Alle Beiträge von Michael Drewniok

Freeman, Brian – Las-Vegas-Killer

_Das geschieht:_

Ein Mann verfolgt und erschießt ein Millionärssöhnchen; er hinterlässt seinen sorgfältig platzierten Fingerabdruck. In einem Vorort wird ein Kind überfahren; an der Scheibe des Unfallwagens prangt der bekannte Abdruck. Einer ehemaligen Lehrerin wird die Kehle durchgeschnitten; der Verdächtige ist erneut unser dreister Unbekannter.

Wer ist der Mann, der offenbar eine Fehde mit der Polizei vom Zaun brechen will, und wo ist die Gemeinsamkeit zwischen den brutalen Taten? Jonathan Stride, Ermittler bei der Mordkommission von Las Vegas, wird mit seinem ersten großen Fall gleich ein heißes Eisen zugeschoben. Dabei ist der ehemalige Star-Polizist aus dem kalten, weit entfernten Minnesota ein Außenseiter, den sogar sein Vorgesetzter gern kaltgestellt sähe, da Stride nicht gewillt ist, politische Rücksicht walten zu lassen, sondern diverse hochgestellte Persönlichkeiten mit unangenehmen Fragen behelligt.

Zu ihnen gehört Boni Fisso, einer der letzten großen Mafia-Bosse, die Las Vegas einst regierten. Im Penthouse-Pool seines „Sheherezade“-Casinos wurde 1967 die Leiche der schönen Tänzerin Amira Luz gefunden – ein Mord, der nie zufriedenstellend aufgeklärt werden konnte. Bis Stride, seine Partnerin Amanda Gillen und seine Kollegin und Lebensgefährtin Serena Dial entdecken, dass die Ermordeten der Gegenwart in das Geschehen der Vergangenheit verwickelt waren, hat der Killer die Liste seiner Opfer verlängert. Er befindet sich offensichtlich auf einem Rachefeldzug. Was ihn antreibt, ist Rache für Amira Luz. Um ihn zu entlarven, müssen Stride, Gillen und Dial das Geheimnis lüften. Doch die Verdächtigen hatten vierzig Jahre Zeit ihre einstigen Verbrechen zu vertuschen. Stück für Stück müssen die drei Polizisten ihnen die Wahrheit entreißen. Das kostet Zeit, die sie nicht haben, denn der Las-Vegas-Killer rüstet längst zum großen Finale, für dessen Verwirklichung er sich einen besonders teuflischen Plan einfallen lässt …

_Stadt ohne Geschichte und Gewissen_

Las Vegas im US-Staat Nevada: eine Stadt, die inmitten einer heißen Sandwüste errichtet wurde und schon deshalb eine Torheit ist, die jedoch blüht und gedeiht, weil sie dem ansonsten verpönten und verbotenen Glücksspiel eine Nische bietet. Gigantische Casinos schossen nach dem II. Weltkrieg wie Fabriken aus dem Boden. Sie verbanden den Kitzel des Spiels um hohe Summen mit einem Unterhaltungsangebot, das die größten Stars ihrer Zeit darboten. Hinter den Kulissen hatte viele Jahrzehnte das organisierte Verbrechen das Sagen. Las Vegas ist eine ‚Gründung‘ der Mafia, die bis in die 1970er Jahre Erträge abwarf, die sich mit den Bruttosozialprodukten gar nicht kleiner Ausländer vergleichen ließen.

In dieser ‚großen‘ Zeit der Glitzerstadt wurzelt der Plot von „Las-Vegas-Killer“. Längst hat die US-Regierung die Mafia vertrieben. Las Vegas ist zu einer Touristenattraktion und –falle geworden. Die Verbrechensrate blieb zwar hoch, doch sind kriminelle Aktivitäten, wie Brian Freeman sie zur Grundlage seiner Geschichte macht, heute wohl nicht mehr möglich.

Vierzig Jahre sind an sich keine lange Zeitspanne. Nicht wenige Männer und Frauen, die damals Täter oder Opfer waren, haben überlebt oder mischen noch heute – vorsichtig geworden – im Vegas-Business mit. Die Zeit läuft in der Wüstenstadt anders ab; eine Tatsache, die Freeman immer wieder thematisiert, weil sie einerseits schwer verständlich ist und andererseits begriffen werden muss, damit die Story sinnvoll wird.

_Thriller ohne Originalität und Überraschungen_

Der Mythos Las Vegas ist – egal ob vergangen oder aktuell – ein Stoff, aus dem unzählige Kriminalromane und –filme entstanden sind. Die dabei gelungenen Werke zu kennen, ist nur bedingt von Vorteil, weil dies die Erkenntnis fördert, dass Freeman sich stur an die Vorgaben hält. Jedes Vegas-Klischee feiert fröhliche Urständ, was der Leser weniger begeistert registriert.

Für „Las-Vegas-Killer“ hat sich der Autor zwar einen soliden und ablauftauglichen Plot einfallen lassen, den er jedoch allzu sorgfältig konstruiert und entwickelt. Faktisch treibt er seinem Thriller damit jede Überraschung aus. Brutale Mord- und drastische Bettszenen sollen für Ersatz sorgen, aber da die einen einfallsarm und die anderen US-amerikanisch, d. h. puritanisch verdruckst daherkommen, will die Rechnung nicht aufgehen.

So erbarmungslos wie der Las-Vegas-Killer lässt Freeman die Handlung in ebenfalls sattsam bekannten Klischees (ver-)enden. Selbstverständlich wird ihr ein Schluss-Twist aufgesattelt, der die bisher erzählte Story plötzlich in Frage stellt. Um gänzlich auf Nummer Sicher zu gehen, lässt der Verfasser diesem Twist noch ein Überraschungs-Twistchen folgen … „Las-Vegas-Killer“ gehört zu jenen Romanen, die einfach kein Ende finden wollen, sondern immer noch weiter gehen, selbst wenn der logische Schlusspunkt längst gesetzt ist. Da wundert es nicht, dass auf den nun wirklich letzten Seiten die Fortsetzung vorbereitet wird.

_Thriller-Traum mit Seifenschaum_

Das bringt uns zu einem weiteren Manko: „Las-Vegas-Killer“ erschöpft sich keineswegs in einer möglichst spannenden Geschichte. Unabhängig von der Frage, ob Freeman eine solche überhaupt geglückt ist, nimmt er selbst immer wieder das Tempo aus der Handlung, wenn er die Soap-Opera-Maschine anwirft. Die arbeitet manchmal im Leerlauf, aber viel zu oft auf Hochtouren:

– Jonathan Stride ist heimatlos unglücklich in Las Vegas UND wird als Polizeibeamter gemobbt UND muss sich mit einer transsexuellen Partnerin zusammenraufen UND wird von seiner Lebensgefährtin lesbisch betrogen …

– Serena Dial ist Alkoholikerin UND wurde als junges Mädchen von ihrer Mutter als Prostituierte verkauft UND hat ihre beste Freundin UND Ex-Geliebte im Elend sterben sehen UND ist in mittleren Jahren kinderlos UND wird, obwohl unsterblich in ihren Jonathan verliebt, lesbisch (s. o.) rückfällig …

– Amanda Gillen ist eigentlich nur transsexuell, wird aber deshalb von den bösen Kollegen ständig gehänselt und muss, was viel schlimmer ist, für Freeman politisch korrekte Zaunpfahl-Hiebe austeilen: Seht doch, ich bin ein Mensch wie ihr! Akzeptiert mich doch endlich!

Mafiosi sind pompös und großtuerisch, nur um im nächsten Moment die Maske fallen zu lassen und schurkisch zu tücken, Politiker verlogen und niederträchtig. Der „Las-Vegas-Killer“ wird als übermächtiger Bösewicht geschildert und im Finale via Küchenpsychologie als Muttersöhnchen mit Riss in der Hirnwaffel demontiert.

Nein, dieses Buch weist definitiv keine Scorsese-Qualitäten auf. Näher kommt ihm eine Szene aus der TV-Serie „CSI Las Vegas“: Mogul Sam Braun sitzt mit den tattrigen Schauspielern Frank Gorshin und Tony Curtis – sie spielen sich selbst und gehörten zu ihrer Zeit zur Vegas-Prominenz – in seinem Casino und schwelgt rührselig in Erinnerungen an die gute, alte, böse Zeit (Doppelfolge „Grabesstille“ von Quentin Tarantino). Genauso ‚authentisch‘ wirkt „Las-Vegas-Killer“ mit seinem Talmi-Thrill aus zweiter Hand.

_Der Autor_

Brian Freeman wurde 1963 in Chicago, Illinois, geboren. Die Familie siedelte nach San Mateo in Kalifornien um und zog später nordostwärts nach Minnesota. Am Carleton College in Northfield studierte Freeman Englisch. Nach dem Abschluss 1984 arbeitete er u. a. in der Marketing- und PR-Abteilung einer internationalen Anwaltskanzlei.

Schriftstellerische Ambitionen spürte Freeman nach eigener Auskunft schon in seinen Jugendjahren. Ein erster Romanentwurf entstand während des Studiums; weitere, stets unveröffentlichte Manuskripte folgten. Erst 2004 erschien „Immoral“ (dt. [„Unmoralisch“/“Doppelmord“), 2037 der erste Thriller um Ermittler Jonathan Stride, und wurde sogleich ein Bestseller, der für einen „Edgar“, einen „Dagger“, einen „Anthony“ und einen „Barry Award“ nominiert wurde und den „Macavity Award“ der „Mystery Readers International“ für das beste Romandebüt gewann.

Die Jonathan-Stride-Romane von Brian Freeman erscheinen in Deutschland im Verlag |Hoffmann und Campe| (gebunden) bzw. zuvor im |Club Bertelsmann|:

(2005) Immoral [(„Unmoralisch“/“Doppelmord“) 2037
(2006) Stripped („Las-Vegas-Killer“)
(2007) Stalked (noch nicht in Deutschland erschienen)
(2008) In the Dark (US-Titel) / The Watcher (GB-Titel) (noch nicht in Deutschland erschienen)
(2009) Unsolved (noch nicht erschienen)

_Impressum_

Originaltitel: Stripped (New York : St. Martin’s Press 2006)
Übersetzung: Imke Walsh-Araya
Deutsche Erstausgabe: 2006 (Bertelsmann Club / RM-Buch-und-Medien-Vertrieb, exklusive Buchgemeinschaftsausgabe)
Erstausgabe für den deutschen Buchhandel: August 2008 (Hoffmann und Campe Verlag)
490 Seiten
EUR 17,95
ISBN-13: 978-3-455-40136-3
http://www.hoca.de

Lindqvist, John Ajvide – So finster die Nacht

_Das geschieht:_

Blackeberg, ein geschichts- und gesichtsloser Vorort von Stockholm im Jahre 1981: Der zwölfjährige Oskar verbringt hier ein freudloses Leben als Außenseiter. In der Schule wird er gemobbt, die Mutter arbeitet und kehrt erst abends heim, der Vater ist schon lange ausgezogen. Mit Ladendiebstählen und Rachefantasien, die sich gegen seine Peiniger richten, verbringt Oskar seine Tage.

Aktuell gibt es freilich etwas Interessantes für ihn, der eifrig Zeitungsartikel über Serienmorde und andere Untaten sammelt: Ein Schlächter geht in der Vorstadt um. Er hat es auf Kinder abgesehen, denen er auflauert und sie betäubt, um ihnen dann das Blut abzuzapfen. Oskar ist fasziniert; nur zu gern sähe er seine Feinde dem Mörder zum Opfer fallen. Deshalb hält er die Augen offen und versucht sich als Ermittler.

In diesen aufregenden Tagen lernt Oskar eine neue Nachbarin kennen. Eli behauptet, im selben Alter wie er zu sein, doch obwohl sie körperlich in der Tat jung wirkt, hat Oskar Zweifel. In der Wohnung, wo sie mit ihrem ‚Vater‘ lebt, sind alle Fenster stets verhüllt. Nur in den Abendstunden verlässt Eli das Haus. In Oskar, der auch für Horrorgeschichten schwärmt, steigt ein bestimmter Verdacht auf …

_Untot im hohen Norden_

Vampire in Schweden: Das hatten wir zumindest hierzulande noch nicht. Wir verdanken sie wohl vor allem der Popularität, die der skandinavische Kriminalroman aktuell genießt. Kaum verwunderlich, dass deutsche Verlage versuchen, diese auf weitere Genres zu übertragen. Dem Leser kann’s recht sein, denn auch das Grauen fremder Länder kann erschreckend faszinierend sein.

Dem skandinavischen Krimi sagt man spätestens seit Sjöwall/Wahlöö einen ausgeprägten Hang zur politischen und gesellschaftlichen Sozialkritik nach, die (mehr oder weniger gelungen) in die Handlung integriert wird und diese auf ein Niveau hebt, das auch das eher krimifeindliche Feuilleton aufmerken lässt. „So finster die Nacht“ stößt ebenfalls in dieses Horn. Erfreulicherweise wird dies nicht zur Pflichtaufgabe, der sich der Autor eher aufdringlich entledigt, sondern ist Teil eines Geschehens, das ohne diesen Faktor nicht denkbar ist.

Vampire in der Gegenwart: Macht man sich Gedanken über die Realität ihrer Existenz, taucht unweigerlich die Frage auf, wie sich diese Wesen in einer Hightech-Welt behaupten könnten. Zwar spielt „So finster die Nacht“ im Jahre 1981, doch war auch dies eine denkbar ungünstige, weil kriminalpolizeilich durchsetzte Gegenwart für Kreaturen, die regelmäßig töten müssen, wenn sie überleben wollen.

_Die Vorteile der Unpersönlichkeit_

John Lindqvist findet eine simple und gleichzeitig überzeugende Lösung für das Problem, einen ‚modernen‘ Vampir wirken und wüten zu lassen: Er versetzt ihn in eine Trabantenstadt, die hauptsächlich von den abgestumpften Verlierern der modernen Leistungsgesellschaft bewohnt wird. Blackeberg ist quasi ein Synonym für anonymes Leben in einem gesellschaftlichen Vakuum. Es gibt in dieser Vorstadt keine Kommunikation zwischen den Bürgern, die in ihren Wohnsilos vegetieren.

Oskar ist das perfekte Produkt seiner Umgebung – ein Scheidungskind, das von einer überarbeiteten und meist abwesenden Mutter ‚erzogen‘ und in der Schule von ebenso perspektivenlosen jugendlichen Gewalttätern gepiesackt wird. Sowohl das Quälen als auch das Leiden sind in der Ödnis von Blackeberg absolut sinnlos und wirken dadurch umso bedrückender. Dieser isolierte und trübe Kosmos benötigt keine Vampire; seine Bewohner verstehen es selbst, sich das Leben zur Hölle zu machen.

Den Erwachsenen geht es in dieser den Geist tötenden Umgebung nicht besser. Parallel zu Oskars Geschichte erzählt Lindqvist von der traurigen Realität einer Gruppe schon mittelalter Freunde, die im Grunde Oskar in späteren Jahren widerspiegeln: Ausgebrannt, resigniert, im Leben bereits tot, repräsentieren sie die ideale Beute nicht nur für Vampire.

_Der Vampir – nordisch nüchtern_

Eli ist nicht nur ein Vampir, der sich nicht unbedingt an die Regeln hält, die Bram Stoker 1897 in [„Dracula“ 3489 zusammenfasste, sondern auch quasi geschlechtslos. Das kann der Leser nur begrüßen, denn längst zerrt die Allgegenwart glutvoll-brünstiger Vampir-Hengste an den Nerven. Primär für pubertierende Jungmädchen entstehen gegenwärtig geistlos genormte Blutsauger-Schmonzetten in schwindelerregender Zahl. Ein Vampir-Roman ‚für Erwachsene‘, wie ihn Lindqvist vorlegt, gehört fast schon zur Ausnahme.

Eli ist ganz sicher keine charismatische Gestalt, sondern ein Überlebenskünstler. Er ist nicht freiwillig zum Untoten geworden, hat sich aber im Laufe von Jahrhunderten mit seiner Existenz arrangiert. Sehr geschickt charakterisiert Lindqvist ein Wesen, das seine Menschlichkeit nicht vergessen hat und dessen Einsamkeit anrührt. Gleichzeitig ist Eli mörderisch und manipulativ.

Was Eli durchmachen musste, demonstriert Lindqvist am Beispiel der Figur Virginia. Sie wird ebenfalls zum Vampir; eine Frau, die im gesellschaftlichen Abseits steht und intellektuell verkümmert ist, was es ihr unmöglich macht, sich Hilfe von ‚außen‘ zu suchen. Wie einst Eli versucht Virginia sich über ihr neues ‚Leben‘ mit seinen gründlich veränderten Regeln klar zu werden. Lindqvist bietet dies die Möglichkeit, den Vampirismus ‚wissenschaftlich‘ zu beleuchten. Er hinterfragt das alte Wissen über die Blutsauger, findet Erklärungen für ihr körperliches Funktionieren, ihre Furcht vor der Sonne, vor Silber, vor dem Kreuz, ohne dadurch den Mythos unnötig zu zerstören: Vampire sind auch nur Menschen, so lautet die nüchterne Zusammenfassung. Es gibt sie und die erste große Herausforderung ihres ‚Lebens‘ ist es, sich den Bedürfnissen ihres mutierten Körpers zu stellen. Eli ist es mit allen Konsequenzen gelungen, Virginia scheitert.

Die grässliche Alternative verkörpert Håkan Bengtsson. Er ist die Figur, die „So finster die Nacht“ zu einem echten Horroroman werden lässt. Seine Wiederauferstehung erinnert an das Erscheinen eines Zombies, seine Untaten verstärken diesen Eindruck. Wenn Bengtsson auf der Szene erscheint, wird es blutig und hässlich. In der ansonsten meist gemächlichen Handlung wirkt er grell. Andererseits dürfte seine Existenz den Hardcore-Gruselfan zufriedenstellen, der Eli trotz gelegentlicher Brutal-Exzesse zu zahm findet.

_Eine spannende Geschichte?_

„Dieser Thriller ist eine Offenbarung der schwedischen Literatur“, dröhnt die Werbung und fordert die nachdrückliche Überprüfung dieser Behauptung förmlich heraus. Es dürfte kaum überraschen, dass die Fakten ein anderes Bild ergeben. „So finster die Nacht“ ist ein spannender Thriller mit vielen eindrucksvollen Szenen, die sich indes zu keinem überragenden Gesamtbild fügen wollen. Die Geschichte weist Längen auf, schwankt unentschlossen zwischen ‚richtigem‘ Horror und einer düsteren „Coming-of-Age“-Story mit phantastischen Elementen. Übrigens ist es nie Lindqvist, der literarische Ansprüche erhebt; er spinnt sein Garn, in das er wohl auch autobiografische Elemente einfließen lässt, wurde der Autor doch 1968 in Blackeberg geboren und war folglich 1981 so alt wie seine Figur – sein Alter Ego? – Oskar.

Warum die Geschichte unbedingt 1981 spielen muss, bleibt Lundqvists Geheimnis. Er schließt seinem Roman zwar ein Nachwort an, spart diese Frage aber aus. Die deutsche Übersetzung ist ein weiteres Rätsel. Zwar gut gelungen, wird sie von einem merkwürdigen Titel gekrönt. „So finster die Nacht“ hat rein gar nichts mit dem Original zu tun, das sehr viel anschaulicher „Lass den Richtigen ein“ lautet, denn genau gegen dieses Gebot verstoßen die (menschlichen) Figuren immer wieder und geben dem Grauen dadurch die Möglichkeit, sich zu verbreiten. Offensichtlich soll die bibelähnliche Eindeutschung die Assoziation an die geschwätzigen, pseudo-wichtigen Krimi-Bestseller wecken, die sich auf den „Nimm’s mit!“-Tischen deutscher Kettenbuchläden türmen. Wer darauf hereinfällt, wird sein blutrotes Wunder erleben! „So finster die Nacht“ ist – wenn man unbedingt eine Schublade sucht – die solide, aber sicherlich nie geniale skandinavische Variation einer Geschichte, wie sie z. B. Stephen King in [„Brennen muss Salem“ 3831 („Salem’s Lot“) 1975 ersann. In diesem Umfeld vermag sich Lindqvist wacker zu schlagen. Mehr ist da nicht – doch muss da unbedingt mehr sein?

_Der Autor_

John Ajvide Lindqvist wurde 1968 in Blackeberg, einem Vorort der schwedischen Hauptstadt Stockholm, geboren. Nachdem er schon in jungen Jahren als Straßenmagier für Touristen auftrat, arbeitete er zwölf Jahre als professioneller Zauberer und Comedian.

Sein Debütroman „Låt den rätte komma“ (dt. „So finster die Nacht“), eine moderne Vampirgeschichte, erschien 2004. Bereits 2005 folgte „Hanteringen av odöda“ (dt. „So ruhet in Frieden“), ein Roman um Zombies, die Stockholm terrorisieren. „Pappersväggar“ ist eine Sammlung einschlägiger Gruselgeschichten. Lindqvist schreibt auch Drehbücher für das schwedische Fernsehen. Das prädestinierte ihn, das Script für die Verfilmung seines Romanerstlings zu verfassen, die 2008 unter der Regie von Tomas Alfredson entstand.

Als Buchautor ist Lindqvist in kurzer Zeit über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt geworden. Übersetzungen seiner Werke erscheinen in England, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Polen und Russland.

_Impressum_

Originaltitel: Låt den rätte komma in (Stockholm: Ordfront förlag 2004)
Übersetzung: Paul Berf
Deutsche Erstausgabe: Oktober 2007 (Bastei-Lübbe-Verlag/TB Nr. 15755)
639 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-404-15755-6
http://www.basteiluebbe.de

Als Hörbuch: Oktober 2007 (Lübbe Audio)
5 CDs, gelesen von Sascha Rotermund
344 min
EUR 19,95
ISBN 978-3-7857-3277-9

Victor Gunn – Der Tod hat eine Chance

Gunn Tod Chance Cover kleinEin dummer Streich auf Kosten der Polizei verwandelt sich in ein für den Verursacher womöglich tödliches Komplott. Hoffen kann er nur auf zwei Beamte von Scotland Yard, die sich nicht auf die falsche Fährte locken lassen wollen … – Altmodischer und ‚gemütlicher‘ britischer Landhaus-Krimi, der seinen obskuren und realitätsarmen Plot mit einiger Verzögerung aber dann geschickt entwickelt: solide Serienware eines einst sehr beliebten und heute vergessenen Vielschreibers. Victor Gunn – Der Tod hat eine Chance weiterlesen

James Graham Ballard – Paradiese der Sonne

Das geschieht:

Kaum ein Jahrhundert ist vergangen, seit die Erde den Van-Allen-Gürtel verlor, der sie vor den schädlichen Bestandteilen des Sonnenlichts schützte. Seitdem steigen die Temperaturen ständig, harte Röntgenstrahlen sorgen für Unfruchtbarkeit oder Mutationen. Die meisten Menschen sind gestorben, die wenigen Überlebenden haben sich in den äußersten Norden sowie die inzwischen eisfreie Antarktis zurückgezogen. Das Land zwischen den Polarkreisen musste aufgegeben werden. Es wird von mutierten Insekten, Reptilien und anderen urzeitlich anmutenden Tieren sowie gigantischen Pflanzen beherrscht.

Die neuen, durch Überflutung und Schlick völlig veränderten Küstenlinien der halb versunkenen Kontinente sollen neu kartiert werden. Zu den Wissenschaftlern, die diese Aufgabe übernehmen, gehört der Biologe Robert Kerans. Als Mitglied einer militärischen Expedition hält er sich in den Ruinen des ehemaligen London auf. Er schätzt die Privatsphäre, die ihm seine Arbeit beschert, und ist deshalb entsetzt, als die Order zum Abzug ergeht. James Graham Ballard – Paradiese der Sonne weiterlesen

Seamark – Das Kokainschiff

seamark kokainschiff cover kleinIn London treiben Rauschgiftschmuggler ihr Unwesen. Kopf der Bande ist ein verschlagener Kapitän aus dem Fernen Osten, der vor Entführung und Mord nicht zurückschreckt, bis ihm wackere Polizisten und mutige Bürger das Handwerk legen … Reizvoll naiver Groschen-Krimi, der politisch völlig unkorrekt aber spannend zeitgenössische Klischees in eine schaurig-schöne, rasante Story packt und die Hafenkulisse Londons gut zu nutzen weiß: ein Lesevergnügen aus eindeutig vergangener Zeit. Seamark – Das Kokainschiff weiterlesen

Massimo Marcotullio – Das Blut des Skorpions

Im Rom des 17. Jahrhunderts treibt ein Attentäter und Serienmörder sein Unwesen. Ein cholerischer Maler und seine Gefährten geraten erst in sein Visier und dann in eine politische Intrige, die Herrscherhäuser in ganz Europa ins Wanken bringen könnte … – Anspruchsloser, ausschließlich der Unterhaltung verpflichteter und historische Akkuratesse nie in den Vordergrund stellender Thriller mit wüsten Morden, simpel gestrickten Figuren und stetigem Druck aufs erzählerische Gaspedal.
Massimo Marcotullio – Das Blut des Skorpions weiterlesen

Gordon D. Shirreffs – Der Silberschatz von La Barranca

Shirreffs Silberschatz Cover kleinDrei Männer ziehen im Jahre 1868 durch die Wüste von Mexiko, um in einer sagenhaften Silbermine reich zu werden. Stattdessen finden sie Hitze, mörderische Indianer und Wahnsinn: den Fluch von La Barranca … – Western vor ungewöhnlicher aber authentischer Kulisse; in einer grandios geschilderten Landschaft spielt sich ein fast kammerspielartiges Drama um Freundschaft, Gier und Verrat ab: ein kantiger Roman mit viel Spannung und ohne Sentimentalitäten.
Gordon D. Shirreffs – Der Silberschatz von La Barranca weiterlesen

Richard Stark – Fragen Sie den Papagei [Parker 23]

Nach einem Raubzug auf der Flucht, muss Berufsverbrecher Parker in der US-Provinz mit sehr unsicheren Komplizen einen neuen Coup versuchen. Sorgfältige Planung löst sich im Chaos auf und sorgt für ein spektakuläres Ende … – Endlich ist Parker, Kultfigur des Gangsterkrimis, wieder mit neuen Abenteuern in Deutschland präsent. Er ist der alte Profi geblieben, der in kleine, schmutzige Verbrechen verwickelt wird und dem nicht selten am Ende nur das nackte Leben bleibt: ein angenehm altmodisches, spannendes, routiniert geschriebenes Lesevergnügen. Richard Stark – Fragen Sie den Papagei [Parker 23] weiterlesen

Ropes, Arthur R. – Aus dem Abgrund

_Das geschieht:_

Im Jahre 1645 befindet sich der Bürgerkrieg in England in seiner Endphase. Der Sieg der Republikaner unter Oliver Cromwell zeichnet sich ab, während sich die Royalisten zerstreuen. Viele der adligen Untertanen des Königs verweigern Cromwell jedoch die Gefolgschaft. Zu ihnen gehört Philipp, Graf von Deeping, der sich mit 40 ihm treu ergebenen Kriegern in seinem einsam inmitten unzugänglicher Salzsümpfe gelegenen und schwer befestigten Burg Deeping Hold verschanzt. Seine Pächter im nahen Dörflein Marsham hat er ultimativ aufgefordert, ihn binnen einer Woche mit Vorräten zu versorgen; ansonsten wird er mit seinen Männern über sie kommen.

In ihrer Not senden die so Bedrohten einen Boten zum einzigen Verwandten des Grafen. Hubert Leyton, sein Vetter, ist ein friedlicher Bücherwurm, aber bereit, dem Tyrannen ins Gewissen zu reden. Er macht sich auf die beschwerliche Reise nach Deeping Hold. Dort wird er ungnädig empfangen und gefangen gesetzt. Schlimmeres als Rebellion scheint allerdings in den Mauern des düsteren Herrenhauses zu nisten. Die Gräfin ist eines merkwürdigen Todes gestorben. An Philipps Seite sitzt nun die Italienerin Fiammetta Bardi, die als böse Hexe verrufen ist. Angeblich geht der Geist der Gräfin in Deeping Hold um.

Zu allem Überfluss meldet sich ein alter Fluch, der auf der Grafenfamilie lastet. In einer bodenlosen Höhle am Boden des Flusses, der Deeping Hold umfließt, haust eine dämonische Kreatur, die ihr Lager zu verlassen und die Burg anzugreifen droht. Leyton muss fliehen, will er nicht mit ins Verderben geraten. Er ist jedoch nicht gerade ein Mann der Tat und außerdem gebunden: Mit ihm gefangen in Deeping Hold ist die junge Rosamund, Zofe und Vertraute der Gräfin, in die er sich verliebt und die er retten will. Als sich endlich eine Fluchtmöglichkeit bietet, scheint es zu spät zu sein: Der Fluch ist entfesselt und gestattet kein Entrinnen …

_Verdammt sind sie alle!_

|“Als der von Deeping Hold hienieden / dem Satan seine Seel verschrieben;
als er damit hat aufgeschreckt, / was in der finstren Grube steckt,
im Schlunde hockt es seit all den Jahren, / da fraß es ihn mit Haut und Haaren.“|

Welcher Gruselfreund, der die altmodische, nein, klassische Geistergeschichte liebt, kann diesem düsteren Spruch widerstehen? Auf ihn stößt Hubert Leyton, der zaghafte ‚Held‘ dieser Geschichte, als er eines Tages in einem verborgenen Winkel der Familienbibliothek stöbert. Bevor die eigentliche Handlung beginnt, ist damit ihr Fundament gelegt. Schon einmal hat ein Graf von Deeping sich mit Mord & Magie beschäftigt und ist deshalb umgekommen. Wir Leser ahnen bereits, dass sein Nachfahre nicht klüger geworden ist.

Das Ambiente ist exotisch: „Aus dem Abgrund“ ist ein historischer Roman, der 1914 veröffentlicht wurde. Gleichzeitig ist dieses Buch ein Historienroman, denn Verfasser Ropes siedelt die Handlung im Herbst des Jahres 1645 an. Diese Entscheidung beeinflusst ihren Verlauf enorm, denn was hier geschieht, spielt sich lange vor der Epoche der Aufklärung ab. Leyton, der Erzähler, ist ein Zeitgenosse. Wir sehen die Welt durch seine Augen – eine seltsame, erschreckende Welt, die von Gewalt und Willkür, von Religion und Aberglaube bestimmt wird, während die (Natur-)Wissenschaft noch stark mit der mittelalterlichen Alchemie verwandt ist.

Der geistige Horizont der Menschen ist verglichen mit der Gegenwart bestürzend eng. Das trifft auch oder gerade auf Leyton zu, der zwar als gebildeter Mann gilt, jedoch der Denkweise seiner Epoche verhaftet bleibt. Zauberei ist für ihn keine Fantasie und eine entschlossene, selbstbewusst auftretende Frau wie die Signora Fiammetta gilt auch ihm sogleich als verdächtig.

Fremd mutet heute auch das Verhalten des Grafen an. Obwohl auf der Flucht, hat er in seinem Territorium weiterhin die uneingeschränkte Macht. Seine Pächter, die er wie in alter Zeit eher als Leibeigene zu betrachten scheint, sind hilflos, London und Cromwell weit: In einem Land ohne echtes Straßennetz kann sich der Graf in seinem Schlupfwinkel recht sicher fühlen.

Die Gesellschaftsstruktur ist rigide: Philipp ist von Adel und kann nur von anderem Adel zur Rechenschaft gezogen werden. Völlig selbstverständlich ist deshalb der Plan der Bürger von Marsham, Hubert Leyton zum Parlamentär zu ernennen – er mag faktisch denkbar ungeeignet für diese Aufgabe sein, doch er ist selbst ein Mann von Stand und darf deshalb damit rechnen, vom Grafen vorgelassen und angehört zu werden. Dessen größter Fehler ist seine Launenhaftigkeit. In Momenten klarer Selbstreflektion erkennt Philipp seine Schuld. Als alter Soldat findet er sich fatalistisch mit den Folgen ab, um im nächsten Moment in unberechenbarem Zorn zu entflammen.

_Eine versunkene Welt wird gehoben_

Seine archaisch wirkende Welt hat Arthur R. Ropes meisterhaft zu neuem Leben erweckt. Ob er sie historisch korrekt schildert, bleibt Nebensache; wichtiger ist, dass sie historisch echt wirkt. Für die Schaffung dieser Illusion ist der ‚historisierende‘ Tonfall des Erzählers wichtig, der den Sprachduktus des 17. Jahrhunderts aufgreift bzw. imitiert. In der deutschen Übersetzung entfällt die Möglichkeit zu prüfen, wie Ropes mit dieser Herausforderung umging. Manfred Allié hat jedenfalls bemerkenswert gute Arbeit geleistet, die nicht einfach gewesen sein dürfte.

Man muss sie allerdings zu würdigen wissen, was nicht selbstverständlich ist, denn der Fluss der Worte und Sätze mag dem heutigen Leser blumig, schleppend und umständlich vorkommen. Ausgiebig werden Landschaften und Stimmungen beschrieben, viele Bibelstellen zitiert. „Aus dem Abgrund“ stellt als Buch eine Herausforderung dar, die Geschichte muss man sich als Leser verdienen. Ropes war sehr konsequent; sein Roman sollte wie ein Bericht aus alter Zeit wirken. Der Verfasser verkneift sich deshalb auch den Zugriff auf ‚zukünftiges‘ Wissen. Blendet das Geschehen auf die Zeit nach der Tragödie von Deeping Hold um, spricht der alte Leyton, der seine Geschichte im Rückblick erzählt.

Allerdings hält sich Ropes in Sachen Gewalt nicht zurück. Seine Geschichte spielt in einer vom Krieg gezeichneten Ära, und das wird nicht verschwiegen. Philipp und seine Männer sind roh und mit dem Schwert schnell bei der Hand, und die schließlich zu stark gepiesackten Dörfler zahlen es ihnen mit gleicher Münze heim. Auch in der Burg sind Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung. Der Fluch hält sich zwar im Hintergrund, doch was er seinen Opfern antut, wird mit viel Freude am blutig-schleimigen Detail beschrieben.

_Der Mensch ist sein eigenes Monster_

Auf die Frage, wer ihm als Vorbild als Autor einer Geistergeschichte gedient habe, nannte Arthur Ropes ausdrücklich Montague Rhodes James (1862-1936), der für seine ebenso nüchtern konstruierten wie wirksamen, fein ziselierten und äußerst beliebten Storys gerühmt wurde. James schrieb nur nebenberuflich; er war Historiker und Universitätsdozent. Sein immenses Wissen ließ er spielerisch in seine Erzählungen einfließen. Sie wirken dadurch dokumentarisch, zumal sich James emotionale Verwicklungen und psychologische Untiefen ausdrücklich verkniff.

Auf eine Liebesgeschichte wollte Ropes nicht verzichten. Sie wird die Freunde dieses Genres freilich kaum entzücken. Rosamund ist eine Nervensäge und auf ihre Art sogar noch bornierter als der Graf. Sie hat sich zum Sprachrohr ihrer toten Herrin und zum Gewissen ihres treulosen Gatten ernannt. Unermüdlich und voller Selbstgerechtigkeit stichelt sie den Grafen und die Signora, die das entgegen ihres Rufes erstaunlich friedfertig hinnehmen. Leyton ist – er gibt es selbst zu – nur in religiösen Dingen ein standfester Charakter. Deshalb lässt er sich von Rosamund sogleich instrumentalisieren; ihre Art imponiert ihm sogar, denn er hat es gern, wenn man ihm sagt, was er tun soll.

Wesentlich besser gelungen ist die Figur der Fiammetta Bardi. Zwar bedient Ropes zeitgenössische Klischees, indem er Fiammetta als intrigante Giftmischerin vom Schlage der Borgias brandmarkt. Darüber geht nicht verloren, was sie wirklich auszeichnet: ein unbändiger Überlebenswille, der sie aus der Gosse an die Seite eines Grafen brachte – eine Position, die sie mit allen Mitteln und äußerst manipulativ zu sichern gedenkt. Außer Philipp hält sie sich wohlweislich einen weiteren Favoriten warm, und sogar den steifen Leyton versucht sie – Sicher ist sicher! – auf ihre Seite zu ziehen.

_Was lauert in der Grube?_

Ropes übernimmt zum Glück auch das Dokumentarische. Wie der englische Herausgeber Richard Dalby in seinem ebenfalls übersetzten Nachwort erläutert, hat Ropes ’seine‘ Heimsuchung weniger nach James, sondern nach William Hope Hodgson (1877-1918), dem Großmeister des amorphen, aus den Tiefen des Meeres gekrochenen Schreckens, gestaltet.

Unabhängig davon, ob James oder Hodgson Ropes Vorbilder waren, hat der Verfasser sehr genau begriffen, dass der Spuk am wirksamsten erschreckt, der nur in Ansätzen sichtbar gemacht wird. Der Fluch von Deeping Hold wird nie völlig enthüllt. Die Fantasie des Lesers muss dort einspringen, wo der Verfasser schweigsam bleibt – ein Trick, der, gut beherrscht, eine Geschichte auf eine weitere Ebene heben kann. Ropes beherrscht sein Handwerk: Jeder Leser stellt sich letztlich ’seine‘ eigene Kreatur vor, die in der Dunkelheit von Deeping Hold haust. Letztlich trifft vor allen anderen Theorien zu, was Leyton in seinem Schlusssatz so zusammenfasst: |“Und eines jeden Mannes Seele, ja, und auch die einer jeden Frau, gleicht einem Deeping Hold mit ihrem launischen Herrn, ihren bösen Ratgebern und mit dem Feinde, welcher da lauert im Schlunde.“| (S. 229) Gemeint ist der Abgrund der menschlichen Seele, deren Existenz sogar ein frommer Puritaner nicht mehr leugnen kann.

_Was (zu) gut ist, ist oft nicht von Dauer_

„Aus dem Abgrund“ ist der zehnte Band der „Bibliothek des Phantastischen“, mit der ab 1990 der |DuMont|-Verlag klassische und moderne Meisterwerke des Unheimlichen neu oder sogar zum ersten Mal veröffentlichen wollte. Die Reihe wurde parallel zur „Kriminalbibliothek“ des Verlags, die ähnlich Verdienstvolles für den Kriminalroman leistete, ins Leben gerufen. Anders als diese war der „Bibliothek des Phantastischen“ leider kein Erfolg beschieden. Zu anspruchsvoll war das Programm, zu klein der Kreis der Leser, die sich dafür begeisterten. Nur zwölf Ausgaben erschienen, bevor die Reihe aufgegeben wurde; die Bände erfreuen sich unter Genrefreunden antiquarisch großer Beliebtheit.

_Der Autor_

Am 23. Dezember 1859 wurde Arthur R. Ropes in Lewisham, einem Stadtteil von London, geboren. Er studierte in Cambridge Geschichte, wurde später dort Dozent (und ein Kollege und Freund von Montague Rhodes James), erwarb sich Meriten als Übersetzer französischer und deutscher Literatur und wurde für seine Gedichte ausgezeichnet. Dennoch wandte er sich der leichten Muse zu und wurde einer der erfolgreichsten Musical-Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Allerdings glaubte Ropes, es seiner Alma Mater schuldig zu sein, diese ‚minderwertige‘ Tätigkeit unter Pseudonym zu leisten: Als Adrian Ross ist er deshalb in die britische Bühnengeschichte eingegangen. In den 41 Jahren seiner Karriere schrieb er mehr als zum Teil überaus erfolgreiche 60 Musicals. Im Alter von 73 Jahren ist Ropes am 10. September 1933 gestorben.

Ropes einziger Roman erschien 1914, weil sein Freund James sich für ihn stark machte: „The Hole in the Pit“ (dt. „Aus dem Abgrund“) ist eine Geschichte in der klassischen Tradition der britischen Phantastik. Der Misserfolg seines Buches ließ Ropes, den Erzähler, aufgeben. „The Hole in the Pit“ wurde erst 1992 von Ramsey Campbell, dem Meister des modernen englischen Horrors, wiederentdeckt und neu veröffentlicht.

Anthony Berkeley – Galgenvögel

berkeley-galgenvoegel-cover-kleinEine allseits ungeliebte Dame stirbt einen bizarren Tod. Selbstmord kann es nicht gewesen sein, wie ein anwesender Hobby-Detektiv feststellt, bevor er unüberlegt die Spuren verwischt. Um nicht selbst auf der Anklagebank zu landen, muss er im Wettlauf mit der misstrauischen Polizei den Fall selbst klären … – Klassischer „Whodunit“-Krimi aus der ganz großen Zeit des Genres. Der Verfasser spielt meisterhaft mit den Regeln ohne sie zu brechen und verschafft dem Leser ein nicht alltägliches Vergnügen: die Jagd nach einem Mörder, den er im Gegensatz zum Detektiv bereits kennt!
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Mark Carwardine – Extreme der Natur

Inhalt:

In vier Kapiteln stellt dieser großformatige Bildband Tiere und Pflanzen vor, die aus dem Rahmen des Bekannten fallen, weil sie ungewöhnlich groß oder klein sind oder über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügen:

Einleitung (S. 6/7)

Extreme Fähigkeiten (S. 8-85): Die Erde wird zwar der „grüne Planet“ genannt, ist jedoch reich an Orten, die das Leben eher ungemütlich machen. Von der Evolution wurde die Herausforderung angenommen. Es entwickelten sich Tiere und Pflanzen, die ihre Nische exakt dort fanden, wo der Konkurrenzdruck nicht gar zu groß war. Das führte zur Entwicklung fleischfressender Pflanzen, giftgassprühender Käfer oder werkzeugbastelnder Vögel. Es geht noch bizarrer: Der Katholikenfrosch besitzt eine Haut, die einen superstarken Sekundenkleber produziert, der männlichen Polyphemus-Motte genügt ein einziges Duftmolekül, um sich auf die Spur des Weibchens zu setzen, die Blüte des Titanenwurzes stinkt so schrecklich, dass Menschen in Ohnmacht fallen, der Pompeji-Wurn lebt in 80° heißem Wasser.

Extreme Bewegung (S. 86-157): Andere Anpasser fallen durch ihre Mobilität (oder deren Fehlen) auf. Die Larve der Languste reist auf dem Rücken einer Qualle durch die Weltmeere, der Mauersegler fliegt über Monate oder Jahre ohne zwischenzeitliche Landung durch die Luft, der Wanderfalke stürzt sich mit mehr als 300 km/h auf seine Beute, der Tausendfüßler muss bis zu 375 Beinpaare lenken, das Erdferkel gräbt sich beinahe so schnell durch die Erde, wie es oberirdisch laufen kann. Das Faultier verschläft 25 seiner 30 Lebensjahre und überlebt, indem es Bewegung möglichst vermeidet – eine Strategie, die durchaus funktioniert.

Extremes Wachstum (S. 158-247): Wer möglichst schnell möglichst groß wird, kann von seinen Feinden nicht mehr attackiert werden. Auf diese Karten setzen unter den Säugetieren der Blauwal und der Elefant, unter den Vögeln der Strauß, unter den Reptilien der Netzpython, die Elefantenschildkröte oder das Leistenkrokodil – ein saurierähnliches Monster von bis zu 10 m Länge. Manchmal geht die umgekehrte Rechnung auf: Wer winzig bleibt, wird oft übersehen und hat deshalb seine Ruhe. Der Schindlerfisch misst ‚ausgewachsen‘ gerade 6,5 bis 8,4 mm, der Jaragua-Gecko nicht einmal 2 cm. Manchmal sind es nur einzelne Körperteile, die enorme Größen erreichen und deshalb besonders effektiv arbeiten. Die Schwingen des Albatros‘ klaftern 3,40 m, damit er sich noch in die Lüfte erheben kann, die Zunge des einer auf der Insel Madagaskar beheimateten Motte ist bis 35 cm lang, die Giftnesseln einer Quallenart namens „Portugiesische Galeere“ reichen 35 Meter tief ins Meer, die Haare des in der Arktis lebenden Moschusochsen werden 90 cm lang, die Augen des in der dunklen Tiefsee hausenden Kolosskalmars erreichen mehr als 60 cm Durchmesser.

Extreme Familien (S. 248-315): Wer nicht wehrhaft oder schnell auf den Füßen ist, muss seine Feinde durch maximale Vermehrung austricksen. Der Riesenbovist – ein Pilz – bläst bis zu 20 Billionen Sporen in die Luft, die Röhrenblattlaus produziert pro Jahr eine Milliarde Klone, die Dickschwanz-Schmalfußbeutelmaus wirft nach 9,5 bis 11 Tagen ihre Jungen. Der umgekehrte Weg ist es, den Nachwuchs so sorgfältig wie möglich zu schützen. In Australien gibt es eine Froschart, die ihre Jungen im eigenen Magen ausbrütet, das Känguru besitzt immerhin einen separaten Beutel, der Kaiserpinguin behütet ein Ei und ein Junges pausenlos und ohne Nahrung zu sich zu nehmen 120 Tage, die Frucht der Seychellennuss wiegt 22 kg und ist praktisch nicht zu knacken – und die Aaskrähe pflegt in Japan ihre Nester nicht mehr aus Ästen, sondern aus Abfällen und Kleiderbügeln zu bauen, seit sie in die Stadt gezogen ist.

Danksagung (S. 316/17)
Index (S. 318-320)

Populärwissenschaft vom Feinsten

Seit 1888 existiert die „National Geografic Society“, schickt wissenschaftliche Expeditionen in die fernsten Winkel dieser Erde und lässt, was dabei entdeckt wird, sorgfältig in Wort und Bild dokumentieren. Diese Tradition ließ – bis heute gewahrt – nicht nur ein nach Millionen Titeln zählendes Text- und Fotoarchiv entstehen, sondern förderte auch eine besondere Art der Vermittlung des gewonnenen Wissens.

Die NGS lebt von den finanziellen Mitteln, die ihr durch ihre Mitglieder zugehen. Diese gehen zwar nicht mit auf die geförderten Reisen, lassen sich aber gern darüber informieren. Es sind beileibe nicht nur Fachleute, die hier ihr Interesse kundtun, sondern vor allem Laien. Sie werden im ‚NGS-Stil‘ angesprochen, der komplexe Themen in allgemeinverständliche Worte fasst und durch Abbildungen illustriert.

Für diese Abbildungen ist die NGS berühmt – zu Recht, denn der Ehrgeiz derer, die für die Society unterwegs sind, zielt auf die klare fotografische Darstellung des Untersuchten und Erforschten in seiner natürlichen Umwelt ab, wobei die Schwierigkeit, dies zu ermöglichen, als Herausforderung gesehen wird. „Extreme der Natur“ zeigt Lebewesen, die sich eigentlich nicht fotografieren lassen, weil sie an Orten leben, die dem Menschen unzugänglich und sie zusätzlich überaus scheu sind. Die Brillanz der dennoch realisierten Fotos lässt die unendlichen Mühen und Fehlschläge, die dahinter stecken, nur selten durchscheinen.

Die Pracht des realen Lebens

Selbstverständlich werden die Leser von „Extreme der Natur“ nicht mit Schnappschüssen abgespeist. Dem Puristen mag die Natur auf diesen Bildern wie inszeniert erscheinen, und auf manche Aufnahmen trifft dies auch zu. So musste der Bombardierkäfer auf einem Gestell fixiert werden, um ihn in glasklarem Detailreichtum dabei fotografieren zu können, wie er sein Reizgas versprüht (S. 14). Die Bilder in diesem Buch fordern das Auge heraus, das sich nicht mit einem kurzen Blick zufrieden gibt, sondern sich auf das Motiv konzentriert und es quasi ‚scannt‘.

Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Jedem großformatigen Foto (28,5 cm Höhe; 25,5 cm Breite) steht eine Textseite gegenüber. Die Informationen sind knapp gehalten, aber sie kommen auf den Punkt. Ihr Zweck ist nicht das Detail, sondern der große, an ausgewählten Beispielen verdeutlichte Zusammenhang. Fast unmerklich und sehr unterhaltsam wird Wissen vermittelt: zwei im Zeitalter der massenmedialen Bombardierung wichtige Faktoren (der knallige Titel trägt dem Rechnung), die freilich – es sei angemerkt – die Gefahr fördern, dass Bücher wie dieses für sich und ihr Thema stehen müssen. Das kann „Extreme der Natur“ nicht leisten, denn es ersetzt keinesfalls die Fachliteratur.

„Extreme der Natur“ ist Teil eines Doppelbandes, der einzeln oder gemeinsam im Schuber erhältlich ist. „Extreme der Erde“ informiert ergänzend über Canyons, Wüsten, Hurrikans, Berge, Vulkane, Erdbeben, Ozeane, Gletscher u. a. extreme Orte oder Phänomene unseres Heimatplaneten.

Autor

Mark Carwardine arbeitete für verschiedene Umweltschutzorganisationen, bevor er sich 1986 als Autor und Fotograf selbstständig machte. Er schrieb bisher mehr als 40 Bücher: Reisebeschreibungen, zoologische Sachbücher und über Umweltschutz, wobei er sich auf Tiere und Pflanzen der Meere spezialisierte. Carwardines Bücher richten sich eher an den Laien als an den Fachmann, beeindrucken jedoch beide durch die ausgezeichneten Fotos. Carwardine sitzt außerdem in der Jury des Wettbewerbs um das beste Naturfoto des Jahres. Mit Textbeiträgen, Bildern und Filmen tritt er oft im Radio und im Fernsehen auf und hält Vorträge und Seminare. Diverse Programme für die BBC entstanden in direkter Zusammenarbeit mit ihm.

Über diese und weitere Aktivitäten informiert Carwardine auf seiner Website.

Gebunden: 320 Seiten
Originaltitel: Extreme Nature (New York : HarperCollins Publishers Ltd. 2005)
Übersetzung: Monika Rößiger
http://www.nationalgeographic.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (6 Stimmen, Durchschnitt: 1,50 von 5)

Maurice Procter – Verdammte Juwelen

Procter Juwelen Cover kleinDrei kleinen Gaunern gelingt unverhofft ein Riesencoup, doch dann stirbt ihr Opfer, ein brutaler Gangsterboss will ihnen die Beute abjagen und im Hintergrund wartet die Polizei: Der Kampf um Geld wird zum Wettlauf mit dem Tod … – Zwar dräut deutlich der moralische Zeigefinger, doch dieser Krimi um drei Kriminelle wider Willen erzählt seine Geschichte spannend und mit erstaunlich fatalistischem Unterton. Am Ende siegt zwar die Moral, aber dieser Sieg schmeckt bitter, denn er unterscheidet nicht zwischen Tätern und Gestrauchelten. Maurice Procter – Verdammte Juwelen weiterlesen

Rose, Joel – Kein Rabe so schwarz

_Das geschieht:_

Im heißen Sommer des Jahres 1841 findet die junge Zigarrenverkäuferin Mary Rogers aus New York ihr grausames Ende. Ihre Leiche zieht man aus dem Hudson River. Die hübsche Frau war beliebt, ihr Tod empört die guten Bürger, die Presse spielt den Fall hoch. Deshalb wird die Ermittlung einem dem besten Kriminalisten seiner Zeit übertragen: Jacob Hays dient New York seit beinahe vier Jahrzehnten als Polizeichef. Er gilt als erfahren, aufgeschlossen und ist – in dieser Epoche keine Selbstverständlichkeit – unbestechlich.

Hays fahndet im Milieu der Unterwelt, die von gut organisierten, brutalen Verbrecherbanden mit malerischen Namen wie „Dead Rabbits“, „Plug Uglies“ oder „Bowery Butcher Boys“ beherrscht wird. Vor der Polizei fürchten sie sich nicht. Die Ermittlung ist deshalb schwierig und zeitaufwändig, zumal ein zweiter Sensationsmord Hays‘ Zeit in Anspruch nimmt: John Colt, ein erfolgloser Dichter, aber Bruder des berühmten Waffenfabrikanten Samuel Colt, ist mit seinem Drucker in Streit geraten, hat ihn erschlagen und die Leiche in einer Kiste versteckt, die nur zufällig entdeckt wurde. Obwohl reich und mit guten Verbindungen zur Politik, wird John zum Tode verurteilt. Seine Familie tut sich mit einer der großen Banden zusammen und lässt ihn aus der Todeszelle befreien.

In der Zwischenzeit hat Hays im Mordfall Rogers einen neuen Verdächtigen gefunden: Edgar Allan Poe ist ein leidlich bekannter Autor und Dichter aus Philadelphia, den seine unerbittliche Kritikerfeder dem literarischen Establishment entfremdet hat. Er lebt in bitterer Armut und seelischer Not und kannte Mary Rogers nach Hays‘ Ansicht ein wenig zu intim, um unschuldig zu sein. Aber Poe leugnet entschieden und die Beweise gegen ihn reichen nicht aus.

Hays gibt nicht auf. Die Ermittlungen ziehen sich acht Jahre hin. Hartnäckig versucht der alte Constable den Mord aufzuklären. Gemeinsam mit seiner Tochter entwirrt er ein Komplott, dessen brillante Infamie atemberaubend ist …

_Historienroman = historische Wahrheit?_

„Kein Rabe so schwarz“ ist ein Historienkrimi, dessen spannende Story und ihr geschichtliches Umfeld sehr genau recherchiert (und anschließend – s. u. – planvoll missachtet) wurde. 17 Jahre hat Joel Rose (mit Unterbrechungen) an seinem Buch gearbeitet, wie er in seinem Nachwort schreibt, und eine Unzahl zeitgenössischer Quellen sowie historischer Sachbücher und Artikel zu Rate gezogen, die er in Auswahl ebenfalls auflistet.

Ihm ist das seltene Kunststück gelungen, eine längst vergangene Welt wieder zum Leben zu erwecken. „Kein Rabe so schwarz“ nutzt die Ereignisse der Jahre 1841 bis 1849, um in die Lücken eine fiktive Handlung einzuflechten. Das Ergebnis ist gelungen. Realität und Erfindung gehen eine bemerkenswerte Symbiose ein. Die prominenten Personen, die Rose namentlich nennt oder auftreten lässt, sind zu den genannten Zeiten an den genannten Orten gewesen. Mary Rogers wurde 1841 grausam ermordet. Joseph Hays hat von 1772 bis 1850 gelebt und war für seine deduktiven Fähigkeit sogar in Europa berühmt. New Yorks bizarre Gangsterwelt und der Höllenpfuhl „Five Points“ sind ebenfalls authentisch.

Rose unterstreicht den Realitätsbezug, indem er einen Schritt weiter geht: Er schildert das Geschehen streng aus der Sicht der Menschen des 18. Jahrhunderts, verkneift sich also Vorgriffe auf das Wissen der Gegenwart. Die Figuren denken und sprechen, wie es in ihrer Zeit typisch war. Jacob Hays ist seiner Epoche als Kriminalist weit voraus. Trotzdem ist er kein Genie oder gar Übermensch, sondern bleibt in zeitgenössischen Irrtümern gefangen. So ist er beispielsweise davon überzeugt, Verbrechen anhand ihrer Physiognomie zu erkennen (fliehendes Kinn = feiger Mörder), eine in dieser Zeit sehr verbreitete ‚wissenschaftliche‘ Betrachtungsweise, die sich längst als absolut falsch herausgestellt hat.

Für Hays Zeitgenossen ist es selbstverständlich, dass schwarze Diener oder Sklaven ihnen rund um die Uhr zu Diensten und Frauen (willens-)schwache Wesen sind, die zu ihrem eigenen Schutz kontrolliert und von der Welt abgeschottet werden müssen. Hays selbst setzt Verdächtige unter Druck, presst ihnen Geständnisse unter Androhung körperlicher Gewalt ab. Der Tod am Galgen gilt als gerechte Sühne für jedes Kapitalverbrechen.

Gleichzeitig schließt Armut einen Menschen gesellschaftlich nicht aus, solange er nur seinen Status als ‚Gentleman‘ behält. Edgar Allan Poe ist zwar ein zerlumpter Schreiberling, von dessen Misere jede/r weiß. Dennoch kann er sich als Spross einer alten Südstaatendynastie und ehemaliger Offiziersanwärter unter die Prominenz seiner Zeit mischen. Sie helfen ihm nicht, sie lästern über ihn, aber sie dulden ihn in ihrer Mitte: Die Exotik der Vergangenheit zeigt sich hier als faszinierende Fassette.

_Realität als Spielplatz der Unterhaltung_

Rose arbeitet ausgiebig mit Zitaten aus zeitgenössischen Zeitungen, Romanen oder Gedichten. Er greift auch sonst den Sprachduktus der beschriebenen Epoche auf, wobei der Stil zumindest in der (überaus lesbaren) deutschen Übersetzung so gemildert wird, dass er bemerkbar bleibt, aber den Leser des 21. Jahrhunderts nicht überfordert.

In einem zweiten Schritt verlässt Rose die Ebene der Realität. „Kein Rabe so schwarz“ ist letztlich Fiktion, wie der Verfasser in seinem Nachwort versichert. Er hat sich die Geschichte ausgedacht und die historischen Fakten manipuliert, damit sie sich einpassen lassen, die Zitate wurden teilweise ‚zweckentfremdet‘ und anderen Personen in die Münder gelegt oder in die Federn diktiert – eine legitime Vorgehensweise, denn nie ersetzt ein Historienroman die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die Umstände von Poes Tod werden so beschrieben, wie sie von der Forschung (die sich freilich weiterhin uneins ist) ermittelt werden konnten, aber seine Verwicklung in den Mordfall Marie Rogers ist erfunden.

_Edgar Allan Poe und Mary Rogers_

Der Meister der geschriebenen und gedichteten Literatur des 19. Jahrhunderts ist selbst eine ideale Romanfigur. Poes kurzes Leben (1809-1849) war turbulent und oft unglücklich, sein eigener Tod weiterhin nicht ohne Rätsel. Obwohl verschlossen und wohl depressiv, war er keineswegs einzelgängerisch, sondern eine in der Gesellschaft von Baltimore, Philadelphia oder New York City präsente Gestalt. Als (wenig erfolgreicher) Schriftsteller war Poe sehr interessiert an mysteriösen Vorfällen und Gewalttaten, die sich schon damals positiv auf die Auflagenhöhe auswirkten. Aus seiner Recherche im Fall Mary Rogers resultiert eine der ersten Detektivstorys der Weltliteratur: In „The Mystery of Marie Rogêt“ (dt. „Geheimnis um Marie Roget“), entstanden 1842, löst Privatermittler C. Auguste Dupin – Poe lässt die Ereignisse in Paris spielen – stellvertretend für seinen literarischen Vater den Mordfall Mary Rogers. Auch Poes Version fehlen letztlich die nötigen Beweise. Als Gedankenspiel und Lektion in deduktivem Denken ist „The Mystery …“ jedoch ein Meilenstein der (Kriminal-)Literatur.

Rose schildert Poe als vielfach Getriebenen, als Außenseiter, der gegen eine Welt wütet, die sein Talent nicht anerkennen und honorieren will. Er weigert sich dem Establishment nachzugeben und zahlt seinen Preis dafür. Poe ist vielleicht ein verkanntes Genie, aber Rose deckt auch seine weniger angenehmen Seiten auf – seinen Hang zum Plagiat, seine Charakterschwächen, seine manipulative Ader.

_Joseph und Olga Hays_

Joseph Hays ist nicht Poes Gegenspieler. Tatsächlich fällt es schwer, diesen Mann einzuordnen. Zunächst tritt er als personifiziertes Gesetz auf, aber mehr und mehr wird deutlich, dass Hays vor allem deshalb so unerbittlich ist, weil er mit seinem Privatleben wenig anzufangen weiß. Seine Familie hat er bis auf eine Tochter überlebt, Hobbys hat er nicht. Als man ihn seines Postens enthebt, macht er deshalb einfach weiter wie bisher.

Kein Unterhaltungsroman, der heute erfolgreich sein möchte, kommt ohne eine ’starke‘ Frauenfigur aus … Vor allem im historischen Umfeld ist das oft eine Herausforderung, da Frauen (s. o.) in vielen Zeitaltern nur ausnahmsweise die traditionellen Grenzen des ihnen zugewiesenen Lebensdreiecks (Kinder – Küche – Kirche) durchbrechen konnten. Olga Hays übernimmt wichtige Ermittlungsaufgaben für ihren Vater. Sie ist sogar berufstätig und intellektuell aktiv. Rose vermeidet es indes zu übertreiben; Olga bleibt in ‚ihrem‘ geschlechtsspezifischen Raum, dessen Wände sie nur behutsam dehnt.

Die Sorgfalt der Charakterisierung erstreckt sich auf die vielen weiteren Figuren. Das lässt verschmerzen, dass die Geschichte in ihrem letzten Drittel von ihrem Kurs abzuweichen und sich in eine Chronik der letzten Tage des Edgar Allan Poe zu verwandeln beginnt. Der Verfasser findet den Weg zurück in einem offenen Finale, das manchen Leser unzufrieden zurücklassen mag. Das Rätsel der Mary Rogers wird allerdings gelöst. Viele weitere Fragen bleiben ohne Antworten – genau wie im richtigen Leben.

_Links für interessierte Leser_

Einiges kann sich der Leser selbst erschließen. Vier Quellen, die für mich aufschlussreich waren, liste ich abschließend auf; unzählige Links führen auf weitere interessante Websites oder verweisen (ganz altmodisch) auf gedruckte Informationsträger:

– http://www.trutv.com/library/crime/notorious__murders/classics/mary__rogers („The Murder Mystery of Mary Rogers“: Douglass MacGowan rekonstruiert ausführlich und mit vielen zeitgenössischen Abbildungen den Mordfall Mary Rogers.)

– http://urbanography.com/5__points („Where ‚The Gangs‘ Lived. New Yorks Desperate Five Point Neighborhood in the mid-19th Century“: Gregory Christiano berichtet über das organisierte Verbrechen im New York des 19. Jahrhunderts. Eine grandiose Darstellung liefert – auch in deutscher Sprache – Herbert Asbury in [„Gangs of New York“, 596 Heyne-TB Nr. 18582; dieses Buch bildete die Vorlage zum gleichnamigen Film von Martin Scorsese. Auch Rose bezieht sich darauf.)

– http://www.usgennet.org/usa/ny/state/police/ch4pt3.html („High Constable Hays“: Auszug aus „Our Police Protectors, History of the New York Police“, 1885.)

_Der Autor_

Joel Rose wurde 1960 in Los Angeles geboren, wuchs aber in New York City auf, wo er Literatur am Hobart College sowie an der Columbia University studierte. Anschließend war er als Assistent für den Drehbuchautoren Leonard Kanter tätig und arbeitete an der TV-Serie „Miami Vice“ mit, was ihn zu seinem Thriller „Kill the Poor“ (1988) inspirierte. Dieser wurde 2006 verfilmt; dies geschah 2008 auch mit Roses Roman „Kill Kill Faster Faster“. Beide Filme wurden von der Kritik sehr positiv besprochen.

Neben seinen Romanen verfasste Rose auch den Comic-Roman „La Pacifica“ (1995) sowie das historische Sachbuch „New York Sawed in Half“ (2001). Mit seiner Familie lebt und arbeitet Joel Rose in New York. Über seine Arbeit informiert seine Website:

http://www.joelrosebooks.com

http://www.pendo.de

Cortez, Donn – CSI Miami – Tödliche Brandung

Auf einer Mangroveninsel vor der Küste Floridas findet ein Fischer die grässlich zugerichtete Leiche einer jungen Frau. Ein Meeresräuber scheint sie gepackt und umgebracht zu haben, doch Lieutenant Horatio Caine und sein CSI-Team von der Miami-Dade Police finden schnell heraus, dass hier raffinierter Mord die eigentliche Todesursache war.

Die kunstvolle Inszenierung der Tat weckt in dem erfahrenen Kriminalisten die Sorge, dass sich hier ein Serienkiller ‚warmläuft‘. In der Tat werden kurz darauf die Leichen eines Ehepaars aus dem Wasser gefischt. Der Ehemann war dem Mörder nur im Weg und wurde kurzerhand erschossen. Die Frau sitzt ausgeweidet am Steuer eines fünfzig Jahre alten Oldtimers, der auf offener See versenkt wurde.

Wie befürchtet, nehmen Gewaltintensität und Tempo der Bluttaten zu. Die Ermittlungen sind für die CSI-Spezialisten dieses Mal besonders schwierig, da sich die Tatorte unter Wasser befinden, in dem sich mögliche Indizien buchstäblich auflösen. Womöglich wird dem Killer die eigene Obsession zum Verhängnis; er hat sich das Kostüm eines bekannten B-Movie-Monsters nachschneidern lassen, das er bei seinen Attacken trägt. Die wenigen Spuren zusammenzutragen und auszuwerten, dauert indes seine Zeit – Zeit, die der Täter zur Vorbereitung einer neuen, noch bizarreren Mordtat nutzen kann …

_Die Stadt des gelebten Irrsinns_

Die „Miami“-Variante des erfolgreichen „CSI“-Franchises ist für einen gewissen Hang zu absurden Plots bekannt. Das kommt nicht von ungefähr, denn das reale Miami ist gleichzeitig Schmelztiegel und Vulkankrater für seine ethnisch und sozial oft sehr unterschiedlichen Bewohner. Hoch ist das Lebenstempo, gering die moralische Integrität vieler Glücksritter und Berufskrimineller, die von der tropischen Metropole magisch angezogen werden. Für die „CSI Miami“-Fernsehserie wird die Realität noch einmal dramatisiert und auf die Spitze getrieben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Zum Geschäft gehört die Beschickung des Buchmarktes mit so genannte „tie-ins“, Romanen zur Serie. Die sind Teil fast jedes Film- und Fernseh-Franchises, wo sie in der Regel ein stiefmütterliches Dasein führen. Drittklassige Lohnautoren produzieren sie wie am Fließband, denn die Ware ist verderblich: Mit dem Ende einer TV-Serie endet in der Regel auch das Interesse an „tie-ins“.

Das „CSI“-Franchise mied den Bodensatz erfreulicherweise von Anfang an. Man heuerte ‚richtige‘ Schriftsteller an, die hohes Schreibtempo mit handwerklichem Geschick plus Talent verbinden: Max Allan Collins, Stuart Kaminsky und nunmehr Donn Cortez. Während die beiden ersten Verfasser auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken können, ist Cortez noch relativer Neuling.

_Neuer Besen kehrt sehr gut_

Überraschung: Im Trio der „CSI“-Autoren ist er mit Abstand der Beste. So aberwitzig sein Plot vom mordenden Fischmenschen auch sein mag, er entwickelt ihn zu einer Story, wie wir sie gern im Fernsehen sehen würden. „Tödliche Brandung“ ist „CSI Miami“ vom Feinsten. Die Story wird rasant erzählt und weist gut getimte Höhepunkte auf. Wer glaubt, die mühsame Suche nach Spuren an Tatorten oder die umfangreichen Laboruntersuchungen ließen sich nur dank vieler Schnitte, erstaunlicher Tricktechnik und fetziger Musik ertragen, irrt: Cortez baut sie ins Geschehen ein, ohne dass dieses dadurch an Intensität verlöre.

Parallel dazu ‚arbeitet‘ er mit den bekannten Charakteren. Vor allem Horatio Caine wirkt in der TV-Serie zurückhaltend, ja kühl und oft abweisend. Hin und wieder lässt Darsteller David Caruso den wahren Caine durchscheinen, der wesentlich vielschichtiger ist, als er bereit ist zuzugeben. Cortez nutzt ’sein‘ Medium, um dem schweigsamen Caine quasi in den Schädel zu blicken. Der spricht wenig, aber denkt viel. Plötzlich wirkt er wesentlich menschlicher, ohne als Figur an Interesse zu verlieren.

Ähnlich ist es mit den anderen Beamten des „CSI“-Teams. Sie sind zwar eindeutige Nebendarsteller, die im Schatten Caines/Carusos stehen, verfügen aber ebenfalls über persönliches Profil und diverse Geheimnisse, mit denen der Verfasser sie geschickt zum Leben erweckt, ohne sie in Widerspruch zur Charakterisierung zu bringen, die das Fernsehen vorgibt – eine echte Herausforderung, die sich „Tie-in“-Autoren gern sparen und sich auf reine Handlung beschränken.

Cortez nutzt die Freiheit des Romans aus, um Winkel des „CSI“-Kosmos‘ zu betreten, die das prüde US-Fernsehen meiden muss. Hier ist es u. a. Calleigh Duquesnes Ausflug in Miamis Sadomaso-Szene – eine Szene, die Cortez als Teil einer kriminalistischen Untersuchung und der Konfrontation mit emotionalen Neuland ohne die sonst üblichen ‚ulkigen‘ Anspielungen & Schweinigeleien beschreibt.

Auch die Grausamkeit, mit der in „Tödliche Brandung“ Menschen zu Tode kommen, ist ein Gutteil ausgeprägter. Wer die TV-Serie kennt, wird sich über diese Aussage wundern, da dort Leichen in allen Stadien der Zerstörung oder Verwesung präsentiert werden. Cortez hat indes einen Weg gefunden, noch einen Gang höher zu schalten. Allerdings sind die von ihm geschilderten Scheußlichkeit kein Selbstzweck, sondern Teil der Handlung, die es nun einmal in sich hat.

_Die Imagination wird ‚reale‘ Vorlage_

„Gilly“, die „Kreatur aus der Tiefe“, erkennt der Filmfreund sogleich als ‚Kopie‘ des berühmten „Kiemenmanns“ aus dem phantastischen B-Movie-Klassiker „Creature from the Black Lagoon“ (dt. „Der Schrecken vom Amazonas“), den Regisseur Jack Arnold (1916-1992) 1954 zwar in Florida, aber nicht in der späteren Reichweite des CSI-Teams inszenierte.

Dass der Mörder sich dieses Kostüm wählte, ist ebenso perfide wie vielsagend, lebt doch der Film von der zwar verschlüsselten, für die 1950er Jahre jedoch sehr expliziten sexuellen Spannung zwischen dem Wesen und der schönen Frau, die es begehrt.

_Der Autor_

Donn Cortez ist das Pseudonym des kanadisches Schriftstellers Don H. DeBrandt, der unter seinem Geburtsnamen Science-Fiction und Horror schreibt. „The Quicksilver Screen“, sein Romandebüt von 1992, wurde vom renommierten SF-Magazin „Locus“ als Geheimtipp gehandelt. DeBrandt schrieb außerdem für „Marvel Comics“, wo er an Reihen wie „Spiderman 2099“ und „2099 Unlimited“ mitarbeitete.

Seit 2006 verfasst DeBrandt, der im kanadischen Vancouver lebt und arbeitet, Romane zur TV-Serie „CSI: Miami“. Über seine Werke informieren die Websites:

http://www.donncortez.com
http://www.sfwa.org/members/DeBrandt

|Originaltitel: CSI: Miami, Riptide
Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier
303 Seiten
ISBN-13: 978-3-8025-3623-6|
http://www.vgs.de

Clive Cussler/Dirk Cussler – Geheimcode Makaze [Dirk Pitt 18]

Durch die Verbreitung einer Super-Seuche will der Schurkenstaat Nordkorea die US-amerikanische Schutzmacht in die Knie zwingen, doch da seien Dirk Pitt, seine Kinder und die Unterwasser-Fexe der NUMA vor … – Rasanter Thriller (= Band 18 der Dirk-Pitt-Serie), der seine „America-first!“-Plattitüden so naiv präsentiert, dass sie sich kaum störend in die Ablauf dieses nach Schema F zusammengerührten, aber unterhaltsamen Rettet-die-Welt-Spektakels fügen: altmodischer Action-Spaß, der recht gut funktioniert.
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David Gerrold – Die Bestie

Per Zeitmaschine reisen acht Männer und Frauen in die Kreidezeit. Sie wollen das ultimative Jagderlebnis und pirschen auf den Tyrannosaurus Rex. Interne Streitigkeiten, Desorganisation und Selbstüberschätzung lassen sie scheitern. Plötzlich jagt die gewaltige Bestie sie – und das mit tödlicher Unerbittlichkeit … – Die vom Plot simple Geschichte ist nicht nur ein spannendes Abenteuergarn, sondern erzählt auch vom Menschen einer technisch fortgeschrittenen Zukunft, der geistig der (unreife) Alte geblieben ist: ein vergessener aber lesenswerter SF-Roman.
David Gerrold – Die Bestie weiterlesen

Allan Guthrie – Abschied ohne Küsse

Ein kleiner Gangster will den Selbstmord seiner Tochter aufklären, wird in eine Falle gelockt und steht plötzlich als Mörder dar. Von der Polizei bedrängt, tritt er die Flucht nach vorn an und gerät in ein Komplott, das sein Leben endgültig zu zerstören droht … – Spannender und schneller Thriller im Gangster-Milieu für hartgesottene Leser: Sympathieträger gibt es nicht, Intrigen und Gewalt bestimmen die Szene – eine angenehme Abwechslung zu den Schmuse-und-Schwätzer-Krimis der Bestsellerlisten.
Allan Guthrie – Abschied ohne Küsse weiterlesen

Dave Freedman – Creature

Eine Umweltkatastrophe lässt Tiefsee-Riesenrochen zu lufttauglichen Flugdrachen mutieren, die an der US-Küste gefräßig für Angst, Schrecken & Verluste unter Anwohnern und Touristen sorgen … – Das gute, alte Garn vom Monster aus dem Meer erfährt hier seine genrekonforme, d. h. auf Originalität verzichtende Neuauflage; die Story wird jedoch flott und spannend entwickelt und geschrieben, was mit der Reihung einschlägiger Klischees aussöhnt: Lesefutter der leichten aber bekömmlichen Art.
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Michael Delving – Satan schreibt Memoiren

_Das geschieht:_

Einmal im Jahr besuchen die US-amerikanischen Antiquitätenhändler Dave Cannon und Bob Eddison England, um dort nach interessanten Stücken für ihren Laden zu stöbern. In Bartonbury, einem kleinen Städtchen in der Grafschaft Glouchestershire, wittern sie eine unerwartete Chance: Dort hat Tristram Vail seinen Altersruhesitz aufgeschlagen. Einst galt er als Hexenmeister und Antichrist, der eine große Anhängerschar um sich versammelte und durch gotteslästerliche und unzüchtige Praktiken von sich reden machte.

Nun ist Vail müde und knapp bei Kasse. Gern würden Cannon und Eddison einige Bände aus seiner legendären Bibliothek okkulter Schriften erwerben. Die Verhandlungen gestalten sich indes schwierig. Vail ist kein reuiger Sünder; im Gegenteil will er seine Memoiren schreiben, was einigen Jüngern, die inzwischen zu Ämtern und Würden gelangten, gar nicht gefallen dürfte. Außerdem geht das Gerücht, dass Vail hinter diversen Einbrüchen in Kirchen der Umgebung steckt, die anschließend auch noch geschändet wurden. Der Verdacht verstärkt sich, als Richard Foss, Vails Sekretär, in der Dorfkirche gefunden wird – scheinbar beim Versuch, einen kostbaren Kelch zu rauben, von einem alten Schwert durchbohrt, das sich wie durch Zauberhand (!) aus seiner Verankerung löste.

Chefinspektor Codd, der mit der Klärung des Falls beauftragt wird, ist ein alter Bekannter von Cannon und Eddison. Er hat deshalb nichts dagegen, dass sich das Duo detektivisch betätigt. Hinter den Kulissen von Bartonbury geht es alles andere als beschaulich zu. Nicht nur der alte Vail hütet düstere Geheimnisse. Schwarze Magie oder simpler Betrug: Was steckt hinter den Ereignissen? Diese Frage gilt es zu beantworten, bevor sich der nächste ‚Unfall‘ ereignet …

_Die Macht der Vergangenheit_

Alte Sünden sterben nicht wirklich, Ohne diese Tatsache gäbe es die meisten Krimis gar nicht. Irgendwann hat man einen Fehler begangen, man verstieß gegen ein Gesetz oder eine moralische Regel, kam davon bzw. wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Das Leben geht weiter, man steigt auf, genießt gesellschaftliches Ansehen. Immer bleibt jedoch die Erinnerung, die von der Angst vor Entdeckung begleitet wird. Irgendwann ist es so weit. Wie wird man reagieren? Das offene Geständnis widerspricht natürlich dem Wesen des Krimis. Genregerecht wird versucht zu vertuschen, man verwickelt sich in Widersprüche, gerät in die Enge, deren Fesseln schließlich durch Gewalt gesprengt werden sollen, was alles nur schlimmer macht.

Dieser Plot ist wahrlich klassisch und zeitlos zugleich. Er wird gern verwendet und kann durch diverse Ausschmückungen individualisiert werden. Das gelingt bedrückend oft besser als in diesem Fall: „Satan schreibt Memoiren“ – der Originaltitel lautet ähnlich knallig „The Devil Finds Work“ – ist einerseits ein grundsolider und andererseits ein ziemlich langweiliger Krimi, was durch die altbackene Übersetzung noch unterstrichen wird. Das Landhaus, das Schloss, der kleine Ort: Ein wirklich inspirierter Autor vermag auch im abgegriffenen Ambiente des englischen „Whodunit?“ Stimmung und Spannung zu schaffen. Michael Delving, der seine schriftstellerischen Erfolge außerhalb des Krimis feierte, bringt nur handwerklich sauberes Mittelmaß hervor.

_Zwei Amerikaner, aber nicht in Paris_

Seltsam fehl am Platz wirken Delvings Serienhelden. Dabei ist der Gedanke, zwei US-Amerikaner in die englische Provinz zu locken, gar nicht abwegig. Viele Krimi-Autoren haben sich des Kunstgriffs bedient, den Ort des Verbrechens quasi durch fremde Augen zu betrachten. Was für die Bewohner von Bartonbury selbstverständlich ist, muss den ausländischen Besuchern – und damit den Lesern – ausführlich erklärt werden. Amerikaner stehen darüber hinaus für eine lockere Lebensart, die gern in reizvollen Kontrast mit den steifen Briten gestellt wird.

Leider sind Dave Cannon und Bob Eddison zwei denkbar farblose Charaktere. Es musste noch ein Vierteljahrhundert verstreichen, bevor Archäologen, Historiker und Antiquitätenhändler zu Helden und die Buchläden mit Mystery-Thrillern geflutet wurden; Nicolas Cage führt in „National Treasure“ (besonders Teil II: „Das Vermächtnis des geheimen Buches“) vor, wie das dann filmisch umgesetzt wird: wesentlich actionreicher.

Dabei hat sich Autor Delving in dieser Hinsicht sogar etwas ausgedacht: Bob Eddison ist ein nordamerikanischer Ureinwohner (= „Indianer“, wie das 1970 noch gesagt werden durfte). Das ist für die Krimi-Handlung völlig unerheblich. Stattdessen baut Delving eine Szene ein, in der Eddison mit Rassenvorurteilen konfrontiert wird, was schrecklich aufgesetzt wirkt, weil es offenkundig nur Vorwand für einen politisch korrekten Anti-Rassismus-Appell an die Leserschaft ist. Womöglich hat sich diese in den turbulenten 1970ern, in denen die Diskussion über Menschenrechte en vogue war, nicht so sehr darüber gewundert wie der Rezensent im 21. Jahrhundert.

Bartonbury wird von der üblichen Schar exzentrischer Engländer bevölkert, die Delving publikumswirksam von Agatha Christie entliehen hat. Die Atmosphäre ist so altertümlich, dass die Erwähnung der Gegenwart des Jahres 1970 beinahe störend wirkt. Viele Zeilen widmet unser Verfasser der Beschreibung historischer Bauwerke und Artefakte; vielleicht wird der kleine Ort deshalb von so vielen Käuzen bewohnt … Bedauerlicherweise sind sie nur seltsam, aber nicht liebenswert und nur in Maßen unterhaltsam.

_Götterdämmerung für einen Magier_

Mehr Mühe hat sich Delving mit der Figur des Tristram Vail gegeben. Er ist in Gestalt, Auftreten und Biografie ein akkurates Ebenbild von Aleister Crowley (1875-1947), dem „Magicker“, Schriftsteller, Maler und Bergsteiger, der eine Zeit lang als „bösester Mensch des Jahrhunderts“ galt und sich selbst als die „Große Bestie 666“ aus den Offenbarungen des Johannes bezeichnete. (Insofern ist es nachvollziehbar, das uns Christopher Lee, der in seiner langen Filmkarriere so manchen gottlosen Finsterling mimte, vom Cover der deutschen Ausgabe bedrohlich anstarrt.) Tatsächlich war Crowley kein simpler Satanist, was seine Gegner, in den östlichen und kabbalistischen Lehren meist wenig bewandert und von Crowley, einem genialen Selbstdarsteller, geschickt manipuliert und gereizt, in der Regel nicht zur Kenntnis nahmen.

Michael Delving präsentiert mit Tristram Vail einen gealterten, von der Welt weitgehend vergessenen Crowley, der aber noch als Schatten seiner selbst eine faszinierende Persönlichkeit ist und von seinen Attitüden nicht lassen mag. Vail meint die Regeln der Selbstvermarktung verinnerlicht zu haben; er ist fest davon überzeugt, dass ihm seine Memoiren den Weg zurück ins Rampenlicht bahnen, denn „sex sells“, wie der alte Zyniker weiß. Zu seinem Pech verlässt er sich nicht darauf, sondern wandelt vorsichtshalber auch auf krummen Pfaden. Sein Schicksal ist nicht tragisch, sondern kläglich. Damit passt es sehr gut ins Finale, das zwar aufklärt, aber nichts von der Spannung der klassischen Kriminalromane aufweist, auch wenn alle Verdächtigen genrekonform zur Auflösung zusammenkommen: Dieser Roman ist keine echte Wiederentdeckung. „Satan schreibt Memoiren“ dürfte schon 1970 als simples Lesefutter gedient haben. Dabei ist es geblieben; nicht hinter jedem angejahrten Krimi verbirgt sich halt ein Klassiker, sondern manchmal nur – Staub …

_Der Autor_

Michael Delving wurde als Jay Williams am 31. May 1914 in Buffalo (US-Staat New York) geboren. Der Sohn eines Vaudeville-Produzenten besuchte in den frühen 1930er Jahren die Universität. In der Zeit der großen Wirtschaftskrise oft arbeitslos, trat er als Komödiant auf.

Ab 1936 arbeitete Williams als Presseagent für die „Hollywood Theatre Alliance“. Der II. Weltkrieg unterbrach diese Tätigkeit. Williams wurde einberufen und diente bis 1945 in der Armee. Schon in dieser Zeit begann er zu schreiben; sein Romandebüt wurde 1943 „The Stolen Oracle“, ein Krimi für jugendliche Leser.

Erfolgreich und berühmt wurde Williams vor allem mit seiner Mystery-Serie um „Danny Dunn“, die es zwischen 1956 und 1977 auf 15 Bände brachte. Neben weiteren Kinder- und „Young Adult“-Büchern verfasste er auch Historienromane und historische Sachbücher für ein erwachsenes Publikum, zahlreiche Science-Fiction-Storys sowie unter dem Pseudonym „Michael Delving“ sieben Krimis, davon sechs um den Antiquitätenhändler Dave Cannon, der mal mit, mal ohne seinen Partner Bob Eddison unfreiwillig in Verbrechen verwickelt wird. Insgesamt veröffentlichte Jay Williams, der am 12. Juli 1978 starb, mehr als 75 Bücher.

Die Cannon/Eddison-Krimis erschienen hierzulande im |Wilhelm Goldmann|-Verlag.

(1967) Smiling the Boy Fell Dead (dt. „Der Tod des Gärtners“) – Nr. 4188
(1970) The Devil Finds Work (dt. „Satan schreibt Memoiren“) – Nr. 4160
(1970) Die Like a Man (dt. „Das Geheimnis der 13 Stühle“) – Nr. 4141
(1972) A Shadow of Himself (dt. „Ein Schatten seiner selbst“) – Nr. 4210
(1975) Bored to Death/A Wave of Fatalities (dt. „Schwer wie Blei“) – Nr. 4538
(1978) No Sign of Life

Rankin, Ian – Eindeutig Mord. Zwölf Fälle für John Rebus

Zwölf Kurzgeschichten erzählen von ‚klassischen‘ Verbrechen im schottischen Edinburgh und ihrer Aufklärung durch den exzentrischen, aber fähigen Inspector Rebus:

– Playback („Playback“), S. 9-36: Inspector Rebus hasst die moderne Technik, aber der raffinierte Anrufbeantworter eines Mordverdächtigen fasziniert ihn – mit unerwarteten Folgen …

– Der Fluch des Hauses Dean („The Dean Curse“), S. 37-70: Ein Pechvogel von Dieb stiehlt ausgerechnet ein Auto, in dem eine Bombe installiert wurde; John Rebus ist das des Zufalls zu viel …

– Frank und frei („Being Frank“), S. 71-88: Landstreicher Frank belauscht zwei aus seiner Sicht gefährliche Verschwörer; Inspector Rebus weiß zum Pech für ein diebisches Duo Franks wirre Rede zu deuten …

– Eine Leiche im Keller („Concrete Evidence“), S. 89-116: Die Spur ist längst eiskalt in diesem uralten Mordfall, doch John Rebus macht das mit Einfallsreichtum und Dreistigkeit wett …

– Ansichtssachen („Seeing Things“), S. 117- 144: Die Erscheinung des leibhaftigen Jesus Christus entpuppt sich als Fehlinterpretation im Rahmen eines sehr profanen Verbrechens …

– Gut gehängt („A Good Hanging“), S. 145-178: Als genialischer Mörder sollte man vorsichtig sein, wenn man sich mit Inspector Rebus anlegt …

– Von Meisen und Menschen („Tit for Tat“), S. 179-202: Beobachtet er seltene Vögel oder hübsche Frauen? John Rebus stellt einen Hobbyfotografen auf die Probe …

– Not Provan („Not Provan“), S. 203-224: Kann ein Täter zur selben Zeit an zwei unterschiedlichen Orten sein? Inspector Rebus erklärt, wie’s geht …

– Sonntag („Sunday“), S. 225-240: Ein scheinbar ganz normales Wochenende spiegelt für John Rebus eine schreckliche Erfahrung wider …

– Auld Lang Syne („Auld Lang Syne“), S. 241-258: Im Neujahrstrubel auf Edinburghs Straßen entdeckt Inspector Rebus einen Gewaltverbrecher, den er sicher im Gefängnis wähnte …

– The Gentlemen’s Club („The Gentleman’s Club“), S. 259-282: Hinter den Fassaden zweier vornehmer Familien fördert Rebus das nackte Grauen zutage …

– Monströse Trompete („Monstrous Trumpet“), S. 283-318: 15 aufgebrachte Frauen sitzen Rebus im Nacken, der ein gestohlenes Kunstwerk wiederbeschaffen soll …

_Gegeizt wird mit Worten, aber nicht mit Spannung_

Die John-Rebus-Romane des Ian Rankin zeichnen sich (mit Ausnahme des ersten Bandes, der allerdings eine Sonderstellung einnimmt) nicht nur durch ihren enormen Unterhaltungswert, sondern auch durch ihre mit den Jahren stetig zunehmende Seitenstärke aus. Als Leser hat man sich daran gewöhnt und glaubt inzwischen sogar an ein Muss dieser Breite, ist doch die kriminelle, kriminalistische und private Welt des John Rebus so komplex geworden, dass sie selbst episodenhaft unter 500 Seiten nur ansatzweise zu würdigen ist.

„Playback“, die erste Story dieser Sammlung, schürt denn auch die Befürchtung, dass die kurze Form nicht die richtige für Rebus ist. Der Plot ist simpel: ein „Whodunit?“, wie es kaum rebustypisch genannt werden kann und zudem hölzern erzählt wird. Schon Anfang der 1990er Jahre dürfte die Auflösung wenig überzeugend gewirkt haben. Mit unfehlbarer Sicherheit fischt Rebus – zu diesem Zeitpunkt noch Inspector – das entscheidende Indiz aus einem Mülleimer. Offenbar hat ihn der Blitz der Erkenntnis getroffen, denn keine ‚logische‘ Erklärung kann seinen Fund nachvollziehbar machen.

Aber bereits mit „Der Fluch des Hauses Dean“ hat Rankin die Kurzgeschichte in den Griff bekommen. Das geschilderte Verbrechen ist ebenfalls ziemlich abgehoben, aber das geht in einem Feuerwerk boshaft-präziser Milieustudien, Reminiszenzen an Edinburghs oft bizarre Vergangenheit, tragikomischer Tücken des Objekts und knochentrockener bis schwarzhumoriger Scherze unter, wie wir sie kennen und lieben. Das Privatleben seines ‚Helden‘ ist für Ian Rankin ebenso integrales Element des modernen Kriminalromans wie für die meisten seiner Schriftstellerkollegen (vor allem diejenigen weiblichen Geschlechts), doch er meidet geschickt die seifenoperlichen Pseudo-Dramen, mit denen diese viel zu oft die Handlung aufblähen.

_Die vielen Fassetten des John R._

Rebus ist ein vielschichtiger Charakter. Rankin nutzt die Kurzgeschichte, um diverse Aspekte seines Wesen herauszuarbeiten. Die Story unterstützt die Möglichkeit der konzentrierten Darstellung. Beeindruckend ist Rankins Kunst, diese Figurenzeichnung jeweils in eine spannende Krimihandlung einzubetten. Die ist selten klassisch und beschränkt sich nicht auf die übliche Entlarvung alibifester Verdächtiger. „Frank und frei“ ist ein schönes Beispiel für Rankins Spiel mit dem Genre. Im Mittelpunkt steht ein Außenseiter, dessen Leben Rankin anschaulich beschreibt, bevor Rebus eher zufällig die Szene betritt, woraufhin das Geschehen einen Verlauf nimmt, der so grotesk ist, wie das Leben manchmal tatsächlich spielt.

Gelungen balanciert Rankin auch mit „Ansichtssachen“ auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Ernst. Er kennt ’seine‘ Schotten, deren Eigenarten er buchstäblich Gestalt annehmen lässt. Schließlich gehört er selbst zu ihnen – eine Erkenntnis, die zu den eher düsteren Seiten des John Rebus überleitet, denn schnell kann die Stimmung umschlagen. Der Rebus aus „Eindeutig Mord“ ist dem ehemaligen Elite-Soldaten, der einen psychischen Zusammenbruch erlitt, noch sehr nahe; er ist labil und sehr von Stimmungen abhängig, was er gern vor sich selbst verbirgt. Gleichzeitig drastisch und einfühlsam beschreibt Rankin dies in „Sonntag“, als er dem Leser nur Stück für Stück ein furchtbares Erlebnis enthüllt, über das sich nachzudenken Rebus einfach weigert. Selbstverständlich funktioniert diese Verdrängung nicht; der Schrecken holt Rebus und mit ihm den Leser letztlich doch ein.

„Not Provan“ zeigt einen Rebus, der dem Gesetz nicht nur auf unkonventionelle Weise zu seinem Recht verhilft, indem er gesellschaftliche Regeln und Privilegien ignoriert bzw. durch seine ausgeprägte kriminalistische Findigkeit ersetzt. Dieses Mal bricht Rebus das Gesetz, um einen Verbrecher, dessen Taten er sehr persönlich nimmt, ins Gefängnis zu bringen. In „The Gentleman’s Club“ kann er den Schuldigen dagegen nicht der Gerechtigkeit ausliefern, was ihn, der unter der Schutzschicht des Zynikers sorgfältig sein idealistisches Wesen verbirgt, zutiefst verbittert.

Was macht John Rebus zu dem fähigen Polizisten, der er bei aller Exzentrik ist? Intelligenz, Erfahrung, dazu eine ausgeprägte Kenntnis Edinburghs und seiner Bewohner – das sind vier Schlüssel zum Erfolg. Da ist aber mehr, eine diffuse, schwer fassbare Intuition, über die sich Rankin Detective Constable Holmes, die heimliche zweite Hauptfigur dieser Sammlung, ausgiebig den Kopf zerbrechen lässt. Holmes – der Name ist Ironie, denn tatsächlich übernimmt diese Figur die Rolle des Watson – beobachtet seinen Chef bei der Arbeit und kommt selbstkritisch zu dem Schluss, dass ihm das Fünkchen vielleicht sogar irrer Genialität abgeht, das Rebus auszeichnet.

_Das Schicksal ist Schotte_

Dabei weiß Rebus um die Unwägbarkeiten eines Schicksals, das ihm immer wieder Streiche spielt. In „Auld Lang Syne“ nimmt eine Drogenrazzia einen völlig unerwarteten Verlauf, der aus einem anderen Blickwinkel betrachtet freilich völlig zielgerichtet wirkt; in „Ansichtssachen“ verwandelt sich eine religiöse Epiphanie in einen ganz und gar weltlichen Gangsterkrieg; in „Von Meisen und Menschen“ erweist sich das scheinbare Opfer heimtückischer Selbstjustiz als Täter: Nur selten sind die Dinge, wie sie zu sein scheinen. Was Holmes nicht begreifen kann, ist die daraus resultierende Lehre, die Rebus verinnerlicht hat – meide Konventionen und bleibe offen für Überraschungen, die garantiert eintreffen werden.

Auf dass diese Lektion nicht skandinavisch depressiv ausklingt, illustriert Rankin sie mit „Monströse Trompete“, einem kleinen Kabinettstück ausgefeilter Krimi-Komik. Ohne Rücksicht auf politische Korrektheit schildert er die einerseits kriminellen Umtriebe einer Gruppe von Frauen, die andererseits ausgesprochen ‚weibliche‘ und unter diesem Gesichtspunkt logische Beweggründe für ihr Tun vorbringen können. Holmes wendet an, was er auf der Polizeischule gelernt hat, und scheitert, während Rebus leichtfüßig über seinen Schatten springt und Deduktion mit Intuition ergänzt. Plötzlich wirkt ein völlig konfuses Geschehen absolut überzeugend. Der frustrierte Holmes akzeptiert die Tatsache, dass sein Vorgesetzter eine ganz besondere Sorte Mensch und Polizist ist, und ist gespannt auf die weitere Zusammenarbeit – eine Empfindung, die die Leser dieser zwölf Geschichten gern mit ihm teilen.

_Der Autor_

Ian Rankin wurde 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studierte er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh begann er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselte er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versuchte er sich an einem Roman, fand aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erschien 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen war, verließ Rankin 1986 die Universität und ging nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitete. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasste Rankin in rascher Folge drei Action-Thriller.

1991 griff er eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hatte auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelang Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftete. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten ansprach, wurde er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil ‚gerechtes‘ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kamen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnete ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrte man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewann im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC begann, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane erscheinen in Deutschland im |Wilhelm Goldmann Verlag| (Stand: Juni 2008):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, „Knots & Crosses“) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, „Hide & Seek“) – TB-Nr. 44608
03. [Wolfsmale 1943 (1992, „Wolfman“/“Tooth and Nail“) – TB-Nr. 44609
04. [Ehrensache 1894 (1992, „Strip Jack“) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, „The Black Book“) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, „Mortal Causes“) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, „Let it Bleed“) – TB Nr. 45428
08. [Das Souvenir des Mörders 1526 (1997, „Black & Blue“) – TB Nr. 44604
09. [Die Sünden der Väter 2234 (1998, „The Hanging Garden“) – TB Nr. 45429
10. Die Seelen der Toten (1999, „Dead Souls“) – TB Nr. 44610
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, „Set in Darkness“) – TB Nr. 45387
12. [Puppenspiel 2153 (2001, „The Falls“) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, „Resurrection Man“) – TB Nr. 45833
14. Die Kinder des Todes (2003, „A Question of Blood“) – TB Nr. 46314
15. [So soll er sterben 1919 (2004, „Fleshmarket Close“) – TB Nr. 46440
16. [Im Namen der Toten 4583 (2006, „The Naming of the Dead“)
17. „Exit Music“ (2007, noch kein dt. Titel)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: diese sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten. Wer es versuchen möchte, kann auch seine Englisch-Kenntnisse mit Hilfe der Rebus-Krimis aufpolieren: „Just Ask Inspector Rebus“ sowie „Three New Cases for Inspector Rebus“ erschienen 2007 in der Reihe der Berlitz-Sprachführer.

|Originaltitel: A Good Hanging
Aus dem Englischen von Giovanni & Ditte Bandini
317 Seiten
ISBN-13: 978-3-442-45604-8|
http://www.goldmann-verlag.de