Alle Beiträge von Michael Drewniok

Robin Hanbury-Tenison (Hg.) – Die 70 großen Reisen der Menschheit

Inhalt:

In sechs Großkapiteln stellt Herausgeber Robin Hanbury-Tenison – selbst ein großer Reisender und mit der Materie vertraut – 70 historische Reisen vor, die das Verständnis von der Gestalt dieser Erde und der Kenntnis ihrer Pflanzen, Tiere und Menschen entscheidend prägten. Die Gliederung folgt historischen Epochen und berücksichtigt darüber hinaus die zeittypischen Formen des Reisens.

1. Altertum: In einer noch weitgehend menschenleeren Welt zogen ‚Reisende‘ im Gruppen- und Familienverbund ins Unbekannte. Ob die Menschen, die vor 100.000 Jahren Afrika verließen, dies aus reiner Not taten oder ob sie bereits die Ferne lockte, muss als Frage mangels Quellen unbeantwortet bleiben. Hatte man Neuland erreicht und kultiviert, kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem Überschuss erzielt und (Fern-) Handel getrieben wurde – und der Moment, in dem sich der Nachbar dieses Reichtums gewaltsam bemächtigen wollte. Robin Hanbury-Tenison (Hg.) – Die 70 großen Reisen der Menschheit weiterlesen

Michele Giuttari – Das Monster von Florenz. Anatomie einer Ermittlung

Der leitende Untersuchungsbeamte rekapituliert die 30 Jahre währenden Ermittlungen im Fall des „Monsters von Florenz“, das 16 Menschen ermordete, und schildert die zahlreichen Fehler und Manipulationen, die eine Bestrafung des oder der Schuldigen behinderten … – Überaus (und manchmal allzu) detailliert zeichnet der Verfasser die von ihm geleiteten Ermittlungen nach. „Das Monster von Florenz“ ist nicht nur Giuttaris Bericht, sondern auch sein Versuch, bittere berufliche und persönliche Erfahrungen aufzuarbeiten.
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James Powlik – Tod aus der Tiefe

In der Tiefsee mutiert eine Lebensform heran, die jegliches Leben grässlich beenden kann. Mutige Wissenschaftler warnen, doch feige Politiker und gierige Geschäftsleute sorgen dafür, dass sich der Unterwasser-Schrecken pandemisch ausbreiten kann … – Katastrophen-Thriller der Mittelklasse; sämtliche Klischees werden abgearbeitet, in Sachen Originalität bleibt das Garn steril: Lesefutter auch für schläfrige Augen.
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Tucker Coe (= Donald E. Westlake) – Der Wachsapfel

coe wachsapfel cover 1987 kleinDas geschieht:

Ex-Cop Mitchell Tobin, der sich seinen Unterhalt aufgrund widriger Umstände nunmehr als privater Ermittler verdienen muss, checkt für seinen aktuellen Auftrag ins Midway-Sanatorium ein. Hier erholen sich 22 gesundende, aber psychisch weiterhin labile Ex-Geisteskranke, bevor sie endgültig ins Alltagsleben zurückkehren. Dr. Frederick Cameron, Gründer und Leiter der Einrichtung, muss seit einiger Zeit um die notwendige Ruhe der Patienten fürchten: Ein Unbekannter stellt ihnen Fallen. Noch blieb es bei leichten Verletzungen, aber die Unruhe steigt.

Tobin soll den Täter fassen. Er hat gerade seinen Koffer abgestellt und will das ihm zugewiesene Zimmer verlassen, da stolpert er über einen Draht und poltert eine Treppe hinunter, wobei ihm ein Arm bricht: Der Fallensteller hat ihn offensichtlich schon erwartet; anonym lässt er ihm ein Fläschchen Bourbon und ein Entschuldigungsschreiben zukommen. Tucker Coe (= Donald E. Westlake) – Der Wachsapfel weiterlesen

Joachim Castan – Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen

Ein Mann für Mythen

Er flog wie ein Gott und kämpfte wie ein Teufel in seinem feuerrot angemalten Dreidecker, schoss im ritterlichen Kampf 80 feindliche Flugzeuge vom Himmel und nahm seine besiegten Gegner am Boden persönlich in Empfang, um mit ihnen ein Glas Sekt auf das tolle Gefecht zu heben – das war Manfred Freiherr von Richthofen (1892-1918), der „Rote Baron“, gefürchtet und bewundert sogar von seinen Gegnern, die ihm das gebührende Heldenbegräbnis ausrichteten, als sie ihn endlich erwischten.

Legenden werden nicht ohne Grund geboren. Auf diese Weise gerät die lästige Wahrheit außer Sicht. Unzählige Bücher wurden über von Richthofen geschrieben. Sie stellen den Flieger in den Mittelpunkt und stützen sich biografisch auf fragwürdige Quellen, die viel zu oft der Verklärung dienten und den Menschen Manfred von Richthofen verzeichneten. Joachim Castan – Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen weiterlesen

Tierney, Richard L. – Im Haus der Kröte

James Kerrick ist zwar noch jung an Jahren, denkt aber trotzdem über den Ruhestand nach. Mit seiner geistigen Gesundheit steht es schon seit längerem nicht zum Besten; Kerrick hat Albträume, die ihn immer wieder mit der Vision eines blutigen Menschenopfers foltern. Auch sein Job ist recht riskant: Er ‚arbeitet‘ als Raubgräber, der archäologische Fundstätten plündert und seine Beute an reiche Privatsammler verkauft. Sein letzter Kunde soll der geheimnisvolle J. Cornelius Wassermann werden, der in seiner riesigen, einsam gelegenen Villa am Rande des Städtchens Riverton im ländlichen Illinois residiert. Für Wassermann hat er in Mexiko in einer vorzeitlichen Tempelanlage einige uralte Artefakte gestohlen und unter großen Schwierigkeiten in die USA geschmuggelt.

Der Auftraggeber ist zufrieden und möchte Kerrick gern für weitere Aufträge heuern. Dieser fühlt sich jedoch abgestoßen von dem geheimnisvollen Mann, dessen Gestalt an eine riesige Kröte erinnert. Dass Wassermann eine Ablehnung nicht zulassen wird, merkt Kerrick schnell: Dessen froschköpfige ‚Neffen‘ halten ihn unter strenger Beobachtung, des Nachts scheinen Eulen und Fledermäuse als Wach- und Horchposten zu dienen.

Kerricks Träume verschlimmern sich. Er glaubt seine Ex-Geliebte Susan, die er vor zwei Jahrzehnten verlassen hat, als willenloses Opfer zu sehen. Deshalb mag er nicht an einen Zufall glauben, als ihm plötzlich Karyn, Susanns Tochter, über den Weg läuft. Die junge Frau stellt Nachforschungen über ihre Mutter an, die vor einem Jahr spurlos in der Nähe von Wassermanns Anwesen verschwunden ist. Über Karyn lernt Kerrick Mitglieder eines geheimen Zirkels kennen, der Wassermanns Plan durchkreuzen will: Dieser bereitet die Rückkehr Ghantas auf die Erde vor. Das urzeitliche Wesen gehört zu den „Großen Alten“, die einst das Universum schufen. Die Erde dient ihnen als Weide, deren menschliches Vieh in regelmäßigen Abständen von Ghanta und dessen Brut abgeschlachtet wird.

Diese Apokalypse wollen Kerricks neue Verbündete verhindern, wobei dieser eine unbehagliche Hauptrolle übernehmen und in Wassermanns Haus eindringen soll, als dieser zu einer Party der besonderen Art einlädt. Obwohl er genau weiß, dass er sich in die Höhle des Löwen wagt, schlägt Kerrick ein, denn inzwischen steht fest, was Wassermann als Höhepunkt des Abends plant: die Opferung von Karyn …

Er hat es zwar zu Lebzeiten selbst angeregt, es jedoch stets als amüsantes literarisches Spiel betrachtet: Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) erhob nie einen Alleinanspruch auf seine größte Schöpfung, den |Cthulhu|-Zyklus. Zwar hat er ihn erschaffen und entwickelt, aber ihn nicht festgeschrieben: Lovecrafts alternative Geschichte der Welt blieb stets Fragment, weil ihr kluger Erfinder sich der Tatsache bewusst war, dass allzu große Klarheit die Faszination der Saga schmälern oder sogar vernichten könnte. Stattdessen entstand aus einer Reihe lose miteinander verknüpfter Novellen und Kurzgeschichten nach Lovecrafts Tod ein Mythos – das vage Bild eines Universums, das von unfasslichen Wesenheiten erschaffen und regiert wird. In dieser unendlich fremden Welt spielen die Erde und ihre menschlichen Bewohner eine wichtige, letztlich jedoch nie geklärte Rolle.

„Vage“ ist ein Zustand, welcher vor allem die dem rationalen Denken verhafteten Zeitgenossen gar nicht schätzen. Auch Schriftsteller gehören dieser Gruppe an. Lovecrafts Cthulhu-Kosmos reizt sie – positiv, denn sie spüren den Drang, ihn durch eigene Beiträge zu erweitern, aber auch negativ, weil sie die Gelegenheit nutzen, um zu ‚erklären‘ und zu ‚ordnen‘, was nach dem Willen Lovecrafts höchstens zipfelhaft erfassbares Chaos bleiben sollte.

Auch Richard Tierney kann der Versuchung nicht widerstehen. Er kennt ’seinen‘ Lovecraft, er weiß, aus welchen literarischen Quellen dieser schöpfte, ihm sind Lovecrafts Epigonen wohlbekannt. Wieso die Cthulhu-Saga so erfolgreich geworden ist, hat er andererseits entweder nicht verstanden oder es war ihm egal. Tierney wäre nicht der erste Autor, den der Ehrgeiz trieb, Lovecraft zu ‚korrigieren‘. „Das Haus der Kröte“ belegt, wie dies glücken und doch schiefgehen kann.

Beginnen wir mit dem Geglückten: Tierney hat verstanden, dass die Wiederkehr eines Gottes eines enormen logistischen Aufwands bedarf. Lovecraft hat diesen Aspekt stets ignoriert; er ließ die Anhänger der Großen Alten möglichst isoliert vom Rest der Welt schauerlichen Riten nachgehen. Dagegen stehen Ghantas Diener bei Tierney durchaus im Hier und Jetzt. Die Präparierung der Erde als gigantisches Büffet für außerirdische Ungeheuer ist ein Projekt, das nur mit viel Geld realisiert werden kann. Also haben Janus Wassermann und seine Schergen ihre Krötenfinger eng am Puls der Weltgeschichte. Sie schmieren Politiker, leiten Revolutionen ein, lenken Kriege, überschwemmen ganze Länder mit Drogen, sind immer dort zur Stelle, wo es Ordnung und Menschenrechte zu destabilisieren gilt: Die Heimat der Großen Alten ist das entropische Chaos, das hat Tierney begriffen. Nur: Ist es notwendig, diesen Aspekt so aufwändig zu erläutern? Interessiert das den Leser?

Nein. „Das Haus der Kröte“ ist wie so viele Pastiches ein Werk, das die Lovecraft-Storys als Steinbruch betrachtet, der nach Belieben geplündert werden darf. Lovecraft schrieb in einer Zeit, als sein Publikum in dieser Hinsicht weniger anspruchsvoll war. Oder war der Meister einfach souverän genug, sein Publikum vor den Kopf zu stoßen? Jedenfalls fällt auf, dass Tierneys Story vor allem dort zu lahmen beginnt, wo er ausführlich über die Hintergründe des Geschehens referiert. Da nützt es ihm wenig, allerlei literarische Insiderspäßchen einzubauen, die sogar über das Lovecraft-Universum hinausgreifen und sich bei Edgar Allan Poe, Robert W. Chambers und anderen klassischen Phantastik-Autoren bedienen.

Ich möchte es den fanatischen Fans des Meisters überlassen, die unzähligen Anspielungen oder Zitate zu enträtseln, und es bei einer persönlichen Bemerkung belassen: Die Kenntnis des Lovecraftschen Werkes und das womöglich sogar witzige Spiel damit ersetzt keinesfalls einen spannenden Plot und dessen gelungene Umsetzung! Tierney misslingt es, sich die Vorlage zu Eigen und etwas Neues daraus zu machen, wie es ungleich talentierteren Schriftstellern wie Ramsey Campbell, T. E. D. Klein oder Thomas Ligotti (Tierney nennt sie auf S. 169 übrigens selbst) gelungen ist. Daran ändert der Aufwand, mit dem der Verfasser sich müht, die Krisen dieser Welt zu einem Panorama Wassermannschen Machenschaften zu verleimen, herzlich wenig: Der Mensch der Jetztzeit weiß (hoffentlich) zu genau, dass er keiner außerirdischen Infiltration bedarf, sich sein Leben zu Hölle zu machen und seinen Planeten in eine Müllhalde zu verwandeln.

„Das Haus der Kröte“ ist also keine phantastische Offenbarung. Macht man sich als Leser frei von entsprechenden Erwartungen, darf man sich auf einen flott geschriebenen, mit pulpig-vordergründigen Horroreffekten gespickten und im positiven Sinne trivialen Roman freuen.

Die Figurenzeichnung ist der Story adäquat. James Kerrick ist ganz im Lovecraftschen Sinn ein Mann, der zunächst zufällig in den Bann unheiliger Umtriebe zu geraten scheint. Erst als die Handlung fortschreitet, stellt sich heraus, dass unser Held nicht ohne Grund in den Bann des Bösen geraten ist: Kerrick gehört zu einer ganzen Anzahl gleichaltriger Männer und Frauen, die bereits in ihrer Jugend sorgfältig von Wassermann so manipuliert wurden, dass sie ihm und seiner Sache als bessere Sklaven dienlich waren.

Ohne diese Vorgeschichte ist Kerrick ein reichlich unbedarfter Charakter, dessen Schicksal den Leser ziemlich kaltlässt. Er trägt die Handlung, prägt sie aber nicht. Dummerweise trifft dies auf die Mehrheit der anderen Figuren ebenfalls zu. „Das Haus der Kröte“ ist kein Roman, der durch seine Protagonisten in Schwung gehalten wird. Diese spielen sämtlich nur allzu bekannte Rollen. So würde man auf den uralten Twist von der Rettung der verfolgten Schönheit nur allzu gern verzichten. Auch sonst stützt sich Tierney gern auf Klischees, lässt beispielsweise plötzlich eine Anti-Ghanta-Truppe auftreten, deren Mitglieder viel erzählen und wenig sagen.

Ein Pluspunkt für den Verfasser: Er hat das Problem gelöst, wie sich die froschköpfigen Jünger der Großen Alten in die moderne Welt integrieren können. Lovecraft siedelte sie in streng isolierten Orten wie Innsmouth an, wo sie Fremdlinge zwar schnell vertrieben, aber auch ziemlich abgeschieden für sich konspirieren mussten. Tierney betont indes die menschliche Seite der Froschmänner. Sie zeigen sich in der Öffentlichkeit, steigen den Menschmädchen hinterher, kleiden sich modisch und sind auch sonst recht angepasst. Von sklavischer Gefolgstreue zur Oberkröte Wassermann ist wenig zu spüren; einige Mischmenschen fragen sich sogar, ob sie die große Apokalypse, auf die sie so fleißig hinarbeiten, als Erfüllung ihrer Wünsche betrachten sollen: Sie fühlen sich inzwischen recht wohl in der Menschenwelt.

Janus Wassermann selbst ist natürlich ein Bösewicht, wie er im Buche steht. Schon der Name signalisiert grell die verborgene Seite des Schurken: „Janus“ ist der Name eines doppelgesichtigen Gottes der römischen Mythologie, der Ein- oder Ausgänge bewachte. „Wassermann“ deutet auf die aquatische Herkunft hin. Keine Ahnung, wieso ein im Geheimen operierender Schurke sich einen so sprechenden Namen wählt, aber schließlich scheint Wassermann auch sonst ein gewisser Drang zum Größenwahn innezuwohnen. Leider tritt er so theatralisch auf, dass sich der filmhistorisch kundige Leser sogleich den späten Orson Welles in seiner Rolle vorstellen kann (die heute vermutlich Anthony Hopkins übernehmen würde). Das reale Vorbild für Wassermann ist nach Tierneys eigener Auskunft übrigens der „Magicker“, Okkultist und Schriftsteller Aleister Crowley (1875-1947).

Letztlich unterstreicht die Figurenzeichnung das zur Handlung Gesagte: „Das Haus der Kröte“ ist kein schlechter Roman. Verfasser Tierney unterhält, er treibt seine Spielchen mit dem Mythos, er spart nicht mit gruseligen Effekten. Dennoch gehört sein Buch zu jenen, die gelesen & vergessen werden, fast noch bevor man die letzte Zeile erreicht hat.

Richard Louis Tierney (geb. 1936) gehört eindeutig zu den Randgestalten des phantastischen Genres. Eine gewisse Bekanntheit verdankt er einem weiterem Pastiche-Projekt: Gemeinsam mit David C. Smith verfasste Tierney eine Serie neuer Abenteuer der „Red Sonja“, jener schwertschwingenden Amazone, die sich in den 1930er Jahren Robert E. Howard (1906-1936) einfallen ließ.

Als Lovecraft-Kenner zeigte sich Tierney in seinem Essay „The Derleth Mythos“ (1973). Hier schlüsselte er auf, wie stark sich Lovecrafts Sicht des Cthulhu-Universums unter seinem ‚Erben‘ und ‚Nachlassverwalter“ August Derleth (1909-1971) in einen simplen Kampf zwischen Gut und Böse verwandelte. Das Erstaunliche daran ist, dass Tierney sich in „Das Haus der Kröte“ eher an Derleth als an Lovecraft hielt und seine eigene Argumentation ad absurdum führte.

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Niven, Larry / Cooper, Brenda – Harlekins Mond

Auf der Erde haben künstliche Intelligenzen die Macht übernommen und die Menschheit vernichtet. Nur drei Raumschiffe konnten entkommen. Mit je 2000 im Kälteschlaf befindlichen Kolonisten steuerten sie den fernen Planeten Ymir an, um hier eine neue Heimat zu finden. Doch die „John Glenn“ erlitt einen Maschinenschaden und blieb im Orbit einer einsamen Sonne zurück. Ihre Tanks sind leer, und der Antimaterie-Treibstoff kann nur mit gewaltigen Maschinen hergestellt werden.

Die könnten zwar im Weltraum mit Hilfe von Nano-Technik und der auch an Bord der „John Glenn“ vorhandenen, aber ‚domestizierten‘ KI entstehen, doch der Rat – 200 Männer und Frauen, die kollektiv die Geschicke des Raumschiffs und seiner Besatzung bestimmen – entscheidet, aus diversen Monden des Gasplaneten „Harlekin“ einen eigenen Planeten zu ‚bauen‘ und ihn zu terraformen, d. h. mit einer Atmosphäre, Vegetation und Tieren auszustatten, um schließlich einige Kolonisten aufzutauen, die „Selene“ – so wird der Kunstplanet genannt – besiedeln und die für die Betankung der „John Glenn“ erforderliche Industrie aufbauen.

Rachel Nanowen ist eines der „Mondkinder“ von Selene. Sie ahnt wie die meisten Kolonisten nicht, dass sie kaum mehr als eine Sklavin im Rahmen dieses großen Plans ist. Der Rat residiert buchstäblich im Himmel bzw. an Bord der „John Glenn“. Nur selten lassen sich seine Mitglieder auf Selene blicken. Die Mondkinder sollen nicht wissen, dass das Schiff die Reise zum Ymir fortsetzen wird, sobald die Tanks gefüllt sind. Für Selenes geburtenstarke Bevölkerung ist kein Platz auf der „John Glenn“; sie will der Rat zurücklassen, obwohl strahlenintensive Sonneneruptionen und schwere Beben den künstlichen Mondes heimsuchen.

Unbeabsichtigt wird Rachel zur Schlüsselfigur eines Konfliktes zwischen den Erdgeborenen und den Kolonisten, die allmählich die Wahrheit erkennen und aufbegehren. Die Hardliner des Rates wollen sich notfalls mit Waffengewalt durchsetzen, aber nicht alle an Bord der „John Glenn“ sind damit einverstanden. Ratsmitglied Gabriel verschafft Rachel heimlich Zugang zu Informationen, die ihr eigentlich vorenthalten werden sollen. Allmählich reift in Rachel ein Plan heran, der für beide Seiten eine gerechte Lösung bringen kann. Aber die Stimme der Vernunft dringt nicht zu allen durch, und so droht der Unfrieden in einen Bürgerkrieg auszuarten …

Falls sich jemand einmal die Frage gestellt haben sollte, ob auch Science-Fiction-Autoren in die Wechseljahre kommen, könnte sie nach der Lektüre von „Harlekins Mond“ positiv beantwortet werden. Nur so wird im Grunde erklärbar, wieso sich ein Profi wie Larry Niven, der seit vier Jahrzehnten im SF-Geschäft ist, auf ein Projekt wie „Harlekins Mond“ einlassen konnte. „Frisches Blut für den Altmeister“ – dies mag ein Motiv für ihn gewesen sein, der gern mit anderen Schriftstellern zusammenarbeitet. Wenn es gilt, eine Handlung mit Science zu unterfüttern, hat der erfahrene Niven festen Boden unter den Füßen. Wie man seine Bühne zwecks Pflege oder Erschließung nachwachsender Lesergenerationen glaubhaft mit jugendlichen Figuren bevölkert, scheint ihm, dessen 70. Geburtstag naht, Schwierigkeiten zu bereiten, weshalb er sich mit einer (freilich selbst den Teenyjahren lange entwachsenen) Neu-Autorin zusammentat.

Brenda Cooper spann mit ihm das Garn um eine junge Heldin wider Willen, die nicht nur diverse SF-typische Krisen wie Sonneneruptionen oder dräuende Antimaterie-Attacken meistern und eine blutige Revolution verhindern, sondern sich auch mit Liebeshändeln herumschlagen muss. Dies sollte bereits erste Alarmglocken schrillen lassen: „Harlekins Mond“ ist kein ‚echter‘ SF-Roman, sondern als „Coming-of-age“-Geschichte ein Schaf im Wolfpelz – ein Werk, das sich offensichtlich an ein Publikum richtet, das etwa so alt wie Rachel ist. Nun sind SF-Romane ‚für die Jugend‘ seit Jahrzehnten im Genre vertreten. Es gibt klassische und sogar gute Titel unter ihnen. Die Zukunft wird schließlich auch für unsere Kinder und Enkel kein Zuckerschlecken, und das Abenteuer des Erwachsenwerdens kann durchaus spannend in Szene gesetzt werden. Das geschieht freilich in „Harlekins Mond“ reichlich einfältig und öde.

Zwischen Form und Inhalt klafft ein deutlich erkennbarer Graben. Das SF-Gerüst hat Altmeister Niven sauber gedrechselt, das uralte Konzept vom Raumschiff der Generationen abgestaubt und im Wissen um den aktuellen Stand der Technik in die Zukunft extrapoliert. Das Terraformen Selenes gerät unter seiner Feder zu einer spielerisch wirkenden Nachahmung des evolutionären Schöpfungsaktes. Dies zu lesen, bereitet Vergnügen – ein altmodisches Vergnügen vielleicht, da doch aus Kritikersicht erst der Faktor Mensch aus einem unterhaltsamen Roman echte Literatur macht.

In diesem Punkt können Niven und Cooper freilich keine Meriten ernten. Dieser Rezensent ist weder jung noch weiblich; es kann also gut möglich sein, dass er Rachel vor allem deshalb für eine fade Nervensäge hält. Sie soll ja naiv sein, an das Gerechte im Menschen glauben und durch Erfahrungen reifen, aber muss sich das so belanglos gestalten?

Die Autoren arbeiten gegeneinander. Es ist vermutlich Cooper, die Rachel in die große, aufregende Welt blicken lässt. Die Mitglieder des Rates erscheinen ihr fremd und angsterregend: wie strenge Eltern, Lehrer oder andere Autoritätsgestalten. Niven übernimmt die Perspektive der ‚Erwachsenen‘. Er steht quasi über den Dingen und behält deshalb den Überblick. Die Erdgeborenen der „John Glenn“ schildert er als Profis, die quasi aus der Zeit gefallen sind und den Kontakt zu den ’normalen‘ Menschen – den Mondkindern – nie wirklich gesucht haben. Unter Nutzung ihrer überlegenen Technik nutzen sie Selene als Ressource, werden aber grundsätzlich von menschlichen und damit sehr selbstsüchtigen Motiven bewegt.

Die ‚doppelte‘ Sicht auf die Figuren könnte von Vorteil sein. Stattdessen dominiert die Vereinfachung: Der Konflikt zwischen den ‚Göttern‘ der „John Glenn“ und den Mondkindern spielt sich auf erschreckend niedrigem Niveau ab. Die von Niven so perfekt konstruierte Technik wird beherrscht von butzebösen Ausbeutern, unter denen Mo Liren als ‚Bad leader‘-Figur besonders lächerlich wirkt. Wie haben solche krampfhaft an ihrem von der Realität überholten Plan festhaltenden Weltfremdlinge den KIs des Sonnensystems entrinnen können? Wie schaffen sie es, die Selenisten so viele Jahre in ahnungsloser Abhängigkeit zu halten? Richtig: Weil diese sogar noch schlichter im Geiste sind. Auf Selene basteln – und das geht definitiv auf die „Futuristin“ Cooper (s. u.) zurück – grüne Landkommunarden an einer sauberen, besseren Welt. Das täten sie wohl auch, wenn sie nicht künstlich dumm gehalten würden.

In dieser konfusen und künstlich in Aufregung versetzten Welt wirkt die Liebe zwischen der 17-jährigen Rachel und dem 60.000-jährigen Gabriel womöglich gar nicht so grotesk, wie es dem Rezensenten scheint … Jungmädchen-Träume und -Ängste füllen ohnehin manche Seite des arg in die Breite gehenden Werkes. Bleischwer und bierernst schleppen sich die Ereignisse dahin, in Gang gesetzt von eindimensionalen Gestalten, deren Schicksale – im besten Fall – herzlich gleichgültig lassen. Wie sonst will man es deuten, dass heimlich ungesunde Freude aufkommt, als Rachels klettige Busenfreundin Ursula sich den Tumbschädel an einem Felsbrocken einschlägt?

Im Finale endet alles in friedseliger Einfalt. Die bösen Ratsmitglieder werden vom Blitz der Erkenntnis getroffen und plötzlich einsichtig, die dummen Mondkinder öffnen die geballten Fäuste. In Fritz Langs Filmepos [„Metropolis“ 1415 – auch eine Geschichte vom Kampf von „Oben“ gegen „Unten“ – heißt es: „Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein.“ Das wurde bereits 1927 als außerordentlich albernes Resümee erkannt. „Harlekins Mond“ entstand fast acht Jahrzehnte später. Muss man sich wirklich durch knapp 700 eng bedruckte Seiten fräsen um zu erkennen, wie altmodisch Science-Fiction auch im 21. Jahrhundert sein kann?

|I.|

Als Lawrence van Cott Niven am 30. April 1938 in Los Angeles als Sohn eines Anwalts geboren, studierte Niven Mathematik und Physik an Universitäten in Kalifornien und Kansas. Nach dem Abschluss begann selbst zu schreiben; eine erste Kurzgeschichte, „The Coldest Place“, wurde 1964 veröffentlicht. Sie zeigt ihn als typischen Verfasser von ‚harter‘ SF, der eine spannende Handlung in einen wissenschaftlich möglichst akkurat gestalteten (oder wenigstens so wirkenden) Rahmen einbettet.

Ende der 1960er Jahre entstand Nivens „Ringworld“-Universum, das zum Schauplatz zahlreicher Romane und Storys wurde, die nicht zwangsläufig miteinander verknüpft sind, obwohl manche separate Unterzyklen bilden; allein die (nachträglich von Niven bearbeitete) Geschichte der „Kzin-Kriege“ umfasst inzwischen mehr als zehn Bände. Für „Ringworld“ (dt. „Ringwelt“) wurde Niven 1970 sowohl mit dem „Hugo“ als auch mit dem „Nebula Award“ für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet.

Niven arbeitet oft mit Ko-Autoren. Mit Jerry Pournelle schuf er 1974 die inzwischen klassische ‚moderne‘ Space-Opera „The Mote in God’s Eye“ (dt. „Der Splitter im Auge Gottes“). Weiterhin arbeitete er mit Steven Barnes, Edward M. Lerner, Michael Flynn oder Brenda Cooper zusammen.

Über Nivens mehr als 50 Bücher umfassendes Werk und seine gegenwärtigen Aktivitäten informiert die Website http://www.larryniven.org.

|II.|

Brenda Cooper bezeichnet sich selbst als „Schriftstellerin, öffentliche Rednerin und Futuristin“. Sie studierte an der California State University, Fullerton, Informatik und Betriebswirtschaften und wurde Spezialistin für Management-Informationssysteme. Als „technical professional“ arbeitete sie u. a. für Aerospace. Derzeit ist sie als „chief information officer“ für die Stadt Kirkland im US-Staat Washington tätig, wo sie und ihre Familie auch leben. Sehr am Herzen liegt ihr die Ökologie der Erde bzw. deren Rettung, für die sie sich u. a. im Rahmen der „Lifeboat Foundation“ engagiert. (Auf den Fotos, mit denen sie ihren Webblog schmückt, sieht man meist Retriever-Hunde in naturbelassener Idylle tollen.)

Als Schriftstellerin arbeitet Cooper erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Sie fand einen Mentor im SF-Profi Larry Niven, mit dem sie diverse Storys in Magazinen wie „Analog“ und „Asimov’s Science Fiction“ veröffentlichte, bevor 2005 ihr gemeinsamer Roman „Building Harlequins Moon“ (dt. „Harlekins Mond“) erschien. Inzwischen schreibt Cooper solo und brachte 2007 „The Silver Ship and the Sea“ sowie 2008 eine Fortsetzung heraus.

Brenda Cooper informiert im Internet ausführlich (|sehr| ausführlich!) über ihre zahlreichen Aktivitäten. Ihre Website findet man hier: http://www.brenda-cooper.com. Außerdem gibt es ein „Life Journal“: http://bjcooper.livejournal.com.

http://www.bastei-luebbe.de

Michael Collins – Freak [Dan Fortune 11]

Die Suche nach einem untergetauchten Ehepaar führt den einarmigen Privatdetektiv Dan Fortune mehrfach in die Irre, wird von diversen Morden begleitet und endet in einem Bordell wie aus dem Wilden Westen, das einem psychopatischen Gangsterboss als Hauptquartier dient … – Trotz des absurd anmutenden Plots ist dies ein klassischer, sehr atmosphärischer „private-eye“-Krimi mit Spannung, nie gefühlsduseliger Melancholie und deutlicher Gesellschaftskritik.
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John Scalzi – Geisterbrigaden

Die Kopie des Bewusstseins eines verräterischen Wissenschaftlers wird einem Menschenklon aufgeprägt. Der junge Mann wird außerdem als Soldat ausgebildet, denn ein Krieg mit bösen Aliens droht. Mitten im Kampfgetümmel droht der Verräter die Hirnherrschaft zu übernehmen … – Turbulentes SF-Spektakel mit politisch unkorrektem Unterton, das zwar nur Bekanntes präsentiert, aber trotzdem kurzweilig und ohne Anspruch auf literarischen ‚Wert‘ zu unterhalten vermag. John Scalzi – Geisterbrigaden weiterlesen

Rankin, Ian – Im Namen der Toten

Edinburgh steht in diesem Sommer des Jahres 2005 ganz im Zeichen des 31. G8-Gipfels. Staatsoberhäupter, Minister und Fachleute aus aller Welt treffen sich im unweit der Stadt gelegenen Gleneagles Hotel, um auf Einladung des britischen Premierministers Tony Blair über globalpolitische Themen zu verhandeln. Ihnen folgen unzählige Protestgruppen, welche die versammelte Führungselite in Anwesenheit der Medien an Versäumnisse und Fehler zu erinnern gedenken. Die Stadt gleicht einer Festung, Polizei, Sicherheitskräfte und diverse Geheimdienste bemühen sich um die Sicherheit der G8-Teilnehmer.

Nur einer bleibt außen vor: Detective Inspector John Rebus steht ein Jahr vor seiner Pensionierung endgültig auf dem Abstellgleis. Seine Vorgesetzten wollen den querköpfigen Polizisten vorsichtshalber ausgrenzen, doch sie begehen einen Fehler: Geblendet von der Chance, sich im Rahmen des Gipfels zu profilieren, lassen sie die Zügel locker, was Rebus umgehend nutzt, seine Fehde mit Morris Gerald „Big Ger“ Cafferty, einem gefürchteten Gangsterboss, fortzusetzen.

Als Ansatzpunkt dient ihm der Mord an dem Vergewaltiger und Schläger Cyril Colliar, der in Caffertys Diensten stand. Spuren sind rar, bis ein Stück der Jacke des Opfers gefunden wird. Weitere Kleidungsfetzen machen deutlich, dass Colliar nur ein Opfer eines Serienkillers ist, der es auf Sexualstraftäter abgesehen hat.

Die Ermittlungen gestalten sich wegen des Gipfels schwierig. Trotzdem findet Rebus die Zeit, sich in einen zweiten Fall einzumischen: Ein Abgeordneter aus London stürzt über die Zinnen des Edinburgher Schlosses, was den arroganten aber leider hochrangigen Geheimdienstler Steelforth auf den Plan ruft, der den beharrlich und ohne Rücksicht auf diplomatische Befindlichkeiten ermittelnden Rebus deckelt.

An zu vielen Fronten gleichzeitig unter Druck geratend, muss Rebus noch weiter aus der Deckung als sonst und kann doch nicht verhindern, dass ihm Cafferty, diverse moralisch korrumpierte Machtmenschen sowie ihre willig mörderische Drecksarbeiten erledigenden Schergen das Leben zur Hölle machen …

Wieder einmal nutzt Rankin die Gelegenheit, im Rahmen eines Kriminalromans aktuelle Blicke auf ’sein‘ Edinburgh zu werfen. Schon mehrfach hat er einen Rebus-Fall mit realen Ereignissen verknüpft. Dieses Mal ist es das G8-Treffen vom Juli 2005. Es bot sich für den kritischen Rankin förmlich an: Ein eitler Premierminister lädt die Welt nach Schottland ein, um sich dort umgehend mit seinen Gästen wie in einem belagerten Fort förmlich einzuigeln.

Der ‚Feind‘ ist die Schar der Kritiker, die Blair und die Politik, für die er und seine Gäste stehen, als Kette krimineller Fehlentscheidungen betrachten. Auf dem G8-Programm standen besonders neuralgische Punkte wie die globale Klimaveränderung, der Krieg gegen den Terrorismus, Reformen für den Nahen Osten und die Neuregelung der Entwicklungshilfen für Afrika. Von den Medien dazu ermuntert, schaute die Welt für einige Tage auf Schottland, und das bot sowohl den Teilnehmern des Gipfels als auch ihren Gegnern die Gelegenheit zur Selbstdarstellung.

Ian Rankin hat 2005 in Edinburgh die Ereignisse um das G8-Treffen beobachtet und seine Tauglichkeit als Hintergrund für einen Rebus-Roman erkannt. Sarkastisch teilt er nach beiden Seiten aus; es trifft die selbstherrlich unter sich tagenden Politiker und die mehr an Randale als an konstruktiver Opposition interessierten Protestler gleichermaßen.

Vor diesem eindringlich dargestellten Chaos wirkt es beinahe logisch, dass ein Mordkomplott und die Taten eines vigilantischen Serienkillers von allen Beteiligten eher als Ärgernis und Nebensache betrachtet werden. Womöglich kommt das diesem Roman zugute, denn als Krimi bietet Rankin mit „Im Namen der Toten“ jenseits der G8-Kulisse und Rebus‘ Ringen mit „Big Ger“ Cafferty vor allem Routine.

Einmal mehr tanzt Rankin auf zu vielen Hochzeiten. Die beiden Mord-Plots reichen ihm noch nicht, im letzten Drittel lässt er Siobhan Clarke den Sirenengesängen Caffertys erliegen, aus dessen Fängen sie Rebus nun auch noch retten muss.

Ein wenig kurz kommt dieses Mal Rankins Vorliebe für obskure Stätten seiner schottischen Heimat. Immerhin spielt der „Clootie Well“ eine wichtige Rolle: Eigentlich auf der Black Isle nördlich von Inverness gelegen und vom Verfasser kurzerhand in die Nähe von Edinburgh verlagert, ist dies eine Quelle, der seit ‚heidnischer‘ Zeit eine Glück spendende Wirkung nachgesagt wird. Als ‚Opfer‘ hängen die Wünschenden Kleidungsstücke in die Äste der Bäume und Sträucher um die Quelle. Da diese Textilien mit der Zeit verrotten, ergibt sich ein in heutiger Zeit unwirklicher und unheimlicher Anblick, was Rankin sehr gut in seine Geschichte einzuflechten weiß.

Wehe, wenn er losgelassen … Wieder einmal müssen John Rebus‘ Vorgesetzte feststellen, wie wahr dieses alte Sprichwort ist. Sie glaubten ihn dieses Mal fern aller Orte, an denen er, der nie Rücksicht auf politische Konstellationen und Absprachen nimmt, keinen Unfrieden stiften kann. Irrtum, denn Rebus weiß um seine Narrenfreiheit: Ein Jahr vor seiner Pensionierung kann man ihm kaum mehr etwas anhaben, und das nutzt er gnadenlos aus.

Offener denn je verleiht Rankin seinem Unmut über die servile Vertrautheit der kommunalen Obrigkeit mit der Politik, der Wirtschaft und den Medien Ausdruck. Die Welt wurde längst unter diversen Großkonzernen aufgeteilt, die Politiker sind zu ihren Erfüllungsgehilfen degeneriert, was sich durch die Instanzen der Macht hinab fortsetzt. Unten steht der Bürger, gleichermaßen belogen wie desillusioniert. Das macht ihn nicht zum besseren Menschen: Formiert er sich, dann übernimmt er im Kleinen die Motive und Verhaltensweisen der Großen. Eine Diskussion zwischen Unten und Oben scheint ohnehin unmöglich geworden zu sein. Rankin schildert detailliert die eingefahrenen Mechanismen, nach denen Protest heutzutage von ‚hauptberuflichen‘ Demonstranten, der Staatsgewalt und den Medien als Schauspiel inszeniert wird.

Dass sein Job, der ihm trotz der damit verbundenen Härten alles bedeutet, bald ein Ende haben wird, bedrückt Rebus sehr. Vor allem ist da eine alte Rechnung offen. Seinen Erzfeind „Big Ger“ Cafferty, mit dem ihn freilich auch sorgsam unterdrückte kameradschaftliche Gefühle verbinden, will Rebus unbedingt noch zur Strecke bringen. Das scheint schwieriger denn je, denn ausgerechnet der alte Gauner versorgt ihn mit nützlichen Hinweisen, mimt scheinheilig den geläuterten, altersweisen Mitbürger und beweist auch auf diesem glatten Parkett mehr Standfestigkeit als Rebus.

Nicht einmal auf Siobhan Clarke kann sich Rebus verlassen. Dabei setzt er vor allem auf sie seine Hoffnungen auf eine Veränderung eingeschliffener Polizeiroutinen, die nur mehr Karrieristen und Speichellecker in die oberen Ränge zu befördern scheinen. Clarke weiß, was sie ihrem Mentor verdankt, und sie ist sichtlich gereift, seit sie zum ersten Mal seinen Weg kreuzte. Dennoch fehlt ihr die Erfahrung mit Menschen wie „Big Ger“ Rafferty, der sie für eine Gefälligkeit zahlen und bluten lässt. Obwohl dieser Handlungsstrang zur inhaltlichen Überfrachtung des Romans beiträgt, liest sich das Tauziehen um Clarkes Seele zwischen Rebus und Cafferty äußerst spannend. Es dient außerdem eine Vorbereitung auf die Zeit nach Rebus‘ Pensionierung: Es zeichnet sich ab, dass er Clarke auch als Vertraute im Polizeidienst aufgebaut hat, die ihm helfen wird, weiterhin auf Schurkenfang zu gehen. Das wollen wir jedenfalls hoffen, denn „Im Namen der Toten“ liest sich einmal mehr so spannend, dass der Gedanke an ein Ausbleiben weiterer Fälle schreckt!

Ian Rankin wurde 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studierte er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh begann er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselte er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versuchte er sich an einem Roman, fand aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erschien 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen war, verließ Rankin 1986 die Universität und ging nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitete. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasste Rankin in rascher Folge drei Action-Thriller.

1991 griff er eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hatte auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelang Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftete. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten ansprach, wurde er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil ‚gerechtes‘ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kamen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnete ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrte man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewann im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane erscheinen in Deutschland im Wilhelm Goldmann Verlag (Stand: Januar 2008):

01. Verborgene Muster (1987, „Knots & Crosses“) – TB-Nr. 44607
02. Das zweite Zeichen (1991, „Hide & Seek“) – TB-Nr. 44608
03. Wolfsmale (1992, „Wolfman“/“Tooth and Nail“) – TB-Nr. 44609
04. Ehrensache (1992, „Strip Jack“) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, „The Black Book“) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, „Mortal Causes“) – TB Nr. 45016
07. Ein eisiger Tod (1995, „Let it Bleed“) – TB Nr. 45428
08. Das Souvenir des Mörders (1997, „Black & Blue“) – TB Nr. 44604
09. Die Sünden der Väter (1998, „The Hanging Garden“) – TB Nr. 45429
10. Die Seelen der Toten (1999, „Dead Souls“) – TB Nr. 44610
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, „Set in Darkness“) – TB Nr. 45387
12. Puppenspiel (2001, „The Falls“) – TB Nr. 45636
13. Die Tore der Finsternis (2002, „Resurrection Man“) – TB Nr. 45833
14. Die Kinder des Todes (2003, „A Question of Blood“) – TB Nr. 46314
15. So soll er sterben (2004, „Fleshmarket Close“) – TB Nr. 46440
16. Im Namen der Toten (2006, „The Naming of the Dead“)
17. „Exit Music“ (2007, noch kein dt. Titel)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten. Wer es versuchen möchte, kann auch seine Englisch-Kenntnisse mit Hilfe der Rebus-Krimis aufpolieren: „Just Ask Inspector Rebus“ sowie „Three New Cases for Inspector Rebus“ erschienen 2007 in der Reihe der Berlitz-Sprachführer.

http://www.manhattan-verlag.de

_Ian Rankin auf |Buchwurm.info|:_
[„Der diskrete Mr. Flint“ 3315
[„So soll er sterben“ 2489 (Hörbuch)
[„So soll er sterben“ 1919
[„Die Sünden der Väter“ 2234
[„Puppenspiel“ 2153
[„Wolfsmale“ 1943
[„Ehrensache“ 1894
[„Das Souvenir des Mörders“ 1526
[„Die Tore der Finsternis“ 1450
[„Das zweite Zeichen“ 1442
[„Verborgene Muster“ 956
[„Ein eisiger Tod“ 575

Brent Ghelfi – Russisches Abendmahl

Ghelfi Abendmahl Cover kleinDer Raub eines Gemäldes führt zum blutigen Krieg zwischen diversen Fraktionen der Moskauer Unterwelt. Koalitionen entstehen und zerbrechen, während Doppelspiele und Verrat die Zahl der Opfer sogar für russische Verhältnis bedenklich ansteigen lässt … – Spannend-lakonischer, an (manchmal etwas zu) detailliert geschilderter Gewalt nie sparender Thriller, der in einem Russland spielt, in dem der Kapitalismus mit krimineller Anarchie und der Missachtung sämtlicher Menschenrechte eine unheilige Dreifaltigkeit bildet.
Brent Ghelfi – Russisches Abendmahl weiterlesen

Krueger, William Kent – Indianischer Winter

Aurora, 3.752 Einwohner, eine Kleinstadt im US-Staat Minnesota, beschaulich gelegen am Lake Iron inmitten ausgedehnter Wälder, beliebt als Urlaubsort im Sommer, romantisch verschneit im langen Winter – ein Winkel also, in dem die Welt noch in Ordnung ist.

Bei näherer Betrachtung verflüchtigt sich dieser Eindruck allerdings rasch. Aurora ist keine kitschige TV-Idylle und war es auch niemals. Wohl niemand weiß dies besser als Corcoran O’Connor, denn er hat in den letzten zwölf Monaten alle schlechten Seiten seiner Heimatstadt kennengelernt.

O’Connor ist ein Mann, der stets zwischen allen Stühlen sitzt. Schon seine Herkunft stempelt ihn als Außenseiter ab: Die Großmutter war eine Indianerin vom Stamme der Anishinaabe, der seit jeher neben den Ojibwe an den Ufern des Iron Lake siedelt. Für die meisten Indianer ist Connor ein ‚Weißer‘, während ihn die Nachfahren der weißen Siedler als ‚Roten‘ mit leiser Verachtung strafen.

Ohnehin ist die Situation am Iron Lake gespannt. Seit einigen Jahren pochen die Ojibwe verstärkt auf jene Privilegien – Besitz- und Nutzungs-, Jagd- und Fischereirechte -, die den amerikanischen Ureinwohnern von Staats wegen zustehen. Ihr Einfluss wächst mit dem Wohlstand, den ein großes Spielcasino am Seeufer ihnen bringt. Das schafft böses Blut in Aurora und mündete vor einem Jahr in einem gewalttätigen Zusammenstoß zwischen Rot und Weiß, der zwei Menschen das Leben und O’Connor seine Stellung als Sheriff von Aurora kostete.

Seitdem ging alles schief für ihn. Nancy, seine Ehefrau, betrügt ihn mit dem zwielichtigen Bauunternehmer Sandy Parrant und hat ihn vor die Tür gesetzt. Die Kinder leiden unter der Trennung. Connor schlägt sich mühsam mit einem kleinen Imbiss und Andenkenshop durch. Er vermisst nicht nur seine Familie, sondern auch die Polizeiarbeit. Daher kann er sich nicht zurückhalten, als eine grausame Mordserie Auroras Bürger in Aufregung ersetzt. Sandys Vater, der ebenso mächtige wie unbeliebte Richter Robert Parrant, ist das erste Opfer, dem bald weitere folgen. Nie ist O’Connor weit entfernt, wenn dies geschieht, was seinen Nachfolger, Sheriff Wally Schanno, naturgemäß wenig begeistert.

Wer bringt den Tod nach Aurora? Ist es tatsächlich der Windigo, ein böser Naturgeist und Menschenfresser mit einem Herz aus Eis, wie die Indianer sagen, oder sind es doch eher irdische Mächte, die hier ihr Unwesen treiben? Militante indianische Aktivisten und schwer bewaffnete faschistoide Milizen machen O’Connor buchstäblich das Leben schwer. Zudem beginnt er einen mörderischen Sumpf aus Korruption, politischer Willkür und Erpressung aufzudecken, in den alle prominenten Bürger Auroras verwickelt zu sein scheinen – seine eigene Gattin eingeschlossen …

Weihnachtszeit, Schnee auf allen Tannenspitzen und dann auch noch Indianer, die Gutmenschen des politisch und ökologisch korrekten (Pseudo-)Intellektuellen mit gehobenem Einkommen und „Greenpeace“-Sticker am Kombi-Volvo – das kann doch nur eine Kombination von zwei der drei Lieblingsgenres des deutschen Krimifreundes sein! Trifft also der gemütliche Landhauskrimi englischen Stils auf den esoterischen Ethno-Thriller? Tut sich Sherlock(ina) Holmes zusammen mit „Der-mit-Mutter-Erde-tanzt“, dem weisen Mustermensch-Medizinmann, um die böse Tat nach einer Ringvorlesung zum Thema „Zurück zur Natur und den wahren Werten“ und unter Zusammenführung diverser heiratslustiger Verdächtiger aufzuklären?

Fehlanzeige in allen Punkten – Manitu sei Dank! Stattdessen lesen wir einen ‚richtigen‘ Thriller, der außergewöhnlich spannend und stimmig in einer übersichtlichen, aber meisterhaft konstruierten Kulisse abrollt. Für Begeisterung beim routinierten und oft klischeegebeutelten Leser sorgt darüber hinaus die ungewöhnlich dreidimensionale Figurenzeichnung. Corcoran O’Connor ist als Kriminalist zwar motiviert, aber nicht unbedingt immer eine Leuchte, sein Privatleben ein Scherbenhaufen, an dessen Errichtung er – ganz wie im richtigen Leben – tüchtig selbst mitgearbeitet hat. Folgerichtig gibt’s für ihn auch kein Happy-End.

Auch Indianer sind auch nur Menschen: Dass sie über eine reiche, uralte Tradition verfügen und von der Geschichte in Gestalt der weißen Siedler und ihrer Nachfahren wahrlich übel traktiert wurden, macht sie nicht automatisch zu Heiligen. Den Anishinaabe und Ojibwe vom Iron Lake sind Eigennutz, Vorurteile und Rachsucht durchaus nicht fremd. Krueger traut sich sogar – der Große Geist verfluche ihn! -, kriminelle Indianer zu präsentieren, die unter dem Deckmantel des schlechten Gewissens, das den Weißen Mann des 21. Jahrhunderts plagt, höchst kriminelle Energien entfalten. (Freilich verlässt ihn die eigene Courage bald wieder; Kruegers rote Bösewichter schurken letztlich doch nur zum Wohle ihrer geknechteten Reservats-Brüder und -Schwestern …)

Keine Längen, kein Seitendreschen, kein Moralisieren, keine Rührseligkeiten – kaum zu glauben, aber „Indianischer Winter“ ist tatsächlich ein Erstlingswerk! William Kent Krueger hat sich sichtlich lange und sorgfältig vorbereitet, bis er der Öffentlichkeit seinen ersten Roman präsentierte – sie kann ihm dankbar dafür sein. Vier Jahre hat er an seinem Debüt gearbeitet und konnte anschließend mit berechtigtem Stolz von sich behaupten, sein Handwerk zu verstehen. Seit 1998 ist Krueger hauptberuflicher Schriftsteller, und sein Arbeitstempo hat sich erheblich gesteigert. Pro Jahr erscheint ein Buch, und da die Kritiker jenseits des Großen Teiches immer noch zufrieden sind, geht der deutlich erhöhte Ausstoß offensichtlich trotzdem nicht zu Lasten der inhaltlichen Qualität. Hierzulande können wir Leser das leider nicht nachprüfen, denn die deutschen Verlage zieren sich, weitere Krueger-Werke in ihr Programm aufzunehmen.

Die kleine Stadt Aurora hat Krueger inzwischen zum Zentrum einer ganzen Serie von Kriminalromanen ausgebaut, in der Corcoran O’Connor und die anderen aus „Indianischer Winter“ bekannten Figuren (sofern sie denn ihren ersten Auftritt überlebt haben …) neue Abenteuer erleben.

Für „Indianischer Winter“ wurde William Kent Krueger 1999 von seinen Schriftsteller-Kollegen in Milwaukee mit dem „Anthony Award“ für das beste Erstlingswerk eines Krimi-Autoren ausgezeichnet. Weitere Angaben zur Person William Kent Kruegers kann und möchte ich mir an dieser Stelle sparen, denn er informiert ausführlich auf seiner Website:
http://www.williamkentkrueger.com.

http://www.goldmann-verlag.de

Wilson, F. Paul – Gruft, Die (Handyman Jack 1)

Wenn dir Unrecht geschah und weder die Polizei noch ein Privatdektektiv oder sonst jemand dir mehr helfen kann, holst du dir „Handyman Jack“, den Handwerker für alle Fälle. Er regelt die Sache, ohne sich um die Einschränkungen zu kümmern, die das Gesetz dem Normalbürger auferlegt – körperliche Beeinträchtigungen deines Widersachers eingeschlossen.

Zur Zeit bearbeitet Jack zwei ‚Fälle‘. Nummer eins scheint schnell gelöst: Der Inder Kusum Bakhti beauftragt ihn mit der Wiederbeschaffung einer Halskette, die seiner ‚Großmutter‘ gestohlen wurde. Jack hat Glück, erwischt den Täter und händigt Bakhti die erstaunlich wertlos wirkende Kette aus. Leider ist er abgelenkt, sonst hätte er sich ein wenig intensiver um einige Ungereimtheiten gekümmert.

Doch Jack hat sich vor zwei Monaten von Gia DiLauro, der Liebe seines Lebens, getrennt, die nun wieder Kontakt zu ihm sucht: Grace Westphalen, eine Tante ihres untergetauchten Ex-Gatten, ist vor einige Tagen spurlos verschwunden. Jack sucht zwar normalerweise nicht nach vermissten Personen, will Gia aber nicht abweisen.

Unter Graces persönlicher Habe findet er ein Fläschchen mit verdächtigem Inhalt. Es enthält eine Art Lockstoff, mit dem der uns bereits bekannte Kusum Bakhti Personen markiert, um die sich seine ‚Diener‘, die dämonischen Rakoshi, kümmern sollen. Als Priester des „Tempels-in-den-Bergen“ dient Bakhti der indischen Todesgöttin Kali. Im Jahre 1857 hatte der skrupellose Sir Albert Westphalen, Captain der Königlich Bengalischen Füsiliere, den besagten Tempel beraubt und geschändet, wofür Kalis Priester ihm und seinen Nachfahren ewige Rache schworen. Bakhti und seine Rakoshi sollen sie nun erfüllen.

Kusum wird von seiner jüngeren Schwester Kolabati begleitet. Nachdem Jack die Kette ihrer Großmutter beschaffen konnte, hat sie mit ihm angebändelt. Sie fragt sich, ob Jack ihr helfen kann. Längst empfindet sie den Racheauftrag als Fluch. Kolabati will frei sein, doch für Kusum ist dies Verrat, der mit dem Tod zu ahnden ist. Er setzt Kolabati auf seine Liste, an deren Ende die Letzte der Westphalens vermerkt ist: Vicky, Gia DiLauros kleine Tochter, für die Jack wie ein Vater empfindet. Keinesfalls wird er ihren Tod dulden, doch zwischen ihm und dem bald entführten Kind stehen Bakhti und geifernde Rakoshi in unerwartet großer Zahl …

Das Unheimliche sucht die Vereinigten Staaten wieder einmal aus der Fremde heim, die der US-Bürger bekanntlich gern mit dem „Reich des Bösen“ gleichsetzt. Dabei trifft es dieses Mal Unschuldige; die eigentlichen Schurken stammen aus dem alten Europa. Sie sind aber längst tot bzw. ihre Nachfahren in die Neue Welt aufgebrochen. Also muss sich Kusum Bakhti mit seinen Rakoshi auf den weiten Weg dorthin machen.

Der Gedanke daran, wie er dabei logistisch vorgeht und welche Motive ihn treiben, bringt den Leser auf gefährlich dünnes Eis: „Logik“ ist ein Wort, das in der „Gruft“ lieber nicht fallen sollte. Die ungewöhnlich sorgfältige Charakterisierung, die Wilson seinen Figuren angedeihen lässt, weckt falsche Erwartungen: Dies ist kein ‚literarischer‘ Roman, sondern ein triviales, handwerklich sauber gesponnenes Gruselgarn, dem sein Verfasser ein wenig zu aufdringlich Bedeutsamkeit einblasen will.

Schade, denn die Story kann sich lesen lassen. Indischer Teufelspriester mit Cäsarenwahn und der Möglichkeit, diesem mit dämonischer Nachhilfe Taten folgen zu lassen, begibt sich auf eine mörderische Rachemission. Sein wackerer Gegenspieler gerät zufällig in den Strudel der Ereignisse, die er nur langsam, aber angenehm überzeugend zum erschreckenden Gesamtbild zusammensetzen kann. Wie Jack Bakhti auf die Schliche kommt, ist spannend und überraschend, ohne dass Wilson den Zufall bemühen muss. Hier ist ein Verfasser am Werk, der seinen Job versteht. Als Leser erkennt man das sogleich, fühlt sich wohl und verzeiht gewisse Längen, die womöglich auf die komplexe Genese dieses Romans zurückgehen.

Denn dieser erste Auftritt von Handyman Jack ist eine verwirrende Angelegenheit. Als F. Paul Wilson ihn 1984 schuf, geschah dies im Rahmen einer ganz anderen Serie, und es sollte bei diesem einen Auftritt bleiben. Die Serie trägt den Titel „Adversary“ und schildert das Wirken einer bösen Macht, die es in diversen Masken danach drängt, die Menschheit zu unterjochen sowie die ihr vor Urzeiten streitig gemachte Weltherrschaft zurückzuerobern. „The Tomb“ war der zweite Teil der insgesamt sechsbändigen Serie und erschien sechs Jahre später als „Die Gruft“ auch in Deutschland.

Schon damals gab der Titel Rätsel auf, da eine Gruft sich zwar während eines kurzen Flashbacks auftut, für die eigentliche Handlung jedoch unerheblich bleibt. Problematischer wurden für Wilson allerdings seine Leser, die energisch eine Rückkehr des ihnen lieb gewordenen Jack forderten. Das geschah freilich erst 1998, und dieses Mal plante Wilson eine eigene „Handyman Jack“-Serie, in die sich „Die Gruft“ jedoch nicht so einfach einpassen ließ, zumal Wilson keine 14 Jahre zwischen Jacks erstem und zweiten Auftreten ‚aufarbeiten‘ wollte. Also nahm er sich „Die Gruft“ noch einmal vor und verlegte das Geschehen in die Gegenwart der 1990er Jahre, wobei er gleichzeitig diverse Fehler und Anachronismen des Originals tilgte.

„Handyman Jack“ wurde berühmt und erfolgreich und „The Tomb“ mehrfach neu aufgelegt. Zum 20-jährigen Jubiläum bearbeitete Wilson den Roman ein weiteres Mal und gab ihm einen neuen Titel: „Rakoshi“. Um die Verwirrung komplett zu machen, erscheinen aktuelle Neuauflagen wieder als „The Tomb“.

„Handyman Jack“ trägt nur in Deutschland diesen ‚Namen‘, auf den man ihn einst im |Goldmann|-Verlag getauft hat, obwohl ihn F. Paul Wilson als „Repairman Jack“ in die populärliterarische Welt brachte. Bei |Festa| behielt man dies wohl bei, um Jacks deutsche Fans nicht zu verwirren.

Ungeachtet der Irritation um seinen ohnehin gefälschten Namen zählt Jack zu den faszinierenden Gestalten der Phantastik. Er, der so große Sorgfalt darin investiert, keinerlei Alltagsspuren zu hinterlassen, gehört zu den Helden des Genres, die mit einem reichen Innenleben gesegnet – oder geschlagen – sind. Für einen Mann, der so viel Wert auf seine staatsbürgerliche Unsichtbarkeit legt, ist Jack sozial erstaunlich stark eingebunden. Dieser Zwiespalt macht ihn sympathisch und interessant, denn Jack erwachsen aus seiner Treue zu Familie und Freunden ständig Probleme. Sein geheimes Leben lässt sich – Spiderman würde da zustimmen – schwer mit dem Privaten in Einklang bringen. Die Regeln des ’normalen‘ Lebens hat Jack gegen die eines selbst geschaffenen Kodex getauscht. Paradoxerweise ist dieser in vielen Punkten sogar strenger formuliert. Das muss so sein, denn nur so kann Jack die Kontrolle behalten.

Denn es gibt da eine andere, dunkle Seite in Jacks Wesen. Das Lösen heikler Aufgaben ist ihm genauso Job wie Sucht, denn sein ‚Handwerk‘ dient als Ventil für die ihm innewohnende Brutalität. Jack schlägt gern zu, auch wenn er sorgfältig darauf achtet, dass es nur diejenigen trifft, die es ‚verdienen‘. Das zu entscheiden, obliegt jedoch ihm, und in Momenten der Muße – die Jack nicht grundlos schwer erträglich findet – weiß er durchaus, dass er sich etwas vormacht. Das hat ihm zuletzt Gia sehr deutlich gesagt, nachdem sie hinter sein Doppelleben gekommen war.

Für einen Horrorroman erstaunlich ausführlich und ernsthaft beschäftigt sich „Die Gruft“ mit Jack und Gia, den beiden Königskindern, die einander nicht finden können, obwohl sie es doch so sehr wollen. In der Tat übertreibt es Wilson mit diesem beinahe seifenoperlichen Konflikt, dem sogar ein zweites Problemverhältnis – das von Jack und seinem Vater – folgt. Diese Passagen lassen sich überspringen, ohne dass die eigentliche Handlung davon beeinträchtigt wird – kein gutes Zeichen und ein Indiz dafür, dass ihr hier etwas übergestülpt werden soll, das nicht mit ihr harmoniert.

Wenn’s in diesem Bereich sogar faulig süßelt, so liegt es daran, dass Gias Töchterlein Victoria des Dreiecks letzte Seite bildet, deren offensiv kulleräugige Unschuld fürchterlich nervt. „Kleinkind in Gefahr“ – da schrillen bei jedem echten Gruselfreund die Alarmglocken, denn Kinder und Hunde, so lautet eine alte und kluge Hollywood-Weisheit, reißen die Aufmerksamkeit stets an sich. Das ist im Buch so wie im Film und wird als mechanisch zuverlässiges Handlungselement gern von faulen Autoren eingesetzt. Wilson möchte man solches Kalkül nicht unterstellen, weil er sich mit der Figurenzeichnung sonst große Mühe gibt. Dennoch würde niemand Vicky vermissen, wenn zwischen den Zeilen ein Rakosh sie sich greifen würde …

Gia DiLauro ist als „love interest“ ein Objekt der Begierde, das nicht wechselhaft umworben und gerettet werden will bzw. muss, sondern eine erwachsene Frau mit dem Problem, dass der Mann ihres Herzens alles andere als eine ’sichere Partie‘ ist. Mit den daraus resultierenden Fragen plagt sich Gia viele Seiten, was sie aber keineswegs daran hindert, sich aktiv in die finale Rauferei mit den Rakoshi einzumischen. Ohne Gia wäre Jack besser dran, so mag mancher Leser insgeheim denken, doch ihre Existenz prägt diesen Jack entscheidend.

Das ist auch deshalb wichtig, weil es Jacks Beziehung zu Kolabati bestimmt. Diese ist – damit verrate ich sicherlich kein Geheimnis – nicht diejenige, die zu sein sie Jack vorgibt. Er vermag sich trotz des ehrlichen Versuches nie vollständig auf sie einlassen und ahnt nicht, dass ihm das letztlich sein Leben als Individuum rettet.

Als wir Jack verlassen, sitzt er verlassen und schwer verletzt in seiner Wohnung. Er braucht dringend Hilfe, und 1984 blieb offen, ob er sie erhalten wird. Dieses offene Ende behielt Verfasser Wilson trotz zweimaliger Bearbeitung des Romans bei, weil es dramatisch und wirkungsvoll ist. Es verliert allerdings erheblich an Wirkung, wenn man um die lange Reihe der „Handyman-Jack“-Abenteuer weiß, die der „Gruft“ inzwischen gefolgt sind und noch folgen werden …

http://www.festa-verlag.de

_F. Paul Wilson auf |Buchwurm.info|:_
[„Das Kastell“ 795
[„Tollwütig“ 2375

Alec Covin – Die Augen der Angst

Das geschieht:

Tusitala, ein kleines Städtchen im US-Staat Louisiana, soll für das gebeutelte Ehepaar Baldwin zur Stätte ihres beruflichen und privaten Neuanfangs werden. John hat gerade einen Schlussstrich unter seine gescheiterte Hollywood-Karriere gezogen und will das alte Fortier-Anwesen in ein Ferienhotel verwandeln. Deutlich weniger enthusiastisch ist ihm Gattin Laureen in die Provinz gefolgt. Ihr fehlt die Großstadt, und sie sorgt sich um Scotty, den fünfjährigen Sohn, den sie nach Ansicht des Vaters zu sehr verhätschelt.

Das Hotel der Baldwins wird zur Goldgrube. Scotty durchstreift die naturbelassene Wildnis der Umgebung. Dabei stößt er auf einen Spielkameraden, den er als Gespenst identifizieren könnte, hätten ihn seine Eltern über die unheimliche Vorgeschichte des Fortier-Hauses informiert: In den 1930er Jahren erhob sich hier die Villa der reichen und mächtigen Familie McNeice, bis es während eines glanzvolles Festes mit allen Gästen in Flammen aufging. Alec Covin – Die Augen der Angst weiterlesen

Larson, Erik – Marconis magische Maschine

Guiglielmo Marconi und Dr. Hawley Harvey Crippen: Schon ihre Herkunft trennt sie buchstäblich durch Welten; der eine ist in Italien, der andere in den USA geboren. Auch in ihrem Werdegang sind sie grundverschieden. Marconi ist ein Erfinder, der sich dem drahtlosen Funk verschrieben hat. Seit 1894 experimentiert er wie besessen, und es gelingt ihm, die Entfernung zwischen Sender und Empfänger kontinuierlich zu steigern. Er geht nach England und wird berühmt, doch gleichzeitig wächst die Widerstand gegen den ‚Ausländer‘, der gern als Scharlatan hingestellt wird.

Crippen lässt sich zum homöopathischen Mediziner ausbilden und arbeitet für eine lange Reihe eher windiger Firmen, die rezeptfreie „Patentmedizinen“ auf den Markt werfen. Schon in jungen Jahren trifft er eine verhängnisvolle Entscheidung und heiratet eine Frau, mit der es keine Gemeinsamkeiten gibt. In den nächsten Jahrzehnten machen sich die selbsternannte Künstlerin und der unglückliche, allzu duldsame Gatte das Leben zur Hölle. Auch ein Umzug nach London bringt keinen Frieden. Scheidung ist in dieser Ära verpönt, der Druck wächst – und dann lernt Crippen die junge Ethel kennen. Seine Liebe wird erwidert, Gattin Cora misstrauisch. Keinesfalls will sie ihren Ruf sowie ihren Status als finanziell versorgte Ehefrau verlieren.

Der Druck wächst, Crippen steckt in der Klemme, die ihn 1910 einen verhängnisvollen Entschluss fassen lässt: Cora muss verschwinden! Der Arzt kennt sich mit Giften aus, aber er unterschätzt die Polizei. Nach und nach wird eine grausige Mordtat aufgedeckt. Mit seiner Geliebten will sich Crippen in die USA absetzen, wo sich ihre Spuren in dem riesigen Land verlieren werden. Die Reise per Schiff dauert nur wenige Tage, die das Paar in Verkleidung hinter sich zu bringen hofft.

Aber Crippen hat den Fortschritt gegen sich: Nach Jahren unermüdlicher, von Fehlschlägen begleiteter Versuch gelang es Marconi, den drahtlosen Funk ohne Entfernungsbeschränkungen zu realisieren. Seither werden immer mehr Schiffe mit Funk ausgerüstet. Auch an Bord der „SS Montrose“, mit der Crippen und Ethel reisen, gibt es eine Station. Als Kapitän Kendall die wahre Identität seiner Passagiere erkennt, lässt er mit Hilfe des Funks eine neue Ära der Kriminalgeschichte beginnen …

Forschung und Wissenschaft werden seit jeher gern nach der Alltagstauglichkeit ihrer Ergebnisse bewertet. Die Naturwissenschaft bietet in dieser Hinsicht die besseren Möglichkeiten. Noch immer ist es gelungen, aus der Arbeit von Chemikern, Physikern oder Astronomen wirtschaftlichen oder militärischen Nutzen zu schlagen.

Guiglielmo Marconi wird von denen, die misstrauisch auf das schwer kontrollierbare Treiben in teuren Labors blicken, besonders leicht ins Herz geschlossen, denn der Erfinder des drahtlosen Funks, der die Kommunikation zwischen Kontinenten und Meeren möglich machte, war nicht einmal ein Wissenschaftler, sondern ein Autodidakt, der seine Erfolge aufgrund unermüdlicher Versuche nach dem Prinzip Versuch & Irrtum erzielte. Außerdem stand für Marconi von Anfang an fest, dass er mit seiner Schöpfung reich und berühmt werden wollte.

Was ihn heute zum Helden einer globalisierten und kommerziellen Forschung machen würde, bereitete ihm zu seiner Zeit kurioserweise Schwierigkeiten, denn Ende des 19. Jahrhunderts sah der ‚wahre‘ Wissenschaftler sich ausschließlich seiner Arbeit verpflichtet, deren Ergebnisse zwecks Überprüfung den Kollegen mitzuteilen war. Marconi sperrte sich konsequent gegen diese Tradition und betrachtete diese Kollegen stattdessen als Konkurrenten.

Schon dieser ‚menschliche‘ Aspekt verleiht Marconis Biografie Spannung, resultieren aus seinem Charakter und seinem Werk doch zahlreiche Auseinandersetzungen und Intrigen, die eines Thrillers würdig sind. Gleichzeitig fesselt die Darstellung einer Technik, die nicht mit spektakulären Effekten sparte: Gleich mehrfach ließ Marconi in unwirtlichen Regionen gewaltige Teststationen mit himmelhoch ragenden Masten und bizarren Antennengebilden errichten, die wie dem Titelblatt eines Science-Fiction-Romans nachgebildet wirkten.

Erik Larson verlässt sich indes nicht auf die Anziehungskraft der Marconi-Saga. Er sucht sich ein Ereignis, das auch dem technisch absolut abholden Leser die historische Bedeutung der drahtlosen Kommunikation vor Augen führt. Womöglich fürchtet er, dass diese im 21. Jahrhundert so selbstverständlich geworden ist, dass der Zeitgenosse die Pioniertat Marconis nicht zu würdigen weiß.

Der Autor geht damit ein Risiko ein, denn die Wege von Guiglielmo Marconi und Dr. Crippen haben sich nie gekreuzt. „Marconis magische Maschine“ spiegelt das wider: Die ‚Handlung‘ spielt auf zwei Zeitebenen. Marconi erzielte seinen Durchbruch kurz nach der Jahrhundertwende. Die Jagd auf Crippen fand 1910 statt. Da waren Marconis eigentliche Schlachten im Grunde geschlagen, der drahtlose Funk zur akzeptierten Errungenschaft geworden. Dass Crippens Flucht vereitelt werden konnte, ist nachweislich dem Einsatz des Funks zu verdanken. Trotzdem stellt dieser Kriminalfall in der Geschichte der drahtlosen Kommunikation nur eine Episode dar. Larson spitzt seine Darstellung dagegen konsequent auf dieses Ereignis zu. Die Kapitel, in denen der Verfasser zwischen Marconi und Crippen ’springt‘, werden immer kürzer: Larson inszeniert das große Finale. Das wirkt bemüht, zumal er ansonsten zwei quasi isolierte Lebensgeschichten erzählt.

Diese Zweiteilung übernimmt er aus „The Devil in the White City“ (dt. [„Der Teufel von Chicago“), 492 seinem Bestseller aus dem Jahre 2003, in dem er Leben und ‚Werk‘ der Zeitgenossen Daniel Hudson Burnham und Herman Webster Mudgett gegenüberstellt: der eine ein Architekt, der sich darum bemüht, die Stadt der Zukunft zu bauen, der andere ein Serienkiller, dem im modernen Stadtleben die Möglichkeiten erkennt, seinem Mordtrieb nachzugeben.

Burnham und Mudgett waren Zeitgenossen und leben in derselben Stadt. Ihre Lebenswege ließen sich verweben. In „Marconis magische Maschine“ muss Larson eher kleben. Marconi spielte in Crippens Leben keine Rolle, und Crippen bewegte sich in anderen Kreisen als Marconi. Die Technik bildet den eigentlichen Berührungspunkt – eine Tatsache, die Larson anscheinend für nicht publikumstauglich genug hielt.

Die nur bedingt überzeugende Verknüpfung der Marconi- und Crippen-Viten irritiert. Sie schmälert freilich nicht den Informations- und Unterhaltungswert dieses Buches. Larson ist ein exzellenter Sachbuch-Autor: Er recherchiert aufwändig und kleidet die Fakten in eine Sprache, die auch den Laien schwierige technische Sachverhalte problemlos erfassen lässt. Marconi und Crippen bewegen sich durch einfühlsam und anschaulich geschilderte Welten, denn Larson bezieht die politische und kulturelle Realität der Vergangenheit jederzeit in seine Darstellung ein. Zum Verständnis historisch bedingter und deshalb heute oft schwer oder gar nicht verständlicher Sachverhalte trägt diese Einbettung nachhaltig bei.

Überhaupt bedient sich Larson eines Stils, der die Lektüre zum Vergnügen macht – ein Kompliment, das selbstverständlich die Übersetzerin einschließt. Larson schreibt lebendig, reiht nie trockene Fakten, sondern wählt aus dem Wust der zeitgenössischen Überlieferung zentrale bzw. relevante Ereignisse. Für Abwechslung sorgen gut ausgewählte Anekdoten, die den Fakten Leben einhauchen. Vor publikumswirksamen Tricks schreckt Larson ebenfalls nicht zurück: Im Vorwort schreibt er: „Ich bitte den Leser meine Leidenschaft für Abschweifungen nachzusehen. Wenn Sie beispielsweise über ein Stück menschliches Fleisch mehr erfahren, als Ihnen lieb ist, dann entschuldige ich mich im Vorhinein, auch wenn ich gestehen muss, dass es nur eine halbherzige Entschuldigung ist.“ Wer würde da nicht neugierig? Die Erwartungen werden nicht enttäuscht, wenn wir detailfreudig erfahren, auf welche groteske Weise der sanfte Dr. Crippen seine Gattin in „ein Stück menschliches Fleisch“ verwandelte. Niemand wird anschließend behaupten, ein Sachbuch müsse zwangsläufig langweiliger als ein Roman sein …

Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die „University of Pennsylvania“, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der „Columbia Graduate School of Journalism“. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.

Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. [„Isaacs Sturm“) 2068 ihm den Durchbruch und Weltruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.

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Morrell, David – Level 9

Den Todesfallen des „Paragon“-Hotels gerade noch entkommen (s. David Morrell: [„Creepers“, 3049 |Knaur| Taschenbuch-Verlag/TB Nr. 63447), versuchen sich Ex-Polizist Frank Balenger und seine Leidens- und Lebensgefährtin Amanda Evert immer noch von ihren Qualen zu erholen, als neues Ungemach über sie hereinbricht: Ein genialer aber geistig gestörter Psychopath plant das ultimative ‚Gottesspiel‘. Der „Gamemaster“ präpariert ein abseits in den Bergen des US-Staates Wyoming gelegenes Tal für seine „Scavenger“-Jagd. Er entführt fünf Männer und Frauen, die in der Vergangenheit außergewöhnliche Krisensituationen überlebten. Sie sollen sich hier seinem Spiel auf Leben und Tod unterwerfen. 40 Stunden bleiben Ray, Bethany, Derrick, Vivian und der unglücklichen Amanda, das Ziel des ‚Spiels‘ zu erreichen: die geheimnisvolle „Grabkammer des weltlichen Begehrens“.

Damit sich die ‚Spieler‘ fügen, hat der „Gamemaster“ ihre Ausrüstung vermint; als die unglückliche Bethany die weitere Teilnahme verweigert und flüchten will, wird sie in die Luft gesprengt. Also fügen sich die Überlebenden und begeben sich auf einen mit wilden Hunden, giftigen Schlangen und anderen Todesfallen gespickten Hindernisparcours durch die Geisterstadt Avalon, deren Bewohner Anno 1900 auf geheimnisvolle Weise spurlos verschwanden.

Inzwischen bleibt Frank Balenger in New York nicht untätig. Er ahnt nicht, dass der „Gamemaster“ auch ihn in sein Spiel einbeziehen will und Fährten legen lässt, die auf Amandas Aufenthaltsort hinweisen. Balenger folgt ihnen und muss feststellen, dass auch auf ihn tödliche Fallen warten. Vom „Gamemaster“ per Telefon gereizt und angestachelt, findet er dennoch heraus, wohin Amanda verschleppt wurde. Er macht sich auf den Weg nach Avalon – und gerät vom Regen in die Traufe bzw. ins Zentrum der „Scavenger“-Jagd. Alle Beteiligten spielen inzwischen mit Tricks, die Regeln sind aufgehoben. In den Ruinen der Geisterstadt beginnt ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, das die Mehrheit der Teilnehmer nicht überleben werden …

David Morrell ist ein gebildeter Mann, der flachgründige Romane schreibt. Das ist kein Widerspruch, denn da der ehemalige Professor der Literaturwissenschaften weiß, wie ein Text ‚funktioniert‘, fällt es ihm leicht, die gewünschten Spannungseffekte zu erzeugen. Das Ergebnis sind Thriller wie „Level 9“ – ein Buch, das sich praktisch wie von selbst liest und seine Leser bei der Stange hält, obwohl sie sehr bald wissen, dass ihnen hier alter Wein im neuen Schlauch serviert wird.

Dieses Bild passt gut, denn bekanntlich bekommt das Alter dem Wein meist gut. Morrell kennt die Elemente eines Thrillers genau, und er weiß sie zu einem stimmigen Gesamtwerk zusammenzusetzen. „Level 9“ ist schieres Entertainment, sollte so goutiert werden und sorgt dann für angenehme Bauch-Lektüre.

Dass die Handlung eins-zu-eins einem Computerspiel ‚entlehnt‘ ist, spiegelt Morrells noch junge Faszination am Thema wider – so will es uns der schlaue Schriftsteller jedenfalls in seinem ausführlichen und lesenswerten Nachwort weismachen. Deshalb wird eine Menge metaphysisches Stroh gedroschen, diskutieren Frank Balenger und der „Gamemaster“ zwischen diversen Großfeuern, Explosionen und Totschlägen über das Wesen der Realität, die womöglich mehrdimensional ist, wobei die nächste Ebene per Cyberspace zu betreten ist. Das klingt mächtig bedeutsam, ist aber nur geschickt formuliertes Wortgeklingel, das eine Tiefe suggeriert, die dieser Roman niemals erreicht.

Mussten unbedingt Frank & Amanda die Protagonisten sein? Auch hier arbeitet Morrell ökonomisch. Für „Creepers“ bediente er sich 2005 praktisch des gleichen Handlungsprinzips. Die Hetzjagd ging damals durch ein mit Todesfallen gespicktes Hochhaus, während im Hintergrund ebenfalls ein Marionetten spielender Psychopath sein Unwesen trieb. Relativ überzeugend begründet Morrell die ‚Fortsetzung‘ in „Level 9“ mit der Qualifikation seiner beiden Hauptfiguren als Überlebenskünstler, die deshalb ins Blickfeld des „Gamemasters“ gerieten.

Ansonsten wird variiert, und das Spielfeld ist größer geworden. Die Regie ist dieses Mal makellos, die dramaturgischen Durchhänger, die „Creepers“ kennzeichneten, bleiben aus. Hilfreich ist darüber hinaus das Wissen, dass Morrell die Verheißung außerordentlicher Rätsel nicht einlösen wird. Lang und breit führt er uns in das wahrlich faszinierende Thema der Zeitkapseln ein, in denen Dinge und Daten versiegelt und vergraben werden, die in vielen Jahren Archäologen und Historikern, aber auch dem an der Geschichte interessierten Laien eine Bestandsaufnahme der Zivilisation zum Zeitpunkt der Ablage ermöglichen sollen. Für die Handlung ist dies alles ebenso Nebensache wie die unheilvolle Geschichte des Fanatikers Owen Pentecost: Schlagsahne auf einem gewöhnlichen Napfkuchen, die der Autor unbeachtet schmelzen lässt.

Gewaltige logische Löcher des Plots gleicht Morrell durch Höllentempo aus: Eine ‚Erklärung‘ dafür, dass unsere Helden finden, was Generationen aufmerksamer Schatzsucher verborgen blieb, gibt es nicht, weshalb der Verfasser es nicht einmal versucht. Über die reale Umsetzung eines Plans, wie ihn sich der ‚geniale‘ „Gamemaster“ ausgedacht hat, denkt man lieber nicht nach. So unverschämt, dass es nur als ironische Hommage gemeint sein kann, ist die Existenz eines Hebels, mit dem der „Gamemaster“ seine unterirdische Festung in die Luft jagen kann; so haben sich schon Dr. Frankenstein und andere geniale Irre in viel zu vielen Filmen vor einem glaubwürdigen Finale gedrückt! (Mein persönlicher Favorit ist dieses Rätsel: Wie viele Giftschlangen muss man fangen und in einem See aussetzen, damit sich der in eine Todesfalle verwandelt …?)

Noch ist es nicht so weit, dass die Charaktere von Computerspielen so ausgefeilt sind wie die Figuren in Filmen oder Büchern – wieso auch, da Games wie „Scavenger“ von Action und Bildern bestimmt werden. In solcher Umgebung bleibt für eine detaillierte Figurenzeichnung weder die Zeit noch wird sie von den Spielern erwartet. Es genügen diverse Grundsätzlichkeiten, die eine Spielfigur kennzeichnen und identifizierbar machen.

An diese Voraussetzung hält sich auch David Morrell. Den nicht so leselustigen Zeitgenossen mag diese Aussage empören, doch sie trifft zu: Sämtliche Emotionen, die unsere Protagonisten – die Guten wie die Bösen – umtreiben, sind behauptet und der Klischeekiste entnommen. Sie sorgen für die Erdung einer Handlung, deren Jump-and-Run-Dramaturgie sich sonst allzu intensiv offenbaren würde. Gleichzeitig gehen die ‚Gefühle‘ der Figuren niemals so stark in die Tiefe, dass sich die Action-Fraktion der Leserschaft davon gestört weil abgelenkt fühlen müsste. Wieder einmal zeigt sich Morrells Professionalität als Autor, der ganz nüchtern einzuschätzen weiß, wie viel ‚literarischen‘ Aufwand er in ein Projekt investieren muss.

Deshalb ist es für den Leser quasi ein Spiel im Spiel zu raten, wen es als nächsten erwischt. Es dürfte kein Spoiler sein, wenn ich an dieser Stelle verrate, dass man sich im Grunde gar nicht irren kann. Gestorben wird hierarchisch von unten nach oben, es beginnt mit diversen No-Names, danach kommen die Nebenrollen an die Reihe, und zuletzt erwischt es den Stellvertreter des Bösewichts und abschließend den Oberteufel selbst.

Doch auch wenn „Level 9“ primär jene zu Begeisterungsstürmen hinreißen wird, die weder des Lesens schon allzu lange mächtig sind noch seit Jahrzehnten mit cineastischem Junkfood malträtiert wurden und deshalb das Rumpeln der Story auf ihren über Gebühr ausgefahrenen Geleisen für normal halten, muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Morrells Rechnung aufgeht. Ob Frank Balenger ein weiteres Mal auf einen Zick-Zack-Kopf-ab-Kurs geschickt wird, hängt praktischerweise nicht von Aspekten wie Logik oder Originalität, sondern nur von der Akzeptanz des Publikums ab. Das mäkelt allerdings und vermisst die munkelige Hui-Buh-Atmosphäre von „Creepers“. Vielleicht hätte Morrell berücksichtigen sollen, dass die frische Luft von Wyoming sogar im Hirn beinharten Gamer die Kritikzellen wecken kann …

Die deutsche Übersetzung lässt sich nicht nur gut lesen, sondern kommt schön und fest gebunden mit Schutzumschlag und erfreulich preisgünstig auf den Buchmarkt. Mit der Reihe „Premieren“ geht die „Weltbild“-Handelskette neue Wege: Veröffentlicht wird nicht mehr nur, was bereits anderweitig erschienen ist. „Level 9“ wird wie „Creepers“, der erste Band der Balenger-Serie, im März 2008 im Knaur Taschenbuch Verlag erscheinen. Vorab erscheint diese Ausgabe, die nur für ihr lieblos einem Bildstock entnommenen Cover zu kritisieren ist. (Abgesehen von der Frage, wieso „Level 9“ ein ‚besserer‘ i. S. von den Inhalt treffender umschreibender Titel als „Scavenger“ – „Schnitzeljagd“ – sein soll.)

David Bernard Morrell wurde 1943 in Kanada geboren, stammt also aus Kanada. 1966 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. An der Pennsylvania State University studierte er Anglistik und schloss mit einem Magister- und einem Doktortitel ab. Einer seiner Dozenten half ihm bei ersten Gehversuchen als Schriftsteller. Morrell war ein guter Schüler: 1972 debütierte er mit „First Blood“ (dt. „Rambo“), der Geschichte eines Vietnamveteranen, der heimkommt in ein Amerika, das er und das ihn nicht mehr versteht, was in einem metapherreichen Stellvertreterkrieg an der ‚Heimatfront‘ mündet. „First Blood“ wurde zum Vorbild für unzählige Actionreißer, die mehr oder weniger nach demselben Muster gestrickt waren, ohne jedoch in der Regel die Qualität des Originals zu erreichen. Morrell wurde durch die erfolgreiche Verfilmung seines Buches mit Sylvester Stallone in der Titelrolle zum Bestsellerautor.

Ab 1970 lehrte Morrell als Professor für Englische Literatur an der University of Iowa, während er weitere Romane verfasste, Seit 1986 arbeitet er hauptberuflich als Schriftsteller. Sein Spektrum erschöpft sich längst nicht in spannenden Thrillern. Er legt auch literaturwissenschaftliche Essays vor oder berichtet über seine Erfahrungen als Schriftsteller. David Morrell lebt heute in Santa Fé, New Mexico. Er pflegt eine eigene Website (www.davidmorrell.net), die durch ihre Aktualität und ihren Informationsgehalt gefällt.

http://www.weltbild.de
http://www.knaur.de

Erwin Grosche – Der falsche Priester [Maikötter 1]

Im westfälischen Paderborn treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Privatdetektiv Maikötter, der sich gern als Priester verkleidet, beschattet zwar eigentlich einen untreuen Ehegatten, wird aber wider Willen in die Ermittlungen hineingezogen … – Was sich als Krimi tarnt, ist eine Sammlung satirischer Betrachtungen des Lebens in der westfälischen Großstadt-Provinz, mit der eine Liebesgeschichte verquickt wurde. Die Story plätschert im Einklang mit den 200 Quellen der Pader dahin, und wie dieser kürzeste Fluss Deutschlands verliert sie sich spurlos in fremden Gewässern. Zumindest der Krimi-Leser mag dem bald nicht mehr folgen.
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Seldon Truss – Ein Toter meldet sich

Als ein junger Kriminalreporter eine übel beleumundete Kaschemme erbt, kommt es dort zu Raub und Mord. Im Wettlauf mit Scotland Yard ermittelt der Reporter im Alleingang, wobei ihn eine hübsche Pfarrerstochter unterstützt. Dabei geraten die neugierigen Amateure in gefährliche Situationen … – Nicht klassischer aber sehr solider „Whodunit“ der britischen Krimi-Schule, dessen Plot aus heutiger Sicht ein wenig zu leicht durchschaubar gerät, was trockener Witz und unterhaltsam überzeichnete Figuren weitgehend wettmachen können.
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Alan Campbell – Scar Night (Kettenwelt-Chroniken 1)

In Deepgate, der Stadt, die an Ketten über einem tiefen Abgrund schwebt, sorgen Intrigen und Mordanschläge für Unruhen und Aufruhr. Als ein Wahnsinniger einen Privatkrieg gegen die Obrigkeit anzettelt, wird sogar der Höllenschlund unter der Stadt aufgerührt … – „Dark Fantasy“ vom Feinsten: Die an sich bekannte Story wird vor einer grandiosen, ebenso düsteren wie plastisch geschilderten Kulisse entwickelt. Lebendige Figuren fesseln das Interesse zusätzlich.
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Keene, Brian – Wurmgötter, Die

Seit mehr als 40 Tagen regnet es auf dem gesamten Erdball. Gewaltige Fluten haben die Küstenregionen sämtlicher Kontinente verwüstet. Das Wasser steigt ständig. Bis auf die bergigen Regionen ist inzwischen auch das Land überflutet und aufgeweicht. Die Zivilisation ist zusammengebrochen, die meisten Menschen sind tot oder auf der Flucht dorthin, wo das Wasser sie nicht erreicht. Wer sich den großen Evakuierungen nicht angeschloss, blieb isoliert und ohne Nachrichten zurück. So wird es auch bleiben, denn ein Kommunikationsnetz existiert nicht mehr.

Im US-Staat West Virginia gehört Teddy Garnett zu denen, die sich störrisch weigerten, ihr Heim zu verlassen. Über 80 Jahre ist er alt und mag dem Wetter nicht weichen. Da er sein Haus hoch auf einem Berg errichtet hat, blieb er von der Flut verschont. Doch Garnett ist einsam, Lebensmittel und Brennstoff für den Stromgenerator drohen ihm auszugehen. Zudem bemerkt er Seltsames im ewigen Regen: Eine aggressive Schimmelart breitet sich aus und befällt Tiere und Pflanzen. Schlimmer ist jedoch eine akute Würmerplage. Garnett führt das zunächst auf die Feuchtigkeit zurück, bekommt es aber mit der Angst zu tun, als er erlebt, wie plötzlich riesenhafte und fleischhungrige Würmer an der Erdoberfläche erscheinen.

Wie gewaltig diese wirklich werden können, weiß eine kleine Menschengruppe, die gerade aus der versunkenen Stadt Baltimore entkommen ist. Dort hatte sie sich in einem Hochhaus verbarrikadiert, denn in den Ruinen lauerten offenbar wahnsinnig gewordene Zeitgenossen, die an eine Rückkehr uralter Götter als Auslöser der neuen Sintflut glaubten und ihnen Menschenopfer brachten. Tatsächlich treiben seltsame Wesen ihr Unwesen in den Fluten, und sie dringen ins Landesinnere vor.

Der Weg der Flüchtlinge endet unweit von Garnetts Hütte, in der man sich erneut einigelt: Aus dem Boden steigen Monsterwürmer, deren Gier auf Menschenfleisch unersättlich ist …

|I.|

Der Mensch teilt diese Erde seit Jahrmillionen mit den Würmern – unzähligen Würmern, die teilweise äußerst unerfreuliche Ernährungsgewohnheiten an den Tag legen, in der Regel schleimig sind und manchmal bemerkenswerte Längen erreichen. Er mag sie nicht oder fürchtet sie, doch in der Regel bleibt die Koexistenz zwischen Mensch und Wurm friedlich, weil Letzterer tief in der Erde oder im Meer lebt und Ersterem erst zu Leibe rückt, wenn er (oder sie) in Friedhofserde ruht.

Was wäre allerdings, blieben Würmer nicht klein und ängstlich, sondern würden riesig und angriffslustig? Keine angenehme Vorstellung; obwohl auch Riesenwürmer vermutlich harmlos wären – ein Lebewesen ohne stützendes Skelett würde unter dem Eigengewicht zusammenbrechen -, lässt die Vorstellung trotzdem schaudern. Zu fremdartig wirken diese Tiere. Kein Wunder, dass Würmer in der Mythologie des Menschen keine sympathischen Rollen besetzen. Den sprichwörtlichen Wurm im Apfel kennt jede/r; er symbolisiert, dass unter einer glänzenden Oberfläche schon die Verderbnis lauern kann. Der Wurm (oder die Schlange) Ouroboros, der sich selbst in den Schwanz beißt, steht für den ewigen Kreislauf des Lebens, dessen Ende immer einen neuen Anfang beinhaltet.

In der Unterhaltungsliteratur dominiert der Wurm als schreckliche Kreatur aus der Unterwelt. Bram Stoker, der Autor von „Dracula“, schrieb 1911 kurz vor seinem Tod „Lair of the White Worm“ (dt. [„Das Schloss der Schlange“); 2987 das Untier weist gewisse Ähnlichkeit mit den „Wurmgöttern“ auf, die Brian Keene über die Menschheit herfallen lässt. Er verschmilzt den Wurm mit dem gallertigen Dämonen-Gott Cthulhu, den H. P. Lovecraft (1890-1937) einst zu ewigem literarischen Leben erweckte. (Eigentlich tritt Cthulhu ja in Tintenfisch-Gestalt auf; Brian Keene ließ sich offenbar vom Lovecraft-Epigonen Brian Lumley ‚inspirieren‘, der in seinem „Titus-Crow“-Zyklus [1974-1989] die Menschheit durch die wurmigen Chtonier terrorisieren ließ.)

|II.|

Allzu genau nimmt es Keene indes weder mit der Mythologie noch mit dem Cthulhu-Mythos. Die Herkunft seiner Wurmgötter deutet er nur an und tut gut daran, denn eine Klärung widerspräche der Intention seiner Geschichte. Der Untergang der Welt findet außerhalb der Sicht seiner Figuren statt, die nur über Ursache und Ausmaß der Katastrophe spekulieren können.

„Die Wurmgötter“ ist in doppelter Hinsicht ein episodenhafter Ausschnitt aus einem Geschehen, das auch dem Leser unklar bleibt. Keene verzichtet sogar auf einen stringenten Handlungsbogen. Sein Buch zerfällt in drei Teile – die Geschichte des alten Teddy Garnett, die Abenteuer der Baltimore-Gruppe und der Überlebenskampf der Überlebenden beider schließlich vereinter Gruppen. Die Wirksamkeit dieser Differenzierung bleibt fraglich; stattdessen sinniert der Leser über der Frage, ob Keene überfordert mit der Gestaltung einer durchgängigen Handlung war. Die beiden ersten Teile stehen im Grunde ohne logische Verbindung nebeneinander und werden für das Finale nur notdürftig zusammengeführt. Die Geschichte leidet darunter, weil sie ab Seite 119 mit Teil zwei praktisch neu beginnt. Stilistisch fällt dieser zudem ab: Während sich Keene in Teil eins Zeit für den Aufbau der Ereignisse nimmt, setzt er hier allzu simpel auf Action, Gewalt und Sex.

Viele spannende Episoden hat sich der Verfasser einfallen lassen. Grandios ist indes vor allem sein Gespür für Stimmungen. Das Grauen einer im Wasser versinkenden Welt vermag Keene ausdrucksstark zu schildern. Schlechter schneidet er ab, sobald er seine Protagonisten reden und miteinander agieren lässt. Der Mensch ist kein für die Krise geeignetes Wesen, lautet Keenes Credo; Egoismus und Irrsinn kommen zum Vorschein, wird die dünne Tünche der Zivilisation abgekratzt. Wie sich dies äußert, bleibt bei ihm freilich Klischee. Keenes schlechtester Einfall bleiben in dieser Hinsicht die ‚Satanisten‘ von Baltimore, die sich genauso (dämlich) benehmen wie die Spinner aus 1001 schlechten Hollywood-Streifen.

Das Ende bleibt offen; zumindest in dieser Hinsicht beugt sich der Verfasser nicht der „Happy-End“-Fraktion. Bis es soweit ist, legt er keine Zimperlichkeit an den Tag, wenn es darum geht, die Reihen seiner Figuren zu lichten. Niemand ist sicher, Sympathie keinesfalls eine Garantie für Überleben. Für diese Konsequenz ist man Keene dankbar, denn sie stellt ein angenehmes Gegengewicht zu den genannten Schwächen dar (zu denen sich noch ein Stützen auf plakativen Ekelszenen gesellt, die allzu offensichtlich effekthascherischer Selbstzweck sind.)

Die Zweiteilung der Handlung setzt sich in der Figurenzeichnung fort. Mit Teddy Garrett ist Keene definitiv eine Hauptperson gelungen, die im Gedächtnis bleibt: ein alter Mann aus einfachen Verhältnissen, der ausgiebig über sein Leben reflektiert und zu einer echten Persönlichkeit reift. Flach bleiben dagegen die Flüchtlinge aus Baltimore, deren Denken und Handeln oft nicht nachzuvollziehen ist und eher den Konventionen des Horrorromans als der Logik folgt.

Vor allem die Schwachen und die Bösen gerinnen zum Popanz. Bei Keene werden sie entweder wahnsinnig oder von Dämonen besessen. In beiden Fällen mutieren sie zu Massenmördern und ergehen sich in endlosen Drohreden, in denen sie düster über anstehende Apokalypsen unken und sich auch sonst lächerlich benehmen.

Auf die ‚göttliche‘ Herkunft der Würmer hätte Keene übrigens problemlos verzichten können. Er geht ohnehin nur ansatzweise darauf ein (und produziert dabei primär Kinderbibel-Horror). Letztlich bleibt absolut ungeklärt, wer oder was sich hinter den Würmern verbirgt. Sie könnten durchaus biologische Mutationen sein, die von der Flut an die Oberfläche getrieben wurden. Der große „Behemoth“-Wurm zeigt keine Anzeichen von Intelligenz. „Leviathan“, sein aquatisches Gegenstück, der angebliche Cthulhu, scheint auch keine Ahnung zu haben, was er mit der Erde, die ihm in den Schoß gefallen ist, anfangen soll. Wozu also das mythologische Fundament, wenn Keene nie wirklich auf ihm aufbaut und seine Mammut-Würmer den ganz und gar irdischen Wurmgetümen aus den „Tremors“-Filmen anpasst?

„Die Wurmgötter“ sind unterm Strich die auf dem Fernsehen bekannten „Monster der Woche“, Keenes Roman ist spannender Horror mit nur behauptetem Tiefgang, der allerdings handwerklich sauber präsentiert wird. Dass man zunächst mehr erwartet, liegt an der wirklich schönen Buchgestalt, die der |Otherworld|-Verlag der deutschen Ausgabe dieses Romans spendierte. Sie wurde fest in rotes Leinen gebunden, sauber gedruckt, mit einem handgemalten (!) Cover (von Abrar Ajmal – er lässt seinen Behemoth-Wurm wie einen Shai-Hulud aus den „Dune“-Romanen von Frank Herbert aussehen) versehen und flüssig lesbar (vom Michael Krug) übersetzt. Negativ ins Auge fallen höchstens die sich häufenden falschen Worttrennungen, die auf eine zu hastige Endredaktion hindeuten. Das eigentliche Vergnügen an diesem Werk trübt das freilich nicht.

Brian Keene (geboren 1967) wuchs in den US-Staaten Pennsylvania und West Virginia auf; viele seiner Romane und Geschichten spielen hier und profitieren von seiner Ortkenntnis. Nach der High School ging Keene zur U. S. Navy, wo er als Radiomoderator diente. Nach Ende seiner Dienstzeit versuchte er sich – keine Biografie eines Schriftstellers kommt anscheinend ohne diese Irrfahrt aus – u. a. als Truckfahrer, Dockarbeiter, Diskjockey, Handelsvertreter, Wachmann usw., bevor er als Schriftsteller im Bereich der Phantastik erfolgreich wurde.

Schon für seinen ersten Roman – [„The Rising“ 3368 (2003), eine schwungvolle Wiederbelebung des Zombie-Subgenres – wurde Keene mit einem „Bram Stoker Award“ ausgezeichnet. Ein erstes Mal hatte er diesen Preis schon zwei Jahre zuvor für das Sachbuch „Jobs In Hell“ erhalten. Für seine Romane und Kurzgeschichten ist Keene seitdem noch mehrfach prämiert worden. Sein ohnehin hoher Ausstoß nimmt immer noch zu. Darüber hinaus liefert er Scripts für Comics nach seinen Werken. Außerdem ist Keene in der Horror-Fanszene sehr aktiv. Sein Blog „Hail Saten“ gilt als bester seiner Art; die Einträge wurden in bisher drei Bänden in Buchform veröffentlicht.

Brian Keene hat natürlich eine Website, die sehr ausführlich über sein Werk und seine Auftritte auf Lesereisen informiert (www.briankeene.com). Über den Privatmann erfährt man allerdings nichts; es gibt nicht einmal die obligatorische Kurzbiografie.

http://www.otherworld-verlag.de/