwendet viel Zeit darauf, um ihre handelnden Figuren näher vorzustellen; so erfahren wir in diesem Buch, dass Hanne Wilhelmsen nach dem Tod ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Cecilie eine wohlhabende Frau namens Nefis geheiratet hat. Die beiden leben zusammen mit ihrer skurrilen Haushälterin Marry in einer schönen Wohnung und auch Nefis äußert mehr als deutlich den Wunsch nach einem Kind. So sind auch in dieser Beziehung die Streitereien vorprogrammiert, denn in dieser Hinsicht ist Hanne Wilhelmsen uneinsichtig wie eh und je. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, konnte sie ihre traurige Kindheit noch nicht überwinden und mag auch nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen.

Eine weitere wichtige Figur ist Billy T., der mit der Frau seines fünften Kindes zusammenlebt, aber permanent unter Geldmangel leidet, weil er vier Exfreundinnen Alimente für die gemeinsamen Kinder zahlen muss. Auch seine Verbindung zu dubiosen Osloer Kreisen sind noch nicht eingeschlafen; so liefert Billy T. entscheidende Hinweise zur Auflösung des Mordfalles. Während Billy T. in den vorigen Romanen Hannes einziger Vertrauter war und er allein wusste, dass seine Kollegin lesbisch ist, distanziert sich Hanne in diesem Buch mehr denn je von Billy T.

Doch auch die Stahlbergkinder bekommen viel Raum in der Erzählung. Anne Holt stellt ausführlich Hermine und ihre Drogenprobleme vor, aber auch Carl-Christian und seine Ehefrau Mabelle finden Erwähnung. Die Autorin versucht hier bemüht, alle Charaktere nahezu gleichwertig zu behandeln; wir begleiten fast alle Personen in ihr Privatleben und lesen über ihre Gedanken und Handlungen. Allerdings franst die Erzählung dadurch so sehr aus, dass man den Gedankengängen der Autorin kaum folgen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Anne Holt sich auf drei oder vier Figuren konzentriert hätte, nicht jeder Charakter kann gleichwertig vorgestellt werden, ohne die Leser zu verwirren. Durch die vielen Charakterisierungen gerät leider die Erzählung ins Stocken, da es inhaltlich nur wenig vorangeht. Schade – eine gute Figurenzeichnung trägt zwar zum Lesegenuss bei, kann aber die Freude auch trüben, wenn sie übertrieben wird.

_Am Ende siegt die Wahrheit_

Anne Holt hebt sich alleine schon durch ihre lesbische Krimiheldin deutlich von ihren Krimikollegen ab, verwendet aber so viel Zeit und Mühe, um ihre Figuren zu präsentieren, dass dringend dazu geraten ist, Holts Romane in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Sonst ist es äußerst schwierig, die vergangenen personellen Entwicklungen nachzuvollziehen. Der vorliegende Kriminalfall erscheint uns äußerst brisant; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Stahlberg sind brutal ermordet worden und stören damit die idyllischen Vorbereitungen zum verschneiten Weihnachtsfest in Oslo. Dadurch entsteht ein interessanter Gegensatz. Durch die ausschweifenden Personenbeschreibungen verliert man sich aber schnell in den unterschiedlichen Handlungssträngen und blättert ein wenig verwirrt weiter; ein roter Faden wäre hier an einigen Stellen wünschenswert gewesen. Die Auflösung erschien mir ein wenig zu unwahrscheinlich und konstruiert, sodass ein fader Nachgeschmack zurückbleibt. Dennoch versteht es Anne Holt, ihre Leser zu unterhalten und wie immer am Ende auch zu überraschen. Es sind daher nur kleine Abzüge zu vermerken, die die Lektüre dieses Buches ein wenig verkomplizieren und das Lesevergnügen trüben.

Smith, Jonathan – Fenster zur Nacht

In den Jahren 1987 bis 1994 wurde der Autor Jonathan Smith selbst Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls, das vorliegende Buch ist aus dieser Erfahrung heraus entstanden, doch kann der Leser nur mutmaßen, wie weit die autobiografischen Bezüge reichen …

_Ich bin du und du bist niemand_

Patrick Balfour steht in der Mitte seines Lebens und kann auf weitreichende Erfolge zurückblicken: Er ist nicht nur Direktor einer Schule mit ausgezeichnetem Ruf, sondern auch Autor von historischen Bestsellern. Einzig sein Familienleben droht auseinander zu brechen, denn nach der Affäre mit seiner Lektorin Liz existiert Patricks Ehe eigentlich nur noch auf dem Papier. Seine Ehefrau Caroline und er haben sich praktisch nichts mehr zu sagen, außerdem verbringt Patrick mehr Zeit in seiner Wohnung in der Schule als in seinem Haus bei Caroline. Doch eines Tages bricht Patrick Balfours nahezu heile Welt in sich zusammen. Er wird beschuldigt, an einer Tankstelle Benzin gestohlen und in seiner Wohnung pädophile Fotos aufgenommen zu haben. Seine Alibis sind recht dünn, sodass Patrick Balfour sich unverhofft in Untersuchungshaft wiederfindet.

Auf Kaution darf Patrick das Gefängnis schließlich wieder verlassen, doch scheint die Polizei weiterhin von seiner Schuld überzeugt zu sein. Auch die Fotos von „ihm“ an der Tankstelle sprechen gegen ihn, bei dem aufgezeichneten Benzindieb kann es sich nur um einen guten Doppelgänger handeln, doch wie sind die Fotos von dem kleinen Jungen in Patricks Wohnung entstanden? Für Patrick Balfour beginnt das Rätselraten; kann es ein neidischer Kollege sein, der ihm an den Kragen möchte? Wie denkt jemand, der ihm diese Verbrechen anhängen möchte? Und wem kann er nun noch trauen? Soll er mit seiner Frau sprechen oder doch eher mit der ehemaligen Geliebten?

Als verdächtige Botschaften von seinem Widersacher in Patricks Postfach in der Schule auftauchen, scheint der Kreis der Verdächtigen sich weiter einzugrenzen. Doch handelt es sich tatsächlich um ein Ränkespiel innerhalb des Lehrerkollegiums? Zu diesen Sorgen gesellen sich schließlich noch Probleme mit Patricks Tochter Alice, die mehr Zeit in ihr Theaterspiel investiert als in die Schule und die ihren Eltern gegenüber immer abweisender reagiert. Was ist bloß los an Patricks Schule?

_Zerbrechende Idylle_

Zu Beginn des Buches begegnet uns Patrick Balfour, der uns als erfolgreicher Schuldirektor und Bestsellerautor vorgestellt wird, doch dauert es nicht lange, bis er mit der Polizei und ihren Anschuldigungen konfrontiert wird. Völlig unverhofft sieht Patrick Balfour sich Inspector Bevan gegenüber, der Beweisfotos besitzt, die den bekannten Schuldirektor schwer belasten können. Doch wie kann dies sein? Balfour weiß weder von dem Benzindiebstahl noch von den pornografischen Fotos. Nachdem er wieder auf freiem Fuß ist, beginnt für Balfour das Nachdenken. Langsam ahnt der Leser, dass Patrick Balfour mehr Feinde hat, als auf den ersten Blick offensichtlich war. Schnell fallen ihm aus dem Lehrerkollegium einige Namen ein, die durchaus für einen solchen Persönlichkeitsdiebstahl in Frage kämen. Balfour durchdenkt nicht nur gewissenhaft mögliche Tatmotive, sondern versucht sogar, wie sein Feind zu denken. Bei diesen Gedankenexperimenten bemerkt Balfour schnell, wie der Täter vorgegangen sein kann, doch kristallisiert sich immer noch niemand heraus, der für die Botschaften, den Diebstahl und die Fotos verantwortlich gemacht werden kann.

Jonathan Smith inszeniert ein interessantes Psychospiel, indem er Patrick Balfours Gedanken, seiner Ungewissheit und seinen Zweifeln viel Raum gibt. Patrick versucht sogar, sich in den Täter hineinzuversetzen und erschreckenderweise gelingt ihm diese Identifikation äußerst gut. In seinen Gedanken kommt er so seinem Widersacher sehr nah, nur einige wenige Wissenslücken bleiben, die Balfour sich nicht erklären kann. Der Leser ist zu jedem Zeitpunkt mitten im Geschehen und hat Anteil an jedem Gedanken, den Patrick Balfour fasst; hier merkt man der Erzählung an, dass der Autor weiß, wovon er schreibt und dass er diese Gedanken selbst schon gehabt haben muss. In das Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls kann man sich wohl nur schwer hineinversetzen; viele Ideen, die Patrick Balfour kamen, erschienen mir etwas absurd, doch aus Jonathan Smiths eigener Erfahrung heraus wirken sie dennoch realistisch.

Leider hält sich Smith an etlichen Stellen mit zu ausschweifenden Erzählungen auf, springt ohne Überleitung in Patricks Vergangenheit und berichtet ausführlich von seiner Affäre zu Liz oder auch von seinem und Carolines Kennenlernen. Diese Exkurse stellen zwar den Hauptprotagonisten besser vor und helfen uns dabei, uns ein gutes Bild von ihm zu machen, dennoch bremsen sie den Spannungsaufbau arg aus, der gerade zu Anfang zunächst gelungen schien. Über weite Strecken passiert nicht mehr, als dass Patrick Balfour immer neue Nachrichten in sein Postfach gelegt bekommt und über mögliche Täter nachdenkt.

Dem Buch fehlt eine wirklich packende und spannungsgeladene Rahmengeschichte, die dem Roman seine Brisanz verliehen hätte. Zu schnell erhält Patrick Balfour den Rückhalt seiner Familie und auch Inspector Bevan schlägt sich bald auf seine Seite, sodass die drohende Gefahr zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird. Balfour wird dadurch früh zu einem bemitleidenswerten Opfer, um das man nicht wirklich fürchten muss. Von Psychothriller war in diesem Buch daher bedauerlicherweise nur wenig zu spüren. Der Autor verspielt leider viel Potenzial, denn aus diesem Thema hätte gerade Jonathan Smith aus seiner eigenen Erfahrung heraus einen gut durchdachten und spannenden Thriller schreiben müssen.

Jonathan Smith ist die Gratwanderung zwischen interessanten psychologischen Gedankenspielen und stetig wachsender Gefahr leider nicht gelungen, zu sehr legt er seinen Schwerpunkt auf die Suche nach dem Täter und vergisst dabei völlig, den Spannungsbogen steigen zu lassen und zwischendurch Situationen einzustreuen, die die Handlung bedrohlicher gestaltet hätten. Besonders der Mittelteil des Buches zieht sich dadurch lang hin. Am Ende schafft Smith es zwar, mit einer kleinen Überraschung aufzuwarten, allerdings verpufft auch bei der Auflösung viel Spannung.

Insgesamt ist das „Fenster zur Nacht“ zügig durchgelesen und weiß stellenweise auch zu unterhalten, doch erhält es nicht die Faszination, die ich mir von einem Autor erwartet hätte, der selbst über Jahre hinweg Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls geworden ist und daher viele eigene Erfahrungen in die Geschichte hätte einfließen lassen können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Jonathan Smith absichtlich nicht allzu viel von sich preisgeben wollte, denn die beschriebene Situation muss in Wirklichkeit viel bedrohlicher (gewesen) sein, als sie sich dem Leser darstellt. Durch die weitschweifenden Gedankenmonologe Patrick Balfours schleppt sich die Geschichte träge dahin, ohne wirklich Spannung aufzubauen; leider führt dies auch dazu, dass man dem Hauptcharakter recht gleichgültig gegenüber steht. So bleibt am Ende doch eher ein mittelmäßiger Eindruck, weiterempfehlen würde ich dieses Buch daher nicht.

Lothar Seiwert – Die Bären-Strategie: In der Ruhe liegt die Kraft

In der heutigen Arbeitswelt zählt jede Minute und auch in der Freizeit setzt sich der Stress fort. So haben die meisten Menschen das Gefühl, mit ihrer Zeit nicht auszukommen und wünschen sich am besten jeden Tag 25 Stunden. Dabei ist Zeitmanagement eigentlich gar nicht so schwer, die Bären machen es uns vor. Denn in der Ruhe liegt die Kraft und genau diese Arbeitspausen sind es, die unsere Arbeit effektiver gestalten. Nun müssen wir nur noch etwas mehr Bär in unseren Alltag bekommen …

Gestatten, mein Name ist Bär

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Henning Mankell – Tea-Bag

Erfolgloser Poet bietet Schreibtechnikseminar

Jesper Humlin veröffentlicht genau ein Buch pro Jahr und zwar eine Gedichtsammlung, die sich im Schnitt etwa tausendmal verkauft, doch seinem Verleger ist das nicht mehr genug, er möchte Jesper davon überzeugen, endlich einen Kriminalroman zu schreiben. Dabei ist Jesper doch erfolgreich auf seinem Gebiet, seine Gedichte sind anerkannt und gerade erst ist er von einer monatelangen Südseereise zurückgekommen, die er sich nur durch ein Stipendium finanzieren konnte. Sein wichtigstes Anliegen ist ihm nun eigentlich seine Sommerbräune, die er so lange wie möglich aufrecht erhalten möchte, doch neben seinem unzufriedenen Verleger stellt auch seine Freundin Andrea immer mehr Ansprüche. Sie möchte endlich ein Kind mit ihm und droht mit der Trennung und der Veröffentlichung ihres Privatlebens in Romanform. Es ist nicht so sehr die Angst vor der Trennung, die ihm schwer im Magen liegt, sondern die Möglichkeit, dass Andreas Buch sich besser verkaufen könnte als seine Gedichtsammlung.

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Jungstedt, Mari – Den du nicht siehst

_Sommer in Gotland_

Helena Hillerström und ihr Lebensgefährte Per Bergdal machen Kurzurlaub in ihrem Ferienhaus auf Gotland und feiern mit Freunden eine kleine Party, zu der auch Helenas guter Freund Kristian Nordström eingeladen ist. Als sie ausgelassen mit Kristian zu tanzen beginnt, entreißt Per seine Freundin aus Kristians Armen und zerrt sie auf die Veranda. Dort schlägt er sie und beendet damit die zunächst so heitere Party. Als Helena am nächsten Morgen vor Per erwacht, geht sie mit ihrem Labradorhund Spencer am Strand spazieren. Im Nebel sieht sie nicht, wie sich ihr Mörder langsam nähert … Kurz darauf findet ein Spaziergänger ihre Leiche im Wald.

Nun beginnen für Anders Knutas und seine Kollegen von der Gotländer Polizei die Ermittlungsarbeiten. Zunächst wird Per Bergdal als Tatverdächtiger festgenommen, auch wenn Knutas an dessen Unschuld glaubt. Doch als die zweite Frauenleiche entdeckt wird, während Bergdal in Untersuchungshaft sitzt, muss von einem Serientäter ausgegangen werden, der sich noch in Freiheit aufhält.

Der Journalist Johann Berg ist zusammen mit seinem Kameramann Peter Bylund nach Gotland gereist, um vor Ort über die Morde zu berichten. Dabei lernt er Emma Winarve kennen, eine gute Freundin Helenas, die noch unter dem Verlust ihrer Freundin leidet. Während Johann sich Hals über Kopf in Emma verliebt, beginnt es in deren Ehe zu kriseln.

Als die dritte Frau brutal ermordet wird, gerät Knutas immer mehr unter Druck, die Touristensaison auf der malerischen Ferieninsel steht bevor, doch wächst die Angst unter der Bevölkerung, sodass die Urlauber auszubleiben drohen …

_Eine Schnitzeljagd_

Mit „Den du nicht siehst“ hat Mari Jungstedt einen spannenden und temporeichen Debütroman vorgelegt, der auf vielversprechende Fortsetzungen hoffen lässt. Ähnlich wie ihr schwedischer Kriminalautorkollege Henning Mankell verschwendet auch Jungstedt anfangs keine Zeit, kurz stellt sie das erste Opfer vor, um dann auch sogleich den Mörder zuschlagen zu lassen. So gibt es im gesamten Buch keine einzige Durststrecke, stetig baut Jungstedt mehr Spannung auf, indem sie ihren Lesern nach und nach immer mehr Details über den Mörder präsentiert, die zum Miträtseln animieren und dem Leser tatsächlich schon früh die nötigen Informationen zuspielen, um den Mörder etwa auf der Hälfte des Buches zu entlarven. An dieser Stelle merkt man dann auch, dass die Autorin ihre Schnitzeljagd noch nicht so ausgefeilt inszeniert wie erfahrene Kriminalautoren, die ihre Leser gekonnt an der Nase herumführen können.

In diesem Roman sind es also nicht die ganz subtilen Hinweise, die den Täter erahnen lassen, sondern konkrete Informationen, die schnell in die richtige Richtung weisen. Auch streut Jungstedt zwischendurch kursiv gedruckte Abschnitte ein, die uns in die Gedanken des Serienmörders hineinversetzen und seine Motive und Teile seiner Vergangenheit erkennen lassen. Während Anders Knutas und seine Kollegen also lange im Unklaren gelassen werden über die Verbindungen zwischen den Opfern, ahnt der Leser bereits den Zusammenhang und ist dem Ermittlungsstand der Polizei dadurch meist weit voraus. Knutas tappt lange Zeit im Dunkeln, da die Polizei nur wenige Spuren finden kann und dem Tatmotiv und Mörder kaum auf die Schliche kommt. An mancher Stelle hätte ich mir diese Schnitzeljagd etwas raffinierter gewünscht, denn den ermittelnden Beamten werden zu wenige Beweisstücke geliefert, um wirklich intensiv nach dem Mörder fahnden zu können.

Den Spannungsbogen lässt die Autorin geschickt ansteigen, denn nach dem ersten Mord werden zunächst einige interessant erscheinende Personen vorgestellt und ein paar falsche Fährten ausgelegt, bevor es dann auch bald zum zweiten Mord kommt. Mari Jungstedt verschwendet wirklich keine Zeit, schreibt nur kurze Kapitel und lässt genau im richtigen Moment den nächsten Mord geschehen, um ihre Leser so sehr an das Buch zu fesseln, dass einem beim Lesen die Finger kribbeln und das Herz zu rasen beginnt. Die Autorin lässt eine dermaßen spannungsgeladene und düstere Stimmung aufkommen, dass man gebannt ist von der Erzählung und das drohende Unglück spüren kann.

_Aufkeimende Liebe_

Umrahmt wird die spannende Kriminalgeschichte von dem Kennenlernen zwischen Emma Winarve und Johann Berg, die sich im Laufe der Ermittlungen und von Johanns Nachforschungen für seine Fernsehberichte begegnen und sogleich ihre gegenseitige Anziehung spüren. Doch Emma ist verheiratet und Mutter von zwei kleinen Kindern, sodass ihr schlechtes Gewissen sie zunächst von Johann fernhält und an ihrer Ehe festhalten lässt. Aber gerade die schrecklichen Ereignisse sind es, bei denen ihr fürsorglicher Ehemann Olle ihr nicht genügend Rückhalt geben kann, sodass Emma sich in Johanns Arme flüchtet. Mari Jungstedt nimmt sich viel Zeit, um diese beiden Personen, ihre Gedanken und Gefühle vorzustellen.

Auf der einen Seite haben wir den ehrgeizigen Journalisten Johann Berg, der sich seinen geheimen Informanten zunutze macht, um als Erster brisante Details veröffentlichen zu können, die die Polizei aus ermittlungstechnischen Gründen gerne zurückhalten würde. Johann handelt hier teilweise sehr rücksichtslos und ist nur auf seine eigene Karriere bedacht, die er egoistisch vorantreiben will. Erst als er Emma kennen lernt und sich in sie verliebt, zeigt er seine menschlichen Charakterzüge. Auf der anderen Seite haben wir die einst so glückliche Emma Winarve, der nach dem Mord an ihrer besten Freundin zum ersten Mal bewusst zu werden scheint, dass ihre Ehe ihre besten Tage offensichtlich schon gesehen hat. Erst die tragischen Ereignisse und die Begegnung mit Johann rütteln sie auf und lassen sie nachdenklich werden; Jungstedt beschreibt gekonnt Emmas zwiespältige Gefühle und lässt bis zum Schluss offen, für welchen Mann Emma sich entscheiden wird.

Gegen Johanns und Emmas detailreiche Vorstellungen rückt Anders Knutas fast schon in den Hintergrund, obwohl er die Ermittlungen leitet und somit eine zentrale Stellung einnimmt. Doch auch Knutas erhält seinen Raum in dieser Erzählung, er wird uns sehr realistisch präsentiert, mit einem ausgefüllten Privatleben, einer verständnisvollen Ehefrau und mit aufkeimenden Zweifeln und einer Verzweiflung angesichts der schrecklichen Geschehnisse auf der idyllischen Ferieninsel. Knutas ist ein Hauptkommissar, der trotz seiner Arbeit immer Mensch geblieben ist. In seiner Darstellung gefällt Knutas gut, sodass ich gern mehr über ihn lesen möchte.

In ihren Ausführungen offenbart Mari Jungstedt ein Talent für Personenbeschreibungen und die realistische Wiedergabe menschlicher Gefühle. Besonders eindrucksvoll gelingen ihr die Schilderungen von Emmas Trauer, die sich in vielen Passagen wiederfindet, beispielsweise in dieser: |“Im Moment musste sie alle Kraft aufwenden, um durchzuhalten. Um nicht zusammenzubrechen. Sie musste sich um die Kinder kümmern. Um Sara und Filip. […] Aber wie sollte Emma das alles schaffen? Natürlich würde der Schock irgendwann abklingen. Würde die Trauer weniger greifbar sein, aber sie vermisste Helena so sehr, dass es wehtat. Und damit würde sie nicht so schnell fertig werden. Und wie sollte sie verarbeiten, was hier passiert war? Dass ihre allerbeste Freundin auf eine Weise ermordet worden war, die sonst nur in Filmen vorkam?“| In diesen Momenten kann der Leser Emmas Trauer und Verzweiflung praktisch selbst mitfühlen, man möchte Emma in den Arm nehmen und trösten, so sehr lässt Jungstedt uns trotz der an sich so schnörkellosen Sprache Anteil haben an den Gefühlen ihrer Protagonisten.

_Ein beachtliches Debüt_

„Den du nicht siehst“ ist ein temporeicher Kriminalroman, der seine Leser gekonnt fesseln kann, sodass man nicht umhin kommt, das Buch so schnell wie nur irgend möglich durchzulesen. Mit fast zittrigen Händen hält man den Roman, während es einem kalt den Rücken herunterläuft, weil man das drohende Unglück fast schon körperlich spürt. Mari Jungstedt weiß ihre Leser mitzureißen und zu unterhalten, sie baut eine bedrohliche Atmosphäre auf und entwickelt glaubwürdige Charaktere, mit denen man fühlt und über die man mehr lesen möchte. Die Schnitzeljagd ist nicht ganz so ausgefeilt, wie man sich das gewünscht hätte; leider schafft Jungstedt es nicht, den passionierten Krimileser an der Nase herumzuführen, denn mit seinem ersten Tipp kann man den Mörder korrekt entlarven. Dennoch bleibt „Den du nicht siehst“ ein beachtlicher Erstlingsroman, der auf mehr hoffen lässt.

Padgett, Abigail – Kalt ist der Tod

„Eiskalt und knallwitzig, buchstäblich ein Lesespaß“ wirbt die |Für Sie| auf dem Buchrücken für Abigail Padgetts Roman „Kalt ist der Tod“, der zunächst dadurch noch sehr verlockend wirken mag, doch schon die ersten Seiten lassen Zweifel aufkommen …

_Stromausfall – Totalausfall?_

Als in der Nähe von San Diego ein kleines Erdbeben zu einem Stromausfall führt, fällt auch die Stromversorgung in einem öffentlichen Kühlhaus bei Borrego Springs aus und führt eine Leiche zutage, die dort vor Jahren eingefroren wurde. Eine alte Dame mit dem netten Namen Muffin bekennt sich des Mordes schuldig und wandert auf ihre alten Tage ins Gefängnis. Das wiederum bringt ihren jüngeren Bruder Dan Crandall auf den Plan, der die Privatdetektivin Blue McCarron engagiert, um die Unschuld seiner Schwester zu beweisen. Nur Blues Buch „Affe“ war der Auslöser für ihre Beteiligung an diesem Kriminalfall, da Dan diese 700-seitige Abhandlung über männliche und weibliche Verhaltensmuster gelesen hat und aus nur ihm bekannten Gründen daher Blue McCarron als Privatdetektivin verpflichten möchte.

Nach einem Besuch im Gefängnis bei Muffin erkennt Blue ihre Sympathie für die alte Dame und engagiert daraufhin die bekannte homosexuelle und schwarze Psychiaterin Rox Bouchie, damit diese ein psychologisches Gutachten über Muffin anfertigt. Rox bemerkt auch sogleich Muffins Täuschungsmanöver und stellt fest, dass ihre Patientin geistig völlig gesund ist, körperlich allerdings nicht, denn Muffin hat Krebs im Endstadium. Kurz darauf wird Muffin vergiftet im Gefängnis aufgefunden und die Frage stellt sich, wer die todkranke Frau ermordet hat.

Bald entdeckt auch Blue mitten in der Wüste zwei dubiose Gestalten, die es offensichtlich auf sie abgesehen haben und sich über den Überfall auf eine andere Frau unterhalten. Blue kann den einen Kerl verletzen und sich retten, das andere Opfer der beiden nächtlichen Angreifer kennt sie jedoch recht gut. Blue muss erkennen, dass sie in großer Gefahr schwebt, obwohl sie sich nicht erklären kann, warum man es auf ihr Leben abgesehen hat …

_Lauwarm statt eiskalt_

Gleich auf der ersten Seite werden wir der Ich-Erzählerin Blue McCarron vorgestellt, die uns von ihren Erlebnissen rund um Muffin Crandall erzählt und den Startschuss zu den turbulenten Ereignissen nach dem Stromausfall und dem Auffinden der Leiche im Kühlhaus gibt. Doch kommt das Buch von Anfang an nicht aus den Startlöchern, die Autorin hält sich mit ellenlangen Gedankenmonologen über Blues Exfreundin Misha auf, die vor zwei Jahren ohne ein Lebenszeichen verschwunden ist und immer noch in Blues Gedanken herumschwebt. Immer wieder wird die eigentliche Handlung unterbrochen, damit Blue sehnsüchtig an ihre Vergangenheit mit Misha, das Kennenlernen und ihre ach-so-tolle Beziehung zurückdenken kann.

Im Laufe der Zeit erhält man als Leser schnell den Eindruck, dass Blue sich gerne von Gedankenblitzen ablenken lässt, denn egal, welche Gefahr auch gerade droht, ständig füttert sie uns mit weiteren uninteressanten Informationen zur sagenumwobenen Misha-Vergangenheit. Auch in der Einstiegsszene, als Dan Crandall Blue als Privatdetektivin anheuern will, präsentiert uns Blue zunächst große Teile ihrer Familiengeschichte und einige Ideen aus ihrer Dissertation, die mit der eigentlichen Situation leider gar nichts zu tun haben.

So kommt natürlich weder Spannung auf, noch eine düstere gefahrvolle Atmosphäre, in der der Leser angesichts der drohenden Gefahr den Atem anhalten müsste. Selbst als die Killer auftauchen, um Blue zu überfallen, gibt es keinen Nervenkitzel, auch die todesbringenden Deltas, wie Blue sie nennt, sorgen für keine spannungsgeladene Atmosphäre. Beim Lesen ist einem meist eher zum Gähnen zumute, da die Erzählung vor sich hin plätschert und mit allerlei unnötigem Beiwerk geschmückt ist, das weder die Handlung vorantreibt noch die Figurenzeichnung realistischer wirken lässt.

Besonders die zahlreichen Exkurse, die über Misha oder auch Rox Bouchie belehren, bremsen das Erzähltempo drastisch aus. Immer wenn die Handlung ein wenig vorangekommen ist, hält Padgett inne und streut nebenbei sehr ausführlich weiterführende Informationen ein, die leider meist nur wenig mit dem Kriminalfall zu tun haben. Von einem eiskalten Thriller kann hier also keine Rede sein, eher von einem lauwarmen Aufguss, den man auf einer langweiligen Bahnfahrt konsumieren sollte.

Überraschungsmomente gibt es nur wenige im Verlaufe des Romans, so ahnt der krimi-erfahrene Leser sehr früh, warum Muffin für einen Mord ins Gefängnis geht, obwohl sie doch offensichtlich unschuldig ist, die Gründe hierfür sind zu offenkundig. Erst später lässt uns die Autorin staunen, wenn nämlich Misha wieder auftaucht und die einzelnen Figuren miteinander verknüpft werden. Die uns hier erwartenden Überraschungen sind allerdings nicht so erfreulich …

_Hausfrauenpsychologie_

Da die gesamte Geschichte aus Sicht der Sozialpsychologin Blue McCarron geschrieben ist, bleiben wir auch nicht von psychologischen Gedankengängen verschont, die weibliches und männliches Verhalten analysieren sollen. Hier greift Blue gerne auf ihr eigenes Buch „Affen“ zurück, in welchem menschliches Verhalten von Grund auf durchleuchtet wird. Mir persönlich tritt Abigail Padgett allerdings zu viele Altweiberweisheiten breit und wirft mit fragwürdigen Begründungen für geschlechtertypisches Verhalten um sich, die sich speziell auf den ersten hundert Seiten des Buches zu sehr häufen. Praktisch alle paar Seiten entdecken wir neue Ausführungen aus dem Affenreich, die die psychologische Seite des aktuellen Kriminalfalls erklären sollen. Mir erscheint diese Deutungsweise an vielen Stellen allerdings zu undifferenziert.

|“So weit klang die Geschichte der Frau unglaubwürdig, aber dennoch sehr vertraut. Es war der Alptraum einer jeden Frau, ein Grund, warum Frauen Geräusche im Dunkeln fürchten. Vergewaltigung, Schändung und brutaler Tod. Dies ist das ständig wiederholte Mantra, das uns von haarigen Vorfahren hinterlassen wurde, den Cousinen von Schimpansen, Gorillas und Menschen. Ein Blick auf jede x-beliebige Schimpansenenklave, mit Ausnahme der matriarchalischen Zwergschimpansen, enthüllt die Quelle des Alptraums. Männliche Schimpansen schlagen wahllos Weibchen, um die allgemeine weibliche Unterwerfung zu sichern. Und wenn sie in der Brunst ist und die sexuelle Penetration verweigert, wird sie vielleicht von dem Männchen zu Tode geprügelt, während seine Kumpel johlen und pfeifen und herumhüpfen. Ein Blick in jede x-beliebige Zeitung zeigt, dass der Alptraum in menschlichen Enklaven ebenfalls vorhanden ist.“|

_Konstruktionen_

Am Ende wird der Leser bemerken, dass jeder noch so unwichtig erscheinende Gedankenmonolog seinen Grund in der Geschichte findet und jede noch so nebensächlich wirkende Figur ebenfalls in das Chaos verstrickt ist. Selbstverständlich hat auch die inzwischen wohl bekannte Misha später ihren großen Auftritt und steht plötzlich im Zentrum der Verwicklungen. Doch gerade zum Finale hin greift Padgett dermaßen in die Trickkiste und offenbart völlig unglaubwürdige Verbindungen zwischen den auftretenden Figuren, dass sie eine mehr als lebhafte Phantasie offenbart. Zum Finale hin scheint nichts unmöglich zu sein, als Leser bekommt man den Eindruck, als wollte Padgett bemüht alle erwähnten Namen in den Kriminalfall verwickeln, doch kann so etwas nicht funktionieren. Die Auflösung wirkt dermaßen konstruiert, dass ein mehr als fader Nachgeschmack bleibt, welcher durch das gefühlsduselige Happy-End noch verstärkt wird.

Auch in Sachen Figurenzeichnung weiß Padgett nicht zu überzeugen, insbesondere in der Gestaltung der Ich-Erzählerin wirft die Autorin mit Klischees nur so um sich. Hier lernen wir die eigentlich homosexuelle promovierte Sozialpsychologin Blue McCarron kennen, die nach gescheiterter Liebe mit ihrem Hund in die Wüste geflüchtet ist, um dort mit ihrem überragenden psychologischen Geschick Geld zu scheffeln. In einem dramatischen Moment lässt sie sich aber nach überstandener Todesgefahr vom männlichen Protagonisten zu einem kurzen Quickie überreden, bei dem sie sogleich vergisst, dass beim Sex zwischen Mann und Frau durchaus die Möglichkeit einer Schwangerschaft besteht.

Blues Familiengeschichte wirkt gleichfalls völlig überzeichnet; da ist einmal der frühe Tod der Mutter zu nennen, außerdem der Zwillingsbruder, der nun im Gefängnis sitzt und dort per Zufall die Liebe seines Lebens kennen gelernt hat. Nach geschicktem Austausch eines gefüllten Präservativs ist seine Flamme nun schwanger geworden, sodass eine Traumhochzeit hinter Gittern stattfinden muss, die selbstverständlich der überglückliche Familienvater höchstselbst vornimmt. Eine solche Anhäufung ausgelutschter Klischees trägt wirklich nicht zum Lesespaß bei!

_Lauwarmer Kaffeekränzchenthriller_

„Eiskalt und knallwitzig“? Leider habe ich beides beim Lesen des Buches vermisst, denn der Kriminalfall kann an keiner Stelle dermaßen mitreißen, dass eine spannungsgeladene Atmosphäre aufgebaut werden könnte, auch eiskalt ist die Handlung an keiner Stelle. Von knallwitzig ist ebenfalls keine Spur; mir kam Padgetts Schreibstil eher dröge und konstruiert vor, eventuell mag sie sich bemüht haben, ihren Roman humorvoll klingen zu lassen, dabei herausgekommen ist allerdings ein lahmer Kriminalfall mit völlig überzeichneten Figuren und einer konstruierten Auflösung, bei der sich einem die Nackenhaare aufstellen. Selbst vor einem triefenden Kitschende schreckt Abigail Padgett nicht zurück und versetzt damit ihrem Buch noch den finalen Todesstoß.

Karl-Heinz Ott – Endlich Stille

„Solange ich in den ersten Tagen noch hoffte, er werde mir spätestens abends für den nächsten Morgen seine Abreise ankündigen, versuchte ich mir einzureden, dass unsere Fahrten übers Land auch mir etwas bringen, doch je planloser sich dieses Einerlei aus Landgasthofaufenthalten und Kirchenbesichtigungen fortzusetzen und ich mich wie ein Fremdenführer zu fühlen begann, desto öfter hätte ich manchmal einfach schreien und davonlaufen mögen.“

Endlich einmal „nein“ sagen können, das ist es, wovon der Protagonist aus „Endlich Stille“ nur träumen kann. Kurioserweise kauft er sich in Amsterdam ein Buch, mit dessen Hilfe man lernen soll, das Nein aus seinem Sprachschatz zu streichen. Als ihn in Straßburg ein Unbekannter mit der so harmlos wirkenden Frage „Suchen Sie auch ein Hotel?“ anspricht, gerät der Protagonist in einen Strudel von Ereignissen, wie er ihn sich nie hätte ausmalen mögen …

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Szerb, Antal – Reise im Mondlicht

|“Ich mag Menschen nicht, die nicht so sind wie andere Menschen. Schon die anderen Menschen sind widerlich genug. Und erst noch die, die nicht so sind.“|

_Honeymoon_

Schon auf ihrer Hochzeitsreise tun sich die ersten Abgründe zwischen Mihály und Erzsi auf: In einer Nacht in Venedig verläuft Mihály sich so lange in den Gässchen der Lagunenstadt, dass er erst morgens zu seiner frisch angetrauten Frau zurückkehren kann, und in Ravenna schließlich wird Mihály von seiner Vergangenheit eingeholt. Die byzantinischen Mosaiken rufen nämlich Erinnerungen an seine Jugendfreunde Tamás und Éva Ulpius wach, die ihn sehr verwirren. Kurz darauf taucht János Szepetneki auf, der ebenfalls zum früheren Freundeskreis gehört hat.

Nach dem Zusammentreffen mit János erzählt Mihály seiner Frau einiges über seine ehemaligen Freunde aus dem Ulpius-Haus, zu denen neben Tamás, Éva und János auch Ervin gehört hat, der damals vom Judentum zum Katholizismus übergetreten war. János glaubt nun, dass Ervin als Mönch in Umbrien oder der Toskana lebt, Tamás dagegen hatte sich damals selbst umgebracht, bevor er richtig erwachsen werden konnte.

Nach einem Brief von Erzsis erstem Ehemann Zoltán, in welchem dieser seinem Nachfolger Tipps für das Zusammenleben mit Erzsi gibt, fürchtet Mihály, seine Frau zu verlieren, da er ihr nicht den Luxus und die Sicherheit geben kann, die sie von Zoltán gewöhnt ist. Auf der Zugfahrt nach Rom beschließt Mihály, während eines Zwischenstopps einen Kaffee zu trinken. Als er den Zug weiterfahren sieht, springt er noch schnell auf, stellt allerdings zu spät fest, dass er sich im falschen Zug befindet. Dieser bringt ihn nach Perugia, wo Mihály eine ganz andere Reise antreten wird – eine, die ihn in seine eigene Vergangenheit und zu sich selbst führen wird …

_Eine Reise ins Ich_

„Reise im Mondlicht“ überzeugt in erster Linie, weil dieses Buch von ganz alltäglichen Dingen berichtet, von Selbstzweifeln eines fehlerhaften Helden, der nicht erwachsen werden mag und immer noch seinen Jugendfreunden und -erinnerungen hinterhertrauert. Antal Szerb erzählt in wunderbaren Worten eine einfache Geschichte, die großartig zu unterhalten weiß, weil man sich auf den Seiten wiederfinden kann und Szerb die Sorgen des Helden so darzustellen weiß, dass man sich mit ihnen identifizieren und sie miterleiden kann.

Schon auf der ersten Seite wird der Abgrund deutlich, der sich unweigerlich zwischen Mihály und Erzsi auftun muss, denn Mihály ist noch gar nicht reif, um die Verantwortung für seine Ehefrau und ihre Lebensgemeinschaft zu übernehmen. Von Kleinigkeiten und winzigen Gedanken lässt er sich ablenken; so benötigt es nur die kleinen Gässchen Venedigs, um ihn eine ganze Nacht lang während der Flitterwochen von Erzsi fernzuhalten. Schon Zoltáns Brief weckt solch starke Zweifel in Mihály, dass er praktisch das Ende seiner Ehe vorhersieht. Eine starke Bindung kann der Leser zwischen den beiden kaum erkennen, auch wenn Erzsi an der Ehe festhalten möchte, selbst nachdem Mihály nicht gedenkt, ihr nach Rom nachzureisen und die Zeit und Gelegenheit lieber nutzt, um eine Entdeckungsreise auf eigene Faust zu unternehmen.

Szerb erzählt auf großartige Weise eine Geschichte, die man einfach lieb gewinnen muss. Feine Ironie und gute Beobachtungsgabe zeichnen diesen Roman ebenso aus wie elegante Sprache und kuriose Begebenheiten, die die Erzählung scheinbar zufällig in eine bestimmte Richtung lenken. So lässt Szerb immer wieder Kleinigkeiten passieren, die dem Geschehen eine ganz neue Wendung geben und Mihály manchmal wie eine Schachfigur wirken lassen, die in einem größeren Spiel eingesetzt wird, welches andere Mächte für ihn entscheiden werden. Die Situationen entlocken uns dabei häufig ein Lächeln, wenn Mihály beispielsweise schusselig auf den falschen Zug aufspringt, sich aber schnell damit anfreundet, alleine Perugia zu erkunden und seine Ehe erst einmal auf Eis zu legen.

Derlei Dinge mögen einem vielleicht unwahrscheinlich erscheinen, sicherlich sind sie etwas überspitzt, aber hegen wir ähnliche Gedanken nicht zwischendurch alle einmal? Ist der Gedanke daran, sein altes Leben hinter sich zu lassen und neu zu beginnen, nicht völlig normal? Mihály lebt ihn schließlich für uns aus, weil er anders nicht sein Glück finden kann, und wir befinden uns in der glücklichen Lage, ihn auf dieser Reise begleiten zu dürfen. So tauchen wir in eine Welt ein, in der vieles möglich wird, und wir müssen sehen, welche Konsequenzen das Abwenden vom gewohnten Leben mit sich bringen kann. Auf diese Weise können wir von Mihály und seinen Fehlern vielleicht sogar noch lernen.

Aber dieses Buch hat noch mehr zu bieten, denn die gesamte Handlung spielt sich an traumhaft schönen Schauplätzen zunächst in Italien und später auch in Paris ab, die ihren ganz eigenen Reiz haben und ebenfalls zum Lesegenuss beitragen. Hierbei und auch bei den nostalgisch gefärbten Jugenderinnerungen Mihálys umschifft Szerb jedoch gekonnt jegliche kitschigen Klischees, die bei derlei Ausführungen so leicht auftauchen könnten.

_Alltagshelden_

In dieser Geschichte liegt einiges im Argen; jeder der Protagonisten offenbart seine guten wie auch schlechten Eigenschaften, Gut und Böse werden jedoch nie schwarz-weiß gezeichnet, die Grenzen dazwischen bleiben verwaschen. Im Zentrum steht natürlich Mihály, den wir auf seiner Reise begleiten. Auf den ersten Blick scheint er ziellos umherzuirren und lediglich vor seinem Leben und seiner Ehe zu fliehen, doch unweigerlich läuft alles auf eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit hinaus. So erahnt Mihály bald Ervins Aufenthaltsort und trifft ihn tatsächlich wieder. Die beiden unterhalten sich und Mihály muss erkennen, wie sehr sein alter Freund sich durch den Klosteralltag verändert hat, dennoch scheint er mit sich im Reinen zu liegen, wovon Mihály weit entfernt ist. Ervin kann seinem Freund noch einen guten Rat auf den Weg geben, doch wird es bei dieser einen Begegnung der beiden Jugendfreunde bleiben.

Mihály begibt sich nach Rom, um dort dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Immer hofft er auf ein zufälliges Zusammentreffen mit Éva, das selbstverständlich eintreten wird. Während seiner Wartezeit muss Mihály erkennen, wie wenig er doch seine eigene Vergangenheit verarbeitet hat, die er für abgeschlossen hielt. Unser Romanheld wird von kräftigen Schicksalsschlägen getroffen; schnell geht ihm das Geld aus, von seinem Bruder aus Ungarn erhält er einen Brief, der seine baldige Rückkehr einfordern will, und auch einen schweren Zusammenbruch mit anschließendem Krankenhausaufenthalt muss Mihály überstehen. Mihály ist alles andere als perfekt, und obwohl er seine Frau frühzeitig sitzen gelassen hat, obwohl sie ihm zuliebe doch ihren ersten Ehemann verlassen hat, wächst er uns ans Herz, sodass wir ihm wünschen, dass er endlich seinen Weg findet und glücklich werden möge.

Derweil sucht Erzsi alleine in Rom ihr Glück und trifft bald János Szepetneki wieder, der schließlich den Vermittler für Zoltán spielen wird. Zunächst hofft Erzsi noch auf Mihálys Rückkehr, doch muss sie bald einsehen, dass damit nicht zu rechnen ist. Dennoch will sie die Hoffnung auf eine Versöhnung nicht aufgeben. In der notwendigen Sparsamkeit geht sie vorerst völlig auf, da sie diese in der Ehe mit Zoltán so vermisst hat, aber schließlich sind es dann die Männer, die Erzsi lenken und ihre Geschicke für sie leiten. Solcherart erscheint uns Erzsi ein wenig als Spielball der Geschichte, dennoch verleiht Szerb natürlich auch ihr Merkmale, die sie liebenswert machen und stark erscheinen lassen können.

Zoltán erhält die Rolle des liebeskranken verlassenen Ehemanns, der zwar in Mihály keine bedrohliche Konkurrenz gesehen hat, jedoch in allen Männern, die Erzsi in Rom und später auch in Paris treffen würde. Um Erzsi zurückzugewinnen, erniedrigt sich Zoltán und will alles in seiner Macht Stehende tun, allerdings kommen dem Leser auch Zweifel, ob es wirklich um die Liebe geht oder einfach nur um den dabei zu erringenden Sieg?!

Antal Szerb zeichnet durchweg glaubwürdige Charaktere, die von vielen Seiten beleuchtet werden, um sie menschlich wirken zu lassen und eine Identifikation zu ermöglichen. Die Sympathien sind jedoch klar verteilt, denn als Leser hängt man sein Herz an Mihály, der kurz vor dem Abgrund zu stehen scheint.

_Traumwelten und Schuldzuweisungen_

Schon die Erlebnisse im Ulpius-Haus entscheiden über Mihálys Zukunft, in den Flitterwochen schließlich wird er von seinen Erinnerungen überrollt. Mit den Ulpius-Geschwistern konnte Mihály beim Theaterspiel viele Träume ausleben und Dinge geschehen machen, die im wirklichen Leben nicht möglich erschienen. Mit großer Hingabe sind die damaligen Freunde in unterschiedliche Rollen geschlüpft, die sicherlich charakteristisch für die Schauspieler waren. Mit Tamás und Éva war nichts unmöglich und in dieses Bild passt auch Tamás’ Selbstmord, der ihn vor einer Zukunft bewahrt hat, in der er sich unweigerlich von seinen Traumvorstellungen hätte lösen und Verantwortung für sich und andere hätte übernehmen müssen.

In etwas naiver Manier schafft Mihály es, sämtliche Schuld von sich zu weisen, immer sind es die kleinen Momente, die für ihn entschieden haben. In Venedig sind es die unübersichtlichen Gassen, in denen er sich verläuft, auf der Fahrt nach Rom ist der Zug schuld, der zu früh abfährt, und später ist es Ervin, der die Entscheidung für Mihály trifft und ihn nach Rom schickt. Nur selten scheint Mihály bewusst Entscheidungen für sein Leben zu treffen und so passt besonders das gelungene Buchende perfekt in das Gesamtbild.

_Klein, aber fein_

Antal Szerb benötigt weder Mord noch Totschlag und auch keine perfekten Charaktere, um eine absolut gelungene Geschichte zu präsentieren. Gerade die Fehler des Romanhelden sind es, die den Leser schmunzeln lassen und eine Identifikation ermöglichen. Auf jeder Seite fiebert man mit und wünscht Mihály so sehr, dass er endlich sein Glück finden möge, doch geschehen immer wieder Dinge, die seine Geschicke für ihn lenken. Auch sprachlich ist „Reise im Mondlicht“ eine erfreuliche Abwechslung vom oft anzutreffenden literarischen Einheitsbrei der „Massenschreiber“; jeder Zeile merkt man an, dass ein Literaturprofessor am Werke war, der die Sprache liebt – so macht das Lesen richtig Spaß. „Reise im Mondlicht“ ist ein Muss für jeden Buchliebhaber, der sich an den Kleinigkeiten erfreuen kann, an feiner Ironie und wunderbaren Sätzen, die eine liebevolle Geschichte von Alltagsmenschen erzählen. Dieses Buch ist einfach großartig!

http://www.dtv.de

|Ergänzend dazu: Michael Matzers [Rezension der Hörbuchfassung 2724

Paolini, Christopher – Eragon – Das Vermächtnis der Drachenreiter

Schon im Alter von nur 15 Jahren schrieb Christopher Paolini seinen ersten Roman, nämlich „Eragon“, der zunächst im Verlag seiner Eltern veröffentlicht wurde. Erst eine lange Tour mit Buchlesungen und Signierstunden machte das Buch allgemein bekannt. Inzwischen ist der Autor, der laut Verlagsangaben nie eine öffentliche Schule besuchte, 21 Jahre jung und schreibt in Montana an seinem zweiten Roman, der im Herbst bei uns auf den Markt kommen und die Geschichte um Eragon und Saphira fortsetzen wird.

_Ein Drachenreiter wird geboren_

Bei einem Streifzug durch den gefürchteten Buckel kann der 15-jährige Eragon zwar keine Beute erlegen, die seine Familie als Nahrung dringend benötigt hätte, doch entdeckt er einen großen blauen Stein, dessen Oberfläche vollkommen eben ist. Eragon hofft, den wundersamen Stein in Carvahall gegen Fleisch eintauschen zu können, aber als der Fleischer erfährt, wo der junge Mann den Stein gefunden hat, will er ihn nicht annehmen. Somit ist Eragon auf ein Almosen angewiesen, damit seine Familie überhaupt Nahrung bekommt.

Als aus dem Ei plötzlich ein kleiner blauer Drache schlüpft, wird Eragons Plan, den Stein zu verkaufen, hinfällig. Drachen gehören in Carvahall allerdings nicht zum üblichen Stadtbild, sodass Eragon den Drachen mühsam verstecken muss. In der Stadt lauscht er dem Geschichtenerzähler Brom, der sich offensichtlich mit Drachen auskennt. Ihn fragt er zu dem Thema aus, um nebenbei einen passenden Namen für seinen neuen Freund zu finden. Eragons Drache aber ist eigen, denn kein Name scheint ihm zu gefallen, erst als Eragon auffällt, dass es sich um eine Drachendame handeln muss und ihm der schöne Name Saphira in den Sinn kommt, ist diese zufrieden. Fortan freunden die beiden sich immer besser miteinander an. Kommunizieren können sie dabei ganz einfach durch ihre Gedanken, wenn sie nicht zu weit voneinander entfernt sind.

Aber bald droht Gefahr, denn böse Wesen, die Ra’zac, erkundigen sich in Carvahall nach dem blauen Stein. Leider verraten einige geschwätzige Menschen den Ra’zac, wer den Stein gefunden hat, sodass ihre Spur zur Hütte von Eragons Onkel Garrow führt. Weil sie dort das Drachenei nicht finden können, brennen sie das Haus nieder und ermorden Eragons Onkel. Dieser kann sich gerade noch vor den Ra’zac retten, indem er Carvahall verlässt. Ihm zur Seite stehen Saphira und Brom, der den jungen Mann nicht alleine ziehen lassen will und der Eragon später in der Magie der Drachenreiter unterweist. Zunächst wollen die Drei Rache an den Ra’zac verüben, doch verändern sich auf der gefahrvollen Verfolgungsjagd ihre Pläne, da sie merken, dass der böse König Galbatorix Jagd auf den neuen Drachenreiter macht. Dunkle Mächte haben sich zusammengeschlossen, um die Herrschaft an sich zu reißen …

_Träume nicht dein Leben …_

… sondern schreibe deinen Traum auf. Christopher Paolini hat dieses Buch im Alter von nur 15 Jahren geschrieben und an zahlreichen Stellen vermutet man als Leser, dass er allerlei eigene Kindheitsträume mit in die Geschichte eingebaut hat, denn der Drache Saphira wird in so prächtigen Farben geschildert, dass Paolini viel Mühe darauf verwendet haben muss, diese Figur zu erschaffen. Die Abenteuer um den gerade 15-jährigen Eragon offenbaren eine lebhafte Phantasie des Autors, aber vielleicht auch den Hang zum Träumen und dazu, diese Träume zu Papier zu bringen. Die Beschreibungen der Szenerie und der handelnden Figuren sind größtenteils so detailreich, dass Paolini ein lebhaftes Bild seiner Romanhandlung vor Augen gehabt haben muss, damit er es uns in so schillernden Farben beschreiben kann. Beachtlich finde ich sein durchblitzendes Talent, denn auch wenn er sich natürlich nicht mit dem großen Literaturprofessor J. R. R. Tolkien messen kann – was besonders an der einen Stelle deutlich wird, als Paolini uns ein Gedicht präsentiert – so wird doch deutlich, dass viel Potenzial ihn ihm steckt. Nur an manchen Stellen erscheint uns seine Sprache ein wenig unausgereift, größtenteils erstaunt er aber durch seine treffenden Formulierungen und liebevollen Szeneriebeschreibungen.

S. 405: |“Eine riesige Dünenlandschaft erstreckte sich bis zum Horizont wie ein wogendes Meer. Windböen wirbelten den rötlich goldenen Sand auf. Knorrige Bäume wuchsen auf vereinzelten Inseln mit festem Untergrund – ein Boden, den jeder Bauer als unfruchtbar bezeichnet hätte. In der Ferne ragten mehrere purpurrote Felsklippen zum Himmel empor. Bis auf einen Vogel, der auf den Südwestwinden dahinglitt, war in der allumfassenden Einöde kein einziges Lebewesen zu sehen.“|

Derlei ausführliche und fast schon poetische Darstellungen der Situation finden sich an vielen Stellen des Buches; Paolini versucht immer wieder, seinem Leser genau zu erklären, wo die Protagonisten sich momentan befinden und wodurch die Landschaft sich auszeichnet. Gerade in einem Buch, in welchem man sich in einer Phantasiewelt bewegt, finde ich solche Beschreibungen äußerst wichtig, denn sie erst sorgen für den gewissen Reiz, den Fantasy mit sich bringt. Ich möchte beim Lesen vollständig in die fremde Welt eintauchen, und genau das gelingt bei „Eragon“, weil uns der Autor an die Hand nimmt und in seine Romanwelt entführt. Dies ist es auch, was den Leser über die gesamte Länge des Buches bei Laune hält, denn Spannung wird nur wenig aufgebaut, aber die Welt, die Paolini uns zeigt, ist so faszinierend und interessant, dass man einfach weiterlesen muss.

Trotz der stimmungsvollen Bilder schafft Paolini es leider nicht, seiner Handlung die nötige Spannung zu verleihen, denn obwohl Eragons Reise sehr gefährlich ist, kommt keine düstere und bedrohliche Atmosphäre auf, wie beispielsweise in Tolkiens „Herr der Ringe“, als die neun Gefährten in Richtung Mordor aufbrechen. Das führt beim Leser auch ein wenig zu einer gleichgültigen Haltung, weil man sich sicher ist, dass alles gut ausgeht.

_Drachendamen haben ihren Stolz_

Auf etwa 600 Seiten entfaltet Christopher Paolini eine farbenfrohe und fantastische Welt, in der der junge Eragon zusammen mit seiner stolzen Drachendame und dem alten Brom viele Gefahren zu überstehen hat. Während der langen Reise lernen wir die drei Hauptprotagonisten in ganz unterschiedlichen Situationen und aus verschiedenen Blickwinkeln kennen. Ganz nebenbei setzt sich dadurch ein detailliertes Bild der handelnden Figuren zusammen. Im Mittelpunkt stehen selbstverständlich Eragon und Saphira, die ganz eng zusammengehören, da Saphira Eragon bewusst als neuen Drachenreiter auserwählt hat. Eragon macht dadurch im Laufe der Geschichte eine unglaubliche Entwicklung durch. Zu Beginn des Buches treffen wir ihn noch als rastlosen kleinen Jungen, der sich zwar unbeschadet durch den sagenumwobenen Buckel bewegen kann, der aber ansonsten ein ganz normaler Junge zu sein scheint. Doch dann fällt ihm das blaue Drachenei in die Hände und Saphira kennzeichnet Eragon mit dem silbernen Drachenmal Gedwey Ignasia. Von nun an muss Eragon viele Gefahren bestehen und wichtige Dinge lernen. Er probiert die ersten magischen Sprüche aus und übernimmt sich dabei sehr schnell, außerdem tritt er im Schwertkampf gegen Brom an. Seine Kindheit findet also ein abruptes Ende, bricht aber später immer wieder durch. So erwachsen, wie Eragon in vielen Situationen gezwungenermaßen agieren muss, so kindlich wirkt er besonders in seinen Gesprächen mit Saphira, in denen er oftmals ihren Rat sucht, weil er selbst Unsicherheit verspürt. Gerade durch diese Sorgen, die ihn plagen, wird er zu einem jugendlichen Helden mit Ecken und Kanten und gewinnt wieder an Glaubwürdigkeit, die er leider auch ein wenig einbüßen muss, wenn es ihm gelingt, in einigen wenigen Tagen das Lesen zu erlernen.

Sehr gut gefällt auch die Vorstellung Saphiras als edle und stolze Drachendame, die sich lediglich per Gedankenaustausch mit Eragon unterhalten kann. Sie ist der starke Drache, der sich bei drohender Gefahr immer wieder ins Getümmel stürzt, um Eragon zu helfen. Oft genug geigt sie ihm aber auch deutlich ihre Meinung, wenn er wieder einmal unüberlegt gehandelt hat. So erscheint uns Saphira als mächtiges und auch intelligentes Wesen, das seine Kraft mit jener Eragons verschmelzen kann, um die Macht gemeinsam zu vergrößern. Die beiden bilden eine Einheit und ergänzen sich dabei hervorragend, da der eine Stärken zeigt, wo der andere Schwächen aufweist. Mit Eragon und Saphira präsentiert uns Paolini wirklich zwei überaus sympathische Figuren, die besonders jugendliche Leser begeistern dürften, da diese sich in Eragons Alltagssorgen im Erwachsenwerden gut einfühlen können.

An dritter Stelle ist der alte Brom zu nennen, hinter dem mehr steckt als nur der Geschichtenerzähler. Seine Weisheit ist es, die Eragon aus einigen Schwierigkeiten retten kann und die er seinem jungen Schüler gern weitergeben möchte. Mit seinem Unterricht formt er Eragon zu einem Drachenreiter, der mächtige Magie einzusetzen weiß. Auch Brom überzeugt in seiner Darstellung sehr gut.

_Fremde Anleihen_

Vergleiche mit anderen bekannten Werken der Literatur zaubern einige Ähnlichkeiten hervor, die dem Leser schnell ins Auge springen dürften. Besonders zwei Werke sind es, die hier offensichtlich Pate für einige Ideen gestanden haben. Eines der beiden Werke ist „Star Wars“, denn gerade die Unterrichtsstunden zwischen Eragon und Brom erinnern an den Unterricht, den Yoda Luke Skywalker erteilt hat. Auch Eragon lernt es, mit seinen Gedanken Gegenstände zu bewegen und scheitert an einem Stein, während sein weiser Lehrer mächtigere Dinge zu vollbringen weiß. Auch das Zitat „Mögen eure Klingen scharf bleiben“, welches Paolini verwendet, erinnert an den berühmten Ausspruch aus Star Wars „Möge die Macht mit euch sein“. Darüber hinaus sind weitere Wortanleihen zu erkennen, denn im Zentrum von „Eragon“ steht ebenfalls ein Kampf gegen das Imperium, in dessen Mitte sich Eragon unverhofft wiederfindet und dabei eine ganz entscheidende Rolle zu spielen hat.

Auch aus dem „Herr der Ringe“ scheint Paolini sich einige Ideen abgeschaut zu haben. Vor allem die Namensähnlichkeit zwischen den Monstern aus „Eragon“, den Urgals, und den Orks bzw. Uruk-Hais aus Tolkiens Trilogie fallen auf. So tauchen in „Eragon“ im Übrigen auch übermannsgroße Urgals auf, die ohne Rast tagsüber wie nachts die Verfolgung ihrer Gegner aufnehmen können und erinnern wiederum an die Uruk-Hai. Die Ra’zac übernehmen in „Eragon“ die Rolle der Nazgul, die ausgeschickt werden, um in diesem Fall den Drachen ausfindig zu machen und dabei Schrecken über Land und Leute verbreiten.

Vielleicht muss man Christopher Paolini diese Anleihen aber auch nachsehen, da sich im Grunde genommen jedes Fantasybuch am „Herr der Ringe“ messen muss und unweigerlich immer damit verglichen wird. Erfreulicherweise baut der Autor genug eigene Elemente ein, sodass „Eragon“ überaus lesenswert wird und sich schließlich deutlich von den beiden oben genannten Büchern abzugrenzen versteht.

_Unterm Strich_

„Eragon“ ist ein gelungenes Debütwerk eines noch sehr jungen Autors, der sicherlich noch weitere Bücher veröffentlichen wird, die von den Erlebnissen und Taten des jungen Drachenreiters berichten werden. Besonders die gelungenen Szeneriebeschreibungen und Figurenzeichnungen tragen zur Unterhaltung bei und sorgen dafür, dass der Leser vollkommen in dieser fremden Welt versinken kann. Hier offenbart Paolini ein großes Talent, das er hoffentlich in den kommenden Jahren noch ausbauen wird. Dann wird er sich vielleicht nicht mehr von anderen Werken inspirieren lassen müssen und vielleicht überrascht er uns dann auch mit gelungeneren Gedichten in seinen Romanen; in dieser Hinsicht bleibt durchaus noch genug Spielraum für eine Weiterentwicklung.

Kleine Unstimmigkeiten trüben ein wenig den Lesegenuss. So erscheint mir der Zeitverlauf nicht vollkommen klar, denn wenn man Eragons Weg auf der gezeichneten Karte im Buch verfolgt, so bemerkt man, dass sein Reisetempo sehr stark variieren muss, für manche Streckenabschnitte braucht er nämlich so gut wie gar keine Zeit, für andere umso länger. Auch dürfte Eragon unter Wasser nicht wirklich meterweit schauen können, da das Wasser für eine starke Fehlsichtigkeit sorgt und dies verhindern müsste. Ebenso würde ich heftige Anzeichen von Höhenkrankheit erwarten, wenn Eragon mit Saphira so weit in die Lüfte aufsteigt, dass er aufgrund von Sauerstoffmangel ohnmächtig wird, aber in einem Fantasybuch mag das vielleicht alles möglich sein.

Insgesamt bleibt ein positiver Gesamteindruck zurück, das Buch war leicht und flüssig zu lesen, unterhielt äußerst gut und animiert durchaus dazu, den zweiten Teil von „Eragon“, der im Herbst erscheinen wird, ebenfalls zu lesen, schließlich wollen wir doch wissen, wie Eragons Abenteuer im Kampf gegen Galbatorix weitergehen.

Näheres zum Buch unter http://www.eragon.de.

[Buchwurm.info-Rezension zu „Eragon – Der Auftrag des Ältesten“ 1975

Franzen, Jonathan – Korrekturen, Die

Auf allen Bestsellerlisten standen „Die Korrekturen“ ganz oben, sämtliche Kritiker überhäuften Jonathan Franzen mit Lob und 2001 wurde ihm der |National Book Award| verliehen. Doch was ist es eigentlich, das dieses Buch ausmacht? Warum haben so viele Menschen es gelesen? Und warum lieben wir es, obwohl auf der Handlungsebene so wenig passiert?

_Nobody’s perfect_

Alfred und Enid Lambert wollen zusammen auf eine Kreuzfahrt gehen und vorher ihre beiden Kinder Denise und Chip besuchen. Das Familientreffen soll in Chips New Yorker Wohnung stattfinden, doch als Chip genau in diesem Augenblick von seiner Freundin Julia verlassen wird und einsieht, dass er in seinem Drehbuch noch einige Änderungen vornehmen muss, lässt er seine Eltern stehen und begibt sich zu seiner Verlegerin Eden, der er das Drehbuch entreißen will, bevor sie es lesen kann. Denise kocht ihren Eltern derweil ein Essen und verbringt mit ihnen den Mittag, bevor sie Alfred und Enid zum Schiff begleitet.

Im Zentrum der gesamten Geschichte steht das bevorstehende Weihnachtsfest, das Enid gerne mit ihrer gesamten Familie, also den Kindern Gary, Chip und Denise und Garys Frau Caroline und den drei Kindern, in St. Jude im elterlichen Haus verbringen möchte. Alfred ist an Parkinson erkrankt und hat mal mehr mal weniger mit seiner Gesundheit zu kämpfen, und auch Enid wird von ihrer kranken Hüfte geplagt, daher wünscht sie sich nichts mehr als dieses gemeinsame Weihnachtsfest, doch haben nicht alle Kinder die Absicht, Enid diesen Wunsch zu erfüllen.

Zu Beginn lernen wir Chip näher kennen, der einst erfolgreich als Dozent an einem College gearbeitet hat, bis seine Affäre mit einer Studentin bekannt wurde, die ihn Beförderung und Job gekostet hat. Nun schlägt er sich mehr schlecht als recht durchs Leben und schreibt Drehbücher. Denise ist Chefköchin in einem noblen Restaurant, hat allerdings schon eine geschiedene Ehe vorzuweisen und will auch einfach kein Glück in der Liebe haben. Auch Gary hat es mit seiner Frau und den drei Kindern nicht besser getroffen, denn an seinem ehelichen Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken auf, wenn er das Weihnachtsfest in St. Jude erwähnt. Seine Frau weigert sich, das Weihnachtsfest bei ihren Schwiegereltern zu verbringen und manipuliert die gemeinsamen Kinder soweit, dass sie sich von ihrem Vater abwenden. Sie scheint größten Gefallen daran zu finden, sich über Gary und seine Familie lustig zu machen.

Auf der Kreuzfahrt schließt Enid schnell Bekanntschaft mit einer netten Frau, die ihr ein persönliches Geheimnis anvertraut, während die beiden sämtliche Vorzüge der Kreuzfahrt genießen. Doch dann sieht Enid ihren Mann Alfred vom Schiff fallen …

_Korrigiere dein Leben_

Trotz aller Vorschusslorbeeren stand ich den „Korrekturen“ äußerst skeptisch gegenüber, denn bei seinen knapp 800 Seiten und dem offensichtlich spärlichen Inhalt machten sich zunächst gewaltige Zweifel breit, die von den ersten 25 Seiten des Buches noch bestärkt wurden. Das erste Kapitel nämlich zieht sich wie Kaugummi und erzählt eine Geschichte, die ich auch nach zweifachem Lesen nicht recht nachvollziehen konnte. Doch mit dem Beginn des zweiten Kapitels erscheint uns der Autor wie ausgewechselt, erst hier beginnt die eigentliche Erzählung, die vom ersten Moment an mitzureißen weiß.

Jonathan Franzen zeichnet ein wunderbares Bild seiner fünf Protagonisten, denen viel Raum im Buch gewidmet ist. Jedes der drei Lambertschen Kinder erhält hierbei sein eigenes Kapitel, während Enid und Alfred ganz nebenbei auftauchen. Mit jeder Seite wachsen einem die handelnden Personen mehr ans Herz, denn jeder hat irgendwo einen kleinen Spleen oder eine besondere Eigenart, die sie so sympathisch machen. So ist Alfred früher Hobby-Wissenschaftler gewesen, der hauptberuflich für die Eisenbahn gearbeitet und in seinem Keller chemische Experimente durchgeführt hat, die ihm einige Patente eingebracht haben. Doch nun ist er krank geworden und sieht des Nachts seltsame Scheißhaufen (das ist wörtlich zu nehmen) durch sein Zimmer springen.

Chip hat kein Glück mit Frauen und vergnügt sich daher oft genug auf und mit seinem eigenen Sofa, außerdem schuldet er seiner Schwester einen Haufen Geld. Gary dagegen steht unter dem Pantoffel seiner eigenen Frau. In ihrer Ehe spürt man keine Liebe mehr, sie wird eher als eine Art Kampf dargestellt. Garys Frau Caroline zieht die gemeinsamen Kinder auf ihre Seite, stichelt gegen ihren Mann, straft ihn mit Missachtung und will sich nicht zu einem Weihnachtsfest in St. Jude überreden lassen, während Gary beschließt, alleine zu seinen Eltern zu fahren, um den ehelichen Frieden zumindest oberflächlich wieder herzustellen.

Mit seinem ausführlichen und liebevollen Schreibstil schafft Franzen es, dass der Leser sich ein sehr gutes Bild von der Familie Lambert machen kann, wir erleben hautnah all die familiären Katastrophen mit, die die Lamberts zu ertragen haben. Dabei vergeht im Haupterzählstrang nicht viel Zeit, während uns Franzen oftmals in einer Nebenerzählung weiter in die Vergangenheit entführt, um mehr über die Lambertschen Kinder und ihr Leben zu berichten. Während dieser Vorstellungen werden also wesentlich größere Zeitspannen abgearbeitet. Die Charakterzeichnungen sind so gut gelungen, wie man es nur äußerst selten erleben kann. Kaum ein Autor schafft es, seinen Lesern die handelnden Romanfiguren so deutlich vor Augen zu führen wie Franzen, das allein macht das Buch schon zu einem einzigartigen persönlichen (Lese-)Erlebnis.

Franzens Sprache ist zwar einfach aber ausschmückend; so bedient er sich zahlreicher Adjektive, um seinen Beschreibungen noch mehr Farbe zu verleihen, er ist mit viel Liebe zum Detail bei der Sache. Seine Beschreibungen sind ausführlich, lebendig und so detailliert, dass man sich beim Lesen mitten in der Geschichte wiederfindet. In diesem Buch entfaltet Jonathan Franzen sein gesamtes hervorragendes Erzähltalent, das eine oberflächlich betrachtet einfache Geschichte über alltägliche Menschen über eine epische Breite von knapp 800 Seiten gekonnt und unterhaltsam vorzutragen weiß, ohne nach dem zweiten Kapitel auch nur einen Moment lang zu langweilen.

Der Autor splittet seine Geschichte in mehrere Handlungsstränge, die sich an einem Zeitpunkt wiedertreffen und hier überzeugend zusammengeführt werden. Ein wenig Aufmerksamkeit ist allerdings erforderlich, um den Zeitverlauf immer richtig einzuordnen, doch wer würde bei einer so liebevollen Erzählung seine Konzentration freiwillig schweifen lassen?

Zwischendurch wird nur bedingt Spannung aufgebaut; im Grunde genommen gibt es nur einen Moment, der den Leser so sehr an das Buch fesselt, dass man es nicht mehr aus der Hand legen könnte. An dieser Stelle nämlich erhält Gary einen aufgeregten Anruf seiner Mutter, die Schreckliches von der Kreuzfahrt zu berichten hat, doch erst viel später erfährt der Leser, dass Alfred vom Schiff gefallen ist. Bis Franzen uns aber offenbart, was aus dem Lambertschen Familienoberhaupt geworden ist, spannt er uns lange Zeit auf die Folter. Jonathan Franzen bedient sich noch ganz anderer Elemente, um den Leser bei der Stange zu halten, seine faszinierende Erzählweise ist es, die zu unterhalten weiß.

„Die Korrekturen“ haben ihre Lobhudeleien völlig zu Recht verdient. Über die gesamte Strecke des Buches führt uns Jonathan Franzen ein liebevolles Familienportrait über eine merkwürdige, aber irgendwo doch alltägliche Familie vor Augen, das sympathisch geschrieben und überzeugend erzählt ist. So wachsen einem die Romanfiguren dermaßen ans Herz, dass man sich völlig in der Geschichte verliert und am Ende die eine oder andere Träne verdrücken muss, wenn man sich von Familie Lambert leider wieder verabschieden muss. Dieses Buch besticht durch seine ausgezeichnete Erzählweise und wird dadurch zu einem literarischen Hochgenuss und einem absoluten Muss für jeden Buchwurm!

S. 9: |“Drei Uhr am Nachmittag war eine Zeit der Gefahr in den gerontokratischen Vororten von St. Jude. Alfred hatte seit dem Mittagessen in seinem großen blauen Sessel geschlafen und war gerade aufgewacht. Nun lag sein Nickerchen hinter ihm, und die nächsten Lokalnachrichten kamen erst um fünf. Zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten. Er rappelte sich hoch und stand neben der Tischtennisplatte, vergebens horchend, ob Enid sich oben regte.“|