Alle Beiträge von Michael Drewniok

Walker, Stephen – Hiroshima. Countdown der Katastrophe

6. August 1945, 9.15 Uhr Guam-Kriegszeit: ein weiterer historischer Moment in einem an denkwürdigen Daten reichen Jahr. Doch dies ist kein Augenblick, der zum freudigen Rückblick Anlass gibt, denn er markiert den ersten militärischen Einsatz der Atombombe und die Vernichtung der japanischen Stadt Hiroshima und ihrer Einwohner – nach Stephen Walker, dem Verfasser des hier vorgestellten Sachbuchs, ein Drama in vier Akten.

Der erste Akt schildert eine Generalprobe der besonderen Art: Die Bombe auf Hiroshima war keineswegs die erste ihrer Art. Drei Wochen zuvor war jenes Licht, das heller und heißer als die Sonne strahlte, in einem öden Wüstenstrich in New Mexico aufgeflammt. Zu diesem Zeitpunkt war weder klar, ob die Atombombe funktionieren noch welche Folgen dies haben würde. Zwei Milliarden Dollar waren in die Entwicklung geflossen, eine ganze Legion der klügsten Naturwissenschaftler dieser Welt hatte sich jahrelang in das Problem verbissen. Die Bombe zeigte sich als störrisches Instrument, das endlose Pannenserien produzierte. Zudem warnten Fachleute, dass eine atomare Explosion die Atmosphäre der Erde in Brand setzen und so das irdische Leben auslöschen könne. Aber gezündet wurde trotzdem, das Experiment war schauerlich erfolgreich – und die Entscheidung für die Aufführung des zweiten Akts gefallen.

In der zweiten Julihälfte widmet sich ein Team von Spezialisten und eigens ausgebildeten Piloten dem Problem, die Atombombe als Waffe einzusetzen, ohne dabei selbst in Stücke gerissen zu werden. Walker beschreibt nervenaufreibende Wochen der Vorbereitung in der Einsatzzentrale des 509. Geschwaders auf einer Insel irgendwo im Pazifik, während die Japaner verzweifelt auf die Möglichkeit einer ehrenvollen Kapitulation hoffen, die ihnen weder die US-Amerikaner noch deren sowjetische Verbündete aus taktischen Gründen zugestehen wollen: Noch während der II. Weltkrieg im asiatischen Raum gekämpft wird, werden die politischen Weichen für eine Ära gestellt, in der sich USA und UdSSR als Gegner gegenüberstehen. Der Besitz einer Atomwaffe, die ihre Effizienz unter Beweis gestellt hat, kann dabei von entscheidender Bedeutung sein.

Der dritte Akt versucht die letzten Stunden vor dem Flug des Bombers „Enola Gay“ mit seiner monströsen Fracht in Worte zu fassen. Als Ziel des „Einsatzes“ haben die Amerikaner Japans siebtgrößte Stadt Hiroshima gewählt, die noch unzerstört geblieben ist und deren spektakuläre Vernichtung die Widerstandskraft des Feindes brechen soll. Walker lässt Einwohner Hiroshimas und Soldaten zu Wort kommen, während er schildert, wie sich die „Enola Gay“ der ahnungslosen Stadt nähert und die Bombe schließlich abwirft.

Akt 4 beschreibt das, was niemand sich vorstellen konnte oder wollte: die ersten 24 Stunden nach der Explosion. Mit bedrückender Eindringlichkeit beschwört Walker die Verheerungen, welche die Detonation mit Feuer und Druck auslöst, während das eigentliche Grauen erst Stunden später offenbar wird: Wer in Hiroshima überlebt hat, fällt nun der radioaktiven Strahlung zum Opfer. Zur selben Zeit ist man in Washington erleichtert und erfreut: Der atomare Feldzug ist wie geplant verlaufen und gewonnen. Über die Konsequenzen dieses Geschehens machen sich die Verantwortlichen keine besonderen Gedanken. Zwei Wochen später fällt die Atombombe auf Nagasaki.

In seinem Epilog liefert Walker eine Vorschau auf die Welt unter der Atombombe. Die Fronten zwischen Befürwortern und –gegnern vertiefen sich; viele von denen, die in New Mexiko die Entwicklung vorantrieben, bereuen es bitter. Weil das Wissen um den Bau der Bombe zudem von einem Spion umgehend nach Moskau gemeldet wurde, kann die gefürchtete und bald verhasste Sowjetunion ihre eigene atomare „Verteidigung“ errichten. Aber schon haben in den US-Labors die Arbeiten an der Wasserstoffbombe begonnen …

„Hiroshima“ klingt mit einer langen Reihe von Anmerkungen zum Text, einem Quellenverzeichnis plus Bibliografie, einem Personen-, Orts- und Sachregister sowie einer Danksagung und dem Abbildungsnachweis aus.

Auf drei Wochen im Sommer des Jahres 1945 verdichtet Verfasser Stephen Walker seine bemerkenswerte Chronik eines ebenso denkwürdigen wie traurigen Ereignisses. Diese Zeitspanne beinhaltet nach seiner Meinung die relevanten Aspekte der Atombomben-Story. Walker legt seine Darstellung sehr „filmisch“ an; er wechselt die Perspektive, springt von Ort zu Ort, stellt uns die handelnden Personen in ihren Worten und Taten vor, während der „Countdown der Katastrophe“ längst begonnen hat. Der Leser springt quasi auf einen bereits fahrenden Informationszug auf. Dies birgt die Gefahr, dass vor allem dem historischen Laien grundsätzliche Vorkenntnisse unbekannt bleiben. Doch Walker beherrscht die Kunst, wichtige Infos in seinen Bericht einfließen zu lassen, ohne dass es die Chronologie stört. Das Ergebnis überzeugt: „Hiroshima“ ist ein rasant zu lesendes Buch, dessen Erzählfluss das Tempo widerspiegelt, mit dem 1945 die Atombombe zum Einsatz kam.

„Hiroshima“ erzählt diese Geschichte als durchaus nicht vollständiges historisches Mosaik. Zahlreiche Ereignisse lassen sich sechs Jahrzehnte später nur noch annähernd rekonstruieren. Umrisse sind fassbar, Details, Momentaufnahmen, Anekdoten vorhanden, bloß: Lässt es sich verantworten, das Vorhandene zu einer „ultimativen“ Geschichte zu verknüpfen? Stephen Walker zieht sich elegant aus der Affäre, indem er nur selten und dann offen spekuliert, sondern sich lieber auf die Fakten stützt. Gleichzeitig lässt er die Zeitzeugen sprechen. Was sie sagen, kann und ist sicherlich recht subjektiv. Andererseits ist es unmittelbar und zieht den Zuhörer oder Leser in den Bann.

Ein weiteres Verdienst Walkers: Er verzichtet darauf, Partei zu ergreifen. Daraus entwickelt sich ein wahrer Eiertanz, denn Kandidaten für die Rolle/n des Bösewichts gäbe es genug – gleichgültig, ob japanischer, sowjetischer oder US-amerikanischer Herkunft. Stattdessen versucht Walker Situation & Stimmung im Sommer 1945 zu verdeutlichen: Die den Einsatz der Bombe fordern, glauben wirklich an die Notwendigkeit, eine Stadt (bzw. zwei Städte, denn nach Hiroshima starb Nagasaki den atomaren Tod) mit Mann & Maus vom Erdboden zu tilgen, um damit einen opferreichen Bodenkrieg Mann gegen Mann zu vermeiden, während die Japaner das Grauen durch ihr Hinauszögern der definitiv unabwendbaren Kapitulation selbst mit heraufbeschwören.

Haben die Atombomben auf Japan den II. Weltkrieg beendet oder waren sie längst überflüssig, ein Menschen verachtendes Experiment jener gar, die ausprobieren wollten, was ihr neues Spielzeug leisten konnte? Diese Fragen werden noch heute erbittert diskutiert. „Hiroshima“ kann keine endgültige Antwort geben aber womöglich gibt es die auch gar nicht.

Über Leben und Werk von Stephen Walker gibt es sogar im Internet offenbar nur, was auch der Klappentext zu „Hiroshima“ nachbetet. Demnach hat Walker Geschichte in Harvard studiert und drehte später Dokumentarfilme für die BBC – so über die Schlacht an der Somme im November 1916, über die Besatzungszeit in Frankreich, über die Geschichte des Terrorismus sowie nun über das Ende Hiroshimas. Für seine Arbeit habe er diverse Preise erhalten, darunter die „Goldene Rose von Montreux“ und den Preis der „British Academy of Film and Television Arts“. (Bei näherer Betrachtung war es allerdings nicht Walker, der 2003 die „Rose“ gewann, sondern die Pseudo-Realityshow „Faking It“, für die er als einer von zahlreichen Regisseuren drehte, während er in den Annalen der „British Academy of Film and Television“ weder als Gewinner noch als für einen Preis Nominierter erscheint; dies jedoch nur am Rande & als Hinweis darauf was geschehen kann, wenn man solche Angaben nachprüft …) Darüber hinaus sei er Drehbuchautor und für eines seiner Bücher mit einem „Best Drama Award“ für die „Writer’s Guild“ ausgezeichnet worden. (Ich konnte beim besten Willen keine Institution dieses Namens recherchieren … nur eine „Writer’s Guild of America“, der jedoch kein Stephen Walker bekannt zu sein scheint …)

David Hewson – Villa der Schatten

Das geschieht:

Noch angeschlagen von seinem letzten Fall, der seinen Partner das Leben kostete und ihm selbst einige Schussverletzungen einbrachte, muss Kriminalpolizist Nic Costa einen bizarren Fall übernehmen: In einem kleines Moor unweit der italienischen Hauptstadt Rom findet ein US-amerikanisches Touristenpaar die Leiche einer jungen Frau mit durchschnittener Kehle. Der Schlamm hat Eleanor Jamieson perfekt konserviert, obwohl sie dort seit 16 Jahren liegt. Eigenartigerweise ist sie im Stil der römischen Antike gekleidet und trägt einen Stab bei sich, der dem uralten Kult des Gottes Dionysius zugeordnet werden kann.

Hat sich der Kult, dessen Riten Menschenopfer forderten, über zwei Jahrtausende halten können? Oder ließ ihn eine moderne Sekte wieder aufleben? Steckt gar ein banaler Gangsterkrieg hinter dem Mord? Eleanors Stiefvater entpuppt sich als ehemaliger Drogendealer, der sich zum Zeitpunkt des Verschwindens seiner Tochter mit dem brutalen Mafiaboss Emilio Neri angelegt hatte. Zudem ist Vergil Wallis ein Fachmann für die antike römische Geschichte, der wenig glaubhaft Unkenntnis über den Dionysius-Kult vorgibt. David Hewson – Villa der Schatten weiterlesen

Ragnar Kvam jr. – Im Schatten. Die Geschichte des Hjalmar Johansen

Biografie eines aus der Geschichte quasi getilgten Mannes, der zu den Entdecker-Pionieren der großen Nord- und Südpol-Expeditionen zählte, diesen Ruhm jedoch nicht vermitteln wollte oder konnte und ins Abseits gedrängt wurde. Die außerordentlich spannende Lebensgeschichte wirft einen objektiven Blick auf ‚Helden‘, die diese Rolle nicht selten an sich gerissen und dabei wenig Menschenfreundlichkeit bewiesen haben: Nichts ist spannender als die Realität!
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Louis Weinert-Wilton – Die weiße Spinne

Weinert-Wilton Spinne Cover kleinDas geschieht:

Zwölf kleine gläserne Spinnen wurden dem Geschäftsmann Richard Irvine vor einem Jahr ins Haus geschickt. Kurze Zeit darauf war er tot, vor einen U-Bahnwaggon gestürzt, eine der besagten Spinnen krampfhaft umklammernd. Die anderen elf waren verschwunden, tauchen aber nach und nach wieder auf: Jedes Mal hält sie ein anderes Mordopfer in der Hand.

Scotland Yard setzt Inspektor Dawson, seinen besten Mann, auf den Fall an. Verbissen geht der alte Haudegen den schwachen Spuren nach. Seine Hauptverdächtige ist Muriel Irvine, Richards Witwe, die nach dem Tod des Gatten eine hohe Versicherungssumme einstrich. Dass sie leugnet, von den Spinnen zu wissen, wird ihr Verhängnis, denn Dawson weist ihr dies als Lüge nach. Bevor er seine Fahndung intensivieren kann, wird er allerdings umgebracht. In seiner Hand: eine der Spinnen!

Louis Weinert-Wilton – Die weiße Spinne weiterlesen

John Dickson Carr – Die Tür im Schott

Das geschieht:

In Mallingford, einem Dörflein in der englischen Grafschaft Kent, üben Sir John Farnleigh, Baronet von Mallingford und Soane, und seine Gattin, die liebliche Lady Molly, mit starker aber gütiger Hand das ihnen von Gott und König verliehene Privileg aus, dem Volk Führung und Schutz vor den zweifelhaften Segnungen des 20. Jahrhunderts angedeihen zu lassen. Die Idylle platzt, als den fernen USA ein Mann namens Patrick Gore auftaucht, der sich erdreistet, Sir John Titel, Besitz und sogar den Namen streitig zu machen!

Als Jüngling ein Satanist (!) und Wüstling, wurde dieser John Farnleigh 1912 vom Vater verstoßen und in die ehemaligen Kolonien. Eingeschifft wurde der missratene Spross auf einem Dampfer namens „Titanic“. Bevor deren Reise vorzeitig an einem Eisberg endete, lernte Jung-John einen heimatlosen Zirkus-Artisten gleichen Alters kennen und schätzen: den wahren Patrick Gore nämlich, der dem faszinierten Adelssohn vorschlug, die Identitäten zu tauschen, um die Karten ihrer zukünftigen Leben neu zu mischen. John Dickson Carr – Die Tür im Schott weiterlesen

Meijer, Fik – Gladiatoren. Das Spiel um Leben und Tod

Das Kolosseum in Rom, größte Gladiatorenarena der antiken römischen Welt, bildet Dreh- und Angelpunkt der Darstellung des Niederländers Fik Meijer. Er ist bemüht, sich einem der seltsamsten und auch düstersten Kapitel der an blutigen Episoden nicht gerade armen Menschheitsgeschichte objektiv zu nähern: Mehr als ein halbes Jahrtausend ergötzten sich die Bewohner des römischen Imperiums an perfekt auf Schauwert organisierten Tierhatzen, Massenhinrichtungen und Zweikämpfen auf Leben und Tod. Sie saßen bequem in riesigen, eigens für diesen Zweck er- und eingerichteten Arenen und schauten zu, wie Mensch und Tier im Sekundentakt grausam zu Tode kamen.

Keine einfache Aufgabe, wie Meijer bereits in seiner Einleitung deutlich macht. Er erläutert dem Leser deshalb eindringlich eine grundsätzliche Prämisse der historischen Forschung: Moralische Regeln sind wandelbar. Was heute in der Rückschau abgelehnt wird, war für die Zeitgenossen womöglich rechtens und ethisch begründbar. Sie hätten unsere Abscheu gar nicht verstanden. Das menschliche Handeln muss deshalb stets vor seinem jeweiligen zeitlichen Hintergrund betrachtet und gewertet werden.

In einem ersten Kapitel geht Meijer auf „Ursprung und Entwicklung der Gladiatorenspiele …“ ein. Ersterer liegt weitgehend im Dunkel, unser Wissen ist notgedrungen lückenhaft. Dennoch steht fest, dass Theateraufführungen und Wagenrennen am Anfang der späteren Schlachtfeste standen. Sie wurden zu Ehren der Götter oder verdienter Mitglieder der oberen Stände ausgerichtet und – der Mensch liebt Spektakel – allmählich immer größer und aufwändiger. Von sportlichen Wettkämpfen bis zum Kampf Mann gegen Mann ist der Weg gar nicht weit. Meijer beschwört das Bild einer römischen Gesellschaft herauf, für die Gewalt dem Feind und Härte sich selbst gegenüber zum Alltag gehörte.

Da der Mensch des 1. nachchristlichen Jahrhunderts keinesfalls dümmer als seine Nachfahren war, standen schließlich zweihundert Arenen in allen Teilen des Reiches. Bis ins Detail ausgefeilte Kämpfe fanden hier statt, für deren Realisierung eine ausgeklügelte Logistik erforderlich war, über die uns Meijer kundig ins Bild setzt. „Die Hauptdarsteller“ nennt er zu Recht jenes Kapitel, in dem er sich mit den Gladiatoren beschäftigt. Wer waren diese Männer (sowie einige Frauen!), die sich einer solchen Tortur unterziehen mussten oder gar freiwillig unterzogen? Herkunft, gesellschaftliche Stellung, Ausbildung, „Arbeitsalltag“ und Liebesleben sind nur einige Aspekte, die hier abgehandelt werden.

Dem „Spielfaktor Mensch“ wird das Tier als unbedingt erforderliches Element des Gladiatorenkampfes gegenübergestellt. Der „Verbrauch“ an Lebewesen aller Art war enorm und trug zum Aussterben ganzer Gattungen bei. Löwen, Leoparden, Bären, Elefanten, Nilpferde, Nashörner und alles, was beißen, kratzen und töten konnte, wurde von einschlägigen Spezialisten vor Ort gefangen und zu den Arenen gekarrt. Manchmal zu Tausenden mussten die Kreaturen dort ihr Leben lassen, wurden „gejagt“, aufeinander gehetzt, als Henker für renitente Sklaven, Christen und andere Feinde des Staates missbraucht.

„Der Ort der Handlung“ bezeichnet die Arena, in der gekämpft und gestorben wurde. Meijer wählt hier das Kolosseum in Rom als Beispiel. Er berichtet von dessen Bau, erläutert die Sicherheitsmaßnahmen – das Töten sollte gefälligst die Zuschauerreihen aussparen – und deckt die bemerkenswerten Einrichtungen auf, mit denen zahlreiche „Spezialeffekte“ realisiert werden konnten: Seeschlachten in einer Stadtarena würden wohl selbst heute Aufsehen erregen.

„Ein Tag im Kolosseum“ stellt den Versuch dar, ein „typisches“ Spiel in Roms größter Arena zu rekonstruieren. Zeitgenössische Texte, Mosaiken oder Vasenmalereien bilden die Grundlage; ergänzt werden sie durch Funde, die vor allen in den Gladiatorenschulen von Pompeji gemacht wurden, welche beim Ausbruch des Vesuvs 79 v. Chr. verschüttet wurden und praktisch im Originalzustand erhalten blieben.

Ein unappetitliches Kapitel beschäftigt sich mit der nahe liegenden Frage, wie denn mit den unzähligen Leichen und Kadavern verfahren wurde, die jedes Gladiatorenspektakel mit sich brachte. Wie Meijer deutlich macht, wurde hier ebenso rigoros wie praktisch verfahren, die umgekommenen Menschen „entsorgt“, die Tiere an die Armen der Stadt der verfüttert – der alte und angemessene Spruch von „Brot & Spielen“ bekommt hier eine neue Note.

Im vierten nachchristlichen Jahrhundert begannen Gladiatorenspiele aus der Mode zu kommen. Sie wurden für das in Bedrängnis geratende Römische Reich zu kostspielig. Die christliche Religion setzte sich durch; sie verdammte selbstverständlich die blutigen Frivolitäten, nachdem allzu viele frühe Christen dabei unfreiwillig als Darsteller fungieren mussten. Wiederum am Beispiel des Kolosseums schildert Meijer, wie die Spiele in Vergessenheit gerieten und die Arenen als Steinbrüche für spätere Bauwerke dienten.

Ein Exkurs beschäftigt sich mit „Gladiatoren im Film“. Zwei Beispiele werden vorgestellt: „Spartakus“ mit Kirk Douglas in der Hauptrolle, ein Meisterwerk und Höhepunkt der „Sandalenfilme“, die in den 1950er und 60er Jahren für volle Kinos sorgten, und „Gladiator“, jener Blockbuster des Jahres 2000, der die ungebrochene Attraktivität des Themas unter Beweis stellte. Meijer stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus und kommt zu dem gut begründeten Schluss, dass beide Filme fabelhaft unterhalten aber unter wissenschaftlichem Aspekt ein wüstes Gemenge fehlinterpretierter und ignorierter historischer Fakten darstellen.

Ein ausführlicher Anhang liefert ein Glossar der lateinischen Fachbegriffe, enthält den Anmerkungsapparat, bietet Bild- und Literaturnach- und Hinweise, präsentiert eine Zeittafel sowie ein Verzeichnis der bedeutendsten Amphitheater.

Das Thema Gladiatoren ist – Hollywood sei Dank – wieder im Gespräch. Es fasziniert und schreckt ab, lässt schaudern über eine glücklicherweise überwundene Phase der menschlichen Geschichte und bietet die gern genutzt Gelegenheit, in grausigen Details zu schwelgen. Vor allem solchem Halbwissen hat Fik Meijer den Kampf angesagt. Die Gladiatorenkämpfe sind integraler Bestandteil der Historie, kein isoliertes Element, und die Geister, die in der Arena geweckt werden, sind auch heute durchaus noch aktiv. Eindringlich beschwört der Verfasser mit Hilfe antiker Texte das Bild eines Menschen herauf, der den Spielen ablehnend gegenübersteht, sich widerwillig überreden lässt als Zuschauer teilzunehmen – und in einen Blutrausch gerät, der ihn begeistert und später beschämt zurücklässt: Der von der Gewalt berauschbare Voyeur steckt in uns allen und kurz ist der Schritt zum Täter, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Die nüchterne Feststellung und Begründung dieser wenig schmeichelhaften Tatsache ist ein großer Verdienst dieses Sachbuchs. Er geht über die reine Darstellung der antiken Gladiatorenspiele hinaus, welche jedoch ebenfalls in klaren Worten festhält, was nun einmal gewesen ist oder gewesen sein könnte – nicht alle Details sind geklärt. Meijer spielt mit offenen Karten, enthält seiner Leserschaft nicht vor, wo und wie er Lücken mit Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten füllt.

Ähnlichkeiten mit den zahlreichen Gladiatorenbüchern, die seit dem Filmerfolg von Ridley Scott im Jahre 2000 auf die Buchmärkte gebracht wurden (vgl. u. a. Thomas Wiedemann, „Kaiser und Gladiatoren. Die Macht der Spiele im antiken Rom“, in deutscher Übersetzung erschienen im Primus Verlag, Marcus Junkelmann, „Das Spiel mit dem Tod. So kämpften Roms Gladiatoren“, Zabern Verlag, oder Alan Baker, „Gladiatoren. Kampfspiele auf Leben und Tod“, Goldmann Verlag), bleiben natürlich nicht aus. Vor allem gegenüber dem letzten Titel kann Meijer punkten, weil er es konsequent vermeidet, die Geschichte künstlich zu dramatisieren. Sein „Tag im Kolosseum“ ist keine fiktive Nacherzählung, sondern bleibt sachliche Beschreibung ohne Personsalisierungen, was sehr zu empfehlen ist, zumal die meisten Sachbuchautoren keine verkannten Romanciers sind, wie sie selbst oft anzunehmen scheinen.

„Gladiatoren“ ist ein kostengünstiges Sachbuch. Das macht sich jedoch nur in einer Hinsicht negativ bemerkbar: Das Bildmaterial ist rar und ausschließlich schwarz-weiß, die Abbildungen sind zu klein, die Wiedergabequalität lässt zu wünschen übrig. Dass Meijer wie bereits erwähnt nur einen Überblick bieten kann und möchte, ist dagegen hoffentlich klar: Die Lektüre seines Buches stellt einen Einstieg in die Materie dar. Wer sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen will, kommt um weitere Lektüre nicht herum.

Fik Meijer ist Professor für Alte Geschichte an der Universität von Amsterdam. Als solcher veröffentlichte er eine Fülle wissenschaftlicher Artikel und Fachbücher, unter denen seine (mit Marius West besorgten) Übersetzungen von Flavius Josephus’ antiken Geschichten der Juden herausragen.

Daneben bemüht sich Meijer um die historisch interessierten Laien außerhalb des universitären Elfenbeinturms. Er hat keine Scheu, gesichertes aber schwer zugängliches Wissen in verständliche Worte zu fassen, ohne dabei an den Fakten zu rütteln. Dafür wurde er z. B. 2005 mit dem niederländischen OIKOS-Publikumspreis ausgezeichnet. Weiterhin ist ihm klar, dass sich der Mensch von Heute auch oder sogar vor allem für das Menschliche/Allzumenschliche oder das Alltägliche der Vergangenheit interessiert. Meijer trägt dem u. a. mit Büchern Rechnung, in denen er über Wagenrennen und Schifffahrt schreibt. Zu seinen großen Erfolgen gehört ein Sachbuch, das den verheißungsvollen Titel „Kaiser sterben nicht im Bett“ trägt und die römische Kaiserzeit aus einem Winkel betrachtet, der puristischen Altertumskundlern schwerlich behagen dürfte.

Johannes Thiele (Hg.) – Gänsehaut garantiert

Thiele Gänsehaut Cover kleinInhalt:

Dreizehn Gruselgeschichten, sortiert nach den drei klassischen Kategorien dämonische Verfolgung, Rache aus dem Jenseits und Tod durch Geisterhand:

Dämonische Schatten

– Richard Matheson: Die Beute (The Hunt, 1952), S. 9-26: Ignoranz kann sich rächen, wenn man wie diese junge Frau als Geburtstagsgeschenk ausgerechnet eine magische Jägerfigur aus Afrika erwirbt, die auch in ungewohnter Umgebung nicht von ihrem Auftrag lassen mag.

– Eleanor Scott: Die Gestalt am Strand (The Cure, 1929), S. 27-51: Natürlich lässt sich ein wackerer Engländer nicht von abergläubischen bretonischen Küstenbewohnern daran hindern, einen verwunschenen Strandabschnitt zu durchwandern, was dessen gruselige Bewohner freudig zur Kenntnis nehmen. Johannes Thiele (Hg.) – Gänsehaut garantiert weiterlesen

Agatha Christie – Mord im Orientexpress

Auf der Zugfahrt von Istanbul nach Calais wird Mr. Ratchett erstochen. Sein Mörder muss sich unter den Passagieren befinden. Meisterdetektiv Hercule Poirot ist an Bord, beginnt die Anwesenden zu verhören und deckt ein unglaubliches Rachekomplott auf … – Zu Recht ein großer Klassiker der Kriminalliteratur, in dem kaum etwas geschieht, sondern viel geredet und spannend gelogen wird, bis Schicht um Schicht das eigentliche Geheimnis offengelegt ist.
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Walter Satterthwait – Eskapaden

Das geschieht:

Schloß Maplewhite in der englischen Grafschaft Devon ist im August des Jahres 1921 Schauplatz eines außergewöhnlichen Ereignisses: Lord Robert Purleigh, der Hausherr, lädt ein zur Séance mit dem berühmten Medium Madame Sosostris. Unter den illustren Gästen: Sir Arthur Conan Doyle, Schriftsteller und geistiger Vater des unsterblichen Sherlock Holmes, privat ein unverbesserlicher und recht leichtgläubiger Anhänger des Okkulten.

Dies trifft auf Harry Houdini, den außergewöhnlich begabten und maßlos von sich eingenommenen Zauber- und Entfesselungskünstler nicht zu. Er kennt die Tricks seiner Kolleginnen und Kollegen. In den letzten Jahren hat er sich verhasst gemacht, weil er falsche Magier und Medien entlarvt. Madame Sosostris‘ Karriere ist Houdini schon lange ein Dorn im Auge; sie will er auf Maplewhite beenden. Houdini ist außerdem auf der Flucht. Chin Soo, ein verärgerter Rivale, hat ihm den Tod geschworen. Houdini wird daher von Phil Beaumont vom Detektivbüro Pinkerton begleitet. Walter Satterthwait – Eskapaden weiterlesen

David Hewson – Die Strohpuppe

Das geschieht:

Einige tüchtige Schläge hat das Schicksal der armen Alison Fenway bereits versetzt. Im Vorjahr war sie in ihrer Heimatstadt Boston nur knapp einem Großfeuer entronnen, hatte dabei allerdings ihr ungeborenes Kind und kurz darauf den Verstand verloren. Nach mehreren im Sanatorium verbrachten Monaten schien ein Tapetenwechsel ratsam. Ein glücklicher Zufall fügte es, dass Alisons Gatte Miles, ein gebürtiger Brite, von einer alten Tante Priory High, ein feudales Landhaus in den südostenglischen Downs, geerbt hat. Seinem Job als Bänker kann er auch dort nachgehen, und Alison ist einverstanden; sie will nur gesund und vor allem endlich Mutter werden, was bei ihr durchaus zur fixen Idee geworden ist.

Beulah, das kleine Dorf in den Hügeln der Downs, ist ein seltsamer Ort, in dem in gewisser Weise die Uhr stehengeblieben ist. Hier hält man es noch nicht mit der christlichen Kirche, sondern mit den uralten Naturgottheiten, die von den keltischen Vorfahren der braven Bürger verehrt wurden. „Burning Man“ ist eines der orgiastischen Feste, die man in Beulah feiert, wobei eine Strohpuppe im Rahmen eines Erntedankes verbrannt wird. Alison glaubt allerdings, in der Asche des Scheiterhaufens einen menschlichen Fingerknochen gefunden zu haben, was ihr arges Kopfzerbrechen bereitet. David Hewson – Die Strohpuppe weiterlesen

Chabon, Michael – letzte Rätsel, Das

89 Jahre ist Meisterdetektiv im Ruhestand Sherlock Holmes in diesem Jahr 1944 alt – ein immer noch hellwacher Geist in einem gebrechlichen Körper. Auf seinem kleinen Ruhesitz in der englischen Grafschaft Sussex lebt er auch im fünften Jahr des II. Weltkriegs geruhsam und züchtet Bienen, als ihn eines schönen Tages eine seltsame Begegnung aus seinem Trott reißt: Linus Steinman gehört zu jenen jüdischen Waisenkindern, die aus Nazi-Deutschland gerettet werden konnten, indem sie ins Ausland verschickt wurden. Die erlebten Schrecken haben den Jungen stumm werden lassen. Umso gesprächiger ist dagegen Papagei Bruno, der stets auf Linus’ Schulter sitzt und seinen Herrn begleitet. Bruno singt Lieder und zitiert Gedichte. Vor allen krächzt er immer wieder lange Zahlenreihen in deutscher Sprache. Sie scheinen ohne Sinn zu sein.

Doch Linus und Bruno stehen unter Beobachtung. In der Pension der Pfarrersfrau Panicker, wo man sie einquartiert hat, behält sie Mr. Shane, angeblich ein Handelsvertreter, genau im Auge. Shane wird wiederum vom misstrauischen Mr. Parkins, einem weiteren Gast, beschattet. Dann verschwindet Bruno, Mr. Shane liegt mit zertrümmerten Schädel neben seinem Wagen und der junge taugenichtsige Reggie Panicker jr. gilt als Mörder. Das ist zu viel des Stresses für den schlichten Landpolizisten Bellows, der sich plötzlich des alten Detektivs in der Nachbarschaft erinnert, von dessen Können und Hilfsbereitschaft ihm sein Großvater früher so oft erzählte. Holmes mag zwar erst nicht aus seiner Höhle kommen, doch eigentlich weiß er schon länger, dass ihm seine Bienenzucht als intellektuelle Herausforderung nicht genügt. Sherlock Holmes will wieder sein Spiel beginnen lassen, nur: Kann er es noch nach so vielen Jahren des Pausierens …?

Sherlock Holmes ohne Dr. Watson? Ermittelt wird nicht im nebligen London der Königin Victoria, sondern auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen Nazi-Deutschland in einem Nest irgendwo auf dem Land? Mr. Holmes ermittelt nicht in tausend Masken, sondern ist ein schwacher Greis, der sich vor einer gebrochenen Hüfte fürchtet? Kann denn so eine „untypische“ Sherlock-Holmes-Geschichte überhaupt funktionieren?

Das kann sie sogar sehr gut, wenn ein Schriftsteller wie Michael Chabon sie schreibt, der einerseits intelligent mit dem Holmes-Mythos spielt, während er ihn andererseits kundig & liebevoll fortspinnt und ihn in eine (sorgfältig übersetzte) Prosa gießt, von der selbst Arthur Conan Doyle nur träumen könnte. Der Plot ist klug ausgetüftelt, ansprechend kompliziert und wird schlüssig aufgelöst. Zudem ist er zeitgemäß, d. h. er rankt sich um das ernste Thema des Naziterrors, ohne dass darüber die Krimi-Atmosphäre leidet. Viel ruhiger, trockener Humor ist im Spiel, immer wieder gibt es Überraschungen. Das Kapitel mit der Lösung des Rätsels wird gar aus der Sicht des Pagageis erzählt …

„The Final Solution“: Der Titel erinnert an die Originalstory „The Final Problem“, in der sich Doyle 1893 seines Helden entledigen wollte, indem er ihn in einen Wasserfall stürzte. Durch viel Geld gelockt, ließ ihn der Schriftsteller Jahre später wieder auferstehen. 1917 verfasste er die chronologisch letzte Holmes-Geschichte („His Last Bow“; dt. u. a. „Seine Abschiedsvorstellung“), in der ein gealterter Detektiv ein letztes Mal aus dem Ruhestand zurückkehrt. Auch der müde & melancholisch gewordene Holmes dieser Erzählung fließt in Chabons Kurzroman ein.

Zum Roman gehören die auch in der deutschen Ausgabe abgedruckten Zeichnungen des Künstlers Jay Ryan. Schon die originalen Holmes-Geschichten waren berühmt für ihre Illustrationen; Sidney Paget war es beispielsweise, der Holmes zu jener hageren Gestalt mit Deerstalker und Meerschaumpfeife machte, in der man ihn noch heute sieht. Sie kommentieren einerseits das Geschehen, ironisieren und konterkarieren es jedoch auf einer zweiten Ebene, indem sie Elemente dieser Bilder so verfremden, dass sie nicht abbilden, sondern kommentieren.

Sherlock Holmes als Greis, den ein mysteriöser Fall zu neuem Leben erweckt: Das ist eine Geschichte, die sogar noch interessanter zu lesen ist als das eigentliche kriminelle bzw. kriminalistische Geschehen. Anfangs lernen wir einen Holmes (er wird vom Verfasser übrigens niemals mit seinem Namen, sondern stets als „der alte Mann“ angesprochen) kennen, dessen Welt klein geworden ist. Ungern verlässt er seine warme Stube, weil ihn seine Körperkräfte verlassen; Demenzattacken erschrecken ihn, er verkriecht sich in seine Bücher und bereitet sich auf den Tod vor.

Doch tief in Holmes schlummert immer noch der alte Spürhund. Er ist spannend und rührend, wie Chabon sein allmähliches Erwachen beschreibt. Es hat sich viel verändert in der Welt. Richtig bewusst wird es Holmes selbst erst, als er zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren in das inzwischen von Görings Bombern und von Brauns Raketen verwüstete London zurückkehrt. Schritt für Schritt findet der eingerostete Meisterdetektiv zurück in seine alte Rolle. Er gewinnt an Vertrauen und Zuversicht und findet zurück zum intellektuellen Vergnügen, das er einst in die unsterblichen Worte fasste: „Das Spiel beginnt!“

Der Junge Linus Steinman erweist sich weniger als zweite Hauptfigur. Stattdessen fungiert er als Katalysator, der Holmes reaktiviert, indem er sein Interesse erregt – seit jeher das wirksamste Mittel, den auch im Alter immer noch informationshungrigen bzw. –gierigen Ermittler in Bewegung zu bringen. Linus ohne Bruno wäre Holmes zudem wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Ein Papagei, der scheinbar dummes Zeug plappert, hinter dem sich zufällig aufgeschnappte und brisante Geheiminformationen verstecken: Auf einer Liste von Plot-Klischees dürfte dieses sehr weit oben stehen. Chabon setzt es bewusst ein, zumal alle Beteiligten – Holmes lange eingeschlossen – bis zuletzt irren: Die von Bruno memorierten Zahlen verbergen kein militärisches Geheimnis, sondern ein schreckliches Verbrechen einer „final solution“, was sich auch als „Endlösung“ übersetzen lässt …

Michael Chabon wurde am 24. Mai 1963 in Washington, D. C./USA) geboren. Aufgewachsen ist er in Columbia/Maryland. Seine Kurzgeschichten erschienen in hoch gelobten Anthologien und renommierten Zeitungen & Zeitschriften sowie im „Playboy Magazine“. Noch erfolgreicher ist Chabon als Romanschriftsteller (u. a. „The Mysteries of Pittsburgh“; dt. „Die Geheimnisse von Pittsburgh“, “Wonderboys”). Für „The Amazing Adventures of Kavalier & Clay“ (dt. „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“) wurde er 2000 mit dem PEN/Faulkner Award, dem Pulitzer-Preis, dem Los Angeles Times Book Prize und weiteren Preisen ausgezeichnet. Mit seiner Familie lebt und arbeitet der Autor in Berkeley, Kalifornien.

Michael Chabon hält eine angemessen nostalgisch und kauzig gestaltete Website: http://www.michaelchabon.com.

Sergej Lukianenko – Wächter der Nacht

Das geschieht:

Diese Welt ist nicht nur der Ort, den wir ahnungslosen Menschen kennen. Da gibt es auch das „Zwielicht“, eine Sphäre, die nur von den „Anderen“ wahrgenommen und betreten werden kann: gefährliche Wesen, die als Vampire, Werwölfe, Schwarzmagier oder Hexen bekannt sind, aber auch Zauberer und Gestaltwandler, die im Frieden mit den Menschen leben.

Licht und Dunkel wetteifern seit Äonen um die Vormacht. Das Gleichgewicht muss unbedingt gewahrt bleiben, sonst gerät die Welt aus den Angeln. Vor vielen Jahren war es einmal fast soweit. Die Mächte des Lichts und die Mächte der Dunkelheit hätten einander ausgelöscht, wäre nicht in letzter Sekunde ein Waffenstillstand zu Stande gekommen. Seither halten auserwählte „Lichte“ als „Wächter der Nacht“ zwischen Sonnenuntergang bis -aufgang ein Auge auf die Dunklen, während diese folgerichtig einen eigenen Orden, „Wächter des Tages“ genannt, die Aktivitäten der „Lichten“ kontrollieren lassen. Sergej Lukianenko – Wächter der Nacht weiterlesen

Ian Fleming – James Bond 007: Moonraker

Das geschieht:

Er ist ein Kriegsheld, einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner seiner Zeit, märchenhaft reich, ein Philanthrop, der mit Spendengeld um sich wirft. Jetzt finanziert und konstruiert Hugo Drax seinem britischen Heimatland sogar die modernste Rakete der Gegenwart, die Atombomben an jeden Ort der Erde tragen kann, wo Kommunistenpack oder anderer Abschaum sich gegen die freie Welt des Westens verschwören will.

„Moonraker“ ist für die auch in diesem Jahr 1955 notorisch klamme Regierung Ihrer Majestät ein Geschenk des Himmels. An der englischen Küste nahe Dover wird die Wunderrakete gebaut und in Stellung gebracht. Zwischenfälle sind unerwünscht. Umso peinlicher, dass ausgerechnet M, der die 00-Abteilung des Secret Service – zuständig für ganz besonders diffizile Geheimdienstaufgaben – leitet, den in seinem Lieblingsclub zockenden Drax als Falschspieler entlarvt. Guter Rat ist teuer, um einen Skandal zu vermeiden. So bittet M James Bond, Dienstnummer 007, um Hilfe. Ian Fleming – James Bond 007: Moonraker weiterlesen

Stone, Jonathan – Bittere Wahrheit

Dreißig Jahre arbeitet er als Polizeichef von Canaanville, einer Kleinstadt hoch im Norden des US-Staates New York: Winston Edwards, den man nicht ohne Grund den „Bären“ nennt, ein riesenhafter und poltriger Mann, aber gleichzeitig ein fabelhafter Detektiv, dem in seiner langen Laufbahn noch nie ein Mörder entkam. Edwards hasst Überraschungen, was Julian Palmer, einem neuen Mitarbeiter, trotz eines famosen Lebenslaufes einen schlechten Start beschert: Dem Vornamen zum Trotz entpuppt sich Palmer als Frau …

Julian ist Teilnehmerin eines Austauschprogramms der Polizei von New York, das Auszubildenden die Chance bietet, Alltagserfahrungen außerhalb der Stadt zu sammeln. Die junge Frau sucht den Kontrast und wagt buchstäblich den Sprung ins kalte Wasser: Canaanville liegt im „Schneegürtel“ des Staates und gilt als recht unwirtliches, wenn auch landschaftlich reizvolles Fleckchen.

Wider Erwarten gibt Edwards, der den Polizei-Dinosaurier eher spielt als verkörpert, der neuen Kollegin eine Chance. Seine wenigen Mitarbeiter haben das Pulver nicht erfunden und waren ihm bisher keine große Hilfe beim vielleicht schwersten Fall seiner Karriere. Sarah Langley, eine junge Kellnerin, wurde nicht nur ermordet, sondern auch mit psychotischer Sorgfalt in Stücke gehackt, und es gibt keinerlei Hinweise auf den Täter, geschweige denn einen Verdächtigen.

In seiner Not versucht es Edwards nun mit dem Übernatürlichen. Der Seher Wayne Hill behauptet, „Eingebungen“ zu haben, die endlich neue Spuren im Langley-Mord aufwerfen. Doch Hill ist ein undurchsichtiger und auch labiler Mann, der ebenso beeindruckt wie Misstrauen weckt. Seine sparsam und dramatisch preisgegebenen Visionen lassen ihn für die Polizei rasch selbst zum Tatverdächtigen aufsteigen.

Doch für Julian Palmer beginnt sich plötzlich eine ganz andere Spur abzuzeichnen: Sie führt zu Chief Edwards selbst, dessen Beziehung zu Sarah Langley wesentlich inniger gewesen zu sein scheint als bisher bekannt wurde. Aus dem Verdacht wird scheinbar Gewissheit, als sich Wayne Hill plötzlich als Dr. Ernest Tibor zu erkennen gibt, Hills Psychiater und gleichzeitig der Geliebte Sarah Langleys, der die Bluttat und Winston Edwards, den Mörder, als Augenzeuge miterleben musste.

Noch bevor die überraschte und entsetzte Julian sich auf die verheerende Situation einstellen kann, wartet Edwards mit einer neuen Sensation auf: Tibor ist ebenfalls nicht der, der zu sein er vorgibt, sondern Eugene Green, ein schizophrener Gelegenheitsdieb, der gemeinsam mit dem echten Wayne Hill von Dr. Tibor behandelt wurde. Er passt wunderbar als Täter in das Mordszenario, doch die Indizien deuten weiterhin ebenfalls auf Chief Edwards hin, der womöglich, wie Julian argwöhnt, die Gelegenheit beim Schopf ergreift, ein perfektes Verbrechen in ein noch perfekteres zu verwandeln.

Hilflos sieht sich Julian in einem unlösbaren inneren Konflikt gefangen. Denn auch die junge Frau hütet düstere Geheimnisse und ist seelisch alles andere als ausgeglichen. Als Kind musste sie hilflos die Ermordung des Vaters erleben; eine Untat, die ungesühnt blieb und Julian dazu trieb, zur Polizei zu gehen. Im eindrucksvollen Edwards fand sie die lange vermisste Vaterfigur – und mehr: Edwards, der sich in einer erloschenen Ehe gefangen fühlt, macht Julian kaum verhohlen Avancen, und sie ist bereit, darauf einzugehen.

Immer rettungsloser beginnen sich falsche und echte Spuren zu verwirren. Chief Edwards scheint durch massive Manipulationen von sich als Täter abzulenken. Julian entdeckt, dass er womöglich Estelle, seine gekränkte Gattin, deckt, die durchaus von der Affäre mit Sarah Langley wusste. Kurz darauf findet sie überzeugende Beweise, die Green entlasten; Edwards behauptet daraufhin, diesen nur verhaftet zu haben, um den wahren Täter in Sicherheit zu wiegen: Im Alibi des echten Dr. Tibor tut sich plötzlich eine entscheidende Lücke auf. Gleichzeitig gibt Green zu, den Mord selbst nie beobachtet zu haben.

Der überaus gelungene Start einer neuen Cop-Krimi-Reihe prunkt mit einer hervorragend geplotteten und zügig erzählten Handlung, präsentiert bekannte, aber mit echtem Leben gefüllte Figuren, spielt vor einer ebenfalls nicht wirklich neuen, aber ökonomisch eingesetzten Kulisse und wird gekrönt durch ein unerwartetes, wirklich spannendes und kluges Finale.

Viel mehr lässt sich über diesen Roman eigentlich nicht sagen, möchte man nicht gar zu viel vorab verraten; muss aber auch nicht sein, wenn einem als Lese-Veteranen so ein feines Stück Krimi-Handwerk unter die Finger kommt. Dass dem so ist und man sich in guten Händen fühlen darf, macht bereits die Lektüre der ersten Seiten klar. Das Figurenensemble ist übersichtlich, der Ort des Geschehens ebenfalls: Geschickt setzt sich Jung-Autor Stone nicht selbst unnötig unter Druck, meidet Action-Leerlauf oder bläht die Handlung mit forensischer Fantasy aus der Wunderwelt des Polizei-Labors auf. Insofern ist „Bittere Wahrheit“ das Exemplar einer selten gewordenen Spezies: ein klassischer Thriller, der nie vorgibt, etwas anderes zu wollen, als seine Leser zu unterhalten, ohne sie dabei für dumm zu verkaufen.

Beinahe ehrfürchtig verfolgt man aber vor allem die Meisterschaft, mit der Autor Stone seine Leser wieder und wieder in Verwirrung zu stürzen weiß. Praktisch auf jeder neuen Seite wird uns ein neuer Verdächtiger präsentiert, der einige Zeilen später entlastet wird, um sogleich erneut in den Mittelpunkt des Misstrauens zu rücken. Diesen bravourösen Balanceakt hält Stone über mehr als 200 Seiten durch, bis er endlich dem wahren Übeltäter die Maske vom Gesicht reißt. Wir ahnen es erfreut: Es erwartet uns erneut eine Überraschung!

Der erfreuliche Inhalt spiegelt sich (wohl unabsichtlich) in dem wirklich gelungenen Titelbild der deutschen Ausgabe wider. Das muss an dieser Stelle einmal hervorgehoben werden, weil gerade die Taschenbücher des |Blanvalet|-Verlags seit viel zu langer Zeit mit kreuzlangweiligen und nichts sagenden aber kostengünstigen Cover-Motiven aus Bildstöcken und ”Image-Bänken” versehen werden: Kunsthandwerk per Mouseklick und genauso sieht es auch aus! Doch hier passt das Bild einer windschiefen, halb zerfallenen und schneebedeckten Holzhaus-Ruine perfekt; nur das Tüpfelchen auf dem i, aber eines, das den Lesespaß abrundet, denn zumindest das Auge des echten Bücherfreundes ruht mit Wohlgefallen selbst auf einem für den raschen Konsum produzierten Taschenbuch, wenn es einen zweiten Blick wert ist!

Jonathan Stone hat seinem Debüt übrigens inzwischen eine Fortsetzung folgen lassen. In „Heat of Lies“ (2001; dt. „Kaltes Gewissen“, Blanvalet TB Nr. 35672) erleben wir eine ältere und erfahrene Julian Palmer, die an ihrer neuen Dienststätte nicht nur einen weiteren rätselhaften Mord aufklären muss, sondern auch ungebetenen Besuch von einem tief gefallenen Winston Edwards erhält.

John Connolly – In tiefer Finsternis [Charlie Parker 3]

Ein Privatdetektiv stößt auf einen kriminellen Sektenchef, dessen ‚Kirche‘ eng mit terroristischen Neo-Nazis und fanatischen Fundamentalisten zusammenarbeitet. Der unheilige Bund gedenkt sich nicht in seine selbst auferlegte Mission zur „Reinigung“ der sündhaften Gesellschaft pfuschen zu lassen und tritt zum mörderischen Gegenangriff an … – Enorm spannender, wie immer sehr düsterer (dritter) Thriller der Charlie Parker-Serie, der vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Sektenwesens spielt und diese Kulisse recht dramatisch wenn auch um des Spektakulären (hoffentlich) arg überspitzt nutzt.
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Gene Hackman/David Lenihan – Jacks Rache. Eine abenteuerliche Reise nach Havanna

Jüngling Jack muss als gemeiner Matrose vor dem Mörder seiner Eltern flüchten. Auf hoher See reift er zum Mann, erlebt unzählige Abenteuer und kehrt schließlich heim, um den Strolch zur Rechenschaft zu ziehen und seine wahre Liebe zu befreien … – Was klingt wie eine Sammlung einschlägiger Klischees, ist auch eine, wobei die unbekümmerte Fabulierkunst des Autorenpaares trotzdem für Unterhaltung sorgt: kunterbuntes, nur bedingt die historischen Tatsachen streifendes Seemannsgarn.
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Connelly, Michael – Rückkehr des Poeten, Die

Acht Jahre konnte er seine Verfolger narren und galt als tot: Mehr als genug Zeit für den Ex-FBI-Agenten und Serienmörder Jim Backus, genannt „der Poet“, um ein neues Mordkomplott anzuzetteln. Bei seinem ersten Auftritt hatten ihn ein Journalist und seine Schülerin, die FBI-Agentin Rachel Walling, daran gehindert, sein sadistisches Spiel zum geplanten Ende zu bringen. Das will Backus nun wieder aufnehmen und sich gleichzeitig an Walling rächen.

Ebenfalls in sein Visier gerät der Ex-Polizist Terry McCaleb, der nach einer Herztransplantation „ehrenamtlich“ als Profiler arbeitet und dem Poeten dabei bedrohlich nahe gekommen ist. Als McCaleb nach einem Herzanfall stirbt, glaubt seine Witwe nicht an einen natürlichen Tod. Sie bittet den Privatdetektiv Hieronymus „Harry“ Bosch, einen Freund ihres Gatten, um Hilfe und Aufklärung.

Unabhängig voneinander beginnen Walling und Bosch nach Backus zu fahnden. Die Agentin ist beim FBI in Ungnade gefallen, seit ihr der Poet entkam. Bosch trauert seiner Polizeimarke hinterher, da ohne die damit verbundenen Privilegien seine Nachforschungen nur zögerlich vorankommen. Doch recht zeitig kreuzen sich die Spuren der beiden Ermittler: Backus hat dafür gesorgt, wie er überhaupt im Hintergrund lauert und seine nur ihm logischen Intrigen spinnt. In der Wüste von Nevada hat er ein Leichenfeld angelegt, das Entsetzen auslösen soll und ein weiteres Rätsel einleitet, dessen Lösung auch die Lösung des Falls bedeutet. Bosch und Walling lassen sich auf den bizarren Wettstreit ein, obwohl sie nur zu genau wissen, dass der Einsatz in diesem „Spiel“ ihr eigenes Leben ist …

Wieder einmal kehrt Harry Bosch dorthin zurück, wo die ganz bösen Schurken ihr Unwesen treiben. Wenn es dieses Mal ein bisschen länger als sonst dauert, sich in der Bosch-Chronik zurecht zu finden, so liegt dies nicht am Verfasser, sondern am Heyne-Verlag, der – aus welchen Gründen auch immer – diesen zehnten vor dem neunten Teil („Lost Light“, 2003; dt. „Letzte Warnung“) erscheinen lässt. So verwirrt es zunächst, dass Harry Vater geworden ist und nicht mehr für das Los Angeles Police Department arbeitet, sondern als Privatdetektiv Schurken jagt.

Hat man dies verinnerlicht, zieht einen die Handlung umgehend in ihren Bann. Sie ist einerseits recht komplex als Schnitzeljagd über ganze US-Bundesstaaten angelegt, die ein irrer aber genialer Serienkiller (Gibt es eigentlich auch andere?) inszeniert, um sein Ego zu befriedigen. Temporeich und unter eingehender Schilderung traditioneller sowie moderner Fahndungsmethoden wird das an sich wenig originelle Geschehen vorangetrieben. Parallel verläuft es zunächst, bis Harry Bosch und Rachel Walling einander treffen, danach geht es gemeinsam weiter.

Der Unterhaltungsfaktor ist enorm, weil Michael Connelly sein Handwerk versteht. Man darf sich allerdings nicht dazu verleiten lassen, die Handlung zu überdenken. Dann kommen allerlei unschöne Fragen auf, welche die Logik des Ganzen in Frage stellen. Was hat es beispielsweise mit Backus’ grandiosem Plan eigentlich auf sich? Der Aufwand ist enorm, die Vorbereitung gewaltig, aber die Umsetzung eher kümmerlich. Auch wenn der Wahnsinn Backus beutelt, so gäbe es sicherlich einfachere Methoden, mit seinen Gegnern zu „spielen“.

Zudem muss immer wieder der Zufall einspringen, damit sich Bosch & Walling im gewaltigen Spinnennetz des Poeten nicht heillos verirren. Auf diese Lösung greift Connelly ein wenig zu oft zurück, was auf eine allgemeine Schwäche des Plots hinweist. Einen echten Schnitzer leistet sich der Autor, als er für eine „überraschende“ Coda, die dem eigentlichen Finale folgt, einen ganzen Handlungsstrang neu deutet; dies ist weder nötig noch nachvollziehbar.

Viel Zeit investiert der Verfasser in die Schaffung eines „Connellyversums“. „Die Rückkehr des Poeten“ ist das reinste Gipfeltreffen bekannter Connelly-Figuren. Das Buch ist nicht nur die Fortsetzung von „Der Poet“ („The Poet“, 1996) mit Jim Backus und Rachel Walling in ihren ersten Auftritten, sondern gleichzeitig der zehnte Harry-Bosch-Roman seit 1992, der wiederum Bezug nimmt auf das gemeinsame Agieren von Bosch und Terry McCaleb in „Dunkler als die Nacht“ („A Darkness More Than Night“, 2001). Es kommt sogar zu einem „Gastauftritt“ von Cassie Black, der Meisterdiebin aus „Im Schatten des Mondes“ („Void Moon“, 2000).

Darüber hinaus spielt Connelly mit Fiktion und Gegenwart. Terry McCalebs erstes Abenteuer „Das zweite Herz“ („Bloodwork“, 1997) wurde 2002 von und mit Clint Eastwood in der Titelrolle verfilmt. Dies lässt Connelly in die Handlung einfließen und nutzt die Gelegenheit, einige Seitenhiebe auf Hollywoods Drang zur Veränderung von Filmvorlagen zu landen. Rachel Walling liest während eines Fluges im Buch „Der Poet“, das aber nicht Connelly, sondern dessen Romanfigur Jack McEvoy geschrieben hat. So etwas ist witzig dort, wo es gelingt, weil es sich elegant in die Handlung integriert. Weniger amüsant findet man es, wenn es aufgesetzt wirkt: Die Cassie-Black-Episode hat mit der eigentlichen Handlung nicht das Geringste zu tun und das merkt der Leser auch.

Quo vadis, Harry Bosch? Jeder Schriftsteller kennt das Problem, einen altgedienten Helden lang laufender Serien „frisch“ zu halten. Nach neun Romanen kennt man als Leser Bosch im Grunde in- und auswendig. Gestartet ist er einst als vietnamkriegsgeschädigter Kriminalist mit durchaus pathologischen Zügen. Der „alte“ Bosch eckte prinzipiell überall dort an, wo es gilt, diplomatisch und kompromissbereit aufzutreten: bei den Vorgesetzten, dem Establishment, der Politik, den Medien. Doch geradezu masochistisch legte sich Bosch immer wieder mit denen an, die ihm bei seinem Kreuzzug gegen das Böse – Connelly hat ihn nicht ohne Grund nach dem flämischen Maler apokalyptischer Höllenspektakel benannt – in die Quere kamen.

Diesen Aspekt des Bosch-Charakters hat der Verfasser längst gedämpft – das musste er, denn der Harry Bosch aus „The Black Echo“ (1992; dt. „Schwarzes Echo“) hätte sicherlich nicht bis zum zehnten Fall durchgehalten. Aber inzwischen fehlt etwas; der kantige Harry ist milde geworden. Seinen Attacken gegen arrogante FBI-Beamte fehlt der Biss, weil diese nie wirklich gefährlich wirken. Auch Rachel Walling hat Bosch eigentlich sogleich auf seine Seite gezogen. Der Verlust seiner Dienstmarke behindert ihn nicht wirklich, wie Connelly es mehrfach behauptet.

Dem bisher einsamen Helden eine Familie anzudichten, ist ein bekannter Trick serieller Unterhaltung. Die daraus resultierenden Konflikte ergeben reichlich Stoff für viele, viele Seiten, die sich wie auf Seifenschaum quasi von selbst schreiben. Harry Bosch will ein guter Vater sein aber seine Ex-Gefährtin lässt ihn nicht – so what? Connelly gelingt es, einen neuen Aspekt der Bosch-Figur zu kreieren, aber wollen wir diesen wirklich kennen lernen? Nun, in [„The Closers“ 1561 (2005) kehrt Bosch zu seinen Wurzeln und zum LAPD zurück. Gleichzeitig verzichtet Connelly auf die Ich-Perspektive und schildert Bosch wieder in der dritten Person; eine gute Entscheidung, da unserem Harry allzu große Nähe einfach nicht bekommt.

Rachel Walling gibt das Yin zu Harry Bosch’ Yang. So ist das halt im Mainstream-Thriller, wo sich zum männlichen Helden eine weibliche Figur gesellen muss (sowie mindestens ein „Buddy“, der für komische Einlagen zuständig ist). Schließlich braucht es (offenbar) eine Lovestory, um möglichst viele Leser/innen zufrieden zu stellen. Also fallen auch Harry und Rachel irgendwann übereinander her – eine Szene, die ebenso zu erwarten war wie augenscheinlich so fehl am Platze ist, dass sie Connelly womöglich nachträglich auf Anraten seines Verlags eingebaut hat. Ansonsten müht sich Rachel wacker an Harrys Seite. Sie wurde vom Schicksal ebenfalls tüchtig durch die Mangel gedreht, ohne dass dies den Leser allerdings für sie einnimmt. Im Finale versagt sie natürlich im entscheidenden Moment und muss sich von Bosch vor dem Poeten retten lassen.

Jim Backus, der Poet, wirkt wie schon gesagt niemals wie die düstere Bedrohung, die Connelly in ihm sah und die ihn veranlasste, diese Figur ein zweites Mal aufzugreifen. Doch er übertreibt es mit einem Serienkiller, der sich durch die ganze Welt metzelt und dabei einem absurden „Plan“ folgt, der womöglich nicht einmal in seinem kranken Hirn aufgeht. Der Poet ist nur überzeugend, solange uns nur die Folgen seiner Untaten präsentiert werden und er sich auf kurze Auftritte beschränkt. Je mehr wir dann über Backus erfahren, desto nachhaltiger verflüchtigt sich die Faszination. Schließlich bleibt nur der irre Bösewicht, der mit dem Helden raufen und dabei möglichst malerisch zu Tode kommen muss.

Nein, ein Höhepunkt der Harry-Bosch-Serie ist Michael Connelly mit „Die Rückkehr des Poeten“ nicht gelungen. Wenn man auch diese Episode empfehlen kann, so liegt es daran, dass auch ein mittelmäßiger Connelly noch weit über den meisten seiner schreibenden Kollegen steht. Was vor allem fehlt, das ist die Intensität, mit der Harry Bosch auf die beruflichen und privaten Schrecken dieser Welt reagiert. Er ist ein bisschen zu sehr mit sich im Reinen; bleibt zu hoffen, dass sich dies zukünftig wieder ändert.

Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Der „Entdeckung“ der Bücher von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf; nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eines der größten Blätter des Landes, Connelly an.

Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.

Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida. Über das Connellyversum informiert stets aktuell die Website http://www.michaelconnelly.com.

Die Harry Bosch-Serie …

… erscheint gebunden bzw. als Taschenbuch im Wilhelm-Heyne-Verlag:

01. [Schwarzes Echo 958 („The Black Echo“, 1992)
02. Schwarzes Eis („The Black Ice“, 1993)
03. Die Frau im Beton („The Concrete Blonde“, 1994)
04. Der letzte Coyote („The Last Coyote“, 1995)
05. Das Comeback („Trunk Music“, 1997)
06. [Schwarze Engel 1192 („Angel’s Flight“, 1999)
07. [Dunkler als die Nacht 1193 („A Darkness More Than Light“, 2001)
08. [Kein Engel so rein 334 („City of Bones“, 2002)
09. Letzte Warnung („Lost Light“, 2003)
10. Die Rückkehr des Poeten („The Narrows“, 2004)
11. [The Closers 1561 (2005, noch kein dt. Titel)

O’Neal, Tatum – Und mein Leben beginnt jetzt

1973 wird die Schauspielerin Tatum O’Neal mit einem „Oscar“ für den Film „Paper Moon“ ausgezeichnet. Niemals hat es eine jüngere Gewinnerin dieses wichtigen Preises gegeben. Doch der frühe Ruhm bringt dem Kind kein Glück. Ohnehin wächst es in desolaten Familienverhältnissen auf, wird von der süchtigen Mutter vernachlässigt und vom cholerischen Vater Ryan O’Neal – selbst ein bekannter Darsteller – nicht nur geschlagen, sondern auch mit Drogen versorgt.

So ist ein Lebensweg quasi vorgezeichnet, der zwischen strahlenden Auftritten als prominentes Mitglied der Hollywood-High-Society und einem zunehmend desaströsen Privatleben schlingert. Frühe Drogen- und Alkoholsucht, sexuelle Übergriffe, Kämpfe mit den gleichzeitig schwachen und herrschsüchtigen Eltern, Depressionen, die Flucht in eine Ehe, die sich als neuer Lebenskampfschauplatz erweist, und ein schmutziger Scheidungskrieg sind nur einige Stationen eines langen Absturzes ins persönliche und gesellschaftliche Nichts.

Erst spät kann sich Tatum O’Neal fangen. Der Rückweg in ein geordnetes Leben ist schwierig und schmerzhaft, aber er gelingt. Mit den meisten Dämonen der Vergangenheit vermag sich O’Neal zu arrangieren. Für die zweite Lebenshälfte sieht die Prognose deutlich besser aus als für die ersten vier Jahrzehnte eines verpfuschten doch gleichzeitig ungewöhnlich ereignisreichen und interessanten Lebens. Beide Aspekte finden Erwähnung in der Autobiografie, die Tatum O’Neal selbst verfasst hat und die hier in deutscher Übersetzung vorgelegt wird.

Reiches Kind, armes Kind … Wie oft haben wir diese Melodei eigentlich schon gehört? Besonders Hollywood scheint prädestiniert für Schicksale wie das der Tatum O’Neal. Filmreif klingt, was faktisch durchaus glaubwürdig erscheint. Das nährt gleichzeitig Misstrauen, zumal sich die O’Neal-Biografie ebenso eng wie letztlich zweifelhaft an jenen Spannungsbogen hält, den die US-Amerikaner so lieben: Da gerät jemand bis auf die Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, ist reich, berühmt, beliebt, um anschließend genauso tief zu fallen. Grausiges reiht sich an Trauriges, und wenn man als bangender und leidender Leser schon glaubt, es geht nicht mehr und die arme Tatum endgültig verloren glaubt, kommt irgendwo doch ein Lichtlein her: Kraft fährt aus Wolke Sieben in das geplagte Menschenkind. Es besinnt sich uramerikanischer Tugenden, streift ab die Fesseln der Sucht und der Erniedrigung, findet zu sich, erschafft sich neu. Aus der Gosse erhebt sich gleich Phoenix die neue Tatum O’Neal, clean und schön, selbstsicher und erfolgreich, bereit und willens, sich dem Leben zu stellen.

Solche Storys lieben Amerikaner bzw. Zeitgenoss/inn/en mit einfach gestrickten Gemütern, denn sie projizieren selbstverständlich das eigene, zur Zeit womöglich nicht gerade günstige Geschick in die Lektüre und schöpfen Hoffung: Siehe, es geht doch; da steckt ein Mensch viel tiefer im Dreck als ich und hat es geschafft, sich zu befreien. Dass dieses Lehrstück womöglich nach dem Handbuch „Wie konstruiere ich einen Bestseller?“ inszeniert ist – als Genre fällt es in die Kategorie „Frauenschicksal“ -, scheint kaum eine Rolle zu spielen. Wie im Märchen geht die Geschichte gut aus; das ist es, was primär den Erfolg solcher Bücher ausmacht. Recht perfide ist, dass „Und mein Leben beginnt jetzt“ ganz und gar nicht als Rührspiel beginnt. Die Selbstreflexion bewegt sich auf einem niedrigen Niveau, aber als einfach gehaltener, lesbar geschriebener Bericht (keine Selbstverständlichkeit bei Autobiografien) über vier schauerlicher Jahrzehnte überzeugt O’Neals Autobiografie in der ersten Hälfte durchaus.

Dann aber wird’s wüst & wohlig schmutzig. Tatum schreibt schonungslos. Sex sells, doch solches profane Denken spielt hier selbstverständlich keine Rolle: Der gefallene Engel will beichten, um anschließend seine Absolution zu erfahren. Es fällt schwer nachzuvollziehen, welchen Aufklärungswert die einschlägigen Skandal-Anekdoten besitzen, mit denen die Leserschaft konfrontiert wird. In den US-Medien wurden aufgeregt gewisse „Stellen“ zitiert, die Tatum und einen schon damals offensichtlich psychisch derangierten Michael Jackson beim Techtelmechtel zeigen. Rabenvater Ryan prügelt neidisch die talentierte Tochter und macht sie mit diversen Drogen vertraut. Die junge Melanie Griffith soll die 12-jährige Tatum in Rom unter Drogen gesetzt und zu einer Orgie verführt haben. (Dieses Ereignis wird den deutschen Lesern indes unterschlagen – offenbar konnten Griffith’ Anwälte wenigstens für die Auslandsausgaben der O’Neal-Biografie eine Tilgung erstreiten …)

So geht das weiter, während der Tonfall der Erzählerin falsch zu klingen beginnt. Den Entbehrungen der Jugend, welche sie objektiv erleiden musste, folgen die erwachsenen Jahre. Hier ist es nun nicht mehr möglich, Alleinschuld auf die feindliche Umwelt abzuschieben. Tatum O’Neal, ohne Zweifel seelisch schwer geschädigt, begibt sich auf einen Höllentrip, bei dem sie selbst am Steuer sitzt. Das passt nur bedingt zum Bild der von Gott, der Welt & der Familie gebeutelten Frau. O’Neal versucht einen Spagat: Sie leugnet ihre Exzesse nicht, Schuld sind jedoch weiterhin die Anderen. Die arme Tatum möchte doch weiter nichts als mit ihren vergötterten Kindern in Ruhe gelassen werden und hier und da einen Film drehen, weil Geld nun einmal zu den Konstanten eines stabilen Lebens gehört. Sie selbst benötigt natürlich nichts außer Liebe und Anerkennung und was der positiven Folgen einer Wiedergeburt mehr sind.

Für Tatum O’Neal mag die Niederschrift ihrer Autobiografie ein Akt der Befreiung und eine Form der Selbsttherapie gewesen sein. Da sie nach eigener Auskunft seit vielen Jahren Tagebuch führt, dürfte ihre Rückschau der Wahrheit entsprechen; sie ergibt ein Leben, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Doch Wahrheit ist etwas Subjektives. Sie besitzt zwei Seiten, von denen man hier nur die eine hört. So ungeheuerlich sind die Erinnerungen der Tatum O’Neil, dass diejenigen, die Erwähnung finden, praktisch chancenlos bleiben, sollten sie widersprechen. Ex-Ehemann John McEnroe hat es mit dem zu erwartenden negativen Ergebnis versucht. Zur Zeit gilt als „wahrer“ McEnroe primär O’Neals McEnroe, ein labiler, selbstsüchtiger, brutaler usw. Zeitgenosse. So gefällt es den Medien und jenen Tugendbolden, die es empörend finden, dass ein cholerischer Widerling gleichzeitig ein Sportass sein kann.

Noch komplizierter wird es, wenn der Drang, die „Wahrheit“ zu berichten mit sehr menschlichen Irrtümern kollidiert. „Und das Leben beginnt jetzt“ ist vor allem ein Dampfablassen der Verfasserin. (So interpretiert es übrigens auch der bloßgestellte Vater Ryan.) Die historischen Fakten sollte man hingegen lieber nicht auf die Goldwaage legen. So behauptet O’Neal u. a., der sich weiterhin in unerwiderte Liebe zu ihr verzehrende Michael Jackson habe nach ihrer Trennung den Klagesong „She’s out of my Life“ geschrieben. Das fügt sich wunderschön zur Story, ist aber falsch: Das Lied stammt aus der Feder des Komponisten und Musikers Tom Bahler.

So ist „Und das Leben beginnt jetzt“ nur eine hoffentlich heilsame Abrechnung im Gewand einer weiteren Skandalbiografie geworden. Die deutsche Ausgabe setzt dem durch den schwachsinnig „übersetzten“ Titel ein trübes Glanzlicht auf. „A Paper Life“ nennt Tatum O’Neal ihre Lebensgeschichte im Original. Sie spielt damit auf ihren ersten und größten Filmerfolg „Paper Moon“ von 1973 an, der ihr Leben in jeder Hinsicht veränderte.

Tatum Beatrice O’Neal wurde 1963 als Tochter der Schauspieler Ryan O’Neal und Joanna Cook Moore geboren. Die Eltern lassen sich wenige Jahre später scheiden. Tatum wächst bei der Mutter auf, deren Alkoholismus und Drogensucht eine kindgerechte Erziehung praktisch unmöglich machen. Vater Ryan nimmt die verwilderte Tochter später auf, erweist sich jedoch als – gelinde ausgedrückt – unkonventioneller Vater.

1973 ist er einverstanden, als Regisseur Peter Bogdanovich für sein Filmprojekt „Paper Moon“, die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung im Amerika der Depressionszeit, Tatum und ihn als Schauspieler verpflichten möchte. Der Film wird ein Riesenerfolg und Tatum O’Neal erhält mit zehn Jahren den „Oscar“ als beste Darstellerin des Jahres – die jüngste Gewinnerin dieses Preises überhaupt.

Weitere Filmerfolge: „The Bad New Bears“ (1976; dt. „Die Bären sind los“), eine Baseball-Komödie mit Walter Matthau, für die Tatum O’Neal die bisher höchste Gage für eine Kinderdarstellerin erhält, sowie „Nickelodeon“ (1976), eine zwar gefloppte aber von der Kritik hoch gelobte Komödie über die Anfänge der amerikanischen Filmindustrie.

Das schwierige Privatleben beeinträchtigt die Karriere der Schauspielerin, die sich nach der Geburt dreier Kinder während ihrer Ehe mit dem Tennisspieler John McEnroe (1986-1994) weitgehend ins Privatleben zurückzieht. Persönliche Probleme lassen O’Neal, die schon früh Erfahrungen mit Rauschgift gemacht hatte, erneut der Sucht verfallen. Erst nach mehrfachen Klinikaufenthalten gelingt es der Schauspielerin, von den Drogen freizukommen. Das Auf und Ab ihres Lebens hält Tatum O’Neal 2004 in ihrer Autobiografie „A Paper Life“ fest, die als Skandalchronik große Aufmerksamkeit erfährt, die Bestsellerlisten erklimmt und Tatum O’Neal den Weg zurück ins Rampenlicht ebnet.

G. M. Ford – Erbarmungslos

Kurz vor seiner Hinrichtung mehren sich die Zeichen, dass ein angeblicher Serienmörder unschuldig ist. Einem Journalisten und einer unkonventionellen Fotografin bleiben sechs Tage, die Wahrheit zu ermitteln, während das düpierte Gesetz mauert und die Medienkollegen nach der „Story“ schnappen … – Konventioneller Thriller mit wirklich allen Elementen des modernen Mainstream-Krimis. Mangelnde Originalität wird durch gelungenes Erzählhandwerk, Spannung und trockenen Witz wettgemacht: kein Muss aber ein unterhaltsames Kann.
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Rendell, Ruth – Wer Zwietracht sät

In der englischen Kleinstadt Kingsmarkham stehen die Zeichen auf Sturm: Eine neue Umgehungsstraße soll gebaut werden. Sie wird durch die Wälder des Framhurst Great Wood verlaufen. Bäume, Sumpfauen und Teiche müssen weichen, der Lebensraum vieler Tierarten wird vernichtet. Das ruft eine Reihe von Umweltschutz-Gruppen auf den Plan, die nach Kingsmarkham reisen und für Unruhe sorgen. Einige Aktivisten erweisen sich als recht militant. Ihr Widerstand ist nicht nur passiv, so dass die Situation außer Kontrolle zu geraten droht.

Chief Inspector Wexford von der Mordkommission verfolgt die Ereignisse zunächst aus der Ferne. Er wird indes bald in darin verwickelt, als bei einer der Protestaktionen im Wald eine Leiche gefunden wird. Rasch kann sie identifiziert werden: Die junge Studentin Ulrike Ranke aus Deutschland, zu Besuch bei einer englischen Freundin, wurde vergewaltigt und erdrosselt. Wexford und seine Leute nehmen die Ermittlungen auf. Der Mord ist jedoch noch ungeklärt, als in rascher Folge mitten in Kingsmarkham auf offener Straße fünf Menschen entführt werden. Zufällig befindet sich Wexfords Ehefrau Dora darunter. Zu der Tat bekennt sich eine Gruppe namens „Sacred Globe“. Sie fordert den sofortigen Stopp der Bauarbeiten und droht die Geiseln zu töten, wenn ihr dies nicht zugesichert wird. Man geht zunächst darauf ein. Die Kidnapper lassen Dora Wexford mit einer Botschaft frei: Der Bau der Umgehungsstraße soll offiziell und damit endgültig eingestellt werden. Erst dann wolle man auch die übrigen Geiseln freilassen.

Die Suche nach dem Versteck der Entführer beginnt. Bald gibt es Hinweise auf einige besonders fanatische Aktivisten, die bei ihrem Kreuzzug auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckt. Dann findet die Polizei eine Leiche – dies scheint das erste Opfer der Gruppe zu sein, bis sich herausstellt, dass die junge Frau bei einem missglückten Fluchtversuch umgekommen ist.

Lange tappt die Polizei im Dunkeln. Die Lage ist ernst: Die Entführer scheinen nicht recht zu wissen, was sie eigentlich wollen. Andererseits sind sie sehr genau über die Fahndung informiert. Endlich findet Wexford eine Spur – und kommt auf die sehr ungewöhnliche Lösung des Falls …

Mit ihrem siebzehnten Wexford-Krimi (seit 1964) mutet Autorin Ruth Rendell ihren Lesern allerhand zu. Die Grundidee ist ausgezeichnet, aktuell und sprengt das Klischee der englischen Landhaus-Idylle, in der allzu viele Polizisten und Hobby-Detektive ihr Unwesen treiben. Rendell vermeidet auch den Fehler, die Sympathien auf eine Seite zu verlagern. Politisch korrekt wäre es vermutlich gewesen, die Umweltschützer als strahlende Engel und Opfer zugleich darzustellen. Stattdessen zeichnet die Autorin ein ambivalentes Bild und riskiert Ablehnung mit ihrer Botschaft, dass nicht alles, was Menschen aus Überzeugung für ein anerkannt hehres Ziel tun, tatsächlich rechtens und richtig ist. In Rendells Welt gibt es – wie in der Realität – auch „böse“ Umweltschützer.

Die Autorin hat sich seit jeher bemüht, Klischees zu vermeiden und gern heiße Eisen angefasst. Auch dieses Mal schildert sie anschaulich, wie schwierig es ist zu entscheiden, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Die Zerstörung unberührter Natur durch den Bau einer Straße ist für den einen ein Tribut, den man dem Fortschritt oder wenigstens der persönlichen Bequemlichkeit zollen muss, für den anderen aber ein ökologisches Verbrechen, das profitgierige Geschäftsleute im Schulterschluss mit bestechlichen Politikern begehen. Wie weit dürfen beide Seiten gehen, um ihrem Standpunkt Ausdruck zu verleihen? Selbst Wexford ist im Zwiespalt; als Polizist ist es seine Pflicht, die viel beschworene Ruhe und Ordnung zu wahren, doch als Privatmann verabscheut er die Zerstörung jenes Waldes, den er seit seiner Kindheit kennt.

Eine wirkliche Lösung gibt es wohl nicht. Rendell verfolgt diesen Weg dann auch nicht weiter. Sie hat sich entschieden; „ihre“ Umweltschützer sind verblendete Fanatiker oder, wenn sie harmlos sind, seltsam und lebensfremd und in ihrer einfältigen Fixierung auf die Rettung von Mutter Natur das ideale Werkzeug für allerlei Übeltäter. Schwieriger fällt es allerdings, Rendells aberwitzige Allianz fanatischer Öko-Terroristen mit durchgedrehten Vorstadt-Spießbürgern nachzuvollziehen. Die Autorin ist berühmt dafür, einen Blick in die verborgenen seelischen Abgründe der Mittelschicht zu werfen, aber hier ist sie einen Schritt zu weit in Richtung Karikatur gegangen.

Einige Längen lassen sich zudem in der Handlung feststellen. Dora Wexfords Schilderung ihrer Erlebnisse als Gefangene von „Sacred Globus“ hätte eine Straffung vertragen, und zu überlegen ist auch, ob es wirklich notwendig war, mit dem Mord an der deutschen Touristin eine falsche Fährte zu legen. Insgesamt gehört „Wer Zwietracht sät“ nicht zu den Höhepunkten der Wexford-Reihe. Andererseits schwebt ein durchschnittlicher Ruth-Rendell-Roman immer noch ein gutes Stück über der Konkurrenz, was Spannung und Figurenzeichnung angeht.

Eine Anmerkung zum deutschen Titel dieses Romans: Im Original lautet er „Road Rage“, ein Wortspiel, das den Inhalt sehr treffend zusammenfasst, sich jedoch nur schlecht übertragen lässt. Wieso daraus „Wer Zwietracht sät“ wurde, bleibt allerdings rätselhaft. Der Titel erinnert sehr an einen Roman von Elisabeth George; vielleicht ist das der Grund: Man möchte die Leser der in Deutschland viel verkauften und wohl auch bekannteren „Konkurrentin“ von Ruth Rendell auf diese Weise ködern. Nun, wer sich dadurch verleiten lässt, kann nur gewinnen: Während Elisabeth George ihre Kriminalromane seit einigen Jahren auf immer groteskere Ausmaße anschwellen lässt – sieben- und achthundert oder mehr Seiten sind eher die Regel als die Ausnahme -, weiß Rendell, wann eine Geschichte erzählt ist.