Archiv der Kategorie: Thriller & Krimis

Sullivan, Mark T. – Geistertanz

Lawton in den Green Mountains im US-Bundesstaat Vermont, im Frühjahr 1998: Der Dokumentar-Filmer Patrick Gallagher besucht den kleinen, abgelegenen Ort, um für ein neues Projekt zu recherchieren. Um die Jahrhundertwende hat der Gemeinde-Pfarrer Pater Victor D’Angelo in Lawton angeblich zahlreiche Dorfbewohner durch das Auflegen seiner Hände vor dem sicheren Tod bewahrt. War D’Angelo ein Heiliger? Pater McColl, der heute die Gemeinde Lawton leitet, hat das komplizierte kirchliche Verfahren in Gang gesetzt, durch das D’Angelo selig oder sogar heilig gesprochen werden könnte. Über diesen Mann und seine Geschichte will Gallagher einen Film drehen.

In Lawton werden Fremde mit Misstrauen bedacht – besonders, wenn sie womöglich die Kür eines eigenen Ortsheiligen gefährden könnten! Das stellt Gallagher rasch fest, als er sich um eine Unterkunft bemüht. Erst Andromeda „Andie“ Nightingale, die als Sergeant für die Kriminalpolizei des Ortes arbeitet, ist bereit, ihm eine Hütte zu vermieten. Sobald Gallagher sich eingerichtet hat, drängt es den passionierten Angler zum Bluekill River. Nach kurzer Zeit geht ihm ein wahrhaft kapitalen Brocken an den Haken: die Leiche des brutal ermordeten Zahnarztes Hank Potter.

Andie Nightingale findet unter den Hinterlassenschaften Potters eine seltsame Zeichnung, die laut Gallagher Charun darstellt, den mythologischen Fährmann der Seelen in das Reich der Toten. So viel humanistische Bildung lässt den Filmmann für Chief Mike Kerris und Lieutenant Brigid Bowman, Nightingales Kollegen bei der Polizei, umgehend zum Hauptverdächtigen aufsteigen. Der Druck auf Gallagher wächst, als weitere Morde „Charuns“, wie der Killer bald genannt wird, Lawton in Unruhe versetzen. Dennoch kann Gallagher Nightingales Vertrauen gewinnen und sie bei ihren Ermittlungen unterstützen. Sie finden heraus, dass Charun es auf die Besitzer eines mysteriösen Tagebuchs abgesehen hat, das die junge Indianerfrau Sarah Many Horses – eine Nichte Sitting Bulls – vor mehr als einem Jahrhundert niedergeschrieben hat und das nach ihrem Tode aufgeteilt wurde. Die Aufzeichnungen werfen ein äußerst unvorteilhaftes Licht auf die damals wie heute die Geschicke Lawtons bestimmenden Familien. Schlimmer noch: Many Horses starb unter grotesken Umständen, die auch Pater D’Angelo in den Kreis der Verdächtigen ziehen. Will Charun die Spuren dieser alten Kollektiv-Schuld tilgen?

„Geistertanz“ ist ein Roman, dessen Handlung von falschen Fährten, mutwillig angelegten Sackgassen und mehrdeutigen Anspielungen bestimmt wird. Das beginnt bereits mit dem Titel, der auf ein reales historisches Phänomen anspielt: den pseudo-religiösen Kult der Geistertanz-Bewegung, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter den Indianerstämmen des US-amerikanischen Westens aufkam. Von den weißen Siedlern, den Soldaten und der Regierung immer stärker bedrängt, entlud sich der äußere und innere Druck der Ureinwohner in einem an sich wahnwitzigen Irrglauben, in dem eigene Mythen sich mit Elementen des Christentums mischten. Der „Geistertanz“ sollte eine Brücke zwischen den zahllosen toten und den wenigen überlebenden Kriegern schlagen, die dann gemeinsam gegen den verhassten weißen Feind vorgehen zu können glaubten. Außerdem waren die Anhänger des Kultes überzeugt, von nun an unverwundbar zu sein. Der US-Regierung machte weniger die Sorge um die Realität dieser aus Verzweiflung geborenen Bewegung zu schaffen als die plötzliche Einigkeit zwischen eigentlich verfeindeten Stämmen, die sich zu einem gefährlichen, weil sehr realen Gegner entwickeln konnten. So wurden Truppen ausgeschickt, die den Geistertanz-Glauben niederhalten sollten. Erwartungsgemäß kam es dabei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die im Winter 1891 in South Dakota in einem Massaker am Wounded Knee gipfelten, bei dem die Armee „vorsichtshalber“ viele hundert Männer, Frauen und Kinder niedermetzelte – eines der bekannteren Gräuel der modernen Geschichte.

Sullivans fiktive Sioux-Frau Many Horses ist eine Überlebende von Wounded Knee und eine der Letzten, die das Geistertanz-Ritual kennt. Mehr als dieses lokalkoloritische Element trägt sie nicht zum Roman bei. Die Geschichte, wie Many Horses nach Lawton kam, um dort einer bizarren örtlichen Sekte buchstäblich zum Opfer zu fallen, ist sehr interessant zu lesen und wird vom Autor auch sehr spannend nach und nach enthüllt, doch sie trägt angesichts des Raumes, die Sullivan ihr zugesteht, zur eigentlichen Geschichte zu wenig bei. Fakt ist, dass Many Horses‘ Tod bzw. der weiter bestehende Aberglaube um ihre wundertätigen Kräfte zwar die Ursache für die Morde von Lawton ist. Doch das ist nicht das Thema der von Sullivan ausgewalzten Vorgeschichte zur Mordserie von 1998.

Wie ist es überhaupt um die angebliche Wunderkraft bestellt? Sullivan spielt ständig mit übernatürlichen Elementen, nur um sie im Finale sämtlich „logisch“ aufzulösen. Es gibt in Lawton keine indianischen Rachegeister, und es gab sie nie. Dann fragt man sich als Leser natürlich, wieso Sullivan seinen Roman mit einem Kapitel einleitet, das im Jahre 1918 spielt und den angeblichen Heiligen Pater D’Angelo eindeutig als Wunderheiler beschreibt. Die Erklärung ist ebenso einfach wie ärgerlich: Sullivan bedient sich eines simplen Tricks, um das Interesse seines Publikums zu erregen. Als er am Schluss seiner Geschichte eher beiläufig das Thema noch einmal aufgreift, versucht er sich mit der Binsenweisheit, dass Glaube Berge versetze, aus der Affäre zu ziehen – eine sehr unbefriedigende „Lösung“, die zudem suggeriert, der Leser müsse halt selbst entscheiden, wie „geisterhaft“ die Ereignisse der verstrichenen Seiten nun zu werten sind.

Solche faulen Tricks hätte der Roman gar nicht nötig. „Geistertanz“ ist ein solide konstruiertes und kompetent (wenn auch ein wenig hausbacken) geschriebenes Buch. Die Fakten sind sauber recherchiert, was kaum verwunderlich ist, wenn man sich vor Augen führt, dass Mark T. Sullivan, der als Wirtschaftskorrespondent für die Agentur Reuters in Chicago arbeitet, bereits zweimal für den renommierten Pulitzer-Preis nominiert wurde und sein journalistisches Handwerk nachweislich beherrscht. Die einfach gestrickte und altmodische, aber in zahllosen Romanen und Filmen bereits bewährte Geschichte vom düsteren Geheimnis in einem kleinen, abgegrenzten, nur scheinbar idyllischen Ort bringt er gut über die Runden. Schade nur, dass er im Finale auf den obligatorischen Killer mit erheblichem Dachschaden zurückgreift; typisch dann aber wieder, dass er plötzlich noch einen zweiten, den „richtigen“ Bösewicht aus dem Hut zaubert.

Mit seinen beiden Hauptfiguren Gallagher und Nightingale hat sich Sullivan beinahe schon zu viel Mühe gegeben. Er möchte imaginären Figuren echtes Leben einhauchen, was an sich nur zu begrüßen ist. Doch er geht in seinem Eifer oft zu weit, wenn er Seite um Seite tragische Ereignisse aus der Vergangenheit Gallaghers und Nightingales (harte Kindheit, persönliche Enttäuschungen, Alkoholismus, Schuldgefühle usw. usf.) nacherzählt, die mit der eigentlichen Handlung nicht das Geringste zu tun haben. „Geistertanz“ ist somit ein durchschnittlicher, gut lesbarer und bis auf das enttäuschende Finale spannender Roman, der sich indes ein wenig wichtiger nimmt, als ihm zukommt.

Hiaasen, Carl – Unter die Haut

Er ist nicht der Mann, mit dem man sich unbedingt anlegen sollte: Mike Stranahan war ehemals Soldat in Vietnam (1) und wurde später Ermittler für die Staatsanwaltschaft von Dade County im US-Staat Florida. Nachdem er im Dienst und in Notwehr drei Menschen und zuletzt einen korrupten Richter erschossen hat, beschloss die Behörde, ihn lieber mit einer guten Pension nach Hause zu schicken. Gerade vierzig Jahre alt geworden, bewohnt Stranahan seitdem im „Stelzendorf“ an der Biscayne Bay und damit direkt am Wasser ein altes Haus auf hohen Pfählen und lebt nach seiner fünften Scheidung recht vergnügt in den Tag hinein, als die Vergangenheit ausgerechnet in der Gestalt von ‚Dr.‘ Rudy Graveline wieder auflebt. Der ebenso geldgierige wie unfähige Schönheitschirurg hat bereits eine blutige Spur durch einige Bundesstaaten gezogen. Im Norden ist ihm der Boden zu heiß geworden, aber in Florida ist er endlich auf jenes Umfeld aus Bestechlichkeit, Dummheit und Eitelkeit gestoßen, das es ihm ermöglichte, nicht nur sein unheilvolles medizinisches Werk fortzusetzen, sondern sogar eine eigene, äußerst gut gehende Privatklinik namens „Whispering Palms“ zu gründen, in der sich die Reichen und Berühmten von echten oder eingebildeten Schönheitsfehlern befreien lassen können.

Nur noch selten greift Graveline selbst zu Skalpell und Fettabsauger. Er ist vorsichtig geworden, seit er vor vier Jahren einen Routine-Eingriff verpfuscht hat und ihm die junge Vicky Barletta auf dem Operationstisch gestorben ist. Mit Hilfe einflussreicher Freunde hat Graveline dies vertuscht und die Leiche verschwinden lassen. Doch jetzt droht alles wieder ans Licht zu kommen: Der eingebildete TV-‚Reporter‘ Reynaldo Flemm ist auf den Barletta-Fall aufmerksam geworden und will ihn in seiner primitiven, aber bei der Proleten-Fraktion des Publikums sehr beliebten Krawallshow präsentieren. Noch schlimmer: Die Mordkommission könnte die Untersuchung wieder aufnehmen! Zwar zeigt die Staatsmacht wie üblich wenig Neigungen in dieser Richtung, doch Graveline weiß, dass einen der damaligen Ermittler der ungelöste Fall noch heute wie ein Stachel im Fleisch schmerzt. Sein Name: Mike Stranahan!

Graveline gerät in Panik und heuert einen Killer an. „Tony der Aal“, eine freundliche Leihgabe der örtlichen Mafia, geht allerdings seinen Job mit mehr Elan als Intelligenz an und wird von Stranahan unter Zuhilfenahme eines ausgestopften Schwertfisches ins Jenseits befördert. Der nächste Gegner ist von anderem Kaliber: Blondell Tatum, genannt „Chemo“, dessen Gefühlskälte eindrucksvoll durch seine Physiognomie widergespiegelt wird, die der des Frankenstein-Monsters gleicht.

Dass immer neue Mordanschläge auf ihn verübt werden, reißt Stranahan aus seiner Frührentner-Lethargie. Er nimmt als Privatmann die Ermittlungen auf, was ihn der Verpflichtung enthebt, dabei den Buchstaben des Gesetzes Folge zu leisten. Rasch entspinnt sich an der sonnigen Küste Südfloridas eine blutige Komödie der Irrungen und Wirrungen, in der auch Stranahans ‚Haustier‘ – ein mannsgroßer Barrakuda – kräftig mitmischt …

Die Welt ist schlecht: Selten ist dieser Stoßseufzer so überzeugend in Worte gegossen worden wie in „Unter die Haut“, einer weiteren Runde im Kampf Carl Hiaasens gegen die allgegenwärtige Dreifaltigkeit der modernen menschlichen Zivilisation – Dummheit, Gier und Ignoranz. In Florida scheinen sich diese wenig erfreulichen Wesenszüge besonders prächtig zu entwickeln. Vielleicht kann Hiaasen aber auch einfach seinen Heimvorteil ausspielen: Er kennt diesen Teil der Vereinigten Staaten wie seine Westentasche, und das schließt die von der Tropensonne kaum beschienenen Bereiche ausdrücklich mit ein.

Carl Hiaasen wurde 1953 in Florida geboren; er ging hier zu Schule, studierte hier (bis 1974) Journalistik und ging anschließend zum „Miami Herald“. Bei dieser Zeitung ist er noch heute und schreibt Kolumnen und Berichte, in denen er jene Sünden anprangert, mit denen wir auch in seinen Romanen immer wieder konfrontiert werden. Zu schaffen macht Hiaasen besonders der unentwirrbare Filz aus Politik, Wirtschaft und Verbrechen, der Florida in Sachen Korruption und Umweltzerstörung einen traurigen Spitzenplatz in den USA garantiert.

Da Hiaasen die Erfahrung machen musste, dass seine wütenden Attacken im täglichen Mediengewitter mehr oder weniger untergingen, begann er ab 1981 Romane zu schreiben, die in spannender Thrillerform und scheinbar fiktiv die genannten Missstände auch jenem Publikum nahe zu bringen verstehen, die gemeinhin nur den Sportteil einer Zeitung zur Kenntnis nehmen. Zunächst ‚übte‘ Hiaasen und schrieb die ersten drei Romane mit seinem Journalisten-Kollegen William D. Montalbano, bevor er sich mit „Tourist Season“ (dt. „Miami Terror“) 1986 quasi selbstständig machte. Schon früh begann er damit, die bittere Medizin, die er verabreichen wollte, zu versüßen, indem er dazu überging, immer groteskere Plots für seine ohnehin actionbetonten Geschichten zu entwerfen. Ironie und Sarkasmus, die jederzeit in blanken Zynismus umschlagen können, versuchen die Welt, wie Hiaasen sie in Florida vorzufinden glaubt, als Tollhaus zu demaskieren.

Die Rechnung ging auf: Weil Hiaasen sein Talent, wirklich krude Geschichten mit knochentrockenem und dadurch um so wirksamerem Witz zu entwerfen, rasch zur Perfektion entwickelte, fand er sein Publikum. Den Ritterschlag als echter Bestseller-Autor erhielt Hiaasen, als Mitte der 90er Jahre Hollywood auf ihn aufmerksam wurde. Zwar entwickelte sich „Striptease“ nicht zuletzt dank seiner Hauptdarstellerin, der unsäglichen Demi (no) Moore, zu einem üblen Kassengift, aber immerhin konnte Hiaasen (übrigens auch hierzulande) einen Popularitätsschub verzeichnen.

„Unter die Haut“ zeigt Carl Hiaasen jedenfalls auf der Höhe seines Könnens. Mit unnachahmlicher Eleganz, die in der deutschen Übersetzung erfreulich gut erhalten blieb, breitet der Autor ein Panorama ruchloser Menschen aus, die ausnahmslos mehr oder weniger Dreck am Stecken haben. Sie alle erhalten entweder ihre Strafe, die in der Regel ziemlich grauslich, aber immer unerwartet ausfällt, oder werden vom Schicksal auf eine Weise belohnt, die dieses in jedem Fall als recht hinterlistig outet … Nicht so recht ins wüste Bild will sich nur die Figur der Produzentin Christina Marks fügen, die Hiaasen ein wenig zu ’normal‘ angelegt hat, so dass sie manches Mal wie eine Spielverderberin dasteht.

Das ändert jedoch überhaupt nichts am Lesespaß, den man sich nicht entgehen lassen sollte: Carl Hiaasen ist in diesem unseren Lande weiterhin ein Geheimtipp, was primär bedeutet, dass seine Werke zwar veröffentlicht, aber selten neu aufgelegt werden. Während jeder schimmelige Schinken aus der Anne-Perry- oder Elizabeth-George-Kammer für Junkfood-Leser zig-fach aufgewärmt wird, müssen echte Feinschmecker leider darben. Sogar „Striptease“ ist heute vergriffen, und auf ein Wiedersehen mit „A Death in China“, „Tourist Season“ oder „Double Whammy“ (1987, dt. “Miami Morde”) darf wohl erst recht nicht gehofft werden!

Anmerkung:
(1) Unsere Geschichte spielt im Jahre 1989!

Thomas Kohlschmidt – BLIND

Thomas Kohlschmidt, in der Phantastikszene bekannt durch zahlreiche veröffentlichte Artikel und Kurzgeschichten, legt jetzt mit dem Phantastikthriller „BLIND“ sein Romandebüt vor.

Professor Keller sitzt in einer Hamburger Psychiatrie gefangen, da er ein Buch über eine merkwürdige Dunkelheit veröffentlichte, die die Erde zu beherrschen drohe. Mit diesen esoterischen Thesen kam er einem Kollegen in die Quere, der seinen gesamten Einfluss geltend machte, um Keller aus dem Verkehr zu ziehen.

Gerade diese beschworene und verlachte Dunkelheit ist nun im Begriff, sich auf die Erde herabzusenken, und Keller wird von einer amerikanischen Sturmtruppe aus der Psychiatrie befreit. Außerdem sind die Russen, die UNO und andere Mächte plötzlich an ihm interessiert, so dass er als Spielball von einem zum anderen wechselt, bis ihn eine Söldnertruppe nach Kalkutta, dem Ort seiner Forschungen und einzig mögliche Ausgangsbasis zur Lösung des Problems, bringt.

Seine Anhänger haben ihm im Verlauf der Gefangenschaftsjahre ein Labor ganz nach seinen Wünschen eingerichtet und in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt, von dem aus er nun auf die andere Seite, in die „Nicht-Licht-Welt“, vorzudringen gedenkt, um der Gefahr zu begegnen. Für die Außenstehenden wird seine krankhafte Fantasie von Nicht-Licht-Wesen plötzlich zur alles betreffenden Gefahr; die Weltbevölkerung bricht in Panik aus und jede Macht will Keller für die nationale Sicherheit benutzen, ohne zu akzeptieren, dass er das Übel an seiner Wurzel in Kalkutta packen muss, wo er vor Jahren das Tor zur anderen Seite öffnete, das schon die Magier und Schamanen vergangener Zeiten zu hüten und zu verschließen bemüht waren. Was aber in der Nicht-Licht-Welt vorgeht, ist auch Keller noch unbekannt …

In einem Artikel auf WARP-online nimmt Kohlschmidt Stellung zu seiner Arbeit an diesem Roman und verdeutlicht seine Vorgehensweise bei der Recherche, die eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung gespielt hat, da er seine Geschichte an bekannten Orten mit verschiedensten Nationalitäten und Umgangsformen und realen Techniken erzählt. Dabei schafft er es sehr gut, die gefundenen Informationen zu bearbeiten und in einem gesunden, knappen Maß in seine Geschichte einfließen zu lassen, so dass man an keiner Stelle das Gefühl hat, er wolle möglichst alles, was er an Arbeit mit der Recherche hatte, auf Biegen und Brechen in dem Roman verarbeiten. Diese Fähigkeit muss man hervorheben, tun sich doch sehr viele gestandene Schriftsteller damit schwer und spicken ihre Erzählungen mit seitenlangen Abhandlungen. Kohlschmidt schafft diesen Balanceakt mit Auszeichnung, strafft so die Handlung und rückt das Wesentliche in den Mittelpunkt.

Dagegen erschweren die vielen unterschiedlichen Erzählebenen ein wenig den Lesefluss und behindern die Entwicklung der wichtigen Charaktere. An sich ist gegen die schlaglichtartige Darstellung der Situation nichts einzuwenden, wird so doch der große erdumfassende Zusammenhang sehr deutlich herausgestellt. Damit erhält jedoch jede einzelne Nebenfigur das gleiche Gewicht wie die wirklichen Handlungsträger, um deren Ausarbeitung etwas mehr hätte gegeben werden können.

Die Handlung steht auf etwas tönernen Füßen. Tragende Wichtigkeit kommt der Tatsache zu, dass die Anhänger von Kellers Theorie eine Organisation aufgebaut haben, die keinerlei finanzielle Probleme hat und außerdem die größten Könner aus jedem Gebiet rekrutieren konnte. Das erhebt alles in ein überirdisches Licht und enthebt Keller der Schwierigkeit, seiner (durch seinen Aufenthalt in der Klappsmühle nicht eben im Ansehen gesteigerten) phantastischen Theorie die Mittel und die Anerkennung zu erkämpfen, die es benötigt, um der Gefahr rechtzeitig entgegentreten zu können. So erscheinen die Protagonisten über jede weltliche Schwierigkeit erhaben, was durchaus der Glaubwürdigkeit der Geschichte abträglich ist.

Die Auflösung ist interessant und verknüpft die Mythologien eigentlich sämtlicher frühzeitlicher Völker auf einer neuen Ebene. Und natürlich muss der tragische Tod einer sympathischen Person die emotionale Bindung zum Leser gerade am Ende noch einmal richtig festigen.

Fazit: Kohlschmidts Romanerstling lässt sich locker, flüssig und spannend lesen und bietet kurzweilige Unterhaltung, hat aber einige Schwächen bei der Ausarbeitung der Charaktere und durch ein paar klischeehafte Wendungen. Ausbaufähig, aber ein Roman, der hohes Potenzial erkennen lässt.

Dahl, Arne – Rosenrot

Kriminalromane haben Hochkonjunktur, insbesondere, wenn ihre Autoren aus Skandinavien und dort speziell aus Schweden kommen. Doch seit Henning Mankell immer seltener seine beliebten Wallanderromane veröffentlichte, schaffen auch andere Autoren den Sprung nach ganz oben in die Krimi-Bestsellerlisten. Ein Autor, der Mankell nicht nur in seiner Schreibweise und einigen Anspielungen sehr nahe kommt, ist der ebenfalls schwedische Autor Arne Dahl, der mit „Rosenrot“ seinen nunmehr fünften Roman rund um die so genannte A-Gruppe vorlegt.

Im Einsatz gegen illegale Einwanderer erschießt der Polizist Dag Lundmark – vermeintlich in Notwehr – den Südafrikaner Winston Modisane, als dieser seinen Fluchtweg versperrt vorfindet. Zunächst sieht alles nach einem ganz normalen Polizeieinsatz aus, doch schnell mehren sich die Verdachtsmomente gegen Dag Lundmark, der offensichtlich etwas zu verbergen und vielleicht doch nicht in Notwehr gehandelt hat. Der Leser weiß natürlich bereits, dass auf Lundmark kein Schuss abgegeben wurde und dass Modisane unschuldig sterben musste. Die A-Gruppe kommt zum Einsatz, sodass wir schnell auf Paul Hjelm und Kerstin Holm treffen, die Lundmark verhören sollen. Doch Holm ist befangen, trägt sie doch noch den Verlobungsring von Dag Lundmark, mit dem sie vor Jahren eine unglückliche Beziehung geführt hat. Tief in Kerstin Holm kommen Gefühle zum Vorschein, die sie sicher verwahrt geglaubt hatte. Obwohl Dag Lundmark sie damals regelmäßig vergewaltigt hatte, trägt sie nach wie vor seinen Verlobungsring und kann ihrem Ex-Geliebten immer noch nicht so recht unter die Augen treten.

Zu dem mutmaßlichen Mord an Winston Modisane gesellt sich eine zweite Leiche, über die ein erkälteter Einbrecher stolpert, dessen Nase so verstopft ist, dass er die halb verweste Leiche zunächst gar nicht bemerkt und ebenso wenig, dass er selbst so sehr nach Leiche stinkt, dass er von der nächsten Polizeikontrolle aufgelesen wird. Bei der zweiten Leiche handelt es sich um Ola Ragnarsson, der einen mysteriösen Abschiedsbrief hinterlassen hat, in welchem er sich als Massenmörder zu erkennen gibt. Doch wieso konnten Ragnarssons Morde unentdeckt bleiben und wieso wurden keine Menschen vermisst gemeldet? Ein verdeckter Hinweis führt die Polizisten zu einem Acker, in welchem zwei Leichen begraben liegen, die offensichtlich auf Ragnarssons Konto gehen. Die Spuren führen bis nach Monte Carlo, wo Ragnarssons Ex-Freundin lebt, die den Ermittlern einen wichtigen Hinweis geben kann.

Zur gleichen Zeit verschwindet Dag Lundmark, gegen den sich die Verdachtsmomente so weit verdichten, dass er schnell als Modisanes Mörder entlarvt werden kann. Langsam aber sicher entdecken die Ermittler die Verbindung zwischen den beiden so unterschiedlich aussehenden Todesfällen, doch bis dahin ist es ein langer Weg für die schwedische Polizei und insbesondere für Kerstin Holm, die von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt wird und schlimme Dinge entdecken muss …

Arne Dahl präsentiert uns einen zunächst absolut unspektakulären Fall, in dem ein vielleicht rassistisch veranlagter und zu Brutalität neigender Polizist im Dienst einen schwarzen Einwanderer erschießt und dies wie Notwehr aussehen lässt. Doch ist dies nur die Oberfläche, an der wir kratzen. Hinter der Fassade versteckt sich ein ausgeklügelter Plan, der weitreichende Konsequenzen hat. Nach und nach streut Arne Dahl weitere Hinweise ein, die uns Dag Lundmark besser kennen lernen lassen. Wir erfahren wichtige Dinge aus seiner Vergangenheit und auch von Kerstin Holms Vergangenheit, die vor Dag Lundmark bereits von einem Freund ihrer Familie sexuell belästigt und vergewaltigt wurde. Die sonst so toughe A-Ermittlerin erscheint verletzlicher und angreifbarer denn je. Ein „schwarzes Loch“ zieht sie an und droht, sie in die Tiefe zu reißen. Kerstin Holm kann nicht länger vor ihrer eigenen Vergangenheit flüchten und ist in diesem Kriminalfall die Marionette in einem perfiden Plan.

Nach etwa hundert Seiten tritt die zweite Leiche auf den Plan und die Ermittlungen spalten sich in zwei vermeintlich unterschiedliche Kriminalfälle auf, die selbstverständlich miteinander zusammenhängen, obwohl sie erst gar nichts miteinander zu tun haben. Der Einbrecher Björn Hagmann erhält einen anonymen Hinweis und beschließt daraufhin, auch mit seiner schweren Erkältung einen Einbruch zu verüben, der jedoch nur dazu dient, dass die Leiche von Ragnarsson entdeckt werden kann. Kurz nach dem Einbruch gelingt Hagmann die Flucht vor der Polizei, doch kann er nicht einem Mordanschlag entkommen, den er nur knapp überlebt.

Die schwedische Polizei hat alle Hände voll zu tun, liefern beide Todesfälle doch viel Anlass zu Ermittlungen, sodass wir etliche Ermittler kennen lernen, die in einem schwer durchschaubaren Miteinander leben und arbeiten. Arne Dahl entwirft ein kompliziertes Beziehungsgeflecht, in dem die meisten Protagonisten eine bewegte Vergangenheit haben und auch aktuell nicht frei von Problemen und Sorgen sind. Leider lässt Dahl allerdings so viele Ermittler und Verdächtige auf den Plan treten, dass man sich als Leser nur schwer zurechtfinden kann. Die fremdartigen Namen helfen natürlich auch nicht gerade, um die jeweilige Hintergrundgeschichte einem Protagonisten zuzuschreiben. Einzig Paul Hjelm und Kerstin Holm bleiben gut im Gedächtnis und hinterlassen ihre Spuren beim Leser. Besonders Kerstin Holm wird uns näher gebracht, auch wenn wir ihre Handlungen nicht nachvollziehen können. Doch im Nachhinein zeigt sich, dass Kerstin Holms Taten von ihren verwirrten Gefühlen getrieben wurden und hierbei sehr verständlich bleiben.

Personell ist „Rosenrot“ leider etwas überfrachtet; man bekommt den Eindruck, dass die schwedische Polizei sogar überbesetzt ist, weil so viele unterschiedliche Personen an den beiden Fällen arbeiten. Das macht die Identifikation mit den einzelnen Figuren beim Lesen deutlich schwieriger. Hier vermisst man dann doch den Mankell’schen Wallander, der in seinen Romanen stets im Mittelpunkt steht und dem Leser als Identifikationsfigur oder zumindest doch Bezugsperson dient. Dies fällt in „Rosenrot“ deutlich schwieriger.

Doch Arne Dahl überzeugt dafür an anderer Stelle: Wie dem Leser schnell klar wird, hängen beide Kriminalfälle natürlich eng zusammen und gehören zu einem großen Plan, auch wenn Dahl uns nur langsam die Verbindungen zeigt und uns erst spät verstehen lässt, wie alles zusammenhängt und wo die Motive für die Morde versteckt liegen. Dahl eröffnet immer mehr Handlungsspielorte und lässt seine Akteure in viele unterschiedliche Richtungen ermitteln, sodass die Erzählung immer mehr Tempo aufnimmt und den Leser zunehmend fesselt. Die Geschichte in „Rosenrot“ ist verwickelt, aber sehr gut konstruiert. Der Kern zur Auflösung der Todesfälle liegt versteckt unter einem Haufen verhüllender Schichten, die nur nach und nach angehoben werden. Als Leser muss man sich mit wohldosierten Informationshäppchen zufrieden geben, die sukzessive den Blick unter die vielen Schichten erlauben und den Leser ganz am Ende mit einer Auflösung belohnen, die ein echtes Aha-Erlebnis ist. Wenn sich die Hintergründe der Todesfälle offenbaren, bleibt der Leser sprachlos zurück. Arne Dahl hat mit „Rosenrot“ eine überzeugende und bewegende Romanhandlung komponiert, die nachwirkt und sich äußerst positiv vom Durchschnitt der aktuellen Kriminalromane abhebt. Mit diesem Buch festigt Arne Dahl seinen Anspruch auf die oberen Plätze der Bestsellerlisten und seinen Platz unter den großen Autoren der Spannungsliteratur.

Abschließend bleibt nur noch festzuhalten, dass Arne Dahl mit „Rosenrot“ einen klug inszenierten Roman vorgelegt hat, der logisch durchkomponiert ist und absolut überzeugen kann. Wie sein schwedischer Kollege Mankell scheut auch Dahl sich nicht davor, seinem Roman einen politisch kontrovers diskutierbaren Hintergrund zu geben und darüber hinaus Protagonisten, die alles andere als perfekt sind und einige Krisen zu durchleben haben. „Rosenrot“ beginnt zwar erst gemächlich, nimmt dann aber ein solches Tempo auf, dass man das Buch nicht mehr zur Seite legen kann. Und auch das Ende enttäuscht nicht, allerdings sollte man sich als Leser zurückhalten und vor der Lektüre lieber nicht den Umschlagtext zum Buch lesen, da meiner Meinung nach einiges vorweggenommen wird, was Arne Dahl dem Leser erst spät präsentiert. „Rosenrot“ ist eine runde Sache, endlich wieder ein Autor, der Henning Mankell so nah kommt wie vielleicht kein anderer!

http://www.piper.de

Siehe ergänzend auch die [Rezension 3091 von Michael Matzer zur Lesung bei |steinbach sprechende bücher|.

Caleb Carr – Das Blut der Schande

Das geschieht:

Irgendwann in den späten Tages des 19. Jahrhunderts – ein exaktes Datum verschweigt uns der Verfasser, aber den Hund der Baskervilles deckt bereits der kühle Rasen – tritt Mycroft, der ältere Bruder des berühmten Privatermittlers Sherlock Holmes, mit einem Spezialauftrag an diesen heran: In Holyroodhouse, dem Sommerlandsitz der britischen Königin Victoria, sind zwei Männer auf grausige Weise zu Tode gekommen: Man fand ihre Leichen von unzähligen Klingenstichen durchbohrt; jeder Knochen im Leib war zerbrochen.

Mycroft, welcher der Regierung als ‚Berater‘ nahe steht, wähnt schottische Anarchisten oder sogar deutsche Spione am Werk. Diskret soll die peinliche Affäre aufgeklärt werden. Sherlock freut sich, denn zur Sorge seines treuen Gefährten Dr. Watson hegt der sonst so rational denkende Detektiv seit einiger Zeit merkwürdige Theorien, die um die Existenz jenseitiger Welten kreisen. Holyroodhouse war vor drei Jahrhundert Schauplatz eines düsteren Ereignisses: Vor den Augen einer entsetzten Königin Maria Stuart ermordeten schottische Adlige ihren italienischen Sekretär und Vertrauten. Seither soll der Geist dieses David Rizzio im Westturm von Holyrood umgehen und rachedurstig die Unvorsichtigen packen, die ihm zu nahe kommen. Caleb Carr – Das Blut der Schande weiterlesen

French, Nicci – falsche Freund, Der

Miranda Cotten ist Ende zwanzig, lebt in London und führt ein lockeres, ungebundenes Leben. Ehe oder feste Partnerschaft gibt es bei ihr nicht, doch sie trifft sich ein paar Mal mit Brendan Block. Aber bevor sich die Sache zu einer ernsthaften Beziehung entwickeln kann, ertappt sie ihn dabei, wie er heimlich in ihre Wohnung eindringt und ihr altes Tagebuch liest. Ohne Zögern macht Miranda Schluss und hofft, ihn nie wiederzusehen.

Bald darauf taucht Brendan jedoch wieder in ihrem Leben auf – als neuer Freund von ihrer Schwester Kerry. Miranda fühlt sich in dieser Konstellation sehr unwohl. Aber es kommt noch schlimmer, denn Brendan erzählt jedem, dass er es war, der Miranda verlassen hat, anstatt umgekehrt. Innerhalb kurzer Zeit integriert sich Brendan in Mirandas Familie und ihrem Bekanntenkreis. Kerry schwebt im siebten Himmel, die Eltern sind von dem charmanten Mann angetan und auch Mirandas Freunde finden ihn sympathisch. Immer freundlich, verständnisvoll und hilfsbereit präsentiert er sich seiner Umgebung, sodass ihn alle für den perfekten Traummann halten.

Doch hinter der Fassade lauert ein unberechenbarer Psychopath. Nach wie vor ist Brendan von Miranda besessen. Er spioniert ihr Leben aus, er verfolgt sie, er spinnt Intrigen gegen sie. Mit teuflischem Geschick gelingt es ihm sogar, sich und Kerry für einige Zeit in ihrer Wohnung einzunisten. Immer öfter fühlt sich Miranda von ihm belästigt und bedroht, kann es jedoch niemandem beweisen. Verzweifelt versucht Miranda, ihre Familie und Freunde vor ihm zu warnen, doch die anderen schlagen sich immer weiter auf Brendas Seite. Um Abstand zu gewinnen, zieht sie vorübergehend zu ihrer besten Freundin Laura, aber auch hier will man ihr langsam nicht mehr glauben; bald darauf zerbricht ihre neue Beziehung. Miranda gilt bei allen als hysterisch und krankhaft eifersüchtig. Hilflos muss sie mitansehen, wie Brendan und Kerry sich verloben und ihre Hochzeit planen. Als sich schließlich eine schreckliche Tragödie ereignet, glaubt sich Miranda endgültig am Ende – bis sie beschließt, zurückzuschlagen …

Spätestens seit dem Film „Eine verhängnisvolle Affäre“ ist das Thema Stalking abgewiesener Liebhaber ein immer wieder gern genommenes Thema für Kino und Literatur. Ob es sich bei dem Psychopathen um Mann oder Frau handelt, ist dabei relativ egal; in jedem Fall geht es um verletzten Stolz und unerwiderte Gefühle, die sich zu einer Hass-Liebe steigern und dem Liebesobjekt das Leben zur Hölle machen. Auch die Darstellung des Verfolgten, dem niemand aus seiner Umgebung Glauben schenkt, ist ein beliebtes Mittel, das hier seine hitchcockeske Wirkung nicht verfehlt.

|Fiebern mit Protagonistin|

Der Roman wird aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur Miranda erzählt. Die Identifikation des Lesers und seine Sympathie sind daher ein wichtiges Kriterium, um sich in die Handlung vertiefen zu können. Tatsächlich gelingt es den Autoren gut, Miranda überzeugend darzustellen und den Leser mit ihr mitfiebern zu lassen. Miranda erscheint als durchschnittliche Frau mit mehr oder weniger liebenswerten Zügen; kein perfektes Barbiepüppchen, sondern eher eine handfeste Frau mit Charakter, die in ihrem Maler- und Tapezierberuf aufgeht, bescheiden wohnt und ihr Leben mit großer Selbstständigkeit meistert. Die Beziehung zu Brendan ist für sie kaum mehr als eine belanglose Affäre, der sie keine Sekunde lang hinterhertrauert. Miranda ist nicht oberflächlich, aber selbstbewusst genug, um zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen in ihrem Leben zu unterscheiden – und Brendan gehört dabei eindeutig zu den unwichtigen Dingen. Dazu kommt, dass sie den Schlussstrich aus sehr nahe liegenden Gründen zieht.

Auch den Leser beschleicht Empörung, als er liest, wie sich der neue Freund ungefragt in der Wohnung ausbreitet und in Seelenruhe in Mirandas Tagebuch blättert. Die Antipathie gegen Brendan ist damit unausweichlich, während man sich bereits um Mirandas Willen vor seiner Rache fürchtet. Hinzu kommt, dass uns sofort bewusst ist, dass Miranda sich nichts vorzuwerfen hat und ohne eigene Schuld die Zielscheibe von Brendans Aktionen wird. So wie sie ahnungslos in seine Fänge stolperte, könnte es auch jedem Leser ergehen, der genau wie sie nicht jeden Menschen auf Anhieb richtig einschätzen kann. Im Grunde könnte in jedem Menschen auf der Straße ein Charakter wie Brendan stecken – und das ist durchaus eine beunruhigende Vorstellung, der man sich nur schwer entzieht.

Einer weiterer gut gelungener Charakter ist Mirandas kleiner Bruder Troy. Der knapp Siebzehnjährige leidet seit Jahren unter schweren Depressionen, die ihn zum Sorgenkind der Familie Cotton machen. Gleichzeitig führen seine Intelligenz und seine kurzzeitigen Gute-Laune-Phasen bei allen Beteiligten zur besonderer Freude. Miranda liebt ihren kleinen Bruder mit aller Zärtlichkeit und kann ebenso wenig wie der Leser den Gedanken ertragen, dass Brendan ihm schaden könnte.

|Von Tatsachen und Beweisen|

Für Miranda liegt es auf der Hand, dass es sich bei Brendan um einen Psychopathen handelt. Dabei ist sie zunächst durchaus gewillt, sich für ihre Schwester zu freuen und hofft, sich mit Brendan auf einer oberflächlichen Basis – Kerry zuliebe – arrangierne zu können. Doch sein unbefugtes Eindringen in ihre Wohnung, der Einbruch in ihre Privatsphäre und obszöne Bemerkungen unter vier Augen reichen bereits aus, damit Miranda ihn von ganzen Herzen zu hassen beginnt. Vielleicht hätte ein mehrwöchiger Abstand ihre Antipathie gedämpft, doch stattdessen ziehen Kerry und Brendan vorübergehend in ihre kleine Zweizimmerwohnung.

Brendan benutzt ihr Badezimmer und tritt ungefragt ein, während sie in der Badewanne liegt; Brendan plaudert ihre Tagebuchgeständnisse auf Familienfeiern aus. Aber hat er auch nach seinem Auszug ihre Wohnung betreten, hat er tatsächlich ihr Badezimmer überflutet? Miranda ist dessen sicher, aber Beweise für diese Taten hat sie nicht. Während sie in ihrer Wut Brendan offen Beschuldigungen vorwirft, reagiert dieser so lammfromm, dass alle Freunde und Familienmitglieder ihm Glauben schenken. Auch der Leser darf hin und wieder zweifeln, ob er wirklich für alle schlimmen Taten verantwortlich ist, oder ob Mirandas Verstand wirklich beginnt, ihr Streiche zu spielen – denn schließlich kennt man nur ihre Sicht der Dinge.

Noch schlimmer kommt es, als Miranda beim Versuch, Beweise für Brendans Schuld zu finden, selber ertappt wird, wie sie seine Sachen durchwühlt. Die Detektivin wird zum Tatverdächtigen, und anstatt Brendan von ihren Lieben zu entzweien, treibt sie ihn immer weiter in deren Arme. Beinah schmerzhaft wird uns bewusst, wie schwer es ist, einen geschickten Lügner zu überführen. Für jedes Indiz, das Miranda auftreibt, hat Brendan eine Ausrede parat, die er gelassen und überzeugend den anderen erklärt. Bald hat Miranda niemanden mehr, dem sie vertrauen kann – aber sie schwört sich, nicht zu ruhen, bis sie ihre Rache bekommt …

|Kleine Konstruktionen und offene Fragen|

Auch wenn die Autoren bemüht sind, die Ereignisse subtil zu steigern, erscheint es doch ein wenig unglaubwürdig, wie viel Glück und Geschick Brendan bei seinem Vorgehen zufliegen. Es gelingt ihm, so gut wie jeden aus Mirandas Umgebung einzuwickeln und von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen und nicht zuletzt auch Kerry äußerst schnell zu einer Verlobung zu überreden. Der Zufall will es zudem, dass ein Unterkommen im Haus der zukünftigen Schwiegereltern unmöglich ist, sodass Miranda den beiden gezwungenermaßen Zuflucht in ihrer winzigen Wohnung bieten muss.

Auch muss man sagen, dass Mirandas Familie und Freunde ihr viel zu wenig vertrauen. Es scheint gar keine harte Arbeit von Brendans Seite nötig zu sein, um Miranda bei allen anderen Menschen zu diffamieren. Man möchte doch meinen, dass beste Freundinnen und engste Familienangehörige sich nicht so leicht von Fremden überzeugen lassen und zunächst einmal dem Menschen glauben, den sie ein Leben lang kennen. Unrealistisch wirkt in dem Zusammenhang ebenfalls, dass sich Brendan rasch mit dem ermittelnden Polizeibeamten, Rob Pryor, anfreundet, der natürlich im Gegenzug einer der härtesten Widersacher von Miranda wird.

Wer bis ins letzte Detail alle Hintergründe geklärt haben will, wird zum Schluss womöglich eine kleine Enttäuschung erleben. Obwohl Miranda hartnäckige Nachforschungen in Brandons früherem Leben anstellt, bleiben doch viele Fragen offen, wie er sich zu dem Menschen entwickeln konnte, der er ist. Hier bleibt Raum für Andeutungen und Spekulationen – aber manchmal ist genau das von Vorteil, denn im wahren Leben erfährt man auch nicht immer alle Beweggründe.

|Flüssiger Stil|

Nicht nur die sich immer weiter zuspitzende Handlung, sondern auch der flüssige Schreibstil sorgen dafür, dass man die knapp 400 Seiten locker in zwei Tagen herunterlesen kann. Schon ab den ersten Seiten ist man mitten im Geschehen und lebt sich in Mirandas Welt und ihre Sicht der Dinge ein. Die Autoren lassen keinen Platz für Abschweifungen oder überflüssige Nebenhandlungen; die Ereignisse werden teilweise in rascher Abfolge, aber immer überschaubar präsentiert.

Wer nicht in der glücklichen Lage ist, den Roman binnen kürzester Zeit zu verschlingen, der braucht sich nicht zu sorgen, dass ihm ein erneuter Einsteig nach einer Pause Schwierigkeiten bereitet. Die Handlung verläuft einsträngig und geradlinig, es gibt weder viele Schauplatzwechsel noch eine Masse an Namen zu merken. In der deutschen Übersetzung (und so wohl auch im Original) sind die Sätze überwiegend kurz und in einer einfachen Sprache gehalten, sodass keine hohen Konzentrationsanforderungen gestellt werden. Damit eignet sich der Thriller ideal als Urlaubszeitvertreib oder auch als Nebenherlektüre, wenn man Erholung von schwierigeren Werken sucht.

_Als Fazit_ bleibt ein unterhaltsamer Thriller, der sich zwar des altbekannten Themas über psychopathische Stalker bedient, die Handlung aber solide umzusetzen versteht. Dank des raschen Einstieges und des temporeichen Verlaufs der Handlung ist der Leser sofort drin im Geschehen. Die Ich-Erzählerin lädt zur Identifikation ein und die Spannung spitzt sich in höchstem Maße immer weiter zu. Dank des flüssigen Stils, der keinen Platz für Abschweifungen lässt, liest sich der Roman in kurzer Zeit herunter. Einige Schwächen, die aber nicht gravierend sind, liegen in der Vorhersehbarkeit der ersten Hälfte, ein paar konstruierten Ereignissen und kleine Unglaubwürdigkeiten.

_Hinter Nicci French_ verbergen sich in Wirklichkeit gleich zwei Autoren, nämlich das Journalistenehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Nicci Gerrad wurde 1958 geboren, studierte Englische Literatur und lehrte später in Los Angeles. Ihr Partner Sean French ist ein Jahr jünger und studierte ebenfalls Englische Literatur. Weitere Werke sind u.a.: „Höhenangst“ (1999), „Der Sommermörder“ (2000), „Das rote Zimmer“ (2001) und „In seiner Hand“ (2002). Zuletzt erschien auf Deutsch „Der Feind in deiner Nähe“.

Cheyney, Peter – Rote Lippen – blaue Bohnen

Zwei hochrangige Physiker sind spurlos verschwunden. In der mexikanischen Sierra Leone sollten sie zum Nutzen des freien Westens atomare Überraschungen für die heimtückischen Sowjetroten testen. J. Edgar Hoover, Leiter des FBI, entsandte den Agenten Pepper über die Grenze. Er sollte sich dort unauffällig umhören – und ging ebenfalls verloren.

Auftritt Lemuel H. „Lemmy“ Caution, FBI-Mann der draufgängerischen Sorte, der selten im Büro sitzt, sondern lieber durch die Welt gaukelt und die Bösen das Fürchten lehrt, wobei manche Flasche Whiskey und noch mehr schöne Frauen seinen Weg säumen. Inkognito reist Caution Pepper hinterher, dessen Leiche er in einem einsamen Wüstengrab findet. Auch Lemmy bekommt es sofort mit jenen dunklen Mächten zu tun, die weitere Nachforschungen und ihn im Keim ersticken wollen. Unter seinen Gegnern findet er erstaunt den Schläger Jack Hotshot, genannt „Spiegelei“, der für den Mafiaboss Mike Koltisow in Chicago die Drecksarbeit erledigt.

Aber auch dieser sitzt noch längst nicht am Ende der Fahnenstange: Dort lauern die finsteren Sowjets, die gern viel Geld für die brisanten Dokumente zahlen würden. Diese müssen ihnen – die verdrehte Dramaturgie dieser Räuberpistole will es so – in Frankreich übergeben werden. Also macht sich Lemmy auf den Weg ins alte Europa, zumal sich im Schlepptau der Gangster die schöne Georgette befindet, die es zu retten gilt. Bloß: Ist sie Opfer – oder steckt sie gar hinter den Ereignissen, die in Paris ins Rollen kommen, Lemmys Pläne gründlich durcheinander bringen und in einem furiosen Finale auf dem offenen Atlantik münden …?

Nein, der Plot ist es wirklich nicht, der den Krimifreund hier fesseln könnte. Autor Cheyney macht freilich nie einen Hehl daraus, dass er die dünne Handlung nur als Vorwand für ein turbulentes Garn betrachtet, das primär durch Schlägereien und schwitzige Techtelmechtel mit willigem Weibsvolk geprägt wird, wobei die einen mit den anderen abwechseln.

Ernst zu nehmen ist hier nichts. Physiker wurden entführt? Es könnten auch Marsmenschen sein. Der Plot ist ein Hitchcockscher „McGuffin“, d. h. eine von den Lesern verlangte Notwendigkeit, die der Handlung ein Fundament verschaffen soll. Peter Cheyney, der wie Edgar Wallace stets mit zahllosen Gläubigern auf den Fersen schrieb, kümmerte sich wenig um die Schlüssigkeit seiner Geschichten. Er erzählte sie schnell und ohne sich Gedanken über die Logik zu machen. Viel mechanisches Schreibhandwerk wird allzu offenbar, wenn sich Lemmy wieder und wieder auf offensichtlich kriminelle Frauen einlässt und Schurken vertrimmt.

Trotzdem geht die Rechnung auf: „Rote Lippen – blaue Bohnen“ unterhält. Cheyney macht Tempo, jagt Lemmy Caution kreuz & quer durch Mittel- und Nordamerika. Dass er von den realen Verhältnissen auf beiden Kontinenten nur rudimentäre Kenntnisse besitzt, ist eigentlich unwichtig. Heute gilt dies mehr denn je; Lemmy prügelt und liebt sich durch diverse Märchenländer, über die zu lesen nostalgisches Vergnügen (mit gewissen Einschränkungen – s. u.) bereitet.

Wer heute an Lemmy Caution denkt, vor dessen geistigem Auge entsteht sofort die narbige, dauergrinsende Visage des Schauspielers Eddie Constantine, der mit dieser Figur nicht nur die Rolle seines Lebens fand, sondern ihr vor allem eine Gestalt verlieh, die sie angenehm vom literarischen Vorbild unterschied.

Lemmy Caution à la Peter Cheyney ist eine Figur, über welche die Zeit längst hinweggegangen ist. Einst war er der Held für kleine und große Jungs – ein Kriminalist, der jeglicher bürokratischer Vorschriften und alltäglicher Langeweile enthoben war, und stattdessen durch die ganze Welt zog, um dort allerlei Gangsterpack zu jagen. Stets hat dieser Lemmy einen coolen Spruch auf und eine Flasche Whiskey an den Lippen. („Ich muss selbst auf mich aufpassen, denn mein FBI-Ausweis ist hier für mich genausoviel wert wie ein Erdbeereis für einen Eskimo mit doppelseitiger Lungenentzündung.“) Schöne Frauen ziehen ihn an wie das Licht die Motte; auf die weibliche Gegenseite wirkt die Anziehungskraft sogar noch stärker.

Diese Damen heißen hier Fernanda oder Zellara aber ihre Namen sind unwichtig: Cheyney-Frauen sind austauschbar schön aber heimtückisch. Sie schmelzen wie Butter in der Sonne, sobald Lemmy auf der Bildfläche erscheint, doch den freigiebig (wenn auch zeitgebunden züchtig) dargebotenen Reizen ist meist nicht zu trauen. Dame und Herr tauschen andeutungsreiche Anzüglichkeiten aus, denen aber niemals bettschwere Taten folgen.

Caution kämpft gegen Verbrecher, die mit der Realität rein gar nichts verbindet. Raue Kerls sind das, denen ihr Job ins hässliche Gesicht geprägt steht. Sie reden und handeln so, wie sich der fleißige Kinosesseldrücker das einst vorstellte. Bei aller Brutalität sind sie ziemlich dumm, so dass sich Caution mit flinken Fäusten & flotten Sprüchen aus jeder Todesfalle winden kann.

Das geht in Ordnung so, denn Cheyney-Thriller sind unter kriminalliterarischen Gesichtspunkten fröhlicher Unsinn, der einfach nur unterhalten soll. Allerdings war der echte Peter Cheyney, der sich gern als kosmopolitischer Lebemann gab, nach Aussagen seiner Zeitgenossen kein durchweg angenehmer Mensch. So soll er ausgesprochen rassistisch gewesen sein. Nach der Lektüre von „Rote Lippen – blaue Bohnen“ will oder muss man das gern glauben. Die Geschichte spielt in Mexiko, dessen Bürger der Verfasser entweder herablassend – Lemmy duzt sie alle, während er selbstverständlich gesiezt wird – oder offen als „Menschen minderer Klasse“ behandelt werden:

– „Sie setzen sich hin, greifen nach ihren Gitarren und gucken verdutzt aus der Wäsche, wie das die Mexikaner immer tun, wenn sie merken, dass sie arbeiten müssen.“ (S. 9)
– „Ich stelle fest, dass sie für eine Mexikanerin einen verteufelt hübschen Mund hat. Sie hat nicht solch dicke Lippen wie die meisten Frauen hier unten …“ (S. 11)
– „Er hat den Mund voll Gold wie jene naiv-protzigen Südamerikaner, die damit zeigen wollen, dass sie die Taschen voll Geld haben.“ (S. 109)

Dies sind willkürlich herausgegriffene Beispiele. Die traurige Liste lässt sich leicht verlängern. Für Caution = Cheyney sind alle (männlichen) Mexikaner faule, verlogene, geldgierige, korrupte Gockel, die man ordentlich züchtigen muss. Die Frauen sind hitzig und allzu freizügig, so dass ein (weißer) Mann, der auf sich hält, es tunlichst vermeidet, sich in amouröse Niederungen zu begeben. Dass solche Niederträchtigkeiten quasi wie nebenbei und in Nebensätzen geäußert werden, zeigt, dass sie vom Verfasser so beabsichtigt sind.

Die deutsche Übersetzung versucht den Verfasser offenbar noch zu übertrumpfen. „Don’t Get Me Wrong“ wurde 1939 veröffentlicht, „Rote Lippen – blaue Bohnen“ indes erst 1954, als die Lemmy-Caution-Filme auch die deutschen Zuschauer in die Kinos lockten. Die Handlung wurde „aktualisiert“: Plötzlich lesen wir von Lemmys Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, der zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung gerade erst begonnen hatte. Es fällt ohne Blick in den Originaltext schwer zu beurteilen, ob sich der Plot auch ursprünglich um Atomspionage mit sowjetischen Drahtziehern drehte. Sowjets gab es auch 1939 schon, aber die gesamte Kalter-Krieg-Szenerie muss dem Roman nachträglich aufgepfropft worden sein – samt hysterischer Hasstiraden gegen die roten Teufel, die Lemmy am liebsten über den Haufen schießen will.

|“Rote Lippen – blaue Bohnen“ – der Film|

Eddie Constantine spielte die Lemmy-Caution-Figur mit der nötigen Dosis Selbstironie, welche zum operettenhaften Geschehen passt, was ihr bei Cheyney völlig abgeht. Constantines Caution ist ein sympathischer, großer, nie erwachsen gewordener, kalauernder Junge, der weder sich noch die absurden „Kriminalfälle“ ernst nimmt, in die er ständig verwickelt wird. Diese Unbekümmertheit floss in die rasant gemachten B-Movies der 1950er Jahre ein, die Constantine, ein US-Amerikaner in Frankreich, wie am Fließband drehte. „Rote Lippen – blaue Bohnen“ („Vous Pigez?“/“Il Maggioratio Fisico“), eine französisch-italienische Coproduktion, entstand 1955 unter der Regie von Pierre Chevalier. Vor und hinter der Kamera tummelten sich filmerfahrene Leute, so dass dieses vierte Filmabenteuer von Lemmy Caution trotz der dicken Staubschicht, die sich auf diesen Streifen gelegt hat, auch heute noch anschaubar ist. (Hier dreht sich die Story übrigens nicht um geheime Sprengstoffe, sondern um die Herstellung künstlicher Diamanten – ein weiterer Hinweis auf die Nebensächlichkeit von Logik.)

Reginald Evelyn Peter Southouse Cheyney wurde am 22. Februar 1896 in London, Stadtteil Whitechapel, als jüngstes von fünf Kindern geboren. Rechtsanwalt sollte er werden, doch wie so viele seiner Altersgenossen musste er in den I. Weltkrieg einrücken, wo er es bis zum Lieutenant brachte. Der junge Mann versuchte nach seiner Entlassung im Showbusiness Fuß zu fassen. Jahre der Armut folgten, in denen Cheyney kleine Theaterrollen ergatterte, Sketche und Lieder schrieb. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verzeichnete Cheyney endlich Erfolg als Ghostwriter, der unter dem Namen eines ehemaligen Polizisten „wahre Kriminalgeschichten“ verfasste. Er gründete eine Literaturagentur, die gleichzeitig Detektei war.

1936 versuchte sich Cheyney als Schriftsteller unter eigenem Namen. „This Man is Dangerous“, der erste Roman einer Serie um den FBI-Agenten Lemmy Caution, wurde sogleich ein großer Erfolg. Auch mit Slim Callaghan, einem britischen Privatdetektiv, traf Cheyney ins Schwarze. In den nächsten 15 Jahren verfasste er mindestens zwei Romane pro Jahr. Hinzu kamen unzählige Kurzgeschichten, die sich derselben Mixtur aus Sex & Crime bedienten wie später u. a. Ian Fleming (James Bond) oder Mickey Spillane (Mike Hammer).

Peter Cheyney ließ die Kerze seines Lebens an beiden Enden kräftig brennen. Schon in den späten 1940er Jahren begann der Raubbau, den er mit seinen Kräften trieb, seine Folgen zu zeigen, ohne indes seine Produktivität zu beeinträchtigen. Am 26. Juni 1951 ist Cheyney im Alter von nur 55 Jahren gestorben.

Den eigentlichen Erfolg seiner Werke erlebte Cheyney nicht mehr. Besonders in Frankreich erfreuten sich seine unbekümmert harten, anspruchslosen Geschichten großer Wertschätzung. Zwei Jahre nach seinem Tod entstand mit „La mome vert-de-gris“ (dt. „Im Banne des blonden Satans“) der erster einer langen Reihe von Lemmy-Caution-Streifen, die den aus Los Angeles stammenden, in den USA erfolglosen Schauspieler Eddie Constantine (1917-1993) zum europäischen Film- und Kultstar machten. Auch in Deutschland liefen diese rabaukig charmanten B-Movies viele Jahre erfolgreich in den Kinos und später im Fernsehen. Primär kamen die deutschen Leser in den Genuss der Cheyney-Romane um Caution und Callaghan, während das sonstige Werk nur sporadisch Aufmerksamkeit gewann. Seit den 1980er Jahren werden die lange nachgedruckten Romane nicht mehr aufgelegt.

Die Lemmy-Caution-Serie:

01. This Man is Dangerous (1936, dt. „Eine Dame stiehlt man nicht/Dieser Mann ist gefährlich“)
02. Poison Ivy (1937; dt. „Hiebe auf den ersten Blick“)
03. Dames Don’t Care (1937; dt. „Schwierige Damen/Serenade für zwei Pistolen“)
04. Can Ladies Kill? (1938, dt. „Frauen sind keine Engel/Lemmy schießt nicht auf Blondinen“)
05. Don’t Get Me Wrong (1939, dt. „Rote Lippen – blaue Bohnen“)
06. You’d Be Surprised (1940; dt. „Auf Befehl der FBI“)
07. Your Deal, My Lovely (1941; dt. „1 : 0 für Lemmy“)
08. Never a Dull Moment (1942; „Im Bann der grünen Augen/Lemmy lässt die Puppen tanzen“)
09. You Can Always Duck (1942; dt. „Gut versteckt ist halb gewonnen“)
10. I’ll Say She Does (1945; dt. „Die Geheimakten/Wer Lemmy eine Grube gräbt“)

Kastenholz, Markus – Bleichgesicht

Frank Kroll führt im Rheingau das zurückgezogene Leben eines Außenseiters. Er ist ein Albino, lichtempfindlich und nachtaktiv. Mit seiner hellen Haut, den weißen Haaren, der obligatorischen Sonnenbrille und dem zusätzlichen Übergewicht bietet er einen befremdlichen Anblick. Dank finanzieller Unabhängigkeit arbeitet er sporadisch als Graphiker, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg.

Eines Tages trifft er in seiner eigenen Kneipe eine alte Freundin wieder, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Franziska war nicht nur seine Schulkameradin, und sondern auch seine damalige Liebe. Inzwischen ist sie mit dem schwerreichen Georg Fentz verheiratet, der seine Geschäfte über das Privatleben stellt. Doch der Grund für Franziskas Rückkehr an den Ort ihrer Jugend ist trauriger Natur: Ihre Tochter Eva wurde im hiesigen Internat Adlerhorst, das seinerzeit auch Franziska und Kroll besuchten, tot aufgefunden. Die Vierzehnjährige hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und stürzte anschließend aus dem Fenster. Die Polizei vermutet Selbstmord oder einen Unfall im Drogenrausch, aber Franziska glaubt an Mord.

Kroll entschließt sich, seiner alten Freundin zu helfen, und verwickelt sich immer tiefer in den Fall und in die Erinnerungen an seine Schulzeit. Einer seiner Anknüpfungspunkte ist ein weiterer ehemaliger Freund, Thorwald Melchior, der als Lehrer im Internat arbeitet und Eva gut kannte. Unterstützung erhält Kroll von seinem Freund Ingo Schuster, dem ermittelnden Kriminalbeamten. Die Motive für Evas Selbstmord bleiben rätselhaft, und schon bald entdeckt Kroll Hinweise darauf, dass sich ein Verbrechen hinter ihrem Tod verbirgt. Eine Spur führt ihn auf den Weg zum Drogendealer Mühlberg, der kurz darauf auf bestialische Weise getötet wird. Es folgen weitere grausame Morde, die die Region erschüttern. Auf der Suche nach den Zusammenhängen verstrickt sich Kroll immer weiter in einen Strudel aus Gewalt, verwirrten Gefühlen und Rache …

Auch wenn dem Leser hier ein bodenständiger Krimi geboten wird – dass der Autor aus dem Phantastik-Bereich kommt, ist nicht zu übersehen. Zwar ist „Bleichgesicht“ frei von übernatürlichen Elementen, aber der Horror schmeckt deutlich durch die Handlung hindurch. Bei den geschilderten Morden wird kaum ein Blatt vor den Mund genommen und empfindliche Leser sollten ihre Magentabletten bereithalten. Die Beschreibungen der Tatorte und der Opfer werden zwar nicht extrem ausufernd, aber doch recht detailliert beschrieben. Nicht nur Kroll und sein Freund Ingo Schuster müssen bei den Anblicken schwer schlucken, auch dem Leser erscheinen vor dem geistigen Auge Bilder, wie man sie aus brutalen Horrorfilmen kennt. Die Themen kreisen um Kindesmissbrauch, Drogenhandel und Mord. Es ist kein sauberer britischer Krimi, in dem die Ermordeten mit Gifttabletten sanft entschlafen wurden, sondern harte Realität, die keine Rücksicht auf Würde oder Schonung nimmt. Und nicht nur die Ereignisse sind hart und kompromisslos, sondern auch die Worte der Charaktere, die auf vornehme Zurückhaltung verzichten. Hier wird beschmipft, geflucht und verteufelt, in Gedanken wie in offener Rede, glücklicherweise ohne dabei allzu vulgär zu werden. Mag man angesichts des deftigen Vokabulars mancher Personen anfangs noch etwas irritiert sein, gewöhnt man sich schnell an die ungeschönten Ausdrucksweisen, die den Dialogen obendrein den nötigen Realismus verleihen.

|Außergewöhnlicher Protagonist|

Gut gelungen ist die Darstellung des Protagonisten. Frank Kroll, der sich am liebsten nur mit dem Nachnamen anreden lässt, ist ein ungewöhnlicher Charakter, und das nicht nur, aber natürlich auch wegen seiner Albinokrankheit. Er lebt menschenscheu, ist Hänseleien und irritierte Blicke gewohnt und besitzt keine Aussicht auf eine erfüllte Partnerschaft. Da ist es kein Wunder, dass das unerwartete Auftauchen seiner alten Liebe Franziska für emotionale Verwirrung sorgt. Auch wenn man in seinem Alltag und seinen Problemen kaum das eigene Leben wiedererkennt, gelingt es doch recht bald, sich mit ihm zu identifizieren und diese eigenwillige Person zu mögen – obwohl oder gerade weil Kroll alles andere als ein Durchschnittsbürger ist. Erzählt wird überwiegend aus seiner personalen Perspektive. Einerseits merkt man, dass es sich bei ihm um einen schwierigen Menschen handelt, andererseits fühlt man mit ihm und interessiert sich zunehmend für sein Schicksal. Besonders deutlich wird das in der Mitte der Handlung, als er zum ersten Mal eine sehr persönliche Episode aus seiner Vergangenheit offenbart, die zwar recht klischeehaft ist, aber dennoch betroffen macht. Im übertragenen Sinne blasser als der Albino Kroll bleiben dagegen die anderen Charaktere, allen voran Franziska Fentz. Während in der ersten Hälfte noch eine gewisse Spannung besteht aufgrund ihrer früheren Verbindung zueinander, geht Franziska im weiteren Verlauf regelrecht unter und wird zur Statistin degradiert. An ihre Stelle tritt eine andere Frau, für die Kroll Empfindungen aufbaut. Anja Ahlers ist die Leibwächterin von Georg Fentz und mit ihrer Durchsetzungskraft und ihrer schlagfertigen Art kein uninteressanter Charakter, aber doch im Vergleich zur Hauptfigur nicht lebendig genug – vor allem angesichts der Rolle, die sie für den Roman spielt.

|Schwarzer Humor und straffe Handlung|

Trotz aller Härte und aller dargebotenen Grausamkeiten der Handlung besitzt der Roman eine ordentliche Portion Humor, die weitestgehend adäquat eingebunden wird. Vor allem Kroll ist es, der fast jedes Ereignis, entweder laut oder in Gedanken, mit einem zynischen Spruch kommentiert, der ein Schmunzeln beim Leser hervorruft, z. B. wenn Anja Skepsis empfindet „als melde sich beim Papst Saddam Hussein mit dem Anliegen zu konvertieren“ und sich Kroll beim Aufwachen fühlt „wie eine Henne in einer Legebatterie aussah“. Allerdings sind nicht alle Vergleiche gleich gut gelungen; störend wird es beispielsweise dann, wenn abgegriffene Formulierungen wie „fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren“ bemüht werden, die schon bei ihrer Erfindung nicht wirklich komisch waren.

Sehr positiv zu vermerken ist die Geradlinigkeit des Romans, die keinerleih Längen oder Abschweifungen zulässt. Die Handlung ist dicht gefasst, die Ereignisse geschehen innerhalb kurzer Zeiträume und der Leser hat keine Mühe, den Ermittlungen zu folgen. Sowohl die Örtlichkeiten als auch die Personen sind überschaubar gehalten, sodass keine Verwirrungsgefahr gegeben ist. Dabei bleibt dennoch Zeit für ruhige Momente, in denen vor allem Kroll in Nachdenklichkeit verfällt und Vergangenes Revue passieren lässt – allerdings stets in angemessener Kürze, sodass der Handlungsbogen die ganze Zeit über straff gespannt bleibt. Bis zum Ende bleibt Spannung erhalten, auch nach der Klärung der Täterfrage, da nicht nur die Verbrechen, sondern auch zwischenmenschliche Fragen geklärt werden wollen. Das Ende bietet einen perfekten Abschluss, der im passenden Maß Raum zum Reflektieren und Weiterdenken lässt und dabei zugleich den Leser zufrieden stellt. Schade ist jedoch, dass das eigentliche Motiv und seine Hintergründe sehr spät und wie aus heiterem Himmel eingeführt werden. Die Lösung wirkt eher aufgesetzt und hätte diverse subtile, frühere Andeutungen verdient, um beim Leser besser akzeptiert zu werden.

|Flüssiger, aber eigenwilliger Stil|

Das Schriftbild und der Stil überraschen hin und wieder durch Eigenwilligkeit. So fehlt grundsätzlich das Leerzeichen vor den Auslassungspunkten, was eine Eigenheit des Verlags zu sein scheint. Der Stil ist sicher, überzeugt durch kurze, übersichtliche Sätze ohne Verschachtelungen; allerdings stört der bisweilen exzessive Gebrauch von Ausrufezeichen. Auffallend ist zudem, dass scheinbar um jeden Preis das Wort „sagte“ vermieden wurde; stattdessen finden sich immer abenteuerlichere Umschreibungen, die teilweise nichts mit Reden zu tun haben. An manchen Stellen enden wörtliche Reden demzufolge mit „sah er betrübt auf die Tischplatte“ oder „machte er“, woran man sich zwar mit der Zeit gewöhnt, was sich aber eher unbeholfen liest. Ein weiteres Merkmals des Autors ist die ebenfalls übertrieben anmutende Vermeidung von mit „dass“ eingeleiteten Nebensätzen. Stattdessen herrscht ein parataktisch dominierter Stil vor, in dem Nebensätze umgangen und durch aneinandergereihte Hauptsätze ersetzt werden. Davon abgesehen liest sich der Roman flüssig, vor allem die zweite Hälfte läd dazu ein, in einem Rutsch verschlungen zu werden.

_Als Fazit_ bleibt ein solider Kriminalroman mit starken Horroreinflüssen, der vor allem Lesern, die nicht vor plastischen Schilderungen und brutalen Geschehnissen zurückschrecken, gefallen dürfte.

_Der Autor_ Markus Kastenholz, Jahrgang 1966, ist (gemeinsam mit Timo Kümmel) Herausgeber des phantastischen Magazins NOCTURNO und der EDITION NOCTURNO im Virpriv-Verlag. Er veröffentlichte mehrere Beiträge in Anthologien sowie diverse Einzeltitel, darunter die Serie „Tiamat – Im Auge des Drachen“ und die Horror-Anthologie „Dämonium“.

http://www.betzelverlag.de/

Bo R. Holmberg – Schneegrab

In der nordschwedischen Provinz kommt es im Winter des Jahres 1849 zum tödlichen Streit zwischen zwei Landstreichern. Der mit den Ermittlungen in diesem Routinefall beauftragte Polizeiamtmann kommt vor Ort zufällig einem ganz anderen, wesentlich schlimmeren Verbrechen auf die Spur … – Lesenswerter skandinavischer Historienkrimi der besonders düsteren Art. Ohne falsche Nostalgie schildert der Verfasser eine kalte, karge Landschaft, deren Bewohner von Pflicht und Tradition in ihrem harten Alltagstrott gefangen werden, bis sie dem Druck nicht mehr standhalten und sich – mit oft tödlichen Folgen – Luft verschaffen.
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Ridpath, Michael – Absturz

_Story_

Alex Calder verdiente sich einst seine Sporen als Oberleutnant der Royal Air Force. Nach einem Tornadoabsturz, den ein Insasse mit dem Leben bezahlen musste, sah sich Alex jedoch gezwungen, das Metier zu wechseln. Seitdem ist er Trader bei der erfolgreichen Investment-Bank Bloomfield Weiss und hat mit dazu beigetragen, dieses Unternehmen an die Spitze zu bringen. Seine Kenntnisse über den internationalen Devisenmarkt haben ihm bei seiner zweiten Chance einen steilen Karriereverlauf ermöglicht, dessen Ende noch nicht in Sicht ist.

Dann jedoch wird Alex in einen geheimnisvollen Komplott verstrickt. Seine Kollegin Jennifer Tan wendet sich vertrauensvoll an ihn und berichtet ihm von den unmoralischen Angeboten des Star-Traders von Bloomfield Weiss. Sie fühlt sich von ihm immer stärker belästigt, kann sich aber alleine nicht zur Wehr setzen. Calder versucht daraufhin, ihr zu helfen, bekommt aber von den Bossen eine Abfuhr erteilt – man will ihm nicht glauben, schließlich ist der Kollege ja auch ein indirekter Konkurrent. Jennifer sieht keinen anderen Ausweg mehr und zieht gegen die Firma vor Gericht.

Doch dies ist ihr Todesurteil; wenige Tage später kommt sie nämlich bei einem Sturz aus dem Fenster ihrer Wohnung ums Leben. Die Verstrickungen scheinen jedoch auch mit ihrem Tod kein Ende zu finden, denn die Polizei handelt den Todesfall als Selbstmord ab. Alex indes glaubt nicht an das Urteil der Behörden und versucht auf eigene Faust, der Sache auf die Spur zu kommen. Als dann schließlich ein weiterer Mordfall sein Umfeld erschüttert, wird die Sache langsam heikel …

_Meine Meinung_

„Absturz“ ist mit Sicherheit kein ungewöhnlicher Thriller, dafür aber ein verdammt guter. In bester Tom-Clancy-Manier strickt Michael Ridpath hier eine sehr spannungsgeladene, mit zahlreichen überraschenden Wendungen gewürzte Story zusammen, bei der er sein umfassendes Wissen über den internationalen Finanzmarkt bestens einbringen kann. Was meist zu trockner Selbstbeweihräucherung führt – schließlich rühmt sich ja so mancher Autor gerne mit seiner Fachkundigkeit –, ist bei Ridpath aber nur Mittel zum Zweck und wird auch nicht ständig in den Vordergrund gestellt. Der Autor erklärt lediglich den Aufbau der Firma Bloomfield Weiss anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und geht auch nur auf die Zusammenhänge näher ein, die für die Progression des Plots wichtig sind. Genau so lässt sich Beamtenjargon fließend lesen!

Im Vordergrund steht indes natürlich die Geschichte des Protagonisten Alex Calder. Bei ihm sind der im Titel thematisierte Absturz und der darauf folgende, rasante Aufstieg eng miteinander verknüpft. Calder wird als eine sehr ehrgeizige Person vorgestellt, ein Workaholic, der als Karrieremensch eine echte Identifikationsfigur darstellt. Eigentlich lässt sich der Hauptakteur auch durch nichts aus der Ruhe bringen, bis ihn plötzlich einige unliebsame Ereignisse, die zunächst außerhalb seines Einflussbereiches geschehen, einholen. Mit Willenskraft und dem Einsatz, der Calder schon ein Leben lang ausgezeichnet hat, versucht er, die Angelegenheiten wieder ins Lot zu bringen, läuft dabei aber samt seiner Kollegin Jennifer Tan gegen Wände an. Gedanken an die Vergangenheit steigen auf, doch dieses Mal lässt sich der erfolgreiche Trader nicht mehr von seinem Ziel abbringen. Und somit kämpft er auch gegen einen erneuten Absturz.

Die Elemente, mit denen Ridpath in seinem aktuellen Roman arbeitet, sind indes nicht besonders aufregend. Es ist eben alles schon mal dagewesen, angefangen bei den üblen Verstrickungen in der großen Firma bis hin zur ernüchternden Selbstmord-Theorie, der man nicht so wirklich glauben will. Und dennoch ist „Absturz“ ein wirklich empfehlenswertes Buch geworden. Michael Ridpath schafft es nämlich sehr schön, selbst derart bekannte Inhalte zu einer mitreißenden Story umzufunktionieren, die aufgrund der vielen überraschenden Ereignisse merklich an Klasse gewinnt. Es ist in etwa vergleichbar mit den Grisham-Romanen; auch der berühmte Bestseller-Jurist arbeitet in jedem Buch nach demselben Strickmuster, zaubert aber jedes Mal wieder eine umwerfende Geschichte hervor, ohne dabei ausschließlich Klischees zu bemühen. Zwar liegen zwischen Grisham und Ridpath stilistisch Welten (abgesehen vom vergleichbaren Aufbau von „Die Firma“), doch die Ansätze sind durchaus ähnlich – und das Ergebnis auch.

Die Geschichte ist stark, die Charaktere glaubwürdig und der Aufbau trotz vieler Verzwickungen durchweg logisch, gehörige Spannung inklusive. Ridpaths mittlerweile vierter Roman ist ein wirklich atemberaubender Thriller, den man so schnell nicht mehr beiseite legen kann. Wer sich mit der Literatur von Leuten wie Tom Clancy beschäftigt und diese zu schätzen gelernt hat, wird an „Absturz“ sicherlich eine Menge Freude haben.

Stieg Larsson – Verblendung (Millennium 1)

Wenn man den Pressestimmen im Klappentext Glauben schenkt, dann dürfte „Verblendung“ von Stieg Larsson eine der vielversprechendsten Thriller-Veröffentlichungen des Jahres sein. Der kritische Leser mag da gleich entgegenhalten, dass ebendiese Pressestimmen allesamt von schwedischen Zeitungen mit unaussprechlichen und nach Ikea-Katalog klingenden Namen kommen, doch für den |Heyne|-Verlag war dies kein Hindernis, „Verblendung“ schon mal im Vorfeld als Thrillerveröffentlichung des Jahres zu lobpreisen. Ob das alles nur leere Versprechungen sind oder in dieser Lobhudelei wirklich ein Fünkchen Wahrheit steckt, soll der folgende Text klären.

Ganz beschaulich fängt der Roman an, als der Journalist Mikael Blomkvist den Auftrag erhält, eine Familienchronik im Auftrag des Patriarchen Henrik Vanger zu schreiben. Die Vangers stehen einem der größten schwedischen Konzerne vor, einem komplexen Familienimperium, das tief in der schwedischen Geschichte verwurzelt ist.

Für Mikael kommt dieser Auftrag gerade zur rechten Zeit, gibt er ihm doch die Möglichkeit, nach seiner Verurteilung wegen übler Nachrede aus dem Rampenlicht der Stockholmer Pressewelt abzutauchen. Mikael hatte in einem Artikel für sein Magazin „Millennium“ über zwielichtige Geschäfte des Großindustriellen Hans-Erik Wennerström berichtet, aber in der darauf folgenden Gerichtverhandlung den Kürzeren gezogen.

So richtet Mikael sich also auf der beschaulichen Insel Hedeby ein, um an Vangers Familienchronik zu schreiben. Was nur Henrik Vanger und er selbst wissen, ist, dass dies nur ein Scheinauftrag ist. In Wirklichkeit soll Mikael herausfinden, was aus Vangers vor vierzig Jahren verschwundenen Großnichte geworden ist. Harriet Vanger war in Henrik Vangers Augen eine wichtige Hoffnung für die Zukunft des Vangerschen Konzerns. Doch Harriet verschwand während einer Familienzusammenkunft auf der Insel unter mysteriösen Umständen. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Henrik Vanger vermutet einen Mord.

Als Mikael nach einigen Wochen der Ermittlungen wider Erwarten eine erste Spur entdeckt, wird ihm die junge Ermittlerin Lisbeth Salander zur Seite gestellt. Lisbeth, die mit sehr eigenwilligen Methoden arbeitet und sich nie in die Karten gucken lässt, stellt sich als überaus pfiffige und kompetente Assistentin heraus. Gemeinsam kommen die beiden auf die Spur eines alten Familiengeheimnisses und bringen sich durch ihr Wissen schließlich selbst in Gefahr. Wie schwer die Wahrheit wirklich wiegt, die die beiden zutage fördern werden, ahnen sie dabei selbst noch nicht, aber sie werden sich wünschen, dieses grausige Geheimnis niemals aufgestöbert zu haben …

Der Handlungsabriss von „Verblendung“ verspricht schon außerordentlich spannende Lektüre. Obwohl Larsson den Handlungsbogen ganz gemächlich spannt, zieht er den Leser gleich tief in die Geschichte hinein. Er erzählt auf eine schlichte und lockere Art, schafft es aber, den Leser von Anfang an mitzureißen. „Verblendung“ ist ein Buch, das den Anschein erweckt, als würde es sich quasi von selbst lesen. Leichtfüßig huscht man mit den Augen über die Seiten und zieht dabei unmerklich mit der Zeit das Lesetempo an – bis man irgendwann an den Punkt kommt, dass man „Verblendung“ nicht mehr gerne aus der Hand legen mag.

Dabei ist es nicht einmal die Spannung, die den Leser von der ersten Seite gefangen nimmt. Vielmehr sind es die Figuren, mit denen man mitfiebert. Larsson widmet sich erst einmal in aller Ruhe dem Leben seiner beiden Protagonisten Mikael und Lisbeth. In aller Ruhe erzählt er ihre Vorgeschichte (die in beiden Fällen durchaus interessant ist) und sorgt damit für eine vergleichsweise enge Bindung zwischen Leser und Figuren. Larsson geht es ganz offensichtlich nicht einfach nur darum, oberflächliche Spannung zu erzeugen und den Leser in einem atemlosen Plot mitzureißen, er legt seine Geschichte auf etwas mehr Tiefe an.

Mikael und Lisbeth sind zwei Figuren, die für sich genommen schon reichlich unterhaltsam sind. Beide haben ihre ganz ureigenen Macken. Bei Mikael ist es ein permanentes, offenes Dreiecksverhältnis, das er nun schon seit Jahren mit Freundin und Chefredakteurin Erika pflegt. Bei Lisbeth ist es ihre mangelnde soziale Kompetenz. Lisbeth ist aktenkundig und wird betreut, ist in ihrem Job als Ermittlerin für eine Security-Firma aber unübertroffen. Mikael und Lisbeth sind in ihrer ganzen Art und Weise ein interessanter Gegensatz, und auch dieser ist es, der auf den Leser einen Reiz ausübt und ihn bei der Stange hält.

Mit dem Thrillerplot lässt sich Larsson dagegen Zeit, aber das kann er sich durchaus leisten, denn auch so bleibt die Geschichte stets interessant. Mikaels Arbeit gleicht der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Immer wieder geht er Akten und Polizeiberichte durch, die vor ihm schon andere zigmal durchgekaut haben. Natürlich ist dem Leser klar, dass Mikael irgendwann etwas finden wird, aber dadurch, dass Larsson diesen Moment hinauszögert, steigert er die Spannung.

Als Mikael dann die erste Spur entdeckt, beginnt Larsson kontinuierlich an der Spannungsschraube zu drehen. Mit viel Liebe zum Detail schildert er Mikaels mühselige Vorgehensweise zur Rekonstruktion der Geschehnisse von vor vierzig Jahren. Als dann die ersten Drohungen gegen das Ermittlerduo von unbekannter Adresse kommen, steigt die Spannung zu ihrem Höhepunkt an. Larsson enthüllt eine grausige Familiengeschichte, und das Wissen darum ist für beide Protagonisten gleichermaßen belastend.

Der Spannungshöhepunkt ist dann schon weit vor Ende des Buches erreicht. Schon 150 Seiten vor dem Ende des Romans ist der Fall geklärt – größtenteils schlüssig aufgelöst und bis auf in kleineren Details durchaus glaubwürdig. Doch auch nach diesem vermeintlichen Ende gibt es noch einiges Spannendes zu lesen. Auch wenn der Fall abgeschlossen ist, so gibt es für die Protagonisten doch noch Vieles zu tun. Auch hier steigt die Spannung zum Ende hin dann noch einmal gewaltig an und endet mit einem Tusch, der die Romankomposition wunderbar abrundet.

Vom Aufbau her kann man „Verblendung“ durchaus als sehr gelungene Spannungslektüre sehen. Der Plot ist dicht und fein gewoben, der Leser fiebert mit den Figuren mit und der Erzählstil ist so eingängig und leichtfüßig, dass man bei der Lektüre gerne mal die Zeit vergisst. Man bekommt einen Einblick in den Journalistenalltag und blickt den Figuren bei all ihren Aktivitäten stets über die Schulter. Man ist nah am Geschehen, schmunzelt und leidet mit den Protagonisten, die sehr bildhaft und trotz ihrer merkwürdigen Eigenarten lebensnah erscheinen.

„Verblendung“ ist der Auftakt zu Larssons „Millennium-Trilogie“. In Schweden hat sich der Roman so ordentlich verkauft, dass die Verfilmung offenbar bereits in Arbeit ist. Die Filmrechte hat sich übrigens die gleiche Produktionsfirma gesichert, die auch schon Mankells Wallander-Krimis verfilmt hat. Larsson ist mit „Verblendung“ für den „Gläsernen Schlüssel“, den schwedischen Krimipreis, nominiert worden. Larsson selbst war seines Zeichens Journalist und Herausgeber des schwedischen Magazins „EXPO“ – also selbst ein kleiner Mikael Blomkvist. Vielleicht wirkt auch deswegen das Leben von Blomkvist so authentisch. Larsson starb leider schon 2004 fünfzigjährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

Kurzum: Mit „Verblendung“ ist Stieg Larsson ein überaus spannend erzählter Roman geglückt. Ob das Ganze nun wirklich die Thriller-Veröffentlichung des Jahres ist, werden wir wohl erst am Jahresende wissen. Dennoch kann man „Verblendung“ getrost weiterempfehlen. Man fiebert mit den Figuren mit, schließt sie in sein Herz und mag sie am Ende des Romans gar nicht mehr verlassen. Der Spannungsbogen strebt kontinuierlich aufwärts und trotzdem besitzt Larsson die Professionalität, seinen Roman gewissermaßen ruhig angehen zu lassen. Freunden spannender Lektüre absolut zu empfehlen, denn mit diesem Buch vergisst man die Zeit.

Kalla, Daniel – Pandemie

_Ein neues Virus_

Dr. Noah Haldane ist Spezialist für Infektionskrankheiten und neue Krankheitserreger. Als Mitarbeiter eines Expertenteams der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt er einem Hilferuf der chinesischen Regierung und versucht die Ausbreitung einer neuen und sehr gefährlichen Grippevariante, die in der abgelegenen Provinz Gansu im Norden Chinas aufgetreten ist, zu verhindern. Die Erkrankung erhält das Akronym ARCS (Acute Respiratory Collapse Syndrome) da ein Viertel der Infizierten an einem Zusammenbruch der Atemfunktionen verstirbt.

Das Virus weckt bei Dr. Haldane Erinnerungen an die letzte große Grippepandemie von 1918, bei der mehr als 30 Millionen Menschen starben. Genau wie damals erkranken auch viele junge Erwachsene, während sich bei einer „normalen“ Grippe vor allem Immunschwache, besonders Alte und Kleinkinder infizieren. Dabei scheint jedoch dieses neue Virus, obwohl es zum Glück nicht ganz so ansteckend ist, um vieles tödlicher zu sein als das Virus vom Typ H1N1, welches damals als „Spanische Grippe“ grassierte. Durch sofortige Quarantänemaßnahmen und Massenschlachtungen von Hühnern und Schweinen in der gesamten Provinz gelingt es schließlich, eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Die Gefahr einer Pandemie der „Gansu-Grippe“ scheint gebannt.

_In der Hand von Terroristen_

Doch während das Expertenteam um Dr. Haldane aufatmet, wird der Erreger der „Gansu-Grippe“ schon eifrig in einem geheimen Forschungslabor im Norden Somalias in Hühnereiern kultiviert. Noch vor der Ankunft der WHO-Experten in China gelang es zwei Malaien durch Bestechung des Stellvertretenden Klinikdirektors Ping Wu, zu einem der Infizierten vorzudringen und dessen virushaltige Körpersekrete aus China herauszuschmuggeln.

Der Drahtzieher hinter diesem „Diebstahl“ ist der einflussreiche ägyptische Zeitungsmagnat Hazzir Al Kabaal. Obwohl Kabaal in Europa studiert hat und durch sein ganzes Auftreten eine pro-westliche Haltung signalisiert, gehört er insgeheim einer radikalen muslimischen Vereinigung an. Durch den Angriff der westlichen Mächte auf den Irak verbittert und zu seinen islamischen Wurzeln zurückgekehrt, benutzt er schon seit längerem seine Zeitungen und sein Geld, um für den Islam einzutreten und heimlich verschiedene terroristische Bewegungen zu unterstützen.

Angestachelt durch die Reden von Scheich Hassan, des Vorstehers der Al-Futuh-Moschee in Kairo, sieht Kabaal seine Aufgabe darin, die amerikanischen Besatzungsmächte von islamischem Boden zu vertreiben. Dazu kommt ihm das Gansu-Virus gerade recht.

_Ein infernalischer Plan_

Während der Mikrobiologe Dr. Anwar Aziz mit dem Gansu-Virus an Schweinen, Affen und Menschen herumexperimentiert, um eine stärkere Ansteckungsrate zu erreichen, entsendet Kabaal infizierte Selbstmordattentäterinnen nach London, Hongkong und Vancouver, um dort an speziell ausgewählten öffentlichen Orten besonders viele Menschen zu infizieren. Den WHO-Experten wird schnell klar, dass die in diesen Städten auftretenden Grippe-Epidemien keine natürliche Ursache haben können.

Ihre Vermutung wird zur schrecklichen Wahrheit, als Kabaal über den Fernsehsender Al Dschasira im Namen der Bruderschaft der einen Nation ein Ultimatum an die westlichen Staaten sendet. Nur bei einem sofortigen Rückzug aller Koalitionstruppen von islamischem Boden würde die Bruderschaft von der Entsendung einer ganzen Armee von infizierten Selbstmordattentätern absehen. Damit beginnt für Noah Haldane und Gwen Savard, die Direktorin für Bioterrorismus Abwehr, ein Wettlauf gegen die Zeit. Fieberhaft beginnen die beiden mit Hilfe der CIA nach den Drahtziehern zu forschen.

_H5N1 lässt grüßen_

Passend zur derzeitigen Hysterie um eine mögliche Pandemie mit einem von Mensch zu Mensch übertragbaren Vogelgrippevirus vom Typ H5N1, wurde die Veröffentlichung von David Kallas Erstling „Pandemie“ vom April 2006 auf Dezember 2005 vorgezogen.

Es ist zurzeit wohl eine der größten Befürchtungen, dass das Vogelgrippevirus H5N1 im Schmelztiegel Asiens, wo Hühner, Schweine und Menschen auf engstem Raume zusammenleben, den Speziessprung zum humanen Grippevirus schafft. Kalla startet mit diesem äußerst beängstigenden, aber durchaus realistischen Szenario zur Entstehung einer neuen Pandemie. Doch obwohl „Pandemie“ ebenfalls von einem gefährlichen Grippevirus handelt, das den Speziessprung vom Vogel zum Mensch geschafft hat, kann die natürliche Ausbreitung dieses Virus durch schnell durchgeführte Quarantänemaßnahmen relativ früh gestoppt werden. Damit wäre die Gefahr einer Pandemie gebannt, gäbe es da nicht Hazzir Al Kabaal, der unter dem Deckmantel seines islamischen Glaubens das Virus künstlich in den Metropolen der westlichen Welt verbreitet und so hofft, einen Rückzug der Koalitionstruppen von islamischem Boden erzwingen zu können.

Hätte Kalla es mal lieber bei einer natürlichen Ausbreitung der Grippe belassen und sich nicht islamischer Terroristen bedient, um seinem Roman eine künstliche Spannung zu vermitteln. Leider fehlt es Kallas stereotypen Bösewichtern an einem wirklich nachvollziehbaren Beweggrund, neben dem typischen Hass der Extremisten. Zum Freisetzen eines tödlichen Grippevirus, für das es kein Heilmittel gibt, reicht es jedoch nicht aus, einen Hass auf die westliche Welt zu haben. Woher sollte Al Kabaal wissen, dass es den Engländern und Amerikanern wirklich gelingt, die Ausbreitung der Grippe zu verhindern? Die Möglichkeit, dass das Virus durch einen infizierten Touristen auch auf islamischen Boden gebracht werden könnte, ist nicht unbedeutend. Ist Kabaals Hass so groß, dass er eine potenziell tödliche Gefahr für ein Viertel aller Moslems völlig ignoriert?

Ein weiterer grober Fehler in der Handlung ist die Entführung des Virus aus Gansu. Woher hat Kabaal so schnell erfahren, dass es ein neues gefährliches Grippevirus in Gansu gibt? Die Inkubationszeit dieser Grippe beträgt nur vier Tage, also kann nach dem ersten Auftreten der Grippe und der Ankunft des WHO-Teams im besten Fall ein Monat gelegen haben. In diesem Zeitraum hat Kabaal von der neuen Krankheit erfahren, ihr tödliches Potenzial erkannt, einen infernalischen Plan geschmiedet und Leute beauftragt, das Virus zu stehlen. Abgesehen von der Zeit, die es dauert, ein gut ausgestattetes Labor zur Zucht und Veränderung von Viren einzurichten. Sollte sein Plan, ungeachtet aller Risiken, ein tödliches Virus zu benutzen, aber schon vor dem Auftreten der Gansu-Grippe existiert haben, gäbe es jede Menge anderer gut geeigneter Krankheiten, die durch infizierte Selbstmordattentäter unter die Leute gebracht werden könnten.

Doch trotz dieser Ungereimtheiten und flachen Charaktere ist „Pandemie“ spannend zu lesen, wenn auch nicht sonderlich anspruchsvoll. Vor allem die real existierende Bedrohung durch H5N1 trägt wohl dazu bei, dass man „Pandemie“ nicht wieder aus der Hand legen mag.

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King, Jonathon – Schwarze Witwen

Er hält sich für unsichtbar. Und über die Jahre fällt er in seinem Viertel tatsächlich kaum jemandem mehr auf. Das ist eine optimale Voraussetzung, um den eigenen mörderischen Geschäften und Vorlieben nachzugehen. Wenn man sich dann im ‚richtigen‘ Viertel bewegt, einem Drogenumschlagplatz, um den herum ausschließlich Afroamerikaner leben, und man sich ‚unsichtbar‘ und geschickt verhält, wird eine Häufung von Verbrechen und Todesfällen kaum bemerkt. Zudem sind weder die Behörden noch die Polizei an Ermittlungen interessiert. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei den Verstorbenen um über achtzig Jahre alte afroamerikanische Witwen handelt, die offensichtlich nach langer Krankheit eines natürlichen Todes gestorben sind. Erst bei genauerer Betrachtung der Hintergründe fällt eine weitere Überschneidung der Lebenssituationen der Verstorbenen auf: Alle Frauen hatten hohe Lebensversicherungen für ihre Familien abgeschlossen und sie vor nicht allzu langer Zeit überraschend an eine Investmentgesellschaft verkauft. Zwar ist diese Art von Geschäft völlig legal, allerdings ist ein baldiges Ableben der Versicherten für die Investoren wünschenswert, da sie die Policen bis zum Tode der Versicherten bezahlen müssen und erst danach ihre hohen Gewinne kassieren können.

Allein Rechtsanwalt Billy Manchester befürchtet, ausgehend von seinen Recherchen, dass ein Mörder im Auftrag der Investoren dem ’natürlichen Tod‘ der Versicherten ordentlich nachhilft. Mit dieser brisanten Theorie stößt er jedoch bei den Versicherungen wie auch bei der Polizei auf Gleichgültigkeit und Desinteresse. Daher wendet er sich an seinen besten Freund, den Ex-Cop Max Freeman. Doch selbst dieser ist mangels Indizien anfangs skeptisch. Da er sich aber Billy gegenüber verpflichtet fühlt, verlässt er notgedrungen seinen einsamen Unterschlupf in den Everglades, vorwiegend um Billy einen Gefallen zu tun. Als er in der Stadt auf die ersten Ungereimtheiten stößt und von seiner alten Bekannten Detective Sherry Richards erfährt, dass in dem besagten Viertel seit einiger Zeit brutale Vergewaltigungen, manche mit anschließendem Mord gemeldet werden, ist sein Spürsinn geweckt. Freeman, der nie mehr ermitteln wollte, steckt plötzlich mitten in einem höchst brisanten und vielschichtigen Fall.

Dass man ihn auch noch von ’seinem‘ geliebten Fluss in den Everglades vertreiben will, bereitet ihm zusätzlich Sorgen. Aber immerhin kommt er im Laufe der Zeit der ihm mehr als sympathischen Richards wesentlich näher …

Im Original lautet der exzellent gewählte, da für den englischsprachigen Leser mit vielen Assoziationen verbundene Titel „A Visible Darkness“. Das, was sich mit „Eine sichtbare Finsternis“ übersetzen ließe, klingt im Deutschen nicht ganz so elegant und verliert wohl auch seine implizierten Anspielungen. Warum sich jedoch der Verlag für den Titel „Schwarze Witwen“ entschieden hat, ist mir vollkommen schleierhaft, da die somit nahe gelegten Assoziationen von männermordenden Frauen völlig in die Irre führen.

Wie bereits im ersten Roman der Freeman-Serie, „Das Messer im Sumpf“, wird auch der Folgethriller „Schwarze Witwen“ aus der Ich-Perspektive des Max Freeman erzählt. Erweitert wird diese durch Kapitel und Abschnitte über den Mörder Eddie, der sich für unsichtbar hält (eine Anleihe bei Ellisons Klassiker „Invisible Man“). Dass der Mörder von der ersten Seite an bekannt ist, schmälert keinesfalls die Spannung. Ganz im Gegenteil hätte Jonathon King hier m. E. ruhig noch tiefer in die Seele des Mörders vordringen, seine Innenansicht ruhig als Spannungsmoment weiter ausbauen können. Persönlich gefallen mir dennoch diese Passagen über Eddie, ‚den Müllmann‘, mit am besten. Aber auch Natur- und Situationsbeschreibungen (hier setzt sich die professionelle Schreibe des Journalisten Jonathon King durch) gestaltet der Autor hervorragend. Vor allem, wenn er die Wildnis der Everglades einfängt. Im direkten Gegensatz hierzu sind auch die Darstellungen des Großstadtdschungels äußerst atmosphärisch gelungen. So wird u. a. das besagte afroamerikanische Viertel mit seinen kleinen gepflegten Häuschen, den dunklen Gassen und dem Drogenumschlagplatz derart realistisch geschildert, dass das kleinbürgerliche Milieu umgeben vom Drogensumpf überaus lebendig wird. Eine kleine Schwäche des Autors sehe ich in den Dialogen, von denen er selbst, einmal begonnen, gern wieder abschweift, um Hintergrundinformationen rein narrativ zu liefern. Interessant ist, wenn auch für den Fall relativ irrelevant, die eingeflochtene Historie des Sunshine-States. Insgesamt liegt die Stärke des Autors eindeutig in der beobachtenden Beschreibung und Darstellung, und daher halte ich die Wahl, Max Freeman als Ich-Erzähler durch die Handlung zu schicken, für nicht allzu glücklich gewählt. So sympathisch der koffeinsüchtige, traumatisierte Ex-Cop aus Philadelphia auch ist, bleibt er doch über dreihundert Seiten ziemlich durchschaubar und damit berechenbar. Er überrascht in keiner Szene und ist dazu noch gänzlich humorlos, was das Gesamtbild recht dröge werden lässt. Die nicht uninteressanten Figuren des Billy Manchesters und der Sherry Richards werden so zu Nebenfiguren mit großem, aber verschenktem Potenzial.

Dramaturgisch ist „Schwarze Witwen“ von der spekulativen These, ein Fall könne vorliegen, bis zu der Einsicht, dass neben den Morden in besagtem Viertel noch ganz andere Verbrechen geschehen, exzellent konstruiert. (Wenn auch die Täter ziemlich dusselig vorgehen, da die Spuren, die sie legen, recht simpel zurückverfolgt werden können. Doch das könnte, wenn man sich reale Verbrechen anschaut, ein überaus realistisches Moment der Handlung sein). Trotz der eigentlich feinen Dramaturgie stolpert der Rhythmus des Ganzen ein wenig vor sich hin, was m. E. daran liegt, dass Max Freeman zu oft durch Träume und Erläuterungen seiner traumatischen Erlebnisse seine Vergangenheit wie auch die Handlung des Erstlings „Das Messer im Sumpf“ rekapituliert. Rein inhaltlich ist an diesem traumatisierten, gebrochenen Helden nichts auszusetzen, obwohl nicht nur Max Freeman an diesem Zuviel an Vergangenheit leidet, sondern auch das Tempo des Thrillers arg gedrosselt wird.

Ähnlichkeiten übrigens zu James Lee Burkes Serie um den New Orleans Detective Dave Robicheaux sind nicht zufällig, sondern (als Hommage?) vom Autor King beabsichtigt. Insgesamt ist „Schwarze Witwen“ ein überaus passabler, nicht virtuoser, aber solider Thriller, der gut konstruiert mit toller Atmosphäre lediglich ein wenig an seinem Helden schwächelt, den ich mir (und das ist schließlich rein subjektiv) facettenreicher und mit einem Funken Humor, Sarkasmus etc. gewünscht hätte. Am Ende des Falles setzt der Rechtsanwalt Billy seinen Freund Max unter Zugzwang, so dass dieser sich um eine Lizenz als Privatdetektiv bemühen muss, wenn er seinen geliebten Unterschlupf in den Sümpfen behalten will. Somit sind zukünftige Fälle gesichert. Und schließlich steckt die Serie mit dem vorliegenden zweiten Roman ja immer noch in Baby-Schuhen (preisgekrönten übrigens!). Letztlich darf man gespannt sein, wie sich die Charaktere weiterentwickeln. Also lesen – und auf den nächsten Jonathon King warten! (Im März 2006 unter dem Titel „Nacht der Abrechnung“ bei Droemer/Knaur erschienen. Anm. d. Ed.)

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Jacques Futrelle – Der überflüssige Finger

13 Fälle, zwischen 1906 und 1908 gelöst von Professor Van Dusen, der „Denkmaschine“:

– Die silberne Box („The Leak“/“The Silver Box“, 1907), S. 7-29: Ein Unsichtbarer spioniert die Geheimnisse des Börsenhais aus und kostet ihn Millionen. Van Dusen vermutet eher Köpfchen und Technik hinter diesem Rätsel …

– Das Motorboot („The Motor Boat“, 1906), S. 30-53: Ein toter Mann in Uniform braust am Steuer seines Boots in den Hafen von Boston. Nur van Dusen kann klären, was hinter diesem mysteriösen Auftritt steckt …

– Der überflüssige Finger („The Superfluous Finger“, 1906), S. 54-78: Warum lässt sich eine schöne Frau ihren völlig gesunden Finger amputieren? Dahinter verbirgt sich ein schlau eingefädeltes Verbrechen, ahnt van Dusen …

– Der unterbrochene Funktelegraph („The Interrupted Wireless“, 1907), S. 79-102: Auf hoher See stirbt der Funker mit einem Messer im Herzen, doch wer setzt in der Nacht seine Arbeit fort? Van Dusen findet die Erklärung, ohne einen Schritt an Bord zu setzen …

– Die drei Mäntel („The Three Overcoats“, 1907), S. 103-118: Was sucht ein fein gekleideter Meisterboxer und Einbrecher, der die übliche Beute verschmäht und stattdessen Mäntel aufschlitzt? Nur van Dusen fragt sich, was in diesen Mänteln steckte …

– Das Rätsel des zerbrochenen Armreifs („The Problem of the Broken Bracelet“, 1907), S. 119-144: Gleich mehrere Diebe raufen einfallsreich um ein scheinbar wertloses Schmuckstück; nur van Dusen entdeckt, dass es buchstäblich etwas in sich hat …

– Das Rätsel des Kreuzes („The Problem of the Cross Mark“, 1907), S. 145-161: Eine groteske Schauspielerscharade deckt van Dusen als Bestandteil einer tückisch ausgetüftelten Erbschleicherei auf …

– Das Rätsel der Ansichtskarten („The Problem of the Souvenir Cards“, 1907, S. 162-178:
Der Dieb stahl den großen Diamanten und irritiert dessen Eigentümer durch die Einsendung unverständlicher Kartenbotschaften, die für van Dusen natürlich nicht lange ein Geheimnis bleiben …

– Das Rätsel des verschwindenden Mannes („The Problem of the Vanishing Man“, 1907), S. 179-200: Ein Geschäftsmann betritt jeden Morgen sein Büro, um sich dort in Luft aufzulösen und feierabends wieder zu erscheinen; wie so etwas möglich ist, erklärt Professor van Dusen …

– Das Rätsel des Taxis („The Problem of the Auto Cab“, 1907), S. 200-216: Reporter Hatch sieht sich in einen Juwelenraub verwickelt und schätzt sich glücklich, ein Vertrauter der „Denkmaschine“ zu sein …

– Das Rätsel der versteckten Million („The Problem of the Hidden Million“, 1907), S. S. 217-232: Auf dem Totenbett verkündet der boshafte Millionär triumphiernd, wie er seine Schätze vor den Erben versteckt hat, aber er hat die Rechnung ohne seinen Papagei und Professor van Dusen gemacht …

– Das Roswell-Diadem („The Roswell Tiara“, 1906), S. 232-253: Wohin ist das berühmte Schmuckstück verschwunden? Van Dusen löst den Fall buchstäblich im Schlaf …

– Der verhexte Gong („The Haunted Bell“, 1906), S. 254-306: Er dröhnt ohne geschlagen zu werden und kündigt den Tod seines Besitzers an – reiner Humbug, so Augustus van Dusen, der diesen Worten eine spektakuläre Beweisführung folgen lässt …

|“In den Naturwissenschaften müssen wir exakt sein – und zwar nicht annähernd, sondern absolut. Wir müssen wissen. … Wissen ist Fortschritt, Wissen erlangen wir durch Beobachtung und Logik – unwiderlegliche Logik. Und die Logik sagt uns, dass zwei plus zwei vier ergibt, und zwar nicht nur manchmal, sondern immer.“| (S. 9)

Dies ist das Credo von Augustus S. F. X. van Dusen, der sich keinesfalls als Detektiv, sondern ausschließlich als Wissenschaftler versteht. Die oben zitierte Ansprache hält er kaum variiert jedem, den es mit einem „unmöglichen Fall“ oder einem „perfekten Verbrechen“ zu ihm treibt (was zwischen 1905 und 1912 immerhin fünfzigmal geschieht). Van Dusen ist die „Denkmaschine“; noch mehr als Sherlock Holmes beschränkt er sich auf die Ermittlung durch Nachdenken. Er ist der „armchair detective“ par excellence, die kaum mehr körperliche Geisteskraft, welche sich Furcht einflößend bemerkbar macht, wenn van Dusens gewaltige Stirn sich in unzählige Runzeln legt: Die „Denkmaschine“ läuft auf Hochtouren!

Für van Dusen gibt es keine Rätsel, sondern höchstens Fragen, auf die noch keine Antworten gefunden wurden. Er ist auch deshalb meist grämlich, weil er einfach nicht verstehen kann, wieso die Menschen um ihn herum dies einfach nicht begreifen. Immer wieder erläutert er sein Vorgehen, wenn er einen neuen Kriminalfall gelöst hat – es besteht darin, die vorhandenen Fakten zu sammeln, zu sichten und auszuwerten. Die Lösung ergibt sich dann automatisch.

Freilich wird sich van Dusen wohl bis an sein Lebensende ärgern müssen. Die Welt, in der er lebt, ist nur zum Teil die seine. In seinem mit Riesenbibliothek und Labor ausgestattetem Domizil brödelt er eigen vor sich hin. Gäbe es nicht seinen Watson – hier in Gestalt des rasenden Reporters Hutchinson Hatch – würde er wohl gar nicht das Haus verlassen und Wissen allein um des Wissens willen anhäufen: „Ph. D., LL. D., F. R. S., M. D., M. D. S.“ lautet die Liste seiner akademischen Titel, die damit wohl sämtliche Bereiche der Naturwissenschaft abdecken. Hatch ist es, der ihn ins Freie lockt und ihn sich praktisch betätigen lässt. Zwar lässt es sich van Dusen nie anmerken, aber geht man von der Bereitwilligkeit aus, mit welcher er sich stets von Hatch ‚verführen‘ lässt, hat die „Denkmaschine“ offensichtlich ihren Spaß an den sich daraus entwickelnden Abenteuern.

Frauen existieren für van Dusen selbstverständlich nur als wissenschaftlich definierte Wesen. Immerhin erkennt er: „Man kann nicht umhin, die Stärke von Frauen unter gewissen Umständen zu bewundern …“ (S. 65) In der Tat trifft die „Denkmaschine“ verblüffend oft auf Frauen, die kriminell, einfallsreich und skrupellos auftreten und sich zweifellos mit den männlichen Schurken messen können. Jacques Futrelle war in diesem Punkt – und nicht nur in diesem – wesentlich „moderner“ als beispielsweise Arthur Conan Doyle, dessen Sherlock Holmes nur „die eine Frau“ (Irene Adler) als gleichwertige Gegnerin akzeptierte.

Wobei Sherlock Holmes hier mit Absicht genannt wird. Augustus van Dusen verdankt ihm viel; die „Denkmaschine“ ist in gewisser Hinsicht ein – durchaus ironisch – überhöhter Holmes. Wie Doyle spielt Futrelle mit offenen Karten. Auch der verzwickteste Fall wird im Finale aufgedröselt. Es gibt keine Tricks oder doppelte Böden und erst recht keine Zauberei. Van Dusen liegt richtig: Wer die Augen offen hält und seine Indizien korrekt deutet, wird obsiegen. Das ist für ihn so selbstverständlich, dass er den Applaus seiner verblüfften Zeitgenossen ablehnt: Er hat doch nur nach der eigenen Maxime gehandelt und konnte deshalb nicht irren! Aus diesem Grund kann es durchaus vorkommen, dass er einen Fall löst und der Täter unbekannt bleibt: Dessen Identität blieb für die Klärung nebensächlich und interessierte van Dusen deshalb nicht.

Mit der Konstruktion seiner van-Dusen-Storys hat sich Jacques Futrelle große Mühe gegeben. Ihm fällt immer eine Ausgangssituation ein, die den Leser in den Bann zieht, wobei er oft auf eigene Spezialkenntnisse zurückgreift – er war u. a. Telegraphist und setzt diese zeitgenössische „Hightech“ gleich mehrfach in seinen Kriminalgeschichten ein. Einhundert Jahre später funktionieren manche Plots natürlich nicht mehr so gut wie einst. Der Nostalgiefaktor gleicht es aus, zumal Futrelle über einen feinen, trockenen Humor verfügt, der seinen Geschichten sehr gut bekommt. Damit einher geht ein Verzicht auf theatralische Gefühlsüberschwänge. Zwar fällt auch bei Futrelle manche feine Dame in Ohnmacht, wenn der Schreck sie überwältigt, doch nicht selten entpuppt sich das nachträglich als Trick einer gewieften Schurkin.

Während Jacques Futrelle im angelsächsischen Sprachraum längst für Augustus van Dusen als wichtiger und prägender Vertreter des frühen Kriminalromans gewürdigt wird, blieb er in Deutschland lange unbemerkt. Als der Durchbruch dann kam, erfolgte er erstaunlicherweise nicht im Buch, sondern im Radio. Zwischen 1978 und 1999 schreibt der Rundfunk-Journalist und Autor Michael Koser für den RIAS Berlin (ab 1993 DeutschlandRadio Berlin) insgesamt 79 Hörspiele um van Dusen und Hutchinson Hatch, die meist vom Verfasser neu erfunden wurden.

Im Druck ist hierzulande nur knapp die Hälfte der van-Dusen-Storys erschienen. Das Fehlen einer ordentlichen Gesamtausgabe ist sowohl ein Manko für den Freund klassischer Krimi als auch ein Ärgernis, denn hier harrt ein Autor seiner endgültigen Entdecker, der auch heute noch gut unterhalten könnte!

Jacques Heath Futrell wurde 1875 in Pike County im US-Südstaat Georgia als Sohn eines Lehrers geboren. Er wuchs mit vielen Büchern auf, die seine Eltern ihn zu lesen ermunterten. Vielleicht wäre Futrell als Literat ins Berufsleben gestartet, doch seine finanzielle Situation zwang ihn zu einer „vernünftigen“ Planung. Schon in seiner Schulzeit half er in einer Druckerei aus und absolvierte später eine Druckerlehre. Mit 18 Jahren ging Futrell zum „Atlanta Journal“, wo er u. a. die erste Sportseite aus der Taufe hob.

1895 heiratete Futrell Lillie May Peel; das Paar zog nach New York um, wo Jacques als Telegraf für den „New York Herald“ tätig wurde. 1904 rief ihn William Randolph Hearst nach Cambridge, Massachusetts, wo er für dessen neue Zeitung, den „Boston American“, arbeitete. Hier erschienen auch die ersten Kurzgeschichten um Professor Augustus Van Dusen, die „Denkmaschine“. Sein Erfolg als Schriftsteller ermöglichte es Futrelle, sich ab 1906 als hauptberuflicher Schriftsteller zu etablieren; nunmehr blieb ihm auch die Zeit für das Verfassen von Romanen, deren erster noch in diesem Jahr veröffentlicht wurde.

Jacques Futrelle wurde auch auf der anderen Seite des Atlantiks populär. Im Frühjahr 1912 begab er sich mit seiner Gattin May auf eine Reise nach England. Für die Rückfahrt beschlossen die Futrelles sich etwas zu gönnen, zumal sich eine einmalige Gelegenheit bot: Sie buchten eine Passage auf dem größten und prächtigsten Passagierschiff ihrer Zeit, der brandneuen und unsinkbaren „Titanic“ …

Das Drama im Nordatlantik überlebte in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 nur May; ihr Ehemann versank in den Fluten, seine Leiche wurde niemals gefunden. Als Schöpfer der „Denkmaschine“ ging Futrelle in die Geschichte des Kriminalromans ein und gehört zu jenen frühen Vertretern, die das Genre formten und ihm entscheidende Impulse gaben.

(Über Jacques Futrelle informiert die Website www.futrelle.com. Sehr informativ ist die deutsche Site www.profvandusen.com/fut2.htm geraten, die sich außerdem mit der deutschen Hörspielserie um Van Dusen beschäftigt.)

Simon Beckett – Die Chemie des Todes

Das geschieht:

Einst war er einer der führenden forensischen Mediziner Englands: David Hunter hat sie alle übertroffen, wenn es galt, einem modernden Mordkadaver die Geheimnisse seines Todes zu entlocken. Dann kam seine Familie durch einen Unfall um, was Hunter beruflich und privat aus dem Gleis warf. Er floh aus der Großstadt und zog als einfacher Landarzt in dem kleinen Dorf Manham in der englischen Grafschaft Norfolk.

Die Tage des selbst gewählten Exils gehen zu Ende, als in einem Wäldchen die übel zugerichtete Leiche von Sally Palmer gefunden wird: traktiert mit scharfen Messern und mit Schwanenflügeln dort, wo eigentlich nur Schulterblätter sein sollten. Chief Inspector Mackenzie findet wenige Spuren aber David Hunter, der ihn bei seinen Ermittlungen unterstützen soll. Als dieser sich weigert, traktiert ihn der mürrische Polizist so lange, bis Hunter nachgibt.

Den Ausschlag dafür gibt das Verschwinden von Lyn Metcalf. Nicht nur Mackenzie fürchtet, dass der unbekannte Mörder die junge Frau in seine Gewalt gebracht hat. Ein Wettlauf auf Leben und Tod beginnt. Die Suche im dichten Wald um Manham ist gefährlich, denn der Kidnapper hat überall Schlingen aus- und Fallgruben angelegt. Im Dorf schwingt sich der fanatische Law-and-Order-Pfarrer Scarsdale zum Sprecher der Furchtsamen und Misstrauischen auf. Eine Bürgerwehr wird aufgestellt, die mehr Schaden anrichtet als zu schützen.

Für Dorffremde und Außenseiter wird das Leben in Manham ungemütlich, denn die braven Bürger suchen Sündenböcke. Alte Rechnungen werden bei dieser Gelegenheit gleich mit beglichen. Auch Hunter kommt ins Gerede, hält aber aus: Der Mörder hat sich ausgerechnet seine neue Freundin geschnappt, welcher das bekannte Ende droht, wenn es nicht endlich gelingt, die kärglichen Beweise so zu deuten, dass dem Täter Einhalt geboten werden kann …

Schon wieder der beste Thriller?

„Die Chemie des Todes“ ist als Roman nicht so interessant wie der Konflikt, der sich in der Kritik um ihn entzündet hat. Der nüchterne Tatbestand ist für den erfahrenen Krimileser rasch klar: Dies ist ein solider Thriller um bizarre Serienmorde und unterhaltsam dargebotene Ermittlungstechniken, der – verschnitten mit dem üblichen Quantum Seifenoper – dem Genre weder nützt noch schadet.

Ruhig und bei langsamem Aufbau der Spannung erzählt Autor Beckett eine Story, wie sie die Liebhaber klassischer britischer Krimis normalerweise lieben und die in jedem Jahr zu Dutzenden – meist als Taschenbuch mit gesichtslosem Bildstock-Einheitscover – auf den Buchmarkt geworfen werden.

Den Unterschied macht offensichtlich das Getöse der Werbetrommeln, die für „Die Chemie des Todes“ gerührt wurden. Längst sind bei den Verlagen sämtliche Hemmungen gefallen, noch der übelste Mist wird nicht nur gedruckt, sondern auch in Superlativen angepriesen. Man fällt als Leser darauf herein und ist verstimmt. Trotzdem ist es ungerecht, dass ausgerechnet der arme Simon Beckett die Zeche zahlen soll.

Der Tod kann sehr lebendig sein

Zur Klage gibt es selbstverständlich Anlass. Wieso wählt der Autor als Hauptfigur einen forensischen Anthropologen, wenn er für die Handlung recht wenig Kapital daraus schlägt? Oder sind wir Leser alle bereits so CSI- & Scarpetta-geschädigt, dass wir ohne Seziersaalbabbel und labortechnischen Overkill etwas vermissen? Beckett lässt Hunters Beruf sehr wohl in die Handlung einfließen: angenehm zurückhaltend allerdings und primär dort, wo seine Erkenntnisse zur Geschichte beitragen, wie der Verfasser entschied sie zu erzählen.

Dazu gehört auch der gemächliche Einstieg ins kriminalistische Geschehen. „Die Chemie des Todes“ ist einerseits kein Actionthriller und andererseits Auftakt zu einer Serie mit David-Hunter-Romanen. So nimmt sich Beckett die Zeit diese Figur und ihre von tiefen inneren Konflikten geprägte Geschichte sorgfältig aufzubauen bzw. zu erzählen, während sich der kriminalistische Handlungsstrang erst nach und nach in den Vordergrund schiebt. Selbstverständlich gehört die vorsichtige Annäherung ans weibliche Geschlecht zu Hunters Gesundungsprozess, und natürlich ist es das Objekt seiner neu erwachten Begierde, das dem Mörder in die Finger gerät: „Die Chemie des Todes“ ist wie schon angedeutet ein konventionell geplotteter Thriller.

David Hunter trägt zwar einen sprechenden Namen, benimmt sich jedoch ganz und gar nicht wie ein Jäger. Beckett schildert ihn als gebrochenen Mann, der nach einer persönlichen Tragödie aus seinem psychisch anstrengenden Job als Gerichtsmediziner aussteigt und in der Stille der Provinz einen Neuanfang versucht. Die damit verbundenen Schwierigkeiten schildert der Verfasser überzeugend aber ohne das Seelendrama neu zu erfinden.

Todes-Experte kehrt ins Leben zurück

Hunter ist kein Sherlock Holmes des 21. Jahrhunderts, der sich eifrig über faulige Leichen beugt, um sie unter Präsentation angenehm ekliger Überraschungen zu ‚lesen‘, sondern ein verstörter und störrischer Zeitgenosse, der sich zudem gegen die Rolle des zentralen Handlungsträgers sträubt. Tatsächlich wehrt er sich gegen alles, das den mühsam geschaffenen Panzer aus Routine und Gleichgültigkeit zerbrechen könnte. Eine blitzartige Wiedergeburt als spürgewaltiger Schnüffel-Forensiker wäre deshalb reichlich unglaubwürdig.

Beckett mag kein Neuerer sein aber er bemüht sich wenigstens, allzu ausgefahrene Geleise zu vermeiden. Sein Manham ist kein Sammelbecken ulkig-wirrer Dorftypen oder -trottel, die in so vielen „Whodunits“ den Hintergrundchor abgeben müssen. Das Verderben kommt über eine Gemeinde, der Harmonie stets ein Fremdwort war. In der Krise bildet sich keine Gemeinschaft; stattdessen bilden sich Gruppen, die einander argwöhnisch belauern und höchstens in ihrer Hatz auf verdächtige Außenseiter einig sind: Selbst die Bürger von Manham unterliegen im 21. Jahrhundert dem alten Irrglauben, dass auf dem Land Frieden dort herrscht, wo in der Stadt das Böse regiert.

Pfarrer Scarsdale ist das Sprachrohr für die gleichzeitig Ängstlichen und Aggressiven. Leider ist diese Figur Beckett zum Zerrbild missglückt. Er wirkt wie ein frühneuzeitlicher Hexenjäger, der im Namen des HERRN seinen persönlichen religiösen Fundamentalismus nährt. Selbst in der Provinz dürfte es indes kaum mehr möglich sein ‚normale‘ Menschen auf diese Weise in einen hysterischen Lynchmob zu verwandeln. Beckett merkt es selbst und lässt diesen Handlungsstrang unauffällig versanden.

Der Mörder muss einer der Manham-Bewohner sein – so verlangt es die Regel. Wer es sein könnte, dämmert dem Leser eventuell ein wenig zu früh; Beckett verteilt in dieser Hinsicht großzügig Hiebe mit dem Zaunpfahl. Ansonsten hält sich der Verfasser auch hier an die Konventionen, die einen Irrsinnigen fordern, der rasch und gnadenlos killt und erst im Finale vom Drang erfasst wird, sich dem Helden in einem wahren Redeschwall zu offenbaren. Kein Wunder, dass es so mit dem perfekten Mord nichts wird. Wiederum gilt freilich: Beckett mutet seinem Publikum nichts Schlimmeres zu, als es bereits gewöhnt ist. Wer sich ohne große Vorab-Erwartungen an die Lektüre begibt und die Dreist-Werbung ignoriert, wird durchaus seinen Lese-Spaß finden.

Autor

Simon Beckett (geb. 1968) versuchte sich nach Abschluss eines Englischstudiums als Immobilienhändler, lehrte Spanisch und war Schlagzeuger. 1992 wurde er freier Journalist und schrieb für bedeutende britische Zeitungen wie „Times“, „Daily Telegraph“ oder „Observer“. Im Laufe seiner journalistischen Arbeit spezialisierte Beckett sich auf kriminalistische Themen. Als Romanautor trat Beckett zuerst 1994 an die Öffentlichkeit, doch deren breite Aufmerksamkeit fand er erst mit den Romanen um den Forensiker David Hunter (ab 2006). Allerdings wurde Beckett bereits für „Animals“ (1995, dt. „Tiere“) mit einem „Raymond Chandler Society’s Marlowe Award“ für den besten internationalen Kriminalroman ausgezeichnet.

Mit seiner Familie lebt Simon Beckett in Sheffield. Über sein Werk informiert er auf dieser Website. Interessant ist, dass er seine vier zwischen 1994 und 1998 veröffentlichten (und inzwischen auch in Deutschland erschienenen) Romane unerwähnt lässt.

Taschenbuch: 431 Seiten
Originaltitel: The Chemistry of Death (London : Bantam Press 2006)
Übersetzung: Andree Hesse
http://www.rowohlt.de

eBook: 530 KB
http://www.rowohlt.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Thomas Pfanner – Gott will es!

Mit dem Aufdruck „rasante, actiongeladene Mischung aus Detektivgeschichte, Verschwörungsthriller und Kirchenkritik […] mit einer Prise Erotik und sehr viel schwarzem Humor“ macht der |Eldur|-Verlag auf dem Buchdeckel Werbung für den aktuellen Roman von Krimimann Thomas Pfanner, der mit „Gott will es!“ auf den Spuren eines Dan Brown wandelt und sich düstere Machenschaften innerhalb der katholischen Kirche zum Thema seines Romans gemacht hat…

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Schenkel, Andrea Maria – Tannöd

„Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel ist schon ein recht ungewöhnliches Krimivergnügen. Mitten in den Fünfziger Jahren, mitten in der piefigen Provinz der Oberpfalz – klingt nicht gerade, als wären das Zeit und Ort für einen packenden Krimiplot. Doch wer sich jetzt schon wieder abwenden möchte, der verpasst etwas, nämlich einen schönen kleinen Krimi, mitten aus deutschen Landen, mitten aus dem Leben …

|Tannöd| – Der Name ist Programm auf dem Hof der Familie Danner. Ein einsames Gehöft vor einem dunklen Tannenwald, fernab der Dorfidylle von Einhausen in der Oberpfalz. Nach Tannöd verirrt sich so schnell niemand. Nicht nur, weil der Hof die letzte Bastion der Zivilisation vor der völligen Einöde der deutschen Provinz zu sein scheint, sondern einfach auch, weil den Hausherren Bauer Danner niemand so recht mag.

Er ist ein Eigenbrödler, der Tannöder, sagt man sich im Dorf, und ein Geizkragen obendrein. Und so dauert es halt auch ein paar Tage, bis die Dorfbewohner merken, dass dort oben auf Tannöd irgendetwas nicht zu stimmen scheint. Niemand hat die Familie in den letzten Tagen gesehen. Die Kinder waren nicht in der Schule und niemand hat am Sonntag die heilige Messe besucht.

Grund genug für ein paar Nachbarn, schließlich rauszufahren und nach dem Rechten zu sehen. Als die Männer auf dem Hof ankommen, machen sie eine grausige Entdeckung: Bauer, Bäuerin, Altbäuerin, Magd und die beiden Kinder – alle sind tot, von einem Wahnsinnigen grausam mit der Spitzhacke erschlagen …

Der Leser steht in Andrea Maria Schenkels Debütroman im Zentrum des Geschehens. Es ist, als würden die Leute aus dem Dorf ihm persönlich Bericht erstatten. Jeder weiß irgendetwas über den Tannöder und seine Familie zu berichten, und aus den verschiedenen Aussagen kann sich der Leser das Gesamtbild wie ein Puzzle Stück für Stück zusammensetzen.

Der Leser bekommt dabei tatsächlich das Gefühl, ganz nah an der Handlung zu sein. Man sieht die Dorfbewohner förmlich vor sich. Alte Frauen mit Kittelschürze und Kopftuch, Männer in ausgebeulten Hosen, auf eine Mistgabel gestützt – jeder der Dorfbewohner darf in seiner ihm eigenen Art berichten, egal ob mit Grammatikfehlern oder seltsamem Provinzkauderwelsch.

„Tannöd“ wirkt dadurch sehr authentisch und unverfälscht. Und tatsächlich beruht die Geschichte auf einer wahren Begebenheit. Diesen Fall hat es in sehr ähnlicher Form tatsächlich gegeben, wenngleich das schon in den Zwanzigerjahren war und nicht erst in den Fünfzigern. Doch der veränderte zeitliche Kontext hat auch sein Gutes. Der Krieg ist den meisten auftretenden Figuren noch sehr frisch im Gedächtnis, und so erinnert sich so manch einer auch der damaligen Taten anderer Dorfbewohner. So schürt Schenkel Verdächtigungen, die in vielfältige Richtungen deutbar sind. Sie lockt den Leser auf falsche Fährten und offenbart ihm den Mörder erst ganz am Ende – und das, obwohl der Leser seine Handlungen die ganze Zeit über schon mitverfolgen darf.

Man muss Frau Schenkel schon lassen, dass sie ihren Plot sehr gut konstruiert hat. Sie verrät nie zu viel, stellt immer wieder Fallen und erhöht durch ständige Handlungssprünge und Perspektivenwechsel die Spannung. Klein und kompakt erscheint das Buch mit seinen gerade einmal 125 Seiten, aber diese Seiten haben es in sich. Düster und abgründig offenbart sich die Realität hinter der bigotten Provinzidylle. Ungeahnte Tiefen tun sich auf und der Plot entwickelt, obwohl er ganz unscheinbar daher kommt, viel Spannung.

Ein wenig kann man „Tannöd“ auch als Spiegel der damaligen Zeit betrachten. Man hat das Gefühl, dass das Bild des deutschen Provinzlebens, das Schenkel skizziert, in der Art durchaus realistisch ist. Sie belebt die Fünfzigerjahre, die irgendwo zwischen der schweren Last der Kriegsschuld und dem Aufbruch zu einer neuen Epoche liegen, und macht damit für den Leser auch ein Stückchen Zeitgeschichte greifbar.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück, der sich auch mit dem ersten Platz der |KrimiWelt|-Bestenliste deckt. Die dortigen Juroren sehen Andrea Maria Schenkel quasi als die Hoffnung des deutschen Provinzkrimis, machen sie an ihr doch eine Wende aus, die weg vom |“drögen deutschen Regionalkrimi“| führt und hin zu mehr |“Sprache, Tiefe und Farbe“|.

Festhalten kann man in jedem Fall schon mal, dass Andrea Maria Schenkel ein auffälliges und interessantes Debüt abgeliefert hat, das den Leser auf einfache und bestechend klare Art zu fesseln weiß. Der Leser ist hautnah am Geschehen, die Figuren wirken wie mitten aus dem Leben und der Plot ist ausgesprochen klug konstruiert. Kurzum: Ein lesenswertes Kleinod deutscher Krimiunterhaltung, das hinter seinem schmalen Buchrücken eine erstaunliche Tiefe und Schwärze offenbart.

Edition Nautilus

Winter, Alex – Ein Gespür für Mord

In einer Zeit, in der legendäre Krimi-Spürnasen wie Sherlock Holmes ein schier unaufhaltsames Revival feiern, ist die moderne Literatur händeringend darum bemüht, neue Helden zu finden. Starke, gefestigte Charaktere mit dem besonderen Etwas sind gefragt; außergewöhnliche Fähigkeiten ebenso wie markante Macken. Dementsprechend viele neue Krimi-Serien gehen derzeit an den Start und jeder will die gesuchte Figur in seinem Roman gefunden haben.

Der schweizerische Schriftsteller Alex Winter kommt der Vorstellung von einer solchen Ikone schon ziemlich nahe. Daryl Simmons, sein Titelheld, ist nämlich ein sehr smarter Kerl, mit dem man sich auf Anhieb anfreundet, weil er einerseits ein gewiefter Ermittler ist, andererseits aber auch einen gewissen Charme ausstrahlt, der einem sehr schnell sympathisch ist. Und noch etwas: Simmons ist als Weißer bei den Aborigines aufgewachsen und stark in den Ursprüngen dieser Kultur verwurzelt. Das Wissen um die Traditionen seiner ‚Brüder‘ und natürlich sein cooles, herzliches Auftreten helfen ihm in seinem ersten literarischen Auftritt dabei, einen verzwickten Fall zu lösen.

_Story_

Daryl Simmons hat den Polizeidienst in Perth endgültig satt. Schon mehrfach hat er bei seinem Boss Garratt um eine Versetzung gebeten, und auch eine endgültige Beurlaubung hat er schon ins Auge gefasst. Eines Tages kommt dem Obersten dieser Drang zur Landflucht gerade recht: Ein Freund hat ihn um Hilfe gebeten, um einen mysteriösen Todesfall aufzuklären. Garratt schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen kann er seinen besten Mann zwangsbeurlauben und trotzdem weiterarbeiten lassen, und zum anderen kommen die Ermittlungen im Zuge des Todes von Floyd Butler auf einer Farm im Outback endlich ins Rollen.

Simmons hat es bei der Ankunft auf dieser Farm allerdings nicht leicht; hart muss er um die Akzeptanz der übrigen Mitarbeiter kämpfen, die dem verdeckt ermittelnden Kommissar sehr skeptisch entgegentreten. Erst nach und nach wird Daryl als echter Kerl akzeptiert und kann sich durch das neu gewonnene Vertrauen erste Informationen zu Butlers Tod erfragen. Obwohl er seinen Chef im Dunkeln tappen lässt, kommt langsam aber sicher Licht in die Sache – bis dann eine weitere Leiche gefunden wird und den Fall erneut zurückwirft. Doch Simmons gibt nicht auf, denn die Anzahl der Verdächtigen ist überschaubar und erste Vermutungen scheinen ihn auf die richtige Fährte zu führen. Nur die Motive der potenziellen Täter scheinen unklar. Als dann auch noch die beliebte Meena spurlos verschwindet und einen dubiosen Abschiedsbrief hinterlässt, gerät der Beamte in Zeitnot. Doch Daryl hat noch eine Geheimwaffe: das Wissen, das er aus der Lehre bei den Aborigines gesammelt hat, und welches ihm im direkten Umfeld eines weiteren Stammes nun entscheiden weiterhelfen soll …

_Meine Meinung_

Als absoluter Australien-Liebhaber war dieses Buch natürlich eine echte Pflichtlektüre, zumal Alex Winter die Kultur und die Landschaft des kleinen Kontinents immer wieder in die Geschichte integriert und ihr letztendlich auch eine entscheidende Bedeutung zuspielt. Allerdings kommt die Geschichte trotz aller interessanten Facetten nicht so richtig in Schwung. Bevor Simmons überhaupt mal richtig ins Geschehen eingreift, ist schon mehr als die Hälfte des Buches durch, denn statt die Seiten mit einem gewissen Spannungsaufbau zu füllen, verliert sich Alex Winter zunehmend darin, das Leben auf der Farm zu beschreiben. Die Geschichte ist dabei in einem Fluss geschrieben und lässt sich insgesamt auch sehr angenehm lesen, jedoch mangelt es ihr bisweilen an einer klar erkennbaren Struktur. In aller Seelenruhe erzählt Alex Winter, wie sich Daryl Simmons langsam aber sicher im Tross der Farmer einlebt und dort nicht immer auf Gegenliebe stößt, vergisst allerdings manches Mal, dass eigentlich die Morde und das Verschwinden von Meena im Mittelpunkt stehen. Viel zu spät besinnt sich der Autor darauf, für einen klaren Höhepunkt zu sorgen und diesen aufzubauen. Selbst wenn er am Ende mit einem ziemlich überraschenden Ende aufwarten kann, ist die Erzählung über weite Strecken eher unspektakulär und gewinnt nach sehr behäbigem und überaus langem Einsteig erst sehr spät an Fahrt.

Was mich weiterhin an „Ein Gespür für Mord“ stört, sind diese haltlosen Andeutungen. Nicht selten taucht irgendwo die Aussage auf, dass der verdeckte Ermittler in Gedanken bereits eine Spur verfolgt, die dann aber nicht benannt wird. Auf diese Weise Spannung zu schaffen, funktioniert beim ersten Mal noch ganz gut, wirkt aber auf die Dauer etwas einfallslos.

Dem entgegen sammelt Winter bei der Beschreibung von Landschaft, Menschen und Kultur wiederum mächtig Pluspunkte. Die Darstellung von traditionellen Bräuchen und kulturellen Eigenheiten zeugt von intensiver Recherche und verleiht dem Roman auch deutlich mehr Farbe als die recht simple und schwerfällig voranschreitende Story, und ich muss auch zugestehen, dass mich hier nicht selten das Fernweh gepackt hat. Das Problem an der Sache ist, dass die eigentliche Erzählung im Zuge dessen schon mal vernachlässigt wird. Es gelingt dem Autor viel zu selten, das Land Australien und den Roman „Ein Gespür für Mord“ zu einer Einheit zu verschweißen; irgendwie läuft beides nebeneinander her. Dass ich mich zum Schluss dann doch noch gut unterhalten gefühlt habe, liegt (neben den Rahmenbeschreibungen) in erster Linie an der sehr interessanten Wendung kurz vor Schluss, die den Verlauf der Geschichte noch mal ein wenig auf den Kopf stellt. Sowieso geizt Winter nicht mit guten Ideen, nur will vor lauter Harmonie und etlichen Annäherungsversuchen der Hauptdarsteller kein richtiges Krimi-Feeling entstehen.

Für kurzweilige Unterhaltung ist „Ein Gespür für Mord“ daher auch gut geeignet; als undurchschaubarer Thriller taugt das Ganze aber nur bedingt. Australien-Liebhaber sollten aber dennoch überlegen, sich dieses recht überschaubare Werk anzuschaffen, denn die genannten Qualitäten sollten dieses Klientel definitiv zufrieden stellen. Ansonsten gilt: Kann man lesen, tut man’s nicht, hat man kein herausragendes Buch verpasst.

Christa Bernuth – Innere Sicherheit

Literarisch betrachtet ist die Auseinandersetzung mit dem System der DDR noch recht wenig abgegrastes Territorium. Besonders in der Unterhaltungsliteratur muss dieses Thema eher selten als Romanszenario herhalten. Umso schöner und interessanter, mit „Innere Sicherheit“ von Christa Bernuth einmal einen Krimiplot vor dem Hintergrund des DDR-Regimes serviert zu bekommen, verspricht doch allein schon dieser Umstand Abwechslung vom sonst oft so üblichen Einheitsbrei des Krimigenres.

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Daniel Stashower – Sherlock Holmes und der Fall Houdini

Das geschieht

Im April des Jahres 1910 steht das britische Empire auf dem Gipfel seiner Macht. Doch die Regierung weiß um die anstehenden Umwälzungen, die vor allem das aufstrebende Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. in den Kreis der Weltmächte drängen lassen. Diplomaten und Spione geben sich im Parlament und bei Hofe die Klinke in die Hand. Zu allem Überfluss lässt der fragile Gesundheitszustand des Königs sein rasches Ende erwarten. Seinem Sohn ist Edward leider nur als Weiberheld ein Vorbild gewesen. Kronprinz George konnte sich keinen unpassenderen Zeitpunkt für seine Liason mit der deutschen Gräfin Valenka aussuchen. Er hat ihr allerlei Briefe geschrieben, die ihn, den baldigen König George V., zu kompromittieren drohen.

Denn man hat sie gestohlen – aus dem hermetisch verschlossenen Tresorraum von Gairstone House, einem Landsitz der Regierung außerhalb Londons! Für Scotland Yard, hier vertreten durch Inspektor Lestrade, steht der Täter fest: Im Savoy-Theater tritt der Illusionist Harry Houdini auf, der als Ausländer ohnehin verdächtig ist sowie sich als Entfesselungskünster weltweit einen Namen gemacht hat. Indizien lassen auf eine Täterschaft des Künstlers schließen. Also setzt Lestrade Houdini fest. Glücklicherweise hat dessen Gattin Beatrice kurz zuvor den bekannten Detektiv Sherlock Holmes engagiert. Daniel Stashower – Sherlock Holmes und der Fall Houdini weiterlesen