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King, Stephen – Susannah (Der Dunkle Turm VI)

|“Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm.“|

So begann im Jahre 1982 der Revolvermann Roland von Gilead seine surreale Jagd auf den Mann in Schwarz und seine Suche nach dem „Dunklen Turm“ in der westernähnlichen Mitt-Welt. Stephen King lag der „Turm-Zyklus“ nach eigenen Angaben seit seiner Jugend am Herzen, er ist sozusagen sein Lebenswerk. Inspiriert von einem alten Gedicht Robert Brownings aus dem Jahr 1855, „Childe Roland to the Dark Tower came“, war „The Gunslinger“/“Schwarz“ zwar nichts King’s Durchbruch, aber die Geschichte hatte ihr eigenes Flair, obwohl sie stilistisch noch ein unausgereiftes Frühwerk war. In der Tat hat King den ersten Band nach Jahren in einer neuen Fassung herausgebracht, die zahlreiche Details enthält, die in der ursprünglichen fehlen, was für diese Rezension noch von Bedeutung sein wird. Der gesamte Turm-Zyklus ist geprägt von Referenzen auf andere Figuren und Werke Kings, der in „Susannah“ sogar sich selbst in persona in die Handlung einbaut!

„Susannah“ ist der sechste und damit vorletzte Band des Zyklus. Stephen King möchte sich als Autor langsam zurückziehen, er hat sich aber noch einmal aufgerafft und in Rekordzeit die letzten drei Bände des Zyklus geschrieben.

_Ein kurzer Überblick der Turm-Saga:_

Schwarz (The Gunslinger) 1982
Drei (The Drawing of the Three) 1987
Tot (The Waste Lands) 1991
Glas (Wizard and Glass) 1997
[Wolfsmond 153 (Wolves of the Calla) 2003
Susannah (Song of Susannah) 2004
[Der Turm 822 (The Dark Tower) Ende 2004

Man beachte die großen Zeitabstände zwischen den einzelnen Bänden. Die letzten drei Bände erschienen in einem neuen, sehr hübschen und zeitgemäßen Gewand bei Heyne. Die ganze Saga wird in Kürze als Sammelbox in einheitlichem Design und mit der zweiten Version von „Schwarz“ erhältlich sein.

Wer einen Einstieg in die Turm-Saga plant, muss von vorne beginnen. Der Zyklus ist bereits für Kenner aufgrund der zwei Fassungen von „Schwarz“ und des langen Zeitrahmens schwer überschaubar.

_Was geschieht in „Susannah“?_

Mia hat im Körper der hochschwangeren Susannah die Flucht in das New York des Jahres 1977 angetreten. Detta und Susannah kämpfen um die Kontrolle ihres Körpers, während Mia sich auf ihr Kind freut, obwohl sie es nur wenige Jahre behalten darf, da sie es an zwielichtige Vampire in Diensten des Turmes verschachert hat.

Ein weiterer Balken des Turms stürzt ein und verursacht Beben in Mitt-Welt, wo es Roland, Eddie, Jake und Callahan gelingt, Susannah in ihre Gegenwart zu folgen. Dort werden sie jedoch bereits von Balazar’s Mafiosi erwartet, nur dank Rolands Schießkünsten können sie dem Hinterhalt entkommen. Sie machen sich auf den Weg zu Calvin Tower, von dem sie in der Vergangenheit das Grundstück des Dunklen Turms gekauft haben. Sie treffen sogar auf Stephen King selbst, der davon geschockt ist und ihnen bestürzende Dinge offenbart.

Derweil erfährt Susannah, wer der Vater ihres Kindes ist, und was für eine bedeutende Rolle es für das Schicksal des Turms spielt…

_Der schiefe Turmbau_

Konnte man „Wolfsmond“ noch für den deutlich erfahreneren und versierteren Schreibstil Kings loben, war eine Schwäche die langsame Weiterentwicklung der Geschichte um den Turm selbst. Das westernartige Ambiente von Mitt-Welt und die Charakterisierungen der Figuren dagegen stimmten.

„Susannah“ fängt nahtlos dort an, wo „Wolfsmond“ aufhörte – kommt aber handlungstechnisch genauso wenig vom Fleck. Große Ereignisse werden wohl für den Abschlussband aufgespart. Susannah steht im Mittelpunkt, Roland und Co. treten extrem in den Hintergrund. Dafür tritt der Autor selbst in seinem Roman auf, nicht mehr nur Figuren aus seinen anderen Werken. Für mich das eigentliche Highlight des Romans, denn Susannah’s psychologisches Duell mit Mia ist ziemlich seicht. Der Vater ihres nun auf einmal unglaublich bedeutenden Kindes ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen, was nur noch von ihrer lächerlichen psychologischen Visualisierungstechnik getoppt wird: Mia stellt sich ein Armaturenbrett vor und dreht den Schalter „Wehen“ ein paar Grade zurück.

Ihr plötzliches Auftauchen in New York beschert einer Passantin Albträume, die sich so etwas einfach nicht vorstellen kann. Sie fühlt sich daraufhin „tervös-naub“… dies als Beispiel für die zahllosen Wortschöpfungen Kings, wie auch die penetrante Sprache der Calla „sagen Danke sehr“ dem Ka-Tet in unsere nahe Vergangenheit gefolgt ist. Diese kann man dem Übersetzer Wulf Bergner nicht anlasten, sie sind im Original genauso überflüssig. Er hat sich dafür Patzer bei feststehenden Redewendungen geleistet: „Die Welt hat sich weiterbewegt“ – Bergner hat die Übersetzung seines Vorgängers Körber dafür offensichtlich nicht gelesen…

Man erhält dadurch den Eindruck, King würde alt, kindisch und sentimental. Dieser verstärkt sich, wenn man zum interessanten Teil des ansonsten mit Susannah handlungsarm dahindümpelnden Buchs kommt: King plaudert aus dem Nähkästchen – ob real oder fiktiv, sei dahingestellt. Er gibt Roland und Eddie Informationen, die wohl eher für den Leser der Turm-Romane als diese selbst einfach bestürzend sind. So gibt King freimütig zu, sich nie groß Gedanken über den Zyklus gemacht zu haben, es existierte einmal ein Exposé, aber er hat es verloren und weitgehend vergessen.

Er selbst wusste nicht, wie sein Zyklus enden soll, während er ihn geschrieben hat. Das mag auch die langen Pausen zwischen den einzelnen Romanen und das langsame Voranschreiten der Kernhandlung während der letzten Bände erklären. Man darf gespannt sein, wie King das alles auflösen will. Wahrscheinlich entzaubert er nur sein eigenes Werk, bei dem die Spekulationen um den Turm interessanter sind als die tatsächliche Geschichte. Diese bietet keine Ereignisse, über die man spekulieren könnte, sie ist voller |deus ex machina|-Elemente, die Handlung ohne besondere Konsistenz und Richtung, dazu wird zu viel einfach an den Haaren herbeigezogen. Musterbeispiele dafür das plötzliche Auftauchen Callahans im letzten Band und in diesem der Vater von Mias Baby. Wenn die eigenen Ideen ausgehen, greift man halt auf alles zurück, was einem gerade so durch den Kopf geht: Seien es Harry Potter, die Jedi-Ritter, Marvel-Comics oder eben als Krönung der Bezug des einstürzenden WTC zum ebenfalls wankenden Dunklen Turm. Es ist zu viel; die gute Idee, das reale Weltgeschehen in die Geschichte einzubeziehen, wirkt so langsam zwanghaft.

Reale Anmerkung oder Fiktion?
Die „Seiten aus dem Tagebuch eines Schriftstellers“ beschreiben im Anhang quasi, wie der Turm entstand und was sich King dabei dachte. Beeindruckend und entlarvend dabei seine eigene Niedergeschlagenheit über einen Fanbrief der todkranken Coretta Vele im Jahr 1992, die vor ihrem Ende gerne von King wissen würde, wie die Turmsaga endet… sie würde es niemandem verraten. King selbst schreibt, wie niedergeschlagen er war, er wusste es selbst nicht.

Es folgt eine fast philosophische Abhandlung über das Dasein als Schriftsteller und seinen schweren Autounfall im Jahr 1999, hier kann man sich fragen, ob King nicht der psychologischen Betreuung bedarf, wurde dieser doch bereits in anderen Werken von ihm ausführlich aufgearbeitet und integriert. Die Zahlen 19, 99 und Prim, auf die auch zu Beginn des Romans Bezug genommen wird (eine fette 99 in der Seitenmitte, links unten eine kleine 19 – steht vermutlich für das Jahr 1999, daneben das Wort „Reproduktion“) fehlen zudem in den ersten Bänden der Saga, erst in der von King neu aufgelegten zweiten Fassung sind diese Elemente enthalten, was für zusätzliche Verwirrung und einen gewissen Groll sorgt: Muss man als King-Fan jetzt wirklich noch einmal die vier alten Romane oder die ganze (zugegeben: Das Metallic-Design ist sehr gelungen!) Sammelbox kaufen, um in den Genuss einer abgeschlossenen und in sich schlüssigen Reihe zu kommen?

_Mehr Schein als Sein_

„Susannah“ ist als Buch handlungsarm, von schwachen Charakterisierungen, inkonsistenten und völlig willkürlichen, unvorhersehbaren Ereignissen geprägt. Der interessante Teil ist ironischerweise Kings eigenwilliges Philosophieren über seine Beziehung zu seinem Turm-Zyklus. Leider auch eine einzige Entzauberung und Selbstoffenbarung: King hat mehr die Fantasie der Fans angeregt, als er sich selbst jemals im Traum vorstellen konnte. Er hatte kein Konzept, nicht einmal eine Idee, wie der Zyklus enden soll. Jetzt biegt er schnell alle losen Enden zusammen und geht danach in Rente. Ende.

Die Atmosphäre und der surreale Reiz von Mitt-Welt geht „Susannah“ vollkommen ab, der Roman hat keinerlei Charme, erzeugt keine Immersion. Dafür zahllose Seiten der Langeweile und Horror der besonderen Art: Was – das soll es jetzt gewesen sein?

Der Roman endet mit der Geburt von Mias Kind und einem der nervig werdenden Gesänge, die jedes Kapitel einleiten oder beenden:

VORSÄNGER: |Commala-come-kass!|
|The child has come at last!|
|Sing your song, O sing it well,|
|The child has come to pass.|

CHOR: |Commala-come-kass,|
|The worst has come to pass.|
|The Tower trembles on its ground;|
|The child has come at last.|

Wäre King bei seinem Autounfall tatsächlich ums Leben gekommen, man hätte den Turm-Zyklus als ein Musterbeispiel innovativer Phantastik angesehen, trotz seiner Schwächen. Jetzt entzaubert er ihn selbst als Machwerk überbordender Symbolik. Vielleicht gelingt es King, mit dem Abschlussband „Der Turm“ seine Fans wieder zu versöhnen, für sich gesehen ist „Susannah“ viel Lärm um nichts, ein grauenhaft langweiliger, uninteressanter Roman, der selbst hartgesottene King- und Turm-Fans enttäuschen wird. Es würde mich sehr wundern, wenn das Finale den Anfängen gerecht werden und der Turm-Zyklus sich nicht als Konglomerat einiger faszinierender Ideen ohne klares Ziel und jegliche Konzeption erweisen sollte.

Für das Lesen sagen Danke sehr.

P.S.: Es empfiehlt sich definitiv nicht, eine Zusammenfassung zu lesen bevor man sich an den Turm-Zyklus wagt. Aber für Fans, die gerne ein paar Karten, ein Personenregister sowie Hinweise auf welche Werke Kings im Turm-Zyklus eingegangen wird haben möchten, ist Robin Furth’s „Das Tor zu Stephen Kings Dunklem Turm I-IV“ (ISBN 3453875559) eine Empfehlung wert. Ein Folgeband für die Bände V-VII ist in Vorbereitung. Das definitive Nachschlagewerk für Turm-Fans – als zusätzliches Schmankerl ist die exklusive Kurzgeschichte „Die Kleinen Schwestern von Eluria“ enthalten.

Prokofieff, Sergej O. – Menschen mögen es hören. Das Mysterium der Weihnachtstagung

Seit Ostern 2001 ist der Russe Prokofieff Mitglied im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach (Schweiz) und mit seinen Ideen und Tätigkeiten scheint ein gewaltiger Umbruch bei den Anthroposophen stattzufinden. Er konzentriert sich bei den Aufgaben der anthroposophischen Gesellschaft auf die Weihnachtstagung von 1921, die seit mehr als achtzig Jahren heftigst innerhalb der Mitgliedschaft diskutiert wird und lange Zeit als Tabuthema galt. Über das letzte Jahrzehnt hinweg konnte sich endlich damit offen auseinandergesetzt werden, allerdings mit dem vorläufigen Ergebnis, dass schweizerische Gerichte Anfang 2004 den ganzen damaligen Verein für rechtlich nicht einwandfrei erklärten und alle Entwicklungen, die seitdem bei den Anthroposophen stattfanden, als rechtlich unwirksam erklärten. Ein vernichtendes Urteil für die Anthroposophen, die sich zwar über Positionen stritten, aber kaum jemand war wohl mit der Aussicht auf einen solchen Ausgang vor Gericht gegangen.

Prokofieffs Buch ist eine hervorragende Arbeit, deren Wichtigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er entwickelt aus der Anthroposophie erstmals eindeutig eine eigenständige moderne Religion, was in solcher Weise durch die letzten hundert Jahre hinweg noch keiner vor ihm zu formulieren wagte. Dies macht die Auseinandersetzung mit dem umfassenden Werk auch für Nicht-Anthroposophen notwendig. Abgesehen davon, dass er sich in seinem ganzen Ideenkomplex nur auf die wenigen „poetischen“ Verse der Grundstein-Meditation von Steiner besagter Tagung beruft – es ist schon sehr verwegen, diese derart umfangreich zu kommentieren, mit dem Ergebnis, eine Religion geschaffen zu haben -, bildet seine Arbeit den wichtigsten derzeitigen Impuls für eine Anthroposophie von morgen.

Für ihn war die Weihnachtstagung keine irdische Angelegenheit, sondern eine kosmische, die auch göttlich-geistige Hierarchien betraf. Rudolf Steiner wird bei ihm zu einer Messias-Gestalt und alle damals beteiligten Vorstandsmitglieder und engen Getreuen zu einer Art von Aposteln. Steiner sei der führende Rosenkreuzermeister des 20. Jahrhunderts gewesen, der als moderner Gesandter Michaels vor die Menschheit trat. Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in der Fortsetzung des traditionellen Rosenkreuzertums sei ein ganz neues Rosenkreuzertum des 20. Jahrhunderts. Das Einweihungsprinzip bildet darin einen ganz bedeutenden Schwerpunkt. Die anthroposophische Religion ist eine christliche Religion – worüber ich als Rezensent durchaus streiten würde, was aber die Buchbesprechung zu sehr von ihrem Inhalt wegführen würde – , die ihren Schwerpunkt auf die Auferstehungskräfte legt und sich zum ersten Mal seit Entstehung des Christentums überhaupt mit der Auferstehungsbotschaft an das volle Bewusstsein jedes individuellen Menschen wendet und den „Sündenfall“ im Bereich der Erkenntnis überwinden hilft. Bislang war es dem Menschen nicht möglich, sich durch Wissenschaft an das Geistige anbinden zu können, denn er musste sich an die Materie angleichen. Dieser Höhepunkt ist jetzt fast erreicht, dem Mensch steht nach dem Verlust des Geistes nun auch der Verlust der Seele bevor, was zur Folge haben wird, dass sie schließlich gänzlich und endgültig mit der Materie Eins werden wird. Zwar ist der Materialismus eine völlig irrige Lehre, aber offensichtlich leben wir in einer Zeit, wo diese schreckliche Gefahr im Sinne der Apokalypse wahr zu werden droht. Die anthroposophische Religion will das verhindern.

Rudolf Steiner verstand sich als führender Meister der Weißen Loge, Seite an Seite und auf einer Stufe mit Christian Rosenkreutz. Seine Arbeit sollte den Menschen erstmals direkt zu einem schöpferischen Wesen im Weltall werden lassen, der über die höchsten Kräfte verfügt, die aus der jenseits des geschaffenen Kosmos und aller mit ihm verbundenen neun Hierarchien liegenden Sphäre der göttlichen Dreifaltigkeit erfließen. In seiner Definition der Dreifaltigkeit „Vater, Sohn und heiliger Geist“ ersetzte er den Begriff „Sohn“ mit dem Namen „Christus“. Darin folgt er der esoterischen Tradition des Rosenkreuzertums. Im heutigen materiellen Kosmos sind die Kräfte des Vaters nicht mehr zugegen. Sie verließen ihn, zusammen mit den Hierarchien, damit der Mensch in diesem erstorbenen Kosmos zum Erleben der Freiheit kommen könne. Wenn diese erreicht sein wird, kann der Mensch sich selbst und die ihn umgebende Welt zu voller Vergeistigung führen. Vergöttlichung (durchaus also etwas Satanistisches, was von Kritikern den Anthroposophen auch vorgeworfen wird) ist in diesem Sinne das Ziel. Anthroposophen selbst sehen sich wie alle wahren Eingeweihten durchaus auch unter den Empfängern der Urweisheit durch luciferische Wesenheiten, allerdings stellen sie sich dem Anspruch, mit diesem Wissen nicht Lucifer zu dienen. Ihrer Ansicht nach sind die „Engel“ wie die „Götter“ auf das menschliche Denken angewiesen; ganz radikal behauptet die anthroposophische Religion, dass ohne das menschliche Bewusstsein über Gut und Böse selbst für himmlische Hierarchien kein Verständnis des „Göttlichen“ möglich ist. Rudolf Steiner nannte diesen Prozess „Erlösung für die Engel“.

Zur anthroposophischen Religion, die eine „Sonnen“-Religion ist, gehört auch der Glaube an die Reinkarnation. Steiner packte diese Lehre von Wiederverkörperung und Karma nicht nur in eine christliche Form, sondern verband diese auch mit dem michaelischen Karma als Grundlage für eine neue soziale Gemeinschaft. Neben der Rosenkreutzertradition steht die anthroposophische Religion auch in der Gralstradition, die in heutiger Zeit nicht nur das Gralslicht (der Stein Lucifers ist für sie der heilige Gral) zu erschauen in der Lage ist, sondern sich darüber hinaus mit den in der Christussphäre wirkenden (dem Christus dienenden) Elementargeistern vereinigen kann. Der heilige Gral diente Christus beim Abendmahl, um das Sakrament der Kommunion einzusetzen. Danach wurde auf dem Hügel von Golgatha sein Blut darin gesammelt. In der religiösen Vorstellung der Anthroposophen folgt dann auch die ganze Entwicklung der Gralsrezeption, wie man sie kennt: Der Auferstandene übergibt ihn Joseph von Arimathia – der dann in Glastonbury den Gralsdienst begründet – und der Gral wird nach dessen Tod wieder auserwählten Engeln in Obhut gegeben. Als dann der hohe Eingeweihte Tituriel in Spanien die Gralsburg baute, wurde er erneut zur Erde gebracht. Die Anthroposophie spricht von sich auch gerne als der modernen „Wissenschaft vom Gral“.

Neben Christus spielt allerdings auch die Göttin eine große Rolle in dieser neuen Religion. Steiner entwickelte ja eine „neue Isis-Mythologie“, welche die Sophia (die Weisheit) in den Mittelpunkt stellt und die Entwicklung der Seele präsentiert. Deswegen auch der Name Anthropo-Sophia. Die dem Christus dienenden Elementargeister stehen direkt unter Führung von Sophia und Michael. Ähnlich wie Thelemiten vom „wahren Willen“ sprechen, bezeichnen – allerdings angelehnt an den Apostel Paulus – die Anthroposophen „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ als das wahre Ich. Auch bei ihnen steht das Abendmahl im Mittelpunkt des religiösen Rituals, wobei Brot (Feuer) und Wein (Wasser) den Polaritäten und den in Atlantis gebildeten zwei Mysterienströmungen entsprechen und nur in ihrer Vereinigung kann der Christus real in dem Mysterium zugegen sein.

Steiner selbst sah in der Anthroposophie ein „Christentum der Zukunft, das im Besitz der Geheimnisse von dem Ehernen Meer und dem Goldenen Dreieck“ ist. Aus dieser Perspektive baut dann Prokofieff historisch die damals Beteiligten zu einer Art neuer „Christus und seine Apostel“-Geschichte auf. Die Trinität Rudolf Steiner, Marie Steiner und Ita Wegmann steht im Zentrum und bildet das „Geheimnis des Christian Rosenkreutz“ (Goldenes Dreieck). Alle anderen geistigen Strömungen wurden innerhalb des Gründungsvorstandes (Ehernes Meer) repräsentiert, wobei jedes einzelne Mitglied von ihm aus esoterischer Sicht kommentiert und erläutert wird. Da diese insgesamt die Zahl fünf ausmachten, wird ihre Funktion am Pentagramm dargestellt, dem geistigen Urbild des Menschen, das auf den zwei Säulen von Jakim und Boas ruht. Mit Steiner selbst noch gerechnet, waren es allerdings sechs Personen und immerhin damit absolute Parität zwischen dem weiblichen und dem männlichen Prinzip: drei Frauen und drei Männer. Damit brach er mit der lang andauernden okkulten Logengepflogenheit männlicher Vorherrschaft (was allerdings auch schon in der so genannten irregulären Freimaurerei, wo er als Höchsteingeweihter des O.T.O. genügend Erfahrungen sammelte, Normalität darstellte). Das beginnende „karmische Gleichgewicht“ zwischen Männlich und Weiblich sieht Prokofieff als ein Zeichen des Wirkens des Christus als Herr des Karma in der Menschheit.

Okkultes Wissen und Praktik sind somit in der neuen Religion vollkommen enthalten. Auch dafür bietet das Buch dem Kenner sehr viel hilfreiche Informationen zur eigenen Arbeit. Besonders im Kapitel über Eurythmie während der Weihnachtstagung – die erstaunlicherweise sehr viele Abweichungen im Verlauf zur bekannten Eurythmie aufweist – sind unschätzbare Hinweise für eine Choreografie energetisch-magischer Strukturen eingebettet, die natürlich hervorragend adaptiert werden können. Ähnliche Funktion haben die Mysteriendramen, die Steiner hinterließ, deren Arbeit leider wegen des Ausbruches des 1. Weltkrieg abgebrochen wurde. Sonst gebe es eigentlich sieben anstatt der drei vorhandenen. Steiner äußerte mal über sie, dass wenn die Anthroposophen diese Dramen wirklich verstünden, er dann keine weiteren Bücher mehr schreiben oder Vorträge halten müsse. Aus magischem Interesse heraus ist das Kapitel über den Bau des Tempels ebenso unschätzbar wertvoll, denn da sind Hinweise enthalten über den Sinn der Elemente in bestimmten Richtungen ebenso wie zur energetischen Choreografie während der Zeremonien des Kultes. Gerade an den hier beschriebenen Arbeitsstellen des Buches wird ersichtlich, dass Prokofieff tatsächlich auch zu den höheren Eingeweihten und Magiern der Jetztzeit gezählt werden muss.

Ihm geht es nicht um eine zahlenmäßig große Anthroposophie, sondern um die geistige Substanz. Steiner bereits 1905: |“In ihren Vereinigungen sollen sich geistige Wesenheiten hernieder senken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt“|. Interessanterweise bezeichnete er da die in „Bruderliebe“ verbundenen Glieder als Zauberer: |“Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammenwirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen… Wenn wir dann als Mitglied einer solchen Gemeinschaft handeln oder reden, so handelt oder redet in uns nicht die einzelne Seele, sondern der Geist der Gemeinschaft. Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken“|.

Nach dem umfangreichen Aufbau einer neuen Religion kommt Prokofieff dann nach knapp über der Hälfte seiner Arbeit zur historischen Geschichte der Anthroposophie zurück, in deren Mittelpunkt natürlich die Weihnachtstagung und der Versuch der Gründung der weltweiten |Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft| stehen. Es ging dabei wie bei den ersten Christen um das Entstehen einer neuen Erde und eines neuen Himmels. Dass dies historisch gesehen eigentlich als gescheitert betrachtet werden müsste, wird von ihm anders interpretiert, nämlich als ein Teil des religiösen Glaubens. Das Scheitern war das große Opfer und alle wahren Meister des esoterischen Christentums mussten diesen Weg der Freiheit und des Opfers (der Freiheit und der Liebe) beschreiten. Die höchste Äußerung des Opfers ist nun mal das der Liebe. Diese Verantwortung kann jeder nur aus eigenem freiem Entschluss auf sich nehmen. Im Gegensatz zu den alten Mysterien der Weisheit – z.B. noch in den freimaurerischen Organisationen wird der Schüler von Führern beobachtet und beurteilt, bis er als reif und würdig genug empfunden wird und man ihm gestattet, durch einen Zugang zur nächst höheren Stufe Verantwortung zu übernehmen – wird in den Neuen Mysterien diese Verantwortung nicht mehr von außen auferlegt, sondern erfolgt nur durch eigenes, errungenes, inneres Verständnis.

Prokofieff macht auch keinen Hehl aus gerne verschwiegenen Tatsachen, dass Steiner wohl vergiftet wurde, damit seine Bemühungen vereitelt würden, was sich schon mit dem Brand aufs erste |Goetheanum| – das dabei zerstört wurde – anbahnte und nennt auch den eigentlichen Gegner: das Jesuitentum. Was im 16. Jahrhundert von Ignatius von Loyala aus ebenfalls luciferischer Inspiration gegründet wurde, hat im Laufe der Zeit einen ahrimanischen Charakter angenommen und die okkulte jesuitische Praxis ist heute wie vor hundert Jahren rein ahrimanisch. Das ist besonders bei solchen katholischen Organisationen wie dem „Opus Dei“ zu beobachten, das aus der weitergehenden Ahrimanisierung der Prinzipien der jesuitischen Einweihung hervorgegangen ist. Bei dieser Lage der Dinge gibt es keine Hoffnung auf einen Friedensschluss mit dieser Strömung: „Niemand kann zwei Herren dienen!“ (Mt. 6,24). Die ganzen Diskussionen innerhalb der Anthroposophie um die Weihnachtstagung und die Gesellschaft lehnt Prokofieff ab. Zwar braucht der Geist eine Form, um in der irdischen Welt zu erscheinen und zu wirken, jedoch beansprucht die Anthroposophie, dass nicht die Form den Geist hervorbringt, sondern umgekehrt: Alle irdischen Formen sind aus dem Geist entstanden. Alle revolutionäre Beschlüsse, die die Anthroposophische Gesellschaft (oder sogar deren Elite, die |Freie Hochschule für Geisteswissenschaft|) von außen (juristisch, statutenmäßig) ändern wollen, stellen nicht die Sorge um den Geist an die Spitze, sondern missverstehen die Weihnachtstagung.

Generell erscheinen in anthroposophischen Verlagen sehr anspruchsvolle und gute Titel, mitunter aber auch endlos sich Wiederholendes. Das Buch von Prokofieff nimmt dabei einen ganz besonderen Stellenwert ein. Vielleicht die wichtigste Arbeit innerhalb der Anthroposophie der letzten Jahrzehnte.

Die einzigen ernstzunehmenden Vorgänger, die einen Weg zum Verständnis der Weihnachtstagung bereiten wollten, waren:

Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven: Der Grundstein
Rudolf Grosse: Die Weihnachtstagung als Zeitenwende
Bernard Lievegoed: Mysterienströmungen in Europa und die neuen Mysterien

Sergej O. Prokofieff wurde 1954 in Moskau geboren. Er studierte Malerei und Kunstgeschichte an der Kunsthochschule in Moskau. Zur Zeit ist er als Vortragsredner und Schriftsteller tätig. Im |Verlag Freies Geistesleben| sind von ihm erschienen: „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“, „Der Jahreskreislauf als Einweihungsweg zum Erleben der Christus-Wesenheit“, „Die okkulte Bedeutung des Verzeihens“ und „Der Jahreskreislauf und die sieben Künste“. (Verlagsinfo)

_Aus dem Inhalt:_

Der Lebensweg Rudolf Steiners im Lichte der Weihnachtstagung
Die Mysterienhandlung der Grundsteinlegung am 25. Dezember 1923
Die Rhythmen der Weihnachtstagung
Die Grundsteinmeditation in der Eurythmie
Das esoterische Urbild des Gründungsvorstands
Die Anthroposophische Gesellschaft als Tempel der neuen Mysterien
«Die Philosophie der Freiheit» und die Weihnachtstagung
Rudolf Steiner und das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft
Die Grundsteinmeditation. Karma und Auferstehung.

[Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft]http://www.goetheanum.ch/
[Rudolf Steiner]http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Steiner (|wikipedia|)

Alistair MacLean – Eisstation Zebra

Am Nordpol ist ein russischer Spionagesatellit abgestürzt, den neugierige Meteorologen geborgen haben. Sowohl die Sowjets als auch die US-Amerikaner wollen den Film aus dem Satelliten, der den Standort diverser westlicher Raketenstützpunkte verrät. Ein „Maulwurf“ sabotiert erst die Station und später das U-Boot der Retter, um diese so lange aufzuhalten, bis ein sowjetisches Geheimdienstteam eintrifft … – Abenteuergarn aus der Hochzeit des Kalten Kriegs, sauber geplottet, schnörkellos erzählt, sehr spannend dank der eindrucksvollen Polar-Kulisse, in der sich einfach gezeichnete, aber einprägsame Charaktere ein schwer durchschaubares Katz-und-Maus-Spiel liefern: zweifellos zu Recht ein Klassiker seines Genres.
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Heitz, Markus – Schatten über Ulldart (Die Dunkle Zeit 1)

In den letzten Jahren hat sich eine auffällige Entwicklung bei den Verlagen ergeben: Man entsinnt sich immer öfter einheimischer Autoren und schielt nicht mehr länger nur über den großen Teich, um sich dort die Sahnehäubchen abzufischen. Aus finanziellen Gründen – amerikanische Verlage haben die Kosten für Lizenzen drastisch erhöht, ohne zu begreifen, dass der deutsche Markt einen Bruchteil der Größe des englischsprachigen besitzt – werden neben Wolfgang Hohlbein und Bernhard Hennen auch immer öfter unbekanntere Autoren gefördert, die zumindest etwas Schreiberfahrung besitzen, wie etwa Markus Heitz, der Autor des Zyklus um „Die dunkle Zeit“, von dem bei |Heyne| auch zwei |Shadowrun|-Romane erschienen sind und der nunmehr mit „Die Zwerge“ und „Der Krieg der Zwerge“ Erfolge feiern konnte.

Vor etwas mehr als 400 Jahren überzog der Eroberer Sinured mit seinen Horden und der Macht des gebrannten Gottes Tzulan den Kontinent Ulldart mit Angst und Schrecken. Menschenopfer und Zerstörungen, Krieg, Not und Leid wurden erst beendet, als die Mutigsten der unterdrückten Völker mit Hilfe ihres Schutzgottes Ulldrael Sinured besiegten und damit auch dem Gott die Macht nahmen. Magie wurde verbannt und alle Spuren beseitigt. Ulldart kehrte zum Frieden zurück. Dennoch lebte man seither in Furcht vor einer Rückkehr Sinureds und Tzulans, die für ein Jahr angekündigt wurde, in dem alle drei Zahlen gleich waren. Doch die Jahre 111 bis 333 verstrichen ereignislos und die Menschen begannen wieder zu hoffen.

Nun naht aber das Jahr 444. Eine neuerliche Prophezeiung spricht von einem Mann, der das Schicksal Ulldarts in den Händen hält: Lodrik, der Thronerbe von Tarpol. Doch dieser ist ein fetter, fauler und träger Knabe von 14 Jahren, den man gemeinhin den „Keksprinzen“ nennt.

Die Handlung setzt ein, als sein Vater, der dem genießerischen Treiben seines Sohnes nicht länger zusehen kann, den jungen Prinzen als Gouverneur in die Verbannung schickt. Im einsamen Granburg soll er lernen, ein Mann zu werden. Nur sein Lehrer und Berater Stoiko und eine kleine Leibgarde unter dem rauen, geheimnisvollen Waljakow begleiten den Jungen, der zunächst mit seinem Schicksal hadert, dann aber plötzlich Ehrgeiz entwickelt, als er Gefühle für Norina Miklanowo, ein kluges, aber schnippisches Mädchen, entwickelt und von seiner älteren Cousine Aljascha zutiefst gedemütigt wird. Er beginnt abzunehmen, seine Waffenübungen zu vertiefen und die Politik aufmerksamer zu beobachten. Das ist auch bitter nötig, denn sein Vorgänger will Lodrik das Amt des Gouverneurs nicht kampflos überlassen, und er muss sich mehrfach der Anschläge unbekannter Attentäter erwehren.

Der Prinz reift mit Hilfe von Stoiko und Waljakow zu einem verantwortungsvollen Regenten heran, der Güte und Gerechtigkeitssinn besitzt, aber auch gnadenlose Härte zeigen kann. So gewinnt er auch das Herz Norinas, die wie er von einer besseren und gerechteren Zukunft für das ganze Volk Tarpols träumt und die Rechte des Adels beschneiden möchte. Das Glück scheint vollkommen.

Doch dann stirbt Lodriks Vater, und als neuer Kabcar, d.h. Herrscher von Tarpol, muss Lodrik seine Cousine Aljascha heiraten, um ein Bündnis mit den nachbarschaftlichen Baronien zu festigen. Das führt jedoch zu Krieg mit einem Nachbarland, das ebenfalls Ansprüche auf die Baronien erhebt. Als sei dies nicht genug, löst Lodrik durch seine tiefgreifenden Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen des einfachen Volkes einen Aufstand des Adels aus.

In dieser Krisenzeit taucht der geheimnisvolle Mortva Nesreca auf, der behauptet, ein entfernter Cousin Lodriks zu sein. Trotz der Warnungen seiner väterlichen Freunde Stoiko und Waljakow hört Lodrik von nun an auf die Einflüsterungen Nesrecas, der ihm eine glorreiche Zukunft verheißt, wenn er nur seinen Weg weiter geht und Widerstände aus dem Weg räumt. Warum soll er nicht ganz Ulldart seine Reformen bringen?

Und wie durch einen Wink des Schicksals wird der Adelsrat Tarpos vergiftet und der Feind an den Grenzen besiegt – durch einen unerwarteten Helfer. Sinured ist aus den Tiefen seines Grabes auferstanden, um Lodrik beizustehen.
Berauscht von seinen Erfolgen, vertraut der junge Herrscher seinem neuen Berater immer mehr und stößt die alten Freunde von sich. Selbst Norina, seine Geliebte, muss fliehen, obwohl sie ein Kind von ihm unter dem Herzen trägt. Waljakow begleitet sie, um das Kind zu beschützen, Stoiko aber landet im Kerker. Von Mortva Nesreca überzeugt, lässt auch Aljascha ihren Abscheu gegen Lodrik fallen und schenkt ihm drei Kinder.

Lodrik feiert einen Sieg nach dem anderen und glaubt immer noch, Ulldart Glück und eine glorreiche Zukunft zu schenken, denn Mortva schenkt ihm durch die Einführung von Schusswaffen einen Vorteil gegenüber den anderen Reichen.

Fünfzehn Jahre später hat Tarpol bis auf ein Reich an der Südspitze des Kontinents ganz Ulldart erobert, und auch der Fall dieses Landes steht bevor. Dann jedoch begreift Lodrik, dass er in all den Jahren nur von seinen vermeintlichen Freunden benutzt worden ist, um die Macht Tzulans zu stärken und dessen Rückkehr vorzubereiten. Er versucht noch, sich mit der Macht des Herrschers gegen seine Frau und seinen Berater zu stellen – aber zu spät. Seinen Sturz besiegelt jemand, von dem er es am allerwenigsten vermutet hätte. Nun scheint „Die dunkle Zeit“ nicht mehr aufzuhalten zu sein …

Man mag von der deutschen Fantasy denken, was man will, aber in den letzten Jahren beweist gerade die jüngere Generation, dass Romane und Erzählungen aus unseren Landen nicht nur märchenhaft, versponnen oder belehrend sein müssen, sondern auch einfach nur abenteuerlich unterhalten dürfen. Dabei folgt man hier durchaus den gängigen Trends, wie sie in Amerika vorgegeben werden. Roman-Zyklen im Stil von Rollenspiel-Romanen, die in den 80er Jahren ihren Siegeszug antraten, sind dort keine Seltenheit, wie R. A. Salvatore und Robert Jordan mit ihren Romanen beweisen, die in eigenerdachten Welten spielen.

Markus Heitz folgt mit dem Zyklus um „Die dunkle Zeit“ der Tradition. Seine Romane sind eindeutig auf die Zielgruppe ausgerichtet, die man der Fantasy allgemeinhin zuordnet, dem jugendlichen Leser, der vertraute Kulturen, in die man sich nicht erst seitenlang einlesen muss, eine spannende, aber gradlinige Handlung und einfache Charaktere bevorzugt, die sich genau so verhalten, wie man sie sich als Jugendlicher vorstellt. Nicht die Weiterentwicklung der Personen und das Zusammenspiel der Figuren stehen im Vordergrund, sondern die Präsentation von neuen Waffen, detaillierte Schilderungen von Kriegen, Kämpfen und neuen Strategien – die auf ein nachvollziehbares Maß vereinfacht sind.

Subtile Beschreibungen von Verhaltensweisen, die auf den Charakter einer Person hinweisen, fehlen ganz, es wird klipp und klar gesagt, dass Person X genüsslich die nächsten Schritte plant, um den Kabcar zu verführen, Figur Y eine sexsüchtige, machtgierige und auf ihr Äußeres fixierte rothaarige Giftspritze ist und Charakter Z ein wilder, fröhlicher Wikinger-Freibeuter mit Herz und Übermut.

Auch die übrigen Personen lassen sich auf gängige Archetypen mit nur wenigen herausragenden Eigenschaften reduzieren: den rauen, geheimnisvollen Waffenmeister mit durchschlagender Kampfkraft und liebevollem Herz oder den weisen und väterlichen Lehrer, der den jungen Helden auf den richtigen Weg zu bringen versucht.

Humorvolle, aber auf Dauer etwas nervige Abwechslung, bieten der Feinschmecker-König von Ilfaris und sein Hofnarr, die auch für den unaufmerksamsten Leser die Entwicklung der ulldartschen Politik zusammenfassen, wenn sie nicht der Erforschung der neusten Kreationen ihrer Konditoren frönen.

Die Frauenfiguren des Zyklus sind auf die heute üblichen Rollen als Geliebte des Helden mit Mutterrolle, machtgierige und intrigante Hure im Herrscherkostüm, zufriedene Hausfrau oder geschlechtslose Kameradin im Kampf gegen die anderen reduziert, führen aber kein eigenständiges Dasein.

Weitere vertraute Inhalte dürfen nicht fehlen: Magie ist hier zunächst verbannt und auf die reine Heilkunst reduziert. Natürlich zeigt der Held entsprechende Fähigkeiten und wird wie ein gewisser junger Jedi-Ritter mit der Macht seiner Gaben vertraut gemacht und zum Bösen verführt. Sie gewinnt im Laufe des Zyklus einen immer größeren Stellenwert als Waffe der Bösen und der Guten.

Wichtiger für den Fortlauf der Handlung ist die Entwicklung und Benutzung von pulverbasierenden Schusswaffen, wobei wenig auf wissenschaftliche Logik bei der Einführung und Weiterentwicklung der Waffen gelegt wird – sie sind einfach da und werden benutzt, wie man sie braucht.

Mit Kreaturen wie dem wieder auferstandenen Sinured, der untoten Priesterin Belkala, die als Vampirin Blut und Fleisch Lebender benötigt, oder nicht zuletzt den geheimnisvollen grünhaarigen und spitzzähningen Kensustrianern, die sich nicht in die Karten schauen lassen, werden auch die Monster und Fremdrassen-Fans zufriedengestellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Zyklus um „Die dunkle Zeit“ durchaus spannende, gefällig geschriebene Unterhaltung bietet, die erst im fünften Band nachlässt, da die sich dort überstürzende Handlung Brüche und Längen zeigt, als ob der Autor den Zyklus schnell zu einem Ende bringen wolle. Die fünf Romane verlangen insgesamt keine großen Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Lesers und sind gut zu konsumierende Bahn- und Urlaubslektüre – solider Durchschnitt, der einem aber nicht längerfristig im Gedächtnis haften bleibt.

Wer jedoch hintergründige, ineinander verwobene Handlungsstränge sucht, bei denen nicht alles gleich verraten wird, über interessante Charaktere mit nachvollziehbaren Entwicklungen lesen möchte, die einem im Gedächtnis bleiben, oder etwas mehr Logik in den Beschreibungen von Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur erwartet, könnte ziemlich enttäuscht werden.

_Christel Scheja_ © 2004
|mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ |

Gentle, Mary – steinerne Golem, Der (Die Legende von Ash 3)

Mary Gentle’s „Der steinerne Golem“ ist der dritte Band ihres „Ash“-Zyklus.

Der in England in einem einzigen Buch erschienene Roman wurde für die deutsche und amerikanische Ausgabe geviertelt – was bei 2326 Seiten Umfang verständlich ist.

Die Geschichte spielt in unserem Mittelalter, das jedoch surreal anmutet. Der Historiker Dr. Ratcliff kann kaum glauben, was er in Ash’s Memoiren liest:

Von einem Feldzug der Karthago beherrschenden Westgoten ist die Rede, von einer in Nordafrika herrschenden und sich über Europa ausbreitenden Finsternis und mechanischen Golems… Mailand und Venedig wurden kurzerhand niedergebrannt, der Papst ist verflucht und deshalb gibt es keinen mehr. Mittendrin in diesem Schlamassel steckt die Söldnerführerin Ash mit ihrer Truppe, dem „Blauen Löwen“. Sie hört genau wie die Faris, die geheimnisvolle karthagische Feldherrin, die Stimme des Steingolems, eine Art Taktikcomputer, der ihr stets korrekte militärische Ratschläge erteilt.

Dr. Ratcliff ist fassungslos, als der zuerst als historisch eingeordnete Text unter „Heldensagen“ auftaucht… die Realität scheint sich zu verändern, was im Mittelalter geschieht, Auswirkungen auf die Gegenwart zu haben…

Aktuell ist Ash aus der Gefangenschaft in Karthago entkommen und auf dem Rückweg in das belagerte Burgund, das die Karthager um jeden Preis erobern wollen. Beziehungsweise die „Ferae Naturae Machinae“, pyramidenartige Gebilde aus Silizium, die danach trachten die Menschheit zu vernichten. Ash ist durch dieses Wissen tief bedrückt, denn nur sie kann diese Stimmen hören… und sie wurde genau wie die Faris gezüchtet, um für diese „Maschinen“ ein dunkles Wunder zu wirken, welches das Ende der Menschheit bedeuten soll. Doch erst muss – warum auch immer – Burgund fallen und dessen Herzog Karl sterben, damit dies geschehen kann!

Diese ziemlich haarsträubende Geschichte ist komplex und nicht auf die Schnelle zu erklären, darum empfehle ich Interessenten, zuvor die Rezensionen der ersten beiden Bände zu lesen. Dort finden sich auch Details zum bemerkenswerten Werdegang der Autorin und zum ungewöhnlichen Mix aus SciFi, Fantasy, Horror und historischem Roman, der den |Ash|-Zyklus auszeichnet.

DIE LEGENDE VON ASH

Band 1: [„Der Blaue Löwe“ 303 (ISBN 3404283384)
Band 2: [„Der Aufstieg Karthagos“ 333 (ISBN 3404283406)
Band 3: „DER STEINERNE GOLEM“ (ISBN 3404283430)
Band 4: „Der Untergang Burgunds“ (ISBN 3404283457)

Das englische Original:
„Ash – A Secret History“ (ISBN 1857987446)

„Der steinerne Golem“ setzt die Handlung mit Ash’s Rückkehr aus Karthago fort. Sie wird sich nach Dijon durchschlagen und den Belagerungsring durchbrechen, um an der Seite ihrer Kompanie und Herzog Karls gegen die karthagischen Invasoren zu streiten. Der Schock über die „wilden Maschinen“ und über die Gräuel ihrer Gefangenschaft sitzt noch tief – aber auch die Faris ist erschüttert, auch sie hat die „wilden Maschinen“ gehört und ist nun, ohne die Ratschläge des verstummten Steingolems, hilflos und verunsichert.

Ash jedoch ist kaltblütig und kampferfahren, sie übernimmt erfolgreich die Verteidigung Dijons. Doch die karthagischen Golems treiben unermüdlich Gänge unter die Mauern, um sie zum Einsturz zu bringen, stählerne Belagerungsmaschinen und riesige Trebuchets, die tonnenschwere Steinbrocken oder griechisches Feuer schleudern, sorgen für schwere Verluste unter den demoralisierten Verteidigern.

Herzog Karl ist verwundet und liegt im Sterben – ist er tot, können die Maschinen durch die Faris ihr dunkles Wunder wirken…

Nach den spannenden Enthüllungen und dem subtilen, an Lovecraft erinnernden Horror des letzten Bandes schneidet der dritte Band leider verhältnismäßig schlecht ab, mehrere Dinge werden ihm zum Verhängnis: Die Aufteilung ist leider ungünstig, er endet mit dem Tod Karls und der Kür eines unerwarteten neuen Herzogs. Nähere Details zu den „Maschinen“, der Bedeutung Burgunds, und warum die Verarbeitung eines Hirsches bei der Herzogkür zu Koteletts von höchster Bedeutung ist, erfährt der Leser nicht. Man kommt sich bei diesem abrupten Ende und seinen ungeklärten Ereignissen zu Recht veralbert vor. Denn diese interessanten Details und das Finale des Zyklus, all das findet sich im Abschlussband „Der Untergang Burgunds“.

So bleibt es bei einer blutigen Belagerung und näheren Charakterisierungen von Ash’s Mitstreitern, im Mittelpunkt steht vor allem das Verhältnis der Faris zu Ash. Sie schwankt in ihrer Treue zu Karthago, weiß nicht mehr, was sie tun soll, was Ash auszunutzen versucht. Neben einer beeindruckenden Beschreibung eines von einem Trebuchet auf ein Haus geschleuderten Kalkblocks bleibt es somit bei einem recht detailliert beschriebenen Gemetzel, bei dem Gliedmaßen reihenweise abgetrennt werden. Für die Story relevante Dinge ereignen sich eher im Hintergrund, so bricht der neue Emir Karthagos persönlich nach Burgund auf, während Europa immer mehr von Dunkelheit und Kälte überzogen wird.

Dr. Ratcliff setzt den E-Mail-Dialog mit seiner Lektorin Anna Longman fort, in dem weiter auf die sich verändernden parallelen Vergangenheiten und ihren realen Einfluss auf die Gegenwart eingegangen wird.

Alles in allem ein eher mäßiger Teil, der aber die Grundlage für den fantastischen Abschlussband liefert. Der „Golem“ selbst ist sehr handlungsarm und wirklich nur ein Atemholen vor dem fulminanten Finale der Reihe, das Mittelalter, Gegenwart und modernste Theorien der Physik sowie philosophische Gedanken hinsichtlich der „wilden Maschinen“ in ungewöhnlicher und erschreckender Weise miteinander verbindet.

„Ash“ mag auf den ersten Blick als zu verrückt erscheinen, man sollte sich jedoch nicht täuschen lassen. Trotz gelegentlicher Schwächen ist der Roman bzw. der deutsche Zyklus eines der bemerkenswertesten und innovativsten Werke der Phantastik der letzten Jahre.

Clute, John – Sternentanz

In der Dämmerung des vierten Jahrtausends ist für den Händler Nathanael Freer alles „business as usual“. Die „Fliesentänzer“, sein Schiff, ist in den sicheren Händen von KathKirtt, einer künstlichen Intelligenz mit zwei Bewusstseinen, und einer loyalen Crew aus kybernetischen und androiden Helfern.
Freer lebt in einer Welt, in der Menschen mit zahllosen anderen Lebensformen auf tierischer, pflanzlicher oder quantenelektronischer Basis eine lockere Gemeinschaft bilden. Überlichtschnelle Raumschiffe, Nanotechnik und intelligente Daten-Netzwerke erlauben ein hohes zivilisatorisches Niveau, führen aber auch zu einer extremen Abhängigkeit von der Technik. Der so genannte „Schimmel“, eine Art Systemabsturz, verursacht durch Datenrückstau, wird in zunehmendem Maße ein schwerwiegendes Problem, dem ganze Welten zum Opfer fallen. Die weniger anfälligere, aber veraltete Technik wird plötzlich zu einer heißbegehrten Handelsware.
Freers letzter Auftrag lautete, eine Schiffsladung Materie-Compiler von dem ziemlich heruntergekommenen Planeten Schanzer an Bord zu nehmen und zu einem zunächst unbekannten Bestimmungsort zu bringen. In seinen eigenen Worten ist alles „okey-dokey“. Doch schon bald gerät er zwischen die Fronten einer uralten Auseinandersetzung, deren Wurzeln in der fernsten Vergangenheit liegen und deren Ausgang die Zukunft des gesamten Universums bedrohen kann.

Selbst wenn man eine hohe Anzahl von verschiedenen Möglichkeiten annimmt, so muss man am Ende doch feststellen, dass die Science-Fiction-Literatur sich immer wieder auf ausgetretenen Pfaden bewegt, so ähnlich, wie wir immer den gleichen Weg von der Arbeit nach Hause fahren.
Wenn wir einen Sci-Fi-Roman aufschlagen, können wir bestimmte Situationen, Schauplätze und Charaktere erwarten und in der Regel werden wir da auch nicht enttäuscht. Völlig wertungsfrei kann man feststellen, dass nahezu das gesamte Genrepotenzial mit vollen Händen verschenkt wird und man keineswegs ein Interesse daran zeigt, mal etwas völlig Anderes auszuprobieren, aber …

… aber es gibt natürlich Ausnahmen zu dieser goldenen Regel, eine kleine Gruppe von Autoren, die Sci-Fi mit Vision gleichsetzen, auf inhaltlicher ebenso wie auf sprachlicher Ebene. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, andere Namen zu nennen, da werden wohl jedem ein paar einfallen; hier soll es vielmehr um die Frage gehen, ob wir einen weiteren Autor in diesem erlesenen Kreis begrüßen dürfen.
John Clutes „Sternentanz“ sticht auf jeden Fall aus der Masse der Sci-Fi-Literatur heraus, daran kann schon einmal kein Zweifel bestehen. Mit seinem ersten Roman hat der gefeierte und einflussreiche Kritiker Clute die Frage beantwortet, was er denn nun, da er mit „Science-Fiction. Die illustrierte Enzyklopädie“ ein Standardwerk vorgelegt hat, eigentlich mit seiner Zeit anfangen will.

„Sternentanz“ ist einfach anders, so, als läse man einen Roman aus der fernen Zukunft. Vermutlich wird man auch noch in vielen hundert Jahren Romane schreiben, aber ein Buch, das irgendwie beispielsweise aus dem 24. Jahrhundert zurückkäme, wäre vermutlich ziemlich unverständlich für uns. Das ist vielleicht die treffenste Umschreibung für „Sternentanz“; was Cute auf gerade einmal 363 Seiten packt, sind genug Bilder, Ideen und Neologismen, um eine ganze Armada an Weltraumschiffen mit Treibstoff zu versorgen.
„Sternentanz“ verhält sich zu anderen Sci-Fi-Büchern wie ein Raumschiff zu einem Kleinwagen – gewiss, beide fahren mit dir irgendwo hin, aber ersteres bringt dich auf eine Art und Weise, an die du nie gedacht hast, an Orte, von denen du nicht einmal zu träumen gewagt hast.

Darin liegt natürlich auch das Manko des Romans – „Sterntanz“ ist mit Sicherheit eines nicht: leicht zu lesen. Tatsächlich ist das Internet voll von Beschwerden über Clutes unverständliche und vermeintlich sinnfreie Sprache, aber lasst euch nicht täuschen und bildet euch eure eigene Meinung. Ein anderer Kritiker hat einmal über dieses Buch gesagt: „Wenn du der Typ bist, der einen doppelten Espresso mag, dann ist das definitiv deine Tasse Kaffee.“
Es ist vielleicht kein Buch für jeden Leser, aber das sollte es sein. In ein paar Jahren, da bin ich mir fast ganz sicher, wird „Sternentanz“ ein Klassiker sein, der zu den großen Standardtexten des Genres gehört.

_Marcel Dykiert_
|Diese Rezension wurde in Kooperation mit unserem Partnermagazin [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Ted van Baarda, Markus Osterrieder, Markus Osterrieder, Jürgen Erdmenger, Ramon Brüll – Die Jahrhundertillusion

„Die Jahrhundertillusion: Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker, Steiners Kritik und die Frage der nationalen Minderheiten heute“ ist eine Zusammenstellung verschiedener Autoren zu einem sehr wichtigen Thema, wofür Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, ein Vorwort schrieb. Das Wichtigste dabei – deswegen auch der Haupttitel des Buches – ist eine völlig neue Bewertung der Einschätzung von Staaten an sich. Unhinterfragt nehmen wir das bislang immer so hin. Dabei ist ein Nationalstaat unseres Verständnisses etwas recht Junges. Staaten waren im Grunde bis zur großen Änderung nach dem 1. Weltkrieg keine Nationalstaaten wie heutzutage. Schon immer lebten in den Ländern überall verschiedene Völker mit entsprechenden Mehrheiten und Minderheiten. Solange es Herrscher gab – Kaiser, Könige oder sonst etwas – war die Herrschaftsfrage eine andere Sache als später, nachdem die Demokratien oder andere Formen von Volksherrschaft an ihre Stelle traten. Selbst heute – wenn wir genau hinschauen – ist die Frage, was eine Nation oder ein Volk ausmacht, von Land zu Land völlig anders geregelt. Bei uns Deutschen ist die deutsche Abstammung wichtig – egal, wo man geboren wird. In anderen Ländern ist Abstammung unwichtig, es zählt, wo man geboren wurde und dazwischen gibt es noch verschiedene Mischformen.

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Scarborough, Elizabeth A. – Frau im Nebel, Die

Edinburgh um 1800. Der junge Jurist und Schriftsteller Walter Scott beginnt sich einen Namen als Chronist seiner schottischen Heimat zu machen. Er sammelt alte Sagen und Lieder, die er auch in seinen historischen Romanen verarbeitet. Dass es tatsächlich Magie und Fabelwesen gibt, ist nicht neu für ihn. Als ständiger Begleiter des Sheriffs – diesen Posten wird er bald selbst übernehmen – kommt er weit herum und hat viel Unheimliches gesehen.

Der Nor‘ Loch ist ein kleiner See, der die Altstadt Edinburghs von der Neustadt trennt. Nun soll er aufgeschüttet und bebaut werden. Im Verlauf der Arbeiten werden Überreste einer Frauenleiche im Schlick gefunden. Ihr gesellen sich bald weitere Opfer zu. Eine Gruppe fahrender Kesselflicker hat im Wald vor der Stadt ihr Lager aufgeschlagen. Des Nachts werden sie mehrfach überfallen, Frauen und Mädchen entführt. Die „Noddies“, skrupellose Leichenräuber, die Studienobjekte für die Seziersäle der Universität besorgen, sollen dahinterstecken.

Scott wird mit der Untersuchung betraut. Er lernt im Lager Midge Margret Caird kennen – und bald schätzen. Seine Ermittlungen führen ihn auf die Spur des „Wissenschaftlers“ Cornelius Primrose. Hinter der Maske des biederen Kirchenmannes lauert der Wahnsinn. Primrose will seine vor Jahren verstorbene Frau zum Leben erwecken und transplantiert einem selbst gebastelten Neu-Körper frische Leichenteile. Scott kommt ihm auf die Spur, doch zu spät, denn schon hat der „Doktor“ sein begehrliches Auge auf Midge Margret geworfen und verschleppt auch sie in sein grausiges Labor …

„Die Frau im Nebel“ gehört in eine (kleine) Nische des Fantasy-Genres. Elizabeth Scarborough siedelt das Geschehen in einer verfremdeten Realität an. Edinburgh Anno 1800 hat sich mit seinen Bewohnern dem Zeitgenossen durchaus so dargeboten wie die Autorin es beschreibt. Aber dennoch ist es gleichzeitig eine Spielwiese, auf der um des Effektes willen allerlei Übernatürliches vorgeht.

Am besten stellt man sich Scarboroughs Edinburgh als „Parallelstadt“ zur echten Metropole vor, eingebettet in eine Welt, in der Zauberei oder Gespenster zwar nicht alltäglich, aber möglich sind. Als Idee funktioniert das vorzüglich, weil im Jahr 1800 – dem realen und dem fiktiven – der europäische Mensch auf dem schmalen Grat zwischen dem Mystizismus des Mittelalters und der Aufklärung der Moderne balanciert.

In diese Kulissen – der Vergleich ist nicht schlecht, wie gleich auszuführen sein wird – platziert Scarborough ihre Geschichte. Flott geschrieben ist sie und ohne die gedrechselten Altertümeleien, die so mancher Autor unverzichtbar für eine in der Vergangenheit spielende Handlung hält. Besondere Originalität kann Scarborough zwar nicht für sich beanspruchen; sie bedient sich kräftig diverser, durch die Kinomühlen gedrehter Trivialmythen. Der böse Primrose wirkt beispielsweise wie eine Mischung der Doktores Frankenstein und Phibes, ergänzt durch mehr als einen Hauch Jack the Ripper.

Aber der Nostalgiefaktor ist durchaus einkalkuliert in Scarboroughs Spiel. „Die Frau im Nebel“ ist sauber getischlerte Unterhaltung, die einfach Spaß macht und sich wohltuend abhebt von den x-bändig ausladenden Tolkien/König Artus/Nibelungen-Abklatschen, mit denen wir Fantasy-Freunde viel zu ausgiebig gepiesackt werden.

(Sir) Walter Scott (1771-1832) ist eine echte Gestalt der Geschichte, die indes von Scarborough von ihrer Biografie gelöst und in ein fiktives Abenteuer gestürzt wird. Mit Leib und Seele gleicht „ihr“ Scott dennoch dem Original – einem ungestümen, unternehmungslustigen, lesewütigen und neugierigen Mann aus Schottland, der 1799 in der Tat zum Sheriff – freilich in der Grafschaft Selkirk – ernannt wurde und sich bis zum Sekretär des Gerichtshofs zu Edinburgh hocharbeitete, ein gut dotierter Posten, der ihm die Muße schenkte, seiner geliebten Schriftstellerei zu frönen. Mit 40 abenteuerlichen, meist historischen Werken wie dem Ritterroman „Ivanhoe“ (1819) erreichte Scott ein kopfstarkes Publikum und wurde ein schottischer Nationaldichter.

In unserer Geschichte ist Walter Scott der Repräsentant zweier Welten. Scheußliche Morde ereignen sich. Das war (und ist) in einer großen Stadt nicht ungewöhnlich. Scott beginnt seine Ermittlungen als Kriminalist, der sich für seine Zeit ungewöhnlich fortschrittlicher Methoden bedient. Damit kommt er nicht weit, so dass er relativ rasch wieder auf „traditionelle“ Praktiken zurückgreift, die das Übernatürliche nicht nur anerkennen, sondern auch nutzen. Schließlich hat Scott selbst einen „echten“ Magier unter seinen Vorfahren. Außerdem ist er Schotte. Bei aller Skepsis akzeptiert er deshalb letztlich die Existenz unerklärlicher Phänomene.

Auf seine Weise steht auch das Böse in unserer Geschichte mit je einem Bein fest in beiden Welten. Es trägt die Gestalt des „Doktors“ Cornelius Primrose, der ein |mad scientist| reinsten Wassers ist, obwohl nicht die Wissenschaft ihn ohne Rücksicht und Skrupel antreibt, sondern die wahnsinnige Liebe zur unter traurigen Umständen dahingeschiedenen Gattin. Die will er zum Leben erwecken und tritt dabei nicht nur als Frankenstein im modernen Labor auf den Plan, sondern auch als Alchimist und Magier der Vergangenheit. Kein Wunder, dass es ihm genauso ergeht wie Goethes Zauberlehrling und die eigene, weder verstandene noch gar lenkbare Schöpfung über ihn kommt.

Für Midge Margret Caird hat Elizabeth Scarborough einen Winkel in der zeitgenössischen Gesellschaft gefunden, in dem eine Frau relativ frei und ungebunden agieren konnte. Als vagabundierende Kesselflickerin steht sie am Rande und bleibt daher von vielen Konventionen verschont. Ihr freigeistiges Denken und Handeln ist wichtig, da ein Roman ohne mindestens eine weibliche Hauptrolle heute vom Publikum schlecht angenommen wird. Trotzdem umgeht Scarborough allzu ausgehöhlte Klischees elegant, indem sie Scott und Margret eben nicht, wie zu erwarten wäre, in Liebe entflammen lässt. Die schöne Kesselflickerin steht zunächst nicht einmal auf Primroses Liste unfreiwilliger Organ- und Körperspenderinnen. Sie ist kein Objekt, sondern handelnde Person. Das bleibt sie sogar, als sie schließlich doch im Labor des Diakons landet.

Elizabeth Ann Scarborough wurde am 23. März 1947 in Kansas City, Missouri, geboren. Sie lernte in der |Bethany Hospital School of Nursing| und studierte an der |University of Alaska| (!); während des Vietnamkriegs diente sie als Krankenschwester.

Seit 1982 arbeitet Scarborough als Schriftstellerin. Sie debütierte mit „Song of Sorcery“ (dt. „Zauberlied“) und erwies sich rasch als sowohl fleißige wie auch gewandte Autorin, die in der Science-Fiction genauso beheimatet ist wie in der Fantasy. Bis heute verfasste sie zwanzig nicht seriengebundene Romane beider Genres, darunter „Healer’s War“, für den sie 1989 einen |Nebula Award| gewann. Dazu kommen weitere Romane, die sie gemeinsam mit Anne McCaffrey schrieb, sowie Episoden zu ihren beiden Erfolgsserien „Petaybee“ und „Acorna“.

Scarborough gibt Kurse für angehende Schriftsteller am |Penninsula Community College|. Außerdem entwirft sie volkstümelnden Perlenschmuck, den sie online vertreibt. Ihre offizielle [Website]http://www.olympus.net/personal/scarboro beschränkt sich primär auf die Präsentation ihrer Waren, über deren künstlerische Qualität an dieser Stelle zu Gunsten der Autorin kein Urteil gefällt werden soll.

Egan, Greg – Diaspora

Die Menschheit steht an der Schwelle zum vierten Jahrtausend, und einiges hat sich verändert. Ein Großteil der Menschheit existiert als sich selbst bewusste Software – entweder in einer der Poleis (einer Art Rechenzentrum) oder innerhalb von Roboterkörpern, den Gleisnern, und ist untereinander komplett vernetzt. Die körperlich lebende Menschheit lebt noch auf der Erde, während die Poleis und die Gleisner das Sonnensystem erkundet und eingenommen haben. Die Körperlichen wollen nichts von den innerhalb der Software vergeistigten Menschen wissen; und so existiert ein Vertrag, der den Bewohnern der Poleis und den Gleisnern verbietet, sich bestimmten Gegenden der Erde zu nähern – etwas, das diese sowieso nicht besonders interessiert.

In die Konishi-Polis wird ein Waisenkind geboren – ein neuer Mensch, dessen Parameter jedoch nicht von realen Eltern, sondern von einer Art Geburtssoftware festgelegt wurden. Dieser Vorgang ergibt sich häufiger, will die Software hiermit doch verschiedene unbekannte Parameter in ihrer Wirkung aufeinander erkunden. Im Rahmen der Bewusstwerdung verleiht sich das Waisenkind den Namen „Yatima“ – und erkundet nicht nur die Welt der Poleis und des Netzes im Allgemeinen, sondern bricht auch zur die Erde auf, wo hie im aufgegebenen Körper eines Gleisners die körperliche Menschheit besucht. Hie und hein Begleiter werden freundlich aufgenommen – zu diesem Zeitpunkt weiß aber auch noch niemand, dass sie in wenigen Jahren wieder in die Enklave der Körperlichen zurückkehren werden, diesmal jedoch mit einer Warnung vor einer kosmischen Katastrophe, die die körperliche Menschheit vernichten wird.

Nachdem bereits die Gleisner die Grenzen des Sonnensystems verlassen haben, beschließen auch die Bürger der Poleis eine Diaspora, um ein Volk zu suchen, das ihnen die Hintergründe für die kosmische Katastrophe erklären könnte. Doch anders als die Gleisner versuchen Bürger der Konishi-Polis, die anderen Sterne durch Wurmlöcher zu erreichen. Bis dies jedoch gelingt, ist noch viel (Forschungs-)Arbeit vonnöten…

Gleich eins vorweg: Die zwischendurch auftauchenden Ausdrücke „hie“ und „hein“ im Handlungsanriss haben durchaus in dieser Form ihre Berechtigung. Denn Greg Egan verwendet diese als neutrale Personalpronomen – schließlich hat ein körperloser Mensch innerhalb einer Software nur schwerlich ein Geschlecht. Und Greg Egan verwendet dieses neutrale Pronomen fast konsequent (kleinere Ausrutscher können allerdings passieren) – wie schon in seinem vorherigen in Deutschland erschienen Roman „Qual“. Dies macht den Roman zwar einerseits am Anfang recht schwer lesbar, wer jedoch „Qual“ gelesen hat, sollte problemlos damit zurechtkommen. Allerdings verzichtet man hier darauf, diese Personalpronomen noch einmal vor dem Roman zu erwähnen – einzig und allein im umfangreichen und mehr als nur notwendigen Anhang wird kurz auf ihre Bedeutung verwiesen. Für Leser, die „Qual“ nicht kennen, wird die Sache also deutlich undurchschaubarer…

Undurchschaubar wird dieser Roman jedoch auch für so ziemlich jeden, der sich nicht mit dem neuesten Stand der Forschung in Sachen Physik und Astronomie auskennt. Denn Greg Egan bezieht sich stark auf neueste Erkenntnisse und erweitert diese in einem Umfang, der den Leser schnell an die Grenzen seines Mithaltevermögens kommen lässt. In manchen Teilen erinnert „Diaspora“ weit mehr an einen physikalischen Sachtext als an einen Roman – und dies nicht nur, weil Egan konsequent jede Lesbarkeit durch Verwendung fachspezifischer und sonstiger Fremdwörter vermeidet, worunter der Roman im Allgemeinen stark leidet. Hat Egan bei „Qual“ noch recht human mit seinen Theorien um sich geworfen, so übertreibt er es in „Diaspora“ meines Erachtens dann doch ein ganzes Stück, da er stark an die Grenzen der Abstraktions- und Vorstellungskraft des Lesers stößt und an vielen Stellen weit darüber hinausgeht. Zum wirklichen Verständnis des Romans ist wahrscheinlich eine Promotion in Physik und Mathematik erforderlich – Voraussetzungen, die wohl nur der geringste Teil der Leserschaft erfüllen dürfte… Dabei ist der Roman an sich hochfaszinierend – ein bekannter Vulkanier würde mir hier sicherlich zustimmen… Ähem…

Wenn man bereit ist, zuzugeben und zu akzeptieren, dass man weite Teile der physikalischen und mathematischen Hintergründe nicht versteht und in der Lage ist, diese als einfach so gegeben anzunehmen, sie nicht nachzuvollziehen versucht, sondern teilweise einfach darüber hinwegliest, eröffnet sich dem Leser jedoch eine faszinierende Welt. Allein schon die ersten rund 50-60 Seiten, die nur die Entstehung und Selbstfindung des Waisenkindes Yatima behandeln, sind zwar sicherlich nicht in allen Schritten wirklich nachvollziehbar, erreichen jedoch durch die innere Handlung schon ein Niveau von Spannung und Interesse, das man bei anderen Autoren lange suchen wird. Und es gelingt Egan, diese Form über den weiteren Roman durchzuhalten. Auch wenn man bei weitem nicht alle Hintergründe versteht – man will über weite Strecken einfach nicht aufhören zu lesen. Und dies ist ein Phänomen, das dem Autor bereits in „Qual“ gelungen ist und sich hier fortsetzt – wenn auch zugegebenermaßen lange nicht in diesem Maße.

Greg Egans Romane sind jedenfalls auf keinen Fall für die breite Masse geeignet – hier entwickelt sich jedoch ein Nischen-Autor, der seinesgleichen sucht. Für all jene, die „gehobene SF“ bevorzugen, ist Egan jedenfalls ein Muss – der normale Entspannungsleser sollte jedoch wohl am besten die Finger davonlassen. Und auch der Physikstudent sollte zum wirklichen oder auch nur ansatzweisen Verstehen des Romans schon einmal einen Monat in einer gutsortierten Uni-Bibliothek einplanen, wenn er die Gedankengänge wirklich nachvollziehen will.

_Winfried Brand_ © 2002
|mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ |

Ramsland, Katherine – Vampire unter uns

Bram Stoker veröffentlichte 1897 einen Roman, der gleichzeitig den Höhepunkt und das Ende der Gothic Novel bezeichnen sollte: [„Dracula“ 210. Stokers Figur des Vampirs hat unsere Wahrnehmung der Blutsauger so nachhaltig geprägt, dass die Worte „Dracula“ und „Vampir“ in vielen Fällen synonym verwendet werden. Dracula ist ein Verführer, aber auch ein ruchloser Killer. Besonders interessant an Stokers Roman ist die Tatsache, dass der Vampir nur im ersten Drittel wirklich auftaucht. Danach glänzt er durch Abwesenheit und wird durch die Beschreibung der handelnden Figuren nur noch mysteriöser, grausamer, blutgieriger und unbesiegbarer. Stokers Dracula ist ein Monster, das nichts anderes verdient hat, als am Ende des Buches zu Staub zu zerfallen.

Doch wollen wir heutzutage wirklich noch, dass der Vampir am Ende unterliegt? Es scheint nicht so und ein Beweis dafür sind die erfolgreichen Vampir-Romane von Anne Rice („Die Chronik der Vampire“). Sie hat die leblose Gestalt des Untoten in eine moderne Figur verwandelt, mit der sich der Leser tatsächlich identifizieren kann. Ihre Vampire sind empfindsam, sie stellen sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie wollen ihre eigene Existenz erforschen und sie fühlen sich von der Unendlichkeit und Einsamkeit ihres Daseins erdrückt. Dies alles scheinen Eigenschaften zu sein, die heutige Leser ansprechen – so weit ansprechen, dass sie sich selbst wünschen, Vampire zu sein.

Katherine Ramsland kennt sich mit Vampiren aus, zumindest mit fiktiven. Sie hat mehrere Bücher über Anne Rice veröffentlicht, unter anderem auch eine Biographie. In ihrem hier vorliegenden Bericht (nennen wir es mal so) hat sie sich nun an den realen Vampir herangewagt. Sie wollte herausfinden, ob es tatsächlich Wesen gibt, die nachts durch die Gegend streifen und das Blut ihrer Opfer trinken. Anlass für ihre Recherchen war das Verschwinden von Susan Walsh 1996. In „Vampire unter uns“ beschreibt Ramsland Susan Walsh als aufstrebende Journalistin, die bis zu ihrem großen Durchbruch in einem Striplokal arbeitet und im Vampirmilieu von New York forscht. Das Transcript von „Unsolved Mysteries“ auf FOX spricht eine etwas andere Sprache: Susan Walsh hatte auch schon früh in ihrem Leben Bekanntschaft mit Alkohol und Drogen gemacht. War ihr Verschwinden also den Vampiren geschuldet? Wurde sie entführt, getötet, weil sie einer Verschwörung oder großen Geheimnissen auf der Spur war? Oder ist sie „einfach“ wieder ins Drogenmilieu abgerutscht – profan und überhaupt nicht übernatürlich? Fragen, die im Buch von Katherine Ramsland nicht gelöst werden. Sei’s drum – Susan Walsh ist Ramslands Vorwand, sich tief in die amerikanische Subkultur vorzuwagen.

Zunächst geht sie es allerdings vorsichtig an. Sie recherchiert im Internet und macht einige interessante, aber in ihren Ansichten auch widersprüchliche Vampirsites ausfindig. Sie verbringt Nacht um Nacht in Vampir-Chats und knüpft dort Kontakte. Bald verselbstständigen sich diese und ihr Buch bewegt sich daraufhin zwischen Conventions, wissenschaftlichen Symposien, S/M-Clubs und Fetischpartys.

Um es kurz zu machen: Ja, es gibt Vampire. Es gibt Menschen, die sich von der Natur des Vampirs genug angezogen fühlen, dass sie sich nicht nur in der Gothic-Szene bewegen (dass die Vampire aus „Vampire unter uns“ alle schwarz tragen, ist wohl selbstverständlich), sondern auch anfangen, Blutspiele in ihre Sexpraktiken einzubauen oder ihre Haustiere auszusaugen. Ramslands Interviews zeigen recht deutlich, dass der moderne Vampir sein Verlangen nach Blut oft an Sex koppelt. Die Hingabe des Opfers an eine übermenschliche Figur, die totale Aufgabe des eigenen Selbst ist dabei nur noch eine Täuschung. Denn auch Vampire können sich böse Krankheiten einfangen. So ist das Einverständnis des Opfers in der Regel Voraussetzung. Und viele der beschriebenen Vampire leben ohnehin in einer festen Beziehung. Somit ist die Rolle des Opfers gewollt – es zieht aus dem Blutaustausch ebenso seinen Vorteil wie der Vampir.

Die interessanteste Frage aber, warum nämliche Menschen zu Vampiren „werden“ (schließlich handelt es sich ja um eine bewusste Entscheidung), bleibt oberflächlich betrachtet und ungeklärt. Von einer studierten Philosophin und Psychologin (Ramsland wird nicht müde, ihre akademische Bildung zu betonen) hätte ich tiefere Einsichten in dieses kulturelle Phänomen erwartet. Sie liefert keine Lösungen; möchte man tiefer in die Materie eindringen, so muss man ihr Material genau und kritisch lesen und sich selbst seine Gedanken dazu machen. So scheint das (sehr junge) Vampirphänomen auf drei Hauptvoraussetzungen aufzubauen: Wie eingangs schon erwähnt, hat Anne Rice den Vampir zu einer romantischen Figur gemacht. Für den Leser ist es sowohl verführerisch, sich einen Vampir herbeizuwünschen, wie sich einzubilden, selbst ein Vampir zu sein. Eine Identifikation auf dieser Ebene ist mit dem guten alten Dracula nicht möglich. Anne Rice spiegelt in ihren Romanen moderne Probleme – die Probleme der Generation X nämlich. So liefert ein Psychologe in Ramslands Buch eine sehr interessante Theorie, die einen Zusammenhang zwischen Vampirkultur und Generation X zu beweisen sucht: Sie entstammen zerrütteten Familien, haben das Vertrauen in die Gesellschaft und ihre Politik verloren und nehmen ihre Zeit als eine Zeit des Niedergangs und Zerfalls wahr. In dieser Gesellschaft fühlen sie sich einsam und als Außenseiter – da wird der Vampir die perfekte Projektionsfläche.

Ein weiterer Faktor ist das Rollenspiel „Vampires: The Masquerade“, das 1991 von White Wolf entworfen wurde und eine große Anhängerschaft besitzt. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass in Rollenspielen nur versteckte Vampire agieren: Dennoch, das Rollenspiel hat zur Popularisierung des modernen Vampirs beigetragen (unter anderem auch mit einer kurzlebigen Fernsehserie) und kann Anziehungspunkt für zukünftige Kinder der Nacht sein.

Ein dritter – und sehr wichtiger – Punkt ist meiner Ansicht nach das Internet. Katherine Ramsland ergeht sich nicht umsonst in der Beschreibung ihrer umfangreichen Online-Recherchieren und durchchatteten Nächte. Es scheint, als würde die Anonymität des Internets der Vampirsubkultur in die Hände spielen. Webseiten und Chats ermöglichen eine übergeordnete Organisation dieser Subkultur und machen es einfacher, Menschen mit den selben Vorlieben und Interessen (für Blut) ausfindig zu machen. Außerdem ist es in einem so anonymen Medium einfacher, Rollen und Identitäten auszuprobieren und zu erfinden. So kann der zukünftige Vampir im Chat zuerst virtuell testen, wie seine Vampiridentität „ankommt“.

Wenn sich Ramslands Interviews und Recherchen auch spannend lesen (und manchmal kann man sich eines gewissen „Ick-Faktors“ nicht erwehren), so haben sie doch einen fahlen Beigeschmack. Das liegt zum größten Teil daran, dass Ramsland ihre Interviews mit Vampiren unreflektiert im Raum stehen lässt. Als Psychologin versucht sie nicht, auch bei augenscheinlich schizoiden Persönlichkeiten, das Verhalten ihrer Gesprächspartner zu deuten. Sie bleibt fast immer neutral. Das lässt sie leichtgläubig scheinen und erweckt beim Leser zeitweise sogar das Gefühl, dass es sich um ein zumindest teilweise fiktionales Buch handelt. Haben sich ihr all diese Vampire wirklich so freimütig anvertraut? Ich habe nicht das Gefühl. Vielmehr schien mir bei der Lektüre, dass sie es mit drei unterschiedlichen Typen von Menschen zu tun hatte: Da waren zum einen Personen, die sie augenscheinlich auf den Arm nehmen wollten und sich Geschichten ausdachten. Manche Erzählungen klingen so phantastisch und romantisierend, dass man sich dieses Eindrucks einfach nicht erwehren kann. Dann scheint es eine weitere Gruppe von Menschen zu geben, die zwar glauben, was sie erzählen, dies aber nicht wirklich erlebt haben. Überschäumende Phantasie also oder Schizophrenie? Und die letzte Gruppe sind dann die wirklich Aufrichtigen – bei einigen Personen ist man sich sicher, dass sie die Wahrheit sagen und dass sich die Dinge so abgespielt haben können.

„Vampire unter uns“ ist damit ein Buch, das man auf jeden Fall einer kritischen Lektüre unterziehen sollte. Da die Autorin selbst kaum Antworten, sondern nur eine Stoffsammlung liefert, muss man sich darauf einstellen, eigene Denkarbeit leisten zu müssen. Ansonsten wäre das Buch nur ein weiteres im Regal „Horror“ – mit besonderem Kick natürlich, da man den Zusatz „real“ als besonders schaurig empfinden kann.

Homepage der Autorin: http://www.katherineramsland.com/

Shirley Jackson – Spuk in Hill House

Ein Forscher will das Rätsel des Hill House-Anwesens lüften, in dem es umgeht. Mit zwei parapsychisch begabten Begleitern zieht er ein. Unter ihnen: eine seelisch gestörte junge Frau, die sich als idealer Katalysator für das Grauen des Hauses erweist und einen wahren Totentanz des Schreckens entfesselt … – Ein Klassiker des phantastischen Genres und einer der besten Romane um Spuk und Besessenheit. Die Autorin entwirft mit infamem Geschick eine Atmosphäre der Unsicherheit: Spukt es wirklich in Hill House, oder wird das Unheimliche ‚importiert‘? Auch sprachlich weit über dem üblichen Geisterschmarrn.
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Meyer, Kai – Haus des Daedalus, Das

Die junge Restauratorin Coralina entdeckt bei ihren Restaurationsarbeiten in der Kirche Santa Maria del Priorato in einem Hohlraum die originalen Carceri-Kupferplatten von Giovanni Battista Piranesi. Mit der Absicht, sich als Kunsträuber zu betätigen, lockt sie ihren Bekannten Jupiter nach Rom, damit dieser als Kunstdetektiv ihr dabei evtl. helfen kann. Doch Jupiter weigert sich, an einem Kunstdiebstahl teilzunehmen, und überredet Coralina, ihren Fund zu melden, was dieser in Hinsicht der Geldschwierigkeiten, in der sie und ihre Großmutter, die Shuvani, stecken, nicht gerade leicht fällt. Doch schließlich willigt sie ein.

Später jedoch eröffnet sie Jupiter, dass sie nicht nur die 16 bekannten Carceri-Platten entdeckt hat, sondern noch eine siebzehnte, die sie bereits vorher aus der Kirche geschmuggelt hatte – zusammen mit einer vorchristlichen Tonscherbe, in die nachträglich Zeichen eingeritzt wurden. Auf der siebzehnten Platte ist jedoch neben der alptraumhaften Szenerie der anderen Stiche des Zyklus auch das Abbild eines Schlüssels enthalten. Jupiter ist nicht gerade erfreut über diesen Alleingang, doch kann Coralina ihn erst einmal davon überzeugen, dass der Diebstahl dieser Artefakte sicherlich nicht bemerkt werden wird, da sie der Öffentlichkeit unbekannt sind.

Jupiter beginnt, sich für die Geschichte dieser unbekannten Objekte zu interessieren, und stößt bereits bei seinen ersten Erkundigungen auf einen Sumpf von Intrigen und Mord. Jemandem im Vatikan scheint sehr daran gelegen zu sein, die beiden Objekte an sich zu bringen, doch bleibt Coralina und Jupiter nur eine Lebensversicherung: Sie müssen die Artefakte behalten.

Währenddessen befindet sich ein Kapuziner-Mönch auf der Flucht. Drei seiner Brüder sind beim Abstieg in ein geheimnisvolles Gewölbe ums Leben gekommen – der letzte von ihnen hat eine Videokamera und sechs Kassetten zurück an die Oberfläche gebracht, bevor er seinen Wunden erlag. Santino, der am Anfang der Treppe Wache gehalten hat, flieht nun vor dem Stier und seinen Gefolgsleuten und hat nur noch ein einziges Ziel: Die sechs Videobänder zu betrachten, bevor er ermordet wird. Er muss einfach wissen, was seinen Brüdern wiederfahren ist, die Band um Band eine titanische Treppe hinuntersteigen…

Huch? Was ist denn dies für ein Kai-Meyer-Roman?!? Gänzlich ungewohnte Aspekte eröffnen sich dem Leser, die er bisher von diesem Autor nicht gewohnt war. Zwar ist ein gewisser Einfluss des historisch-phantastischen Romans durchaus zu spüren, doch bewegt sich der Autor hier recht stark von seinen bisherigen Werken hinweg. Fast vermeint der Leser, hier die Einflüsse von King (erzählerische Virtuosität), Poe (geschickt aufgebauter Schauerroman) und Lovecraft (in den Wahnsinn treibender Horror) zu erkennen – und auf der Ebene des Kapuziner-Mönchs macht sich auch noch ein „Blair Witch“-Gefühl breit.

Kai Meyers Roman nur als reine Mischung all dieser Ingredienzen abzutun , ist zwar vordergründig vielleicht richtig, nichtsdestotrotz jedoch absolut falsch, wenn man sich dieses Werk genauer ansieht. Meyer „entleiht“ hier nur selten (stilistische) Motive, sondern erfindet sie neu, und das in einer Virtuosität, die seine bisherigen Werke bei weitem übertrifft. Mit „Das Haus des Daedalus“ hat Kai Meyer sein bisheriges Meisterstück abgeliefert.

Allein schon der Aufbau des Romans vermag den Leser von der ersten Seite an zu fesseln. Meyer gelingt das Kunststück, bereits im ersten Kapitel einen Spannungsbogen aufzubauen, den er bis zum Ende durchzuziehen in der Lage ist. Wo andere Autoren die Hälfte des Roman benötigen, reichen Kai Meyer gerade mal vielleicht 20 Seiten – ein Loslösen von der Handlung ist bereits zu diesem Zeitpunkt kaum mehr möglich. Zu stark wird man von der Intensität des psychologischen Horrors gefangengenommen, der immer wieder durch recht reale und heftig geschilderte Szenen unterbrochen wird. Kai Meyer ist dabei in der Lage, Lovecraftsche Intensitäten auch ohne Ich-Erzähler zu entwickeln. Stattdessen setzt er auf die Charakterisierung seiner Hauptpersonen, die in ihrer Plastizität die Identifikationsfiguren für den Leser bilden, der mit ihnen mitleidet und dem die Haare buchstäblich zu Berge stehen – und das rund 350 Seiten lang.

Da verzeiht man Kai Meyer gerne die kleineren Unstimmigkeiten, bei denen es manchmal scheint, als ob er mit Zahlen nicht gerade besonders gut umgehen könne. So gibt es anfangs sechs Videokassetten; unter der Brücke sieht sich Santino jedoch die zweite von dreien an…

Auch die Frage, weshalb die Mönche nun mindestens sechs Videokassetten à 4 Stunden mitnehmen, wenn sie ein ihnen unbekanntes Gewölbe betreten, ist nicht ganz geklärt… Vor allem, wenn man erfährt, dass der Eingang zu diesem Gewölbe innerhalb einer Touristenattraktion zu finden ist. Hier sollte wohl kaum die Möglichkeit gegeben sein, mal eben einen Tag Wache zu stehen, bis der letzte Bruder mit den Kassetten zurückkommt (wir erinnern uns: 6 Kassetten à 4 Stunden…), ohne dass dies irgendjemandem auffällt, oder?

Abgesehen davon ist es doch recht unwahrscheinlich, dass die drei Mönche eine Videokamera mitgenommen haben, die Standard-Kassetten für die Aufnahme verwendet. Meines Wissens sind solche Kameras eigentlich niemals in den Handel gekommen – doch trotzdem muss es sich wohl um eine solche handeln, denn die zwei Standards S-VHS und VHS-C bieten keine Aufnahmekapazität von 4 Stunden pro Kassette… (Wobei die Frage, woher besitzlose Mönche wie die Kapuziner eine Videoausrüstung bekommen haben, noch gar nicht angesprochen ist…)

All dies irritiert zwar ein wenig – aber wahrscheinlich sowieso nur den Rezensenten. Der Normalleser wird diese Gedanken wahrscheinlich gar nicht hegen – vor allem, weil er vor Spannung gar nicht dazu kommt. Und schließlich: Wer fragt schon bei Lovecraft oder Poe nach Logik?!? Manche Meisterwerke brauchen nun einmal Freiraum – auch wenn es gegen die Logik ist!

Mit dem „Haus des Daedalus“ schiebt Kai Meyer sich nun jedenfalls endgültig in eine Reihe mit Andreas Eschbach. Und da sage noch einmal jemand, die deutsche Phantastik sei tot…

Fazit (und um es noch einmal zu erwähnen): Bis zu diesem Zeitpunkt Kai Meyers Meisterwerk! Hinsichtlich der atmosphärischen Dichte und spannungsgeladenen Handlung hat man von einem deutschen Autoren selten etwas Gleichwertiges gelesen. Kai Meyer fabuliert in der Tradition der großen Phantasten wie Poe, Lovecraft und King und vermengt deren Stärken zu seinem eigenen Stil. Minimale Unstimmigkeiten kann man da gerne verkraften, vor allem, wenn sie für die Handlung nicht weiter wichtig sind…

_Winfried Brand_ © 2002
|Veröffentlichung mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung durch [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de |

Nigel McCrery – Denn grün ist der Tod [Dr. Samantha Ryan 1]

Während sie sich mit karrieresüchtigen Vorgesetzten und Kollegen sowie ihrer lästigen Familie herumplagt, versucht Pathologien Dr. Samantha Ryan einen Mord aufzuklären, der offenbar der letzter einer langen Kette ähnlicher Bluttaten ist … – Der erste Roman der Samantha-Ryan-Serie bietet modernes britisches Krimihandwerk mit Seifenschaum-Einlagen, weshalb es nicht lange dauerte, bis das Fernsehen aufmerksam wurde: solide, durchschnittliche Unterhaltung. Nigel McCrery – Denn grün ist der Tod [Dr. Samantha Ryan 1] weiterlesen

Manchette, Jean-Patrick – Volles Leichenhaus

Der Name Jean-Patrick Manchette (1942 – 1995) ist eng mit der Erneuerung des französischen Krimis verknüpft. Er gilt als Begründer des Neo-Polar, der französischen Antwort auf amerikanische hard-boiled Krimis. Seine Krimis zeichnen sich durch knappen Schreibstil, Sozialkritik und bitterbösen Humor aus. Er hat aber nicht bloß die amerikanischen Tradition von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett auf französischen Boden gepflanzt, sondern diesen lakonischen Schreibstil in die Post-68er-Ära übertragen. Seine Romane sind von seiner Verachtung gegen die Bourgeoisie durchzogen, deren moralischen Abgründe er bloßlegt. Dieses Thema verbindet ihn mit Chabrol, der auch Manchettes Roman „Nada“ verfilmte.

Manchette schrieb zehn Krimis, davon einige mit dem erfolglosesten Privatdetektiv aller Zeiten: Eugène Tarpon. Ferner arbeitete er noch als Drehbuchautor, denn neben der Literatur waren das Kino und der Jazz große Leidenschaften von Jean-Patrick Manchette. Und diese Leidenschaften passen wunderbar zusammen: Sein Schreibstil ist schnell und actionreich und bietet sich als Filmvorlage an. Und über allem schwebt ein leichter Hauch von Miles Davis.

Jean-Patrick Manchette starb im Alter von nur 52 Jahren in Paris. Die Romane wurden und werden vom |DistelLiteraturVerlag| (|DLV|) neu übersetzt und veröffentlicht, ältere Veröffentlichungen erschienen bei |Lübbe| und |Ullstein|.

Helden in der Tradition Chandlers und Hammetts sind Männer, die einen „Sinn für Charakter und Ehre“ haben, „nicht wissen, was (ihre) Aufgabe ist“, „einsam“ sind und deren „Stolz darin liegt, daß man (sie) wie einen stolzen Mann behandelt, oder es tut einem verdammt leid, daß man ihm überhaupt über den Weg gelaufen ist“. Sie sprechen, wie „Männer ihres Alters reden, das heißt mit rauhem Witz, mit einem lebhaften Sinn für das Groteske, mit Abscheu für Heuchelei und mit Verachtung für Kleinlichkeit.“ Sie erscheinen „in ihrer geschäftlichen Erfolgslosigkeit fast wie sozial Deklassierte“. Ihre Einmischung oder Beteiligung beginnt eher zufällig, sie werden hineingezogen und sind aktiv am Geschehen beteiligt, ohne eine Reflektion des Falles. Auf ihrer Suche nach der verborgenen Wahrheit begegnen sie der Gewalt, und Gewalt durchdringt den gesamten Alltag, in dem die Handlung angesiedelt ist (Zitate aus Chandlers Essay „The Simple Art of Murder“).

Manchettes Held Eugène Tarpon wird mit dieser Charakterisierung gut getroffen: Er ist ein ehemaliger Gendarm, d.h. er war Teil einer Ordnungsmacht, die „in Mannschaftsbussen ohne Toiletten kaserniert“ wurden und „hin und wieder Arbeiterdemonstrationen auseinandertrieben“. Während eines solchen Einsatzes tötete Tarpon einen Menschen und quittierte den Dienst. Er wird Privatdetektiv („Im wirklichen Leben beschäftigt sich ein Privatdetektiv mit Scheidungen, Geschäftsüberwachungen, und, wenn er besser dasteht als ich, mit Wirtschaftsspionage. Nicht mit Gewaltverbrechen, … denn dann muß man die Polizei rufen … „) und hält sich mit kleinen Aufträgen mehr schlecht als recht über Wasser. Man merkt ihm noch die Gewohnheiten eines kasernierten Gendarmen an, denn er spült sein Geschirr gleich nach der Benutzung oder baut sein Schlafsofa nach dem Aufstehen ordentlich zusammen. Er ist erfolglos, hat so wenig zu tun, dass sogar sein Papierkorb leer bleibt, während sich sein Kopf mit einem Nebel düsterer Melancholie füllt. Doch anstatt sich aus dem Fenster zu stürzen, tut er etwas viel Schlimmeres: Er ruft seine Mutter an und erklärt ihr, er wolle zu ihr in die Provinz zurückkehren, will wieder heim zu Muttern. Kann man tiefer fallen? Wenig später steht ein Mädchen vor seiner Tür und bittet um seine Hilfe, weil ihre Freundin ermordet wurde. Tarpon lehnt genervt ab und stolpert dennoch in eine unübersichtliche Geschichte hinein, bei der er wenig gewinnen kann – außer der Entdeckung eigener verschütteter Gefühle.

Seine Motivation ist unklar, sein Einmischen könnte er selbst nicht begründen, und trotzdem ist er mit einem Male mitten in einem Fall. Er stolpert von Situation zu Situation, mehr ein Getriebener als einer, der die Geschichten aktiv antreibt. Er muss Prügel einstecken und kann sich selten dafür revanchieren. Er ist zynisch und ohne Illusionen, aber eine begonnene Aufgabe wird trotz aller Gegenreaktion und Gewalt zu Ende gebracht. Manchette knüpft, wie eingangs ausgeführt, an die Tradition von Raymond Chandler und Dashiell Hammett an und findet eine moderne, auf Europa zugeschnittene Form des amerikanischen „hard-boiled“ Krimis, nämlich die starke Verankerung in der Geschichte sowie im sozialen und politischen Alltag Frankreichs. „Volles Leichenhaus“ deutet diese politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen an: Besatzungszeit, die Nazis, die Kollaborateure und die alten Kameraden sowie die Unterdrückung und Ausbeutung der sozial Schwachen („…Ich jagte bedauernswerte idiotische Penner, um zu verhindern, daß sie Besitzende … um ihren Besitz brachten; …während Drogenhändler in der Nationalversammlung und sonstwo saßen …). Die Integration der Kritik an gesellschaftlichen Missständen in einen Kriminalfall ist nicht neu. Aber bei Ross Thomas, um einen dieser Autoren zu nennen, spielen die Protagonisten am Ende das schmutzige Spiel mit! Die zunächst nur am Rande blitzlichtartig erleuchteten politischen und historischen Themen bilden zum Ende den gesellschaftspolitischen Kosmos, den Tarpon, erheblich Federn lassend, in diesem Roman durchstreift und durch den er traurige Berühmtheit erlangt.

Manchette erzählt seine Geschichte sehr filmisch, mit knappen Beschreibungen, knappen Dialogen und einem trockenen Wortwitz. Die erste Szene mit dem „Heuler“ gehört wohl zum Absurdesten, was jemals in einem Krimi zu lesen war, und die dilettantische Entführung Tarpons mit zum Komischsten. Manchettes Stil ist lakonisch, trocken und trotzdem packend. „Volles Leichenhaus“ wird in einem Sog erzählt, der den Leser mitreißt und ihn nicht ruhen lässt, bis die 200 Seiten verschlungen sind. Eugène Tarpon macht süchtig … nach mehr Geschichten um Eugène Tarpon.

_Claus Kerkhoff_ © 2000
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Schacht, Andrea – dunkle Spiegel, Der

Köln im Jahre 1376. Der Erzbischof und die Stadt liegen mal wieder im Streit miteinander und der Erzbischof sowie andere einflussreiche Kleriker haben sich nach Bonn zurückgezogen, um abzuwarten, wie sich die Lage weiterentwickelt.

Almut Bossart, Tochter eines angesehenen Baumeisters, führt das zurückgezogene Leben in einem Beginenkonvent, einer religiösen Frauengemeinschaft, deren Anhängerinnen nicht in einem Kloster oder in einer Ehe leben möchten.
Als die Apothekerin erkrankt, bringt Almut an ihrer Stelle Arznei zum Hause des Weinhändlers de Lipa, wo der junge Jean de Champol, Sohn eines burgundischen Weingutsbesitzers, an schwerem Husten leidet. Wenige Tage später ist er tot, und der Verdacht des Mordes fällt auf Almut, da sie den Jungen als Letzte lebend gesehen hat. Sowohl der Inquisitor Johannes Deubelbeiß, der von der Schuld der jungen Begine überzeugt ist, als auch der Benediktiner Pater Ivo, der wiederum an ihre Unschuld glaubt, machen sich an die Aufklärung des Todesfalls.

Und auch Almut begibt sich auf die Suche nach dem Mörder, zumal sie an Jeans Sterbebett einen Spiegel fand, der sofort schwarz anlief, als sie ihn in die Nähe des Toten hielt und der von Dietke de Lipa stammt, der Frau des Weinhändlers. Hilfreich ist ihr dabei die stadtbekannte, als „maurische Hure“ verschrieene Aziza, der sie vorher aus einer unangenehmen Lage helfen konnte. Diese berichtet von gepanschtem Wein, der plötzlich an verschiedenen Stellen in Köln auftaucht, und von wiederum sehr gutem Wein, der auftaucht, wo es ihn vorher nicht gab. Wurden die Fässer vertauscht?

Es verdichtet sich immer mehr die Gewissheit, dass Jean diese Aktion bei Nacht und Nebel durchgeführt hatte. Doch für Pater Ivo, der sein Beichtvater war, steht fest, dass es nur unter Zwang geschehen konnte, denn de Lipa und der Junge waren einander sehr zugetan. Hat Dietke der Arznei Gift untergemischt, um die Aufmerksamkeit ihres Gatten zurückzugewinnen? Und was bedeutet der dunkle Spiegel?

Nett, aber auch nur das. Dies ist mein erster Gedanke am Ende dieser Lektüre.

Unsere Heldin Almut hat zwar Probleme, ihre Zunge im Zaum zu halten und das gibt durchaus mal Anlass zum Schmunzeln, aber den Leser mitreißen kann sie leider nur streckenweise. Dem Benediktiner Pater Ivo drückt ein Schuh aus vergangenen Zeiten, der Spannung im Leser erwecken kann, aber die Auflösung wird dem ganz und gar nicht gerecht. Die „maurische Hure“ Aziza entpuppt sich als ganz normales Frauenzimmer, und selbst der böse Inquisitor Deubelbeiß, von dem der Leser natürlich richtig hinterhältige Gemeinheiten erwartet, tut im Prinzip nichts Weltbewegendes, geschweige denn Spannendes.

Alle Charaktere sind zwar liebevoll von der Autorin gezeichnet, jedoch die richtigen Ecken und Kanten, die die Neugier des Lesers wecken, sind so abgeschliffen worden, dass alles wie Friede, Freude, Eierkuchen wirkt. Einziger Lichtblick in diesem zu oft umgerührten Brei ist der Apotheker Heinrich Krudener, der mit seiner verwirrten, zerknitterten und weisen Art für Abwechslung sorgt – doch dieser taucht leider, leider nur für wenige Seiten auf.

Das politische Geschehen, das zu dieser Zeit in Köln für Aufruhr sorgte, hat die Schriftstellerin geschichtlich so weit korrekt, allerdings viel zu oberflächlich mit eingebaut. Schade, bietet doch gerade der langwährende Streit zwischen Klerus und Stadt eine Menge Stoff, um der Handlung eine kräftige Würzung zu geben, so wie es bei Frank Schätzings [„Tod und Teufel“ 129 der Fall war.

Im Großen und Ganzen ist „Der dunkle Spiegel“ für lange, dunkle Winterabende durchaus zu empfehlen, ist die Story doch an sich recht ansprechend und logisch aufgebaut. Empfehlenswert ist das Buch auch aufgrund eines flüssigen, bildhaften Schreibstils, der das eigentlich vorhandene Potenzial der 48-jährigen Autorin Andrea Schacht aufzeigt, die mit ihrer Familie in der Nähe von Köln lebt und bereits insgesamt fünf Romane veröffentlicht hat.

Und soll ich euch was sagen? Ich hole mir auch noch den bereits erhältlichen zweiten Teil, [„Das Werk der Teufelin“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1764 , weil ich einfach wissen möchte, ob sie es dort schafft, Spannung |und| nette Unterhaltung zustande zu bringen. Also kann das Buch ja gar nicht so schlecht gewesen sein – oder aber ich mag „nette“ Bücher. Ich lasse es euch wissen.

Queen, Ellery – nackte Tod, Der

Nach harten Arbeitswochen möchte sich Kriminalschriftsteller und Detektiv Ellery Queen einen erholsamen Urlaub am Meer gönnen. Ein alter Freund, der ehemalige Richter Avra Macklin, begleitet ihn zum Spanish Cape an der Atlantikküste, wo ein kleines Ferienhaus auf sie wartet. Doch die Reisenden finden die Haustür aufgebrochen – und im Inneren gefesselt die junge Rosa Godfrey, die eine abenteuerliche Geschichte erzählt: Mit ihrem Onkel David Kummer ist sie am Vorabend von einem piratenhaften Seemann namens „Captain Kidd“ überfallen und entführt worden. Kummer wurde von Kidd auf ein Boot verschleppt und später anscheinend über Bord geworfen.

Fatalerweise hat der Pirat den falschen Mann erwischt: Eigentlich sollte es einem gewissen John Marco an den Kragen gehen. Der ist Gast im Haus von Rosas Eltern Walter und Stella Godfrey. Walter ist ein steinreicher Wallstreet-Hai, dem praktisch das gesamte Cape gehört. In seiner Villa tummeln sich im Sommer stets viele Besucher. Marco würde der Gastgeber freilich gern an die Luft setzen, da dieser ein Auge auf Tochter Rosa geworfen hat.

Seinen Fehler hat Kidd offenbar rasch ausgebügelt: Als Queen und Macklin Rosa in ihr Elternhaus bringen, ist dort bereits die Polizei eingetroffen: Auf einem bequemen Stuhl am Strand sitzt John Marco – erdrosselt, nackt unter einem altmodischen Umhang.

Wer hat den Mann umgebracht, wieso wurde er anschließend entkleidet? Inspector Moley fühlt sich überfordert und bittet den berühmten Ellery Queen um Schützenhilfe. Die Schar der Verdächtigen ist identisch mit den Bewohnern von Godfreys Villa. Nach und nach stellt sich heraus, dass sie alle gute Gründe gehabt hätten, sich Marcos zu entledigen: Der hat sich seinen Lebensunterhalt als Gigolo verdient, der die umgarnten Damen anschließend als Erpresser kräftig zur Ader ließ.

Bis Queen endlich Licht am Ende des Ermittlungstunnels erblickt, muss er sich tüchtig belügen lassen, schier endlos widersprüchliche Beweise sortieren – und vor weiteren Attacken des Mörders auf der Hut sein, der zwar einen entscheidenden Fehler begangen, aber leider eine geradezu übernatürlich geniale Art der Tarnung für sich entdeckt hat …

Ein einsam gelegene Haus am Meer, erbaut auf einer Halbinsel, umgeben von schroffen Klippen – oder anders gesagt: Hier kommt niemand heimlich hinein oder hinaus. Wenn sich also ein Mord ereignet, dann befindet sich der Täter garantiert unter den Bewohnern. Damit sind die Weichen gestellt für einen archetypischen „Whodunit“-Krimi, in dem Mörder, Verdächtige, Opfer und natürlich diverse Gesetzeshüter unter einer Käseglocke behaglicher Isolation einander zur Gaudi des Lesers belauern.

Die Karten liegen offen auf dem Tisch: Ellery Queen und sein Publikum stoßen zeitgleich auf die für die Lösung des Falls relevanten Spuren. Offen bleibt die Frage, wer mit solcher Fairness mehr anzufangen weiß. Der Verfasser möchte selbstverständlich mit einem gewissen Vorsprung als Erster durchs Ziel gehen. Ist der Leser wenigstens guter Zweiter, wird er (oder sie) zufrieden auch zum nächsten Roman aus der bewährten Feder greifen.

Wer würde nicht gern solcher Verkaufslist auf den Leim gehen, da doch die Manipulation des Lesers ebenso elegant wie unterhaltsam gelingt? „Der nackte Tod“ ist ein hochkarätiger Krimispaß, der meisterhaft die „klassischen“ Regeln des Genres ausspielt. Wir kennen sie alle, aber wir lieben sie, so lange sie nur geschickt variiert werden. Das ist hier jederzeit garantiert.

Der Originaltitel ist übrigens ein hübsches Wortspiel: „Spanish Cape“ ist einerseits der Ort des Geschehens. Andererseits ist ein Cape das einzige Kleidungsstück, das die Blöße John Marcos – der ein Spanier ist – verhüllt.

Sie alle haben Dreck am Stecken. Irgendwie steht es ihnen auch ins Gesicht geschrieben. Manchmal so deutlich wie dem unglaublichen „Captain Kidd“, der nicht nur aussieht wie sein berüchtigtes historisches Vorbild, sondern sich auch so zu benehmen weiß. Mit seinem Auftritt findet Ellery Queen (der Autor) den idealen Einstieg in das vorliegende Abenteuer.

Auf Walter Godfreys feudalem Spanish-Cape-Anwesen tummeln sich zwar deutlich feinere, aber ganz sicher nicht vornehmere Zeitgenossen. Der Hausherr hat sein Vermögen auf höchstens halbwegs legale Weise erworben. Die meisten Gäste können nicht einmal das von sich behaupten. Ein zwielichtiger Abenteurer, eine Mitgiftjägerin, gleich drei Ehebrecherinnen zählen zu ihnen – und das sind nur die Sünder, die unser Detektiv mühelos enttarnt. Leid können sie uns nicht tun. Ellery Queen – der Ermittler wie der Autor – gönnt ihnen daher auch kein Happy-End. Als das Rätsel von Spanish Cape endlich gelöst ist, verlassen Queen und Macklin eine von den Ereignissen fast völlig zerstörte Gesellschaft.

Noch ganz andere Abgründe tun sich sehr bald in Gestalt von John Marco auf. Den lernen wir nur als Leiche kennen. Er ist aber lebendig genug in der Erinnerung seiner geplagten Opfer. Unerbittlicher Parasit, bösartiger Erpresser, zynischer Weiberheld – die Liste seiner Verfehlungen ist fast so lang wie seine Verfolger zahlreich sind. Heute mutet Marcos „Geschäft“ reichlich altmodisch an. Manche prominente Dame vermarktet ihre Schäferstündchen inzwischen selbst. Aber 1935 konnte „Schande“ eine Karriere in der gesellschaftlichen Elite noch zerstören. Insofern ist Marcos nacktes Ende – ein Skandal, der immer wieder schockiert angesprochen wird – eine Art ausgleichender Gerechtigkeit.

Ellery Queen erleben wir dieses Mal nicht an der Seite seines Vater. Inspektor Richard Queen bleibt zu Hause in New York. Die Stadt wird zu eng für einen Detektiv, der seinen Genius gern möglichst ungewöhnlichen Fällen widmet. Das verlangt letztendlich auch sein Publikum, das einen Tapetenwechsel ebenso schätzt.

Der Filius braucht anscheinend trotzdem einen weisen, alten Mann an seiner Seite. Diese Rolle übernimmt Richter Macklin, ein rüstiger, höchst unwürdiger Greis, der zusätzlich für die (sparsamen) Heiterkeitseffekte in dieser Geschichte verantwortlich ist.

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten. [„Chinesische Mandarinen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=222 ist neunte und letzte Fall der „1. Queen-Periode“, die neun Romane der Jahre 1929 bis 1935 umfasst, welche stets das Wort „Mystery“ im Originaltitel tragen und als klassische „Wer war es?“-Krimis zum Mitraten konzipiert wurden.

Dabei half das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des „realen“ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als – Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren verbarg das „Markenzeichen Queen“ zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 60er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern schrieen. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Anleitung der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste findet sich unter http://neptune.spaceports.com/~queen : eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

„The Spanish Cape Mystery“ wurde bereits 1935, im Jahr seines Erscheinens, von Hollywood verfilmt. Unter der Regie von Lewis D. Collins spielte Donald Cook den Ellery Queen. Albert DeMond verfasste das Drehbuch – und wem diese Namen rein gar nichts sagen, der sollte sich nicht grämen: Dies ist ein sogenanntes „B-Movie“, eine Schöpfung der 1930er Jahre. Um das Publikum auch während der Wirtschaftskrise in die Kinos zu locken, wurde ihm eine Doppelvorstellung geboten. Vor dem teuer produzierten, mit Stars gespickten Hauptfilm lief ein durchschnittlich 70 Minuten kurzer, billiger „Aufheizer“. Gern waren dies Episoden von Serien, die durch den Fortsetzungseffekt einen weiteren Anreiz für die Zuschauer boten. Auch Ellery-Queen-Streifen wurden so heruntergekurbelt. Aus heutiger Sicht sind sie freilich wieder reizvoll anzusehen, da „billig“ einst nicht identisch mit „Schund“ war. Auch „The Spanish Cape Mystery“ ist deshalb durchaus unterhaltsam.

Simon Winchester – Der Mann, der die Wörter liebte

winchester-mann-cover-2000-kleinJedes Wort der englischen Sprache soll ermittelt, erforscht und erläutert werden: Das „Oxford English Dictionary“ benötigt bis zur Vollendung sieben Jahrzehnte. Unter den Mitarbeitern ist ein wahnsinniger Mörder, dem die Forscherarbeit Halt und Trost bietet … – Autor Winchester findet für sein Thema – die eigentlich wenig spannende Geschichte des genannten Wörterbuchs – den idealen Einstieg über die Biografie von W. C. Minor: Ein Geisteskranker leistet Großes im Rahmen eines wahnwitzigen Projekts. Das Ergebnis ist ein Sachbuch mit Thriller-Qualitäten.
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Vaz, Mark Cotta – Hinter der Maske von Spider-Man – ein geheimer Blick hinter die Filmkulissen

Mit Spider-Man wurde einst eine Comicfigur erschaffen, die immer populärer wurde. Anlässlich der Verfilmung durch Regisseur Sam Raimi („Evil Dead“, „Army of Darkness“, „Darkman“, „The Quick and the Dead“, „The Gift“ und aktuell „Spider-Man 2“) erschien „Hinter der Maske von Spider-Man“. Ein opulentes Buch, das Eindrücke und Insiderwissen widerspiegelt.

Das Buch ist in drei Teile und insgesamt neun Kapitel untergliedert. Jedes Kapitel beschäftigt sich ausgiebig mit einem Aspekt des Spider-Man-Films. Dabei wird auch auf die Comicabenteuer des Netzschwingers eingegangen und ausgiebig der Film beleuchtet. Allerdings verliert der Autor kein Wort über andere Spider-Man-Filme, wie zum Beispiel die unsäglichen frühen Streifen amerikanischer oder gar japanischer Herkunft. Doch das ist auch nicht die Aufgabe des Buchs.

Der neugierige Leser bekommt neben dem gut übersetzten und schön angeordnetem Text auch viele Farbfotos zu sehen, die fast alle Abschnitte des Films abdecken. Seien es nun die Darsteller, die Kulisse, die Leute hinter der Kamera, die Stuntmen, die Tricktechniker und vieles mehr. Hier werden keine Wünsche offen gelassen und auch der Erfinder Spider-Mans (Stan Lee) kommt zu Worte. Dabei legt er großen Wert darauf, dass niemand den Bindestrich in Spider-Man vergisst. Immerhin soll der Netzschwinger sich von seinem Konkurrenten Superman abheben.

Neben Stan Lees Vorwort sind überall im Buch Auszüge aus diversen Comicheften des Fassadenkletterers zu finden. Allerdings sind sie amerikanischer Herkunft und dementsprechend die Sprechblasen mit englischen Worten gefüllt. Doch reicht hier Schulenglisch aus, um die wenigen Texte zu übersetzen. Die Auszüge dienen vor allem der Dokumentation von Spider-Mans Herkunft und Werdegang.

Dort werden auch die Unterschiede zwischen Comic und Film von Mark Cotta Vaz herausgearbeitet. Durch seine enge Zusammenarbeit mit den Machern des Films ist er in der Lage, viele der offenen Fragen zu beantworten. Vor allem Fans werden sich an die verstrahlte Spinne erinnern, die Peter Parker biss. Im Film ist die Spinne jedoch genetisch verändert. Auch das Verhältnis zwischen Peter und Mary Jane wird ein wenig anders dargestellt und der Leser entdeckt in diesem Buch die – logische – Erklärung dazu. Sam Raimi hat sich seine Gedanken zu dem Film gemacht und lässt sie durch Vaz nach außen dringen. Vor allem für Fans eine nette Geste.

Neben der Durchleuchtung des Mythos „Spider-Man“ steht der Kinofilm im Mittelpunkt. Ausführlich werden die Tricks erklärt, die Probleme aufgezeigt und die Darsteller ins rechte Rampenlicht gerückt. Dabei tritt Insiderwissen zutage, das in einem „Making of…“, zum Beispiel, kaum zu finden sein wird. Mark Cotta Vaz hat hier ausführlich und detailliert gearbeitet, was nun seinen Lesern zugute kommt. Dabei bringt er sein großes Fachwissen mit ein und zeigt mittels Querverweisen und sekundären Informationen weitere Details auf.

Neben ausführlichen Informationen über Spider-Man selbst, werden dem Leser auch die Darsteller nahe gebracht. Seien es nun Toby Maguire, Kirsten Dunst oder Willem Dafoe. Die hochkarätige Besetzung findet ebenso Beachtung wie die Maskenbildner oder Tricktechniker. Ausführlich beschreibt er die akribische Arbeit, die für den Film betrieben wurde, und zeigt seinen Lesern, wie genau dieses oder jenes funktionierte. Zum Beispiel erklärt er den scheinbar unkomplizierten Anzug Spider-Mans, in dem allerdings viel Know-how steckt. Für den Anzug wurden immerhin „Muskelpakete“ konstruiert und aufgedruckt, um die perfekte Illusion zu erzeugen. Selbst die Spinne wurde vom Tiertrainer in ein „Kostüm“ gesteckt, wie man dem Buch entnehmen kann.

Abgerundet wird der positive Gesamteindruck durch abschließende Filmfotos. Außerdem sind einige Storyboard-Sequenzen enthalten, die für den Film vorhergesehen waren, später aber nicht realisiert wurden. Ein informatives und flüssig zu lesendes Buch, das einfach Spaß macht und dem Leser Spider-Man nahe bringt. Sehr empfehlenswert.

_Günther Lietz_ © 2002
mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/