Archiv der Kategorie: Thriller & Krimis

Sander, Roman (Hg.) – Holmes und der Kannibale (Sherlock-Holmes-Criminal-Bibliothek Band 2)

Gary Lovisi: Holmes und der Kannibale („The Loss of the British Bark Sophy Anderson“, 1992), S. 7-57: Im winterlichen London des Jahres 1887 verfolgen Holmes & Watson einen Menschen fressenden Serienmörder, der als Schiffbrüchiger auf den Geschmack gekommen ist …

Gary Lovisi: Mycrofts großes Spiel („Mycroft’s Great Game“, 2003), S. 59-95: Im Frühjahr des Jahres 1891 sieht sich Mycroft Holmes, der zum Wohle des britischen Empire Ränke auch mit Unterstützung krimineller Elemente schmiedet, gezwungen, seinen obsessiv Verbrecher jagenden Bruder Sherlock auf eine falsche Fährte zu locken, die diesen ausgerechnet in die Arme seiner Erzfeinde laufen lässt …

Barrie Roberts: Das Rätsel des Addleton-Fluches („The Mystery of the Addleton Curse“, 1997), S. 97-129: Ein altes Grab birgt ein wahrlich strahlendes Geheimnis, das Unglück und Tod über den bringt, der es aufzudecken wagt; erst Sherlock Holmes, der nicht an das Übernatürliche glaubt, kommt dem Rätsel auf die Spur …

Martin Baresch: Das späte Geständnis im Mordfall Mary Watson (2003), S. 131-157: Im Frühsommer des Jahres 1912 wird Sherlock Holmes in seinem Altersruhesitz in Sussex von der lange verdrängten Wahrheit überfallen, dass Mary, die geliebte Gattin seines Gefährten Dr. Watson, vor zwanzig Jahren einem Mord zum Opfer fiel, in den beide Freunde verwickelt sein könnten …

Geoffrey Landis: Die einzigartigen Verhaltensmuster der Wespen („The Singular Habits of Wasps“, 1994), S. 159-186: Im Frühjahr 1888 treibt in den Gassen von Whitechapel Jack the Ripper sein Unwesen, den Sherlock Holmes als wahrlich unmenschliche Geißel der Menschheit entlarvt …

(Storynachweis: S. 187; Die Autoren: S. 188/89)

Arthur Conan Doyle hätte sich gewundert – und geärgert. In einer der hier versammelten „neuen“ Geschichten lässt ihn der Verfasser persönlich auftreten und erklären, ihm seien seine historischen Werke stets wichtiger gewesen als die Holmes-Storys, die er eher als (einträgliche) Gedankenspielereien betrachte. Dies entspricht der Wirklichkeit, doch leider (oder glücklicherweise) ist das Publikum störrisch und urteilt nach eigenem Ermessen. So liest heute kaum mehr jemand Doyles Lieblingsbücher, während Sherlock Holmes triumphiert.

Er ist ohnehin auf seinen geistigen Vater schon lange nicht mehr angewiesen. Noch zu Doyles Lebzeiten entstanden die ersten Holmes-Pastichés im Stil des Meisters. Nach 1930 nahm deren Zahl beständig zu. Doyles Geschichten vom Meisterdetektiv sind formal wie inhaltlich recht einfach strukturiert und leicht nachzuahmen (oder zu parodieren). Ehrfürchtig oder spottlustig versuchten sich auf der ganzen Welt Autoren an Sherlock Holmes. Bemerkenswertes und Eigenartiges entstand dabei – Holmes-Geschichten, die das Original übertrafen, es geschickt oder plump imitierten, mit ihm ’spielten‘ und den starren Formeln neues Leben einhauchten.

In „Holmes und der Kannibale“ finden wir sämtliche Varianten. Gary Lovisi belegt mit den beiden ersten Storys das Wider und Für einer Holmes-Nachschöpfung. Die Titelgeschichte ist Doyle pur: die fast ängstliche Rekonstruktion einer Erzählung wie „Der Vampir von Sussex“, die Holmes auf das (vermeintlich) Übernatürliche, auf jeden Fall aber viktorianisch Erschröckliche treffen lassen. „Holmes und der Kannibale“ soll wirken wie Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Ob dies Lovisi, dem Verfasser, gelungen ist, muss offen bleiben. Der Übersetzer war seiner Aufgabe jedenfalls nur zum Teil gewachsen – das Bemühen ums nostalgisch Altmodische bleibt allzu spürbar in der steifen Mischung aus Altem und Neuem.

Lovisi selbst ist es, der belegt, wie man es besser macht: „Mycrofts großes Spiel“, einerseits die flotte und gelungene Neuinterpretation einiger zentraler Holmes-Klassiker, ist andererseits keine Geschichte, die Doyle selbst so hätte schreiben können und wollen. Sie entstand viel später im 20. Jahrhundert und in wissender Rückschau auf die historischen Verhältnisse um 1890. Doyle hätte Mycroft niemals als skrupellosen Zweckpolitiker dargestellt, der planmäßig illegale und unehrenhafte Methoden zur Sicherung des Empires einsetzt und sogar seinen Bruder betrügt. Solche Kritik wäre dem viktorianischen Zeitgenossen Arthur Conan Doyle wie Landesverrat erschienen. Er glaubte fest an die Rechtmäßigkeit des Systems (dessen Schattenseiten ihm freilich nicht fremd waren). Der Realität sah er sich nicht verpflichtet. Außerdem hielt sich Doyle an einen strengen moralischen Kodex. Nicht von ungefähr ließ er Holmes nie gegen Jack the Ripper antreten, obwohl die beiden schließlich „Zeitgenossen“ waren. Dies blieb Doyles Nachfolgern überlassen. In diesem Band ist es Geoffrey Landis, der sich des Ripper-Motivs bedient – das freilich auf recht unerwartete Weise. (Michael Dibdin zeigte da 1978 weniger Zurückhaltung und identifizierte in „The Last Sherlock Holmes Story“ – dt. „Der letzte Sherlock-Holmes-Roman“ – den völlig wahnsinnig gewordenen Meisterdetektiv selbst als Ripper …)

Auch „Das Rätsel des Addleton-Fluches“ würde ohne die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft als Story nicht funktionieren. Der Leser der Jetztzeit kennt schon nach wenigen Seiten die Lösung des Rätsels. Nun liegt der eigentliche Reiz darin zu beobachten, wie Sherlock Holmes in Unkenntnis der Fakten die Indizien zu einem Bild zusammensetzt, das ihn nachvollziehbar logisch darauf schließen lässt, was sich da in dem alten Grab verbirgt. Darüber hinaus wartet „Das Rätsel des Addleton-Fluches“ mit einer hübschen Schaueratmosphäre in winterlicher Mooreinöde auf, die schon den „Hund der Baskervilles“ eindrucksvoll zur Geltung brachte.

Mit Martin Baresch (der auch zwei der hier besprochenen Geschichten übersetzte) versuchte sich ein deutscher Autor an Sherlock Holmes. „Das späte Geständnis im Mordfall Mary Watson“ kann sich sehen bzw. lesen lassen, auch wenn die Auflösung der (unnötig) kompliziert verschachtelten Handlung nur bedingt gerecht werden kann. Auch die Prämisse stimmt nachdenklich: Ausgerechnet Sherlock Holmes soll einen Nervenschock erlitten haben, der sich erst nach zwei Jahrzehnten zu lösen beginnt? Zwar geht es um den Mord an Watsons Ehefrau, den unter anderen Verdächtigen auch Holmes selbst begangen haben könnte. Dennoch ist ihm in seiner wechselvollen Karriere wesentlich Schlimmeres ohne gravierende Folgen zugestoßen. Mycroft Holmes und Arthur Conan Doyle werden eher schlecht als recht in den Plot gezwungen. Und schließlich: Ist Watson wirklich so tumb, dass er sich beim Anblick seiner von Bienen zerstochenen Gattin mit der Diagnose „Lungenkollaps“ zufrieden gegeben hätte? Nichtsdestotrotz ist „Das späte Geständnis …“ eine lesenswerte Story, weil sie das typische Fanzine-Niveau deutscher Genregeschichten weit hinter sich lässt und eine bemerkenswerte stilistische Sicherheit erkennen lässt.

Geoffrey Landis lässt schließlich jede Ehrfurcht vor den alten Formen fahren. „Die einzigartigen Verhaltensmuster der Wespen“ ist pure Spielerei, welche die Regeln der kriminalistischen Deduktion außen vor und Holmes & Watson in eine Science-Fiction-Invasion außerirdischer „Schlupfwespen“ geraten lässt. Bei der wilden, blutigen Jagd, in der Holmes unfreiwillig die Rolle von Jack the Ripper übernehmen muss, werden unsere Helden von einem angehenden jungen Schriftsteller namens H. G. Wells unterstützt, der seine Erfahrungen 1897 in einen Romanbestseller namens [„Krieg der Welten“ 1475 einfließen lassen wird – ein hübscher Gag am Rande, der die „historische Relevanz“, die vielen Neo-Doyles sehr wichtig ist, zusätzlich ad absurdum führt.

|Anmerkung|

Normalerweise versorgt der BLITZ-Verlag ein einschlägiges Publikum mit SF- und Horrortrash, der hübsche Titel wie „Die Mordanaconda“, „Retortenmonster“ oder „Sturm auf den Feuerwall“ trägt. Zwischen diesem liebenswerten Unfug verstecken sich einige Reihen, die nicht nur anspruchsvoller wirken, sondern es sogar sind. „Sherlock Holmes Criminal Bibliothek“ ist eine noch junge Schöpfung, die – vorausgesetzt wird die Akzeptanz einer literarischen Seltsamkeit, die auf der künstlichen Wiederbelebung eines längst untergegangenen Kapitels der Krimigeschichte basiert – ausschließlich „neue“ Holmes-Romane und Storysammlungen präsentiert. Solche Werke sind auch in Deutschland seit Doyles Tod immer wieder erschienen, aber erst der BLITZ-Verlag unternimmt es jetzt, etwa zweimal im Jahr gezielt Nachschub an Holmesiana zu liefern. Die (Erst-)Auflage beträgt jeweils 999 Exemplare, das Layout ist hübsch nostalgisch, der Kaufpreis beläuft sich auf günstige 9.95 Euro. Unter diesen Umständen kann der Sherlock-Holmes-Fan praktisch nichts falsch machen, wenn er hier zugreift.

Andy Oakes – Drachenaugen

Acht Leichen sind der Anfang. Es ist tiefe Nacht, als man die toten Körper am Ufer des Huangpu Jiang entdeckt. Ein groteskes, schreckliches Bild: Die Toten sind aufs Ärgste verstümmelt und gleichzeitig mit Eisenketten aneinander gefesselt. Ein unwirkliches Rad der Brutalität. Sun Piao, Hauptkommissar bei der Mordkommission von Shanghai, übernimmt den Fall. Und bereits am Tatort kündigt sich an, dass hier etwas unter der Oberfläche gärt, was nicht ans Licht kommen soll.

Zuerst ist es nur der Polizeipathologe, der sich weigert, die Toten zu untersuchen und auch Sun dazu rät, von der Sache abzulassen. Als dann auch noch einige hohe Kader am Ufer des Huangpu auftauchen und sich in die Ermittlungen einmischen, wittert Piao großen Ärger auf sich zukommen. Doch diesmal wird er nicht nach den Vorgaben des Systems handeln. Diesmal wird er sich nicht unterordnen und einfach abnicken, was seine Vorgesetzten ihm diktieren. Er ist fest entschlossen, die Hintergründe der Tat ans Licht zu zerren und in der korrupten, verkorksten Welt Shanghais ein einziges Mal für Gerechtigkeit zu sorgen. Zusammen mit seinem Kollegen Yaobang beginnt er auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen.

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Edgar Wallace – Der Hexer

Unterwelt-Anwalt und Strolch Messer lockt einen jungen Mann in die Falle, weil er dessen Schwester entehren will. Das ruft den „Hexer“ auf den Plan. Der selbsternannte Rächer der Enterbten straft jene, die dem Gesetz durch die Maschen schlüpfen. Da auch die Polizei vom Plan des „Hexers“ weiß, muss sich dieser besonders gut tarnen, um seine Mission zu erfüllen … – Angeblich klassischer, tatsächlich statischer, in einem Theaterstück wurzelnder, inhaltlich staubiger, mit Klischeefiguren besetzter Alt-Krimi, dessen Ruf heute eher verwundert. Edgar Wallace – Der Hexer weiterlesen

Rankin, Ian – Souvenir des Mörders, Das

Gleich vierfach hat das Schicksal – das es nach Ansicht der Schotten auf sie ganz besonders absieht – Detective Inspector John Rebus dieses Mal geschlagen. Da ist zunächst seine Strafversetzung vom „heimatlichen“ Revier St. Leonard’s nach Craigmillar, das verrufendste Polizeirevier von Edinburgh, das die hier tätigen Beamten gern „Fort Apache, Bronx“ nennen. Zu vielen hoch gestellten Persönlichkeiten ist er auf die Zehen getreten, so dass er nun hier Dienst schieben muss, wo die Kollegen ihn, den Paria, weitgehend meiden.

Außerdem jagt ihn die Presse. Ein alter Fall von 1977 wurde von den Medien aufgegriffen. Damals hatten Detective Inspector Lawson Geddes und sein junger Untergebener John Rebus einen gewissen Leonard Spaven als Mörder überführt. Im Gefängnis war dieser zu einem berühmten Schriftsteller avanciert. Später brachte er sich um, nachdem er stets seine Unschuld beteuert und geklagt hatte, die Polizei habe ihn in eine Falle gelockt. Dies könnte zutreffen, wie Rebus sich unbehaglich eingestehen muss. Geddes hatte Spaven um jeden Preis als Mörder stellen wollen. Jetzt hat sein ehemaliger Vorgesetzter Selbstmord begangen: ein Schuldeingeständnis? Rebus soll vor der Kamera Stellung nehmen, was er nicht zu tun gedenkt, bis er Genaues weiß. Er zwingt seinen Kollegen Detective Sergeant Brian Holmes, den Spaven-Fall noch einmal heimlich aufzurollen und zu überprüfen. Dies geschieht im Wettlauf mit der eigenen Behörde, die selbst nachprüfen lässt, ob damals fehlerhaft gearbeitet wurde. Leiter der Prüfungskommission ist ausgerechnet Detective Chief Inspector Charles Ancram aus Glasgow, mit dem es sich Rebus ebenfalls verdorben hat.

Dann ist da ein aktueller Mord: Ein Erdölarbeiter ist gefesselt aus einem hoch gelegenen Fenster gestürzt. Die Spuren deuten auf die Täterschaft von Andrew Kane, genannt „Tony El“, hin. Der sadistische Schläger war bisher für Joseph „Uncle Joe“ Toal, einen gefürchteten Gangsterboss in Glasgow, tätig. Die Polizei wird hellhörig: Plant dieser etwa, seine „Geschäfte“ nach Edinburgh auszuweiten? Toal behauptet, Tony El längst nicht mehr zu beschäftigen. Rebus soll ermitteln, was hinter der rätselhaften Tat steckt. Angeblich hält sich Tony El neuerdings in Aberdeen auf. Diese schottische Stadt ist erfreulich weit entfernt von Edinburgh und Ancram. Deshalb beschließt Rebus, seine Nachforschungen in den schottischen Nordosten zu verlegen.

Das lässt ihm außerdem die Muße, sich mit einem anderen Fall beschäftigen. Seit einiger Zeit treibt „Johnny Bible“ sein Unwesen in Schottland – ein Serienmörder, der gern die Bibel zitiert, Frauen auflauert, sie vergewaltigt und erdrosselt. Merkwürdig ist, dass es Ende der 1960er Jahre schon einmal einen Mehrfachkiller gab, der drei Opfer in Glasgow nach identischem Muster umbrachte. Die Presse nannte ihn damals „Bible John“. Ist er es, der wieder aktiv geworden ist? Hat er einen Nachfolger gefunden?

So ist es in der Tat – und der „echte“ „Bible John“ zeigt sich höchst empört über den „Parvenü“, der es wagt ihn nachzuahmen. Narzisstisch und so gefährlich wie einst, beschließt er, Johnny Bible zu finden und umzubringen, denn er fürchtet, dessen Aktivitäten könnte die Polizei nach vielen Jahren auch auf seine Spur bringen. Rebus könnte ihm womöglich auf die Spur kommen, so dass Bible John überlegt, diesen vorsichtshalber auszuschalten …

Mit „Das Souvenir des Mörders“ stößt Ian Rankin mit seiner Rebus-Saga endgültig in eine neue Dimension vor. Auch die ersten sieben Romane der Serie ließen es an einer ausgefeilten Handlung nie fehlen. Sie beschränkten sich indes recht klassisch auf einen zentralen Kriminalfall, den es zu lösen galt. Nunmehr erweitert sich das Blickfeld. Rebus wird zum Wanderer durch eine Welt, die für das Verbrechen grenzenlos geworden ist. Politik und Großkonzerne mauscheln mit nationalen und internationalen Banden, die Presse lässt sich als Handlanger der korrupten Eliten instrumentalisieren, nicht einmal die verschiedenen Ordnungsmächte sind vor Korruption und Misswirtschaft gefeit. Es ist eine neue, globalisierte, schmutzige Welt, in die Rebus jetzt gerät. Kein Wunder, dass er nun mehr Buchseiten benötigt, um wenigstens in Teilbereichen Gerechtigkeit walten zu lassen. Mit mehr als 600 Seiten stellt „Das Souvenir des Mörders“ auch in dieser Beziehung einen Quantensprung dar.

Fragt sich indes, ob dies unbedingt von Vorteil ist. Rankin hat sich Luft geschaffen und seinen Helden aus dem Alltagstrott gerissen, was der Serie zweifellos neues Leben einhaucht. Indes nimmt er sich manchmal ein bisschen zu viel auf einmal vor. Im Grunde sind es drei Kriminalfälle, derer sich Rebus annehmen muss. Um dies nicht gar zu deutlich werden zu lassen, schafft Rankin einige Querverbindungen, die logisch nur bedingt nachvollziehbar sind. In der Auflösung ist sogar ein unvermittelt in die Handlung flatternder Brief mit dringend erforderlichen Zusatzinfos nötig.

Das soll nicht heißen, dass es kein Vergnügen bereitet, den aktuellen Rebus-Kapriolen zu folgen. Immer neue, überraschende Wendungen weiß der Verfasser seiner Geschichte zu geben. Zu geschickt weiß er reales Tagesgeschehen mit seiner fiktiven Edinburgh-Chronik zu verquicken, deren Kontinuität zudem gewahrt bleibt. Rankin lässt uns wissen, was aus Figuren geworden ist, die wir in früheren Bänden kennen gelernt haben. Die Welt ist zwar groß, aber sie ist zumindest in Edinburgh ein Dorf geblieben. Man läuft sich immer wieder über den Weg. Dieses „Pflegen“ älterer Handlungsstränge trägt zur Vertrautheit der Serie viel bei. Dazu kommt wieder viel sarkastischer Humor, der sich vor allem über die Medien, den Polizeialltag und Rebus’ Kollegen ergießt. Schotten mögen von düsterem Gemüt sein, aber sie können sich wenigstens über sich & ihr Elend lustig machen!

Würde man ihn nicht längst besser kennen, könnte man auf den Gedanken kommen, John Rebus leide unter dem „Wallander-Syndrom“, das die Betroffenen zum depressiven Suhlen im Schlamm einer notorisch schlechten Welt zwingt. Aber Rebus ist nur angezählt und noch längst nicht am Boden. Dazu ist er viel zu eigensinnig. Die Vorgesetzten züchtigen, die Stadtprominenz hasst, die Presse piesackt ihn? Rebus, der es weder anders erwartet noch wirklich will, blüht förmlich auf, flüchtet in die Arbeit und läuft erneut zur kriminalistischen Hochform auf. Die langen Jahre der meist trüben Polizeiroutine haben ihn nicht ausbrennen lassen wie DS Holmes. Rebus hat sich in einen „Frontermittler“ verwandelt, der das Recht nicht beugt, aber in seinem Sinne auslegt. Dabei legt er sehr viel Initiative und Kreativität an den Tag. So bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, den Gangster „Big Ger“ Cafferty, seine alte, endlich gefangen gesetzte Nemesis, als Instrument einzusetzen, das ihm den Weg zu „Uncle Joe“ Toal ebnet.

Privat sieht es für den Kettenraucher, Trinker und Einsiedler Rebus dieses Mal besonders düster aus. Im Kern ist er jedoch unbeschädigt, denn er findet die Kraft, sich vor dem definitiven Absturz zu fangen und einen persönlichen Fehler aus seiner Vergangenheit aufzuarbeiten: Den Fall Spaven wirklich zu klären, ist Rebus ein inneres Bedürfnis. Hinzu tritt die – von Ian Rankin gern und nur halb im Scherz ins Spiel gebrachte – schottische Melancholie, welche – gepaart mit einem Hang zur Selbstgeißelung – ein integrales Element des Rebusschen Wesens ist. Letzteres zielt vor allem auf sein Liebesleben ab, das Rebus selbstzerstörerisch wie selten zuvor in ein Minenfeld verwandelt.

Rebus’ eigentlicher Gegner ist „Das Souvenir des Mörders“ „Bible John“. Rankin wagt hier ein Risiko: Er macht eine authentische Person zur Figur einer fiktiven Geschichte. Tatsächlich hat der echte Bible John zwischen Februar 1968 und Oktober 1969 drei Frauen getötet; seine Identität ist bis heute unbekannt. Akkurat bezieht Rankin die wenigen bekannten Fakten in seine Story ein. „Sein“ Bible John ist gleichzeitig der Versuch, ein Täterprofil zu erstellen bzw. das Profil, das von kriminalistischen Fachleuten erstellt wurde, zum Leben zu erwecken. Es gelingt Rankin mit erschreckender Prägnanz, den Serienkiller als „funktionierendes“, als Alltagsmensch „getarntes“, aber tatsächlich absolut amoralisches Wesen darzustellen. Bible John akzeptiert ausschließlich sich als Mensch. Um ihn herum bewegen sich ansonsten nur ihm unterlegene Kreaturen, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ausnutzt oder umbringt. Deshalb ist er so wütend auf „Johnny Bible“: Dieser gefährdet seine Sicherheit, imitiert ihn und missachtet damit offen seine Stellung an der Spitze der Nahrungskette. Das erträgt John nicht, es treibt ihn sogar aus seiner perfekten Deckung – letztlich unterliegt er doch seinen Zwängen, was er sich nie eingestehen würde.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. [„Verborgene Muster“) 956 zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. [„Das zweite Zeichen“) 1442 spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im |Wilhelm Goldmann Verlag| (Stand: Sommer 2005):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. Wolfsmale (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. Ehrensache (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. Das Souvenir des Mörders (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429 (noch nicht erschienen)
10. Dead Souls (1999, noch kein dt. Titel)
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. Puppenspiel (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. So soll er sterben (2004, Fleshmarket Close, noch nicht erschienen)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.

Holt, Anne – Wahrheit dahinter, Die

_Auf den Hund gekommen_

Kurz vor Weihnachten erreicht Hanne Wilhelmsen die Schreckensnachricht, dass vier Leichen gefunden worden sind, die von Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen durchlöchert wurden. Ihr Urlaub muss folglich erst einmal verschoben werden und auch an ruhige Feiertage ist selbstverständlich nicht zu denken. Drei der Opfer zählen zur reichen Familie Stahlberg, doch das vierte Opfer gibt der Polizei Rätsel auf; zunächst ist seine Identität unklar, doch auch als Knut Sidensvans als viertes Mordopfer identifiziert ist, fehlt sämtlicher Zusammenhang zur Familie Stahlberg. Erschwerend für die Ermittlungen kommt hinzu, dass ein Hund zuerst am Tatort gewesen ist und sich dort an den Leichen gütlich getan hat. Viele Spuren sind dadurch verwischt worden.

Dennoch zeichnet sich schnell ab, dass Familie Stahlberg einiges zu verbergen hat. Das Familienoberhaupt Hermann Stahlberg und seine Ehefrau Tutta sind ermordet worden, sowie der älteste Sohn Preben. Zurück bleiben die Kinder Carl-Christian und Hermine, die beide mehr zu wissen scheinen, als sie zugeben wollen. Zudem besitzt Carl-Christian einen Waffenschein und hatte sich offensichtlich mit seinem Vater überworfen. Hermine dagegen hat zwar ein Drogenproblem, scheint aber dennoch von ihren Eltern bevorzugt worden zu sein. Billy T. findet über zweideutige Kontakte im Osloer Untergrund heraus, dass Hermine illegal Waffen gekauft und sich in den letzten Wochen seltsam benommen hat. Auch die Alibis der beiden Stahlbergkinder sind mehr als dünn, sodass der Schluss nahe liegt, dass eine Familientragödie aufzuklären ist.

Doch Hanne Wilhelmsen will sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und bemüht sich, mehr über das vierte Opfer herauszufinden, das ihrer Meinung nach nicht nur zufällig in das Familiendrama geschlittert ist, sondern eine wichtige Rolle spielen könnte. Dennoch macht sich Hanne mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden keine Freunde. Am Ende steht aber allen Beteiligten eine große Überraschung bevor …

_Interessant und überraschend, aber konstruiert_

In einer Art Prolog begleiten wir einen herumstreunenden Hund bei seinem blutigen Leichenfund, der für das ausgehungerte Tier ein wahres Festmahl darstellt. Gleich darauf beginnen auch schon die Ermittlungen, als Billy T. spätabends seine Kollegin Hanne Wilhelmsen zum Tatort beruft, obwohl diese kurz vor ihrem wohlverdienten Weihnachtsurlaub steht. Der begangene Mord ist grausam, doch verdichten sich die Hinweise schnell zu einem konkreten Tatverdacht, denn es ist offensichtlich, dass Carl-Christian und auch Hermine Stahlberg einiges zu verbergen haben. Beide lügen und können kein entlastendes Alibi vorweisen.

Wie nach einem Rettungsanker greifen die Polizisten dankbar diese Verdachtsmomente auf, um ihre Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen zu können. Der Mord hat viel Aufsehen erregt, außerdem sind die Beamten urlaubsreif und übermüdet, sodass man es ihnen fast nachsehen kann, dass sie viele Hinweise nicht hinterfragen, sondern sich nur noch in eine Richtung fortbewegen.

Dem gegenüber steht allein Hanne Wilhelmsen, die zwar auch nicht so recht an die Unschuld der Stahlbergkinder glauben kann, da diese sich immer mehr in Lügen verstricken, doch Hanne möchte sicher sein und die Verbindung Knut Sidensvans zur einflussreichen Familie Stahlberg herausfinden. Dennoch entwickelt der Kriminalfall sich relativ einseitig weiter, es wird kaum in andere Richtungen ermittelt und für den Leser zeichnet sich auch kein anderer Tatverdächtiger ab. Erst mit Kenntnis der Auflösung bemerkt der Leser, dass Anne Holt ganz unbemerkt zwischendurch Hinweise eingeflochten hat, die sehr wohl einen weiteren Verdächtigen bemerkbar machen. Diese Andeutungen sind allerdings so geschickt eingestreut, dass ich sie überlesen hatte und am Ende von der Autorin überrascht wurde. Um sich das ganze Lesevergnügen zu erhalten, empfehle ich, die Inhaltsangabe auf Seite 2 nicht zu lesen, da hier ein wenig vorgegriffen wird.

Trotz alledem war ich mit der Auflösung am Ende nicht vollauf zufrieden; es war klar, dass Anne Holt noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde und am Ende nichts so ist, wie es scheint, allerdings kam mir das Buchende künstlich konstruiert vor. Obwohl zwischendurch kleine Hinweise eingeflochten waren, fiel der wahre Schuldige vom Himmel und auch die Hintergründe des Mordes und der Tatablauf scheinen nicht sonderlich realistisch, zu viele Zufälle kommen hier zusammen. Hier schießt Anne Holt in ihrem Wunsch, ihre Leser zu überraschen, meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus.

_Personalien_

„Die Wahrheit dahinter“ ist ein weiterer Krimi aus der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, der mit einem kleinen zeitlichen Bruch nach „Das letzte Mahl“ die Serie fortsetzt. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dringend dazu raten, die Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen, um der personellen Weiterentwicklung folgen zu können. Anne Holt verwendet viel Zeit darauf, um ihre handelnden Figuren näher vorzustellen; so erfahren wir in diesem Buch, dass Hanne Wilhelmsen nach dem Tod ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Cecilie eine wohlhabende Frau namens Nefis geheiratet hat. Die beiden leben zusammen mit ihrer skurrilen Haushälterin Marry in einer schönen Wohnung und auch Nefis äußert mehr als deutlich den Wunsch nach einem Kind. So sind auch in dieser Beziehung die Streitereien vorprogrammiert, denn in dieser Hinsicht ist Hanne Wilhelmsen uneinsichtig wie eh und je. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, konnte sie ihre traurige Kindheit noch nicht überwinden und mag auch nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen.

Eine weitere wichtige Figur ist Billy T., der mit der Frau seines fünften Kindes zusammenlebt, aber permanent unter Geldmangel leidet, weil er vier Exfreundinnen Alimente für die gemeinsamen Kinder zahlen muss. Auch seine Verbindung zu dubiosen Osloer Kreisen sind noch nicht eingeschlafen; so liefert Billy T. entscheidende Hinweise zur Auflösung des Mordfalles. Während Billy T. in den vorigen Romanen Hannes einziger Vertrauter war und er allein wusste, dass seine Kollegin lesbisch ist, distanziert sich Hanne in diesem Buch mehr denn je von Billy T.

Doch auch die Stahlbergkinder bekommen viel Raum in der Erzählung. Anne Holt stellt ausführlich Hermine und ihre Drogenprobleme vor, aber auch Carl-Christian und seine Ehefrau Mabelle finden Erwähnung. Die Autorin versucht hier bemüht, alle Charaktere nahezu gleichwertig zu behandeln; wir begleiten fast alle Personen in ihr Privatleben und lesen über ihre Gedanken und Handlungen. Allerdings franst die Erzählung dadurch so sehr aus, dass man den Gedankengängen der Autorin kaum folgen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Anne Holt sich auf drei oder vier Figuren konzentriert hätte, nicht jeder Charakter kann gleichwertig vorgestellt werden, ohne die Leser zu verwirren. Durch die vielen Charakterisierungen gerät leider die Erzählung ins Stocken, da es inhaltlich nur wenig vorangeht. Schade – eine gute Figurenzeichnung trägt zwar zum Lesegenuss bei, kann aber die Freude auch trüben, wenn sie übertrieben wird.

_Am Ende siegt die Wahrheit_

Anne Holt hebt sich alleine schon durch ihre lesbische Krimiheldin deutlich von ihren Krimikollegen ab, verwendet aber so viel Zeit und Mühe, um ihre Figuren zu präsentieren, dass dringend dazu geraten ist, Holts Romane in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Sonst ist es äußerst schwierig, die vergangenen personellen Entwicklungen nachzuvollziehen. Der vorliegende Kriminalfall erscheint uns äußerst brisant; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Stahlberg sind brutal ermordet worden und stören damit die idyllischen Vorbereitungen zum verschneiten Weihnachtsfest in Oslo. Dadurch entsteht ein interessanter Gegensatz. Durch die ausschweifenden Personenbeschreibungen verliert man sich aber schnell in den unterschiedlichen Handlungssträngen und blättert ein wenig verwirrt weiter; ein roter Faden wäre hier an einigen Stellen wünschenswert gewesen. Die Auflösung erschien mir ein wenig zu unwahrscheinlich und konstruiert, sodass ein fader Nachgeschmack zurückbleibt. Dennoch versteht es Anne Holt, ihre Leser zu unterhalten und wie immer am Ende auch zu überraschen. Es sind daher nur kleine Abzüge zu vermerken, die die Lektüre dieses Buches ein wenig verkomplizieren und das Lesevergnügen trüben.

Huston, Charlie – Gejagte, Der

Gut ein Jahr ist es her, dass Charlie Hustons Romandebüt [„Der Prügelknabe“ 1469 auf den deutschen Markt kam. Nun folgt mit „Der Gejagte“ die Fortsetzung der rasanten Flucht des sympathischen Verlierertypen Hank Thompson – kein bisschen weniger actionreich als der erste Teil und auch kein bisschen unblutiger.

Etwa drei Jahre sind vergangen, seit Hank Thompson mit viereinhalb Millionen Dollar im Gepäck die Flucht von New York nach Mexiko gelang. Es sind nicht seine viereinhalb Millionen Dollar, wohlgemerkt, sondern die mehrerer mittlerweile toter Gangster aus New York. In dem Zwist zwischen russischer Mafia, korrupten Polizisten und Gangstern, der um das Geld entbrannt war, geriet Hank damals zwischen die Fronten – nur weil er so nett war, ein paar Tage auf die Katze seines Nachbarn Russ aufzupassen. Am Ende ist es Hank, dem mit dem Geld die Flucht gelingt.

Seit drei Jahren lebt Hank, der meistgesuchte Mann Amerikas, also nun schon in Mexiko. Er hat ein bescheidenes kleines Häuschen am Strand und verbringt die meisten Tage bei seinem Freund Pedro in der Strandbar. Kurzum: Hank genießt das Leben. Als dann aber plötzlich in Pedros Bar ein Typ mit russischem Akzent auftaucht, holt Hank die Vergangenheit wieder ein.

Hank muss feststellen, dass sein geheimes Leben in Mexiko aufzufliegen droht und so tritt er erneut die Flucht an. Er geht zurück in die USA, doch kaum hat er amerikanischen Boden betreten, beginnt die wilde Jagd von vorne. Wieder sind unterschiedliche Parteien hinter dem Geld her und wieder zieht Hank eine Schneise der Verwüstung hinter sich her – quer durch die USA …

Bereits Hustons Debütroman „Der Prügelknabe“ verkaufte sich gut. Die Kritiker waren voll des Lobes und die Filmrechte sind bereits nach Hollywood verkauft. Der nun vorliegende zweite Teil von Hustons als Trilogie angelegter Geschichte steht dem in nichts nach. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist wieder Hank. Besonders im ersten Roman baut Huston Hank als eine sympathische Figur auf. Ein Verlierer, mit dem es das Leben nicht immer gut meint und mit dem man mitleidet und mitfiebert. Hank wirkte in seiner ganzen Art glaubwürdig und menschlich, da konnten alle Geschehnisse um ihn herum noch so abgefahren sein.

Es ist schon in „Der Prügelknabe“, als Hank eine Grenze überschreitet, die auch in seiner Figurenzeichnung zu einer Veränderung führt. Ab einem gewissen Punkt nimmt Hank die Geschichte selbst in die Hand und verliert dabei seine Unschuld. Am Ende gehen sechs Leichen auf sein Konto und Hank ist nicht mehr derselbe wie vorher. Diese Entwicklung führt Huston auch im zweiten Band konsequent weiter. Hank hat sich verändert, er ist härter geworden und wenn er Gewalt anwenden muss, um mit heiler Haut davonzukommen, dann tut er das eben – eine reine Zweckmäßigkeit. Ein paar Punkte büßt er dadurch auf der Sympathieskala zwar ein, aber dennoch wirkt die Veränderung glaubwürdig, denn letztendlich geht es Hank immer noch um nichts anderes, als darum, sich und seine Lieben vor weiterem Unheil zu bewahren. Hank ist im zweiten Band abgebrühter und härter. Ein Resultat seiner Erlebnisse aus dem ersten Band.

Auch Huston hat sich im weiteren Verlauf der Geschichte entwickelt. Der erste Roman wirkte vom Stil her schon selbstbewusst und gewitzt. Auch das entwickelt er im zweiten Band konsequent weiter. Die schwarzhumorige Seite seiner Erzählung weiß er stärker zu unterstreichen. Wo Hank hinkommt, da gibt es immer eine Eskalation der Situation. Alles läuft gegen ihn, ständig gerät er an die falschen Typen und alles endet im Chaos. Wie ein roter Faden zieht sich das durch die gesamte Handlung und je mehr Hank daran verzweifelt, desto komischer wirkt all das auch. Huston baut einen ganz unterschwelligen, schwarzen Humor in die Geschichte ein, so dass der Roman zu einem wahren Lesevergnügen wird.

Was zum Lesevergnügen ebenso beiträgt, ist Hustons Erzählstil. Die Geschichte wirkt sehr plastisch, der Drehbuchautor Huston lässt im Kopf des Lesers die Handlung wie einen rasanten Actionfilm ablaufen: schnelle Schnitte, rasante Wortwechsel, kurze prägnante Sätze. Ein Roman, der sich binnen kürzester Zeit verschlingen lässt. Man kann sich schon beim Lesen des Buches „Der Gejagte“ ganz wunderbar als Film vorstellen und das, obwohl Huston sich zu keiner Zeit mit ausschweifenden Beschreibungen aufhält. Atmosphäre und Figurenzeichnung entfalten sich bei ihm auch schon mit wenigen Worten ganz hervorragend.

„Der Gejagte“ ist genau wie „Der Prügelknabe“ im Grunde ein Actionfilm im Buchformat. Huston legt ein hohes Tempo für seine rasante Odyssee quer durch Amerika vor und heizt schon mit diesem hohen Erzähltempo die Spannung an. Dominiert wird der Spannungsbogen stets von einer Frage: Wie kommt Hank da bloß mit heiler Haut wieder heraus? Diese Frage brennt einem vom ersten bis zum letzten Kapitel unter den Nägeln. Wirklich beantwortet wird sie aber vermutlich erst im dritten Teil der Trilogie.

Parallelen zum Actionfilm gibt es nicht nur aufgrund des hohen Erzähltempos und des Gegenstands der Handlung. Auch sprachlich trifft dieser Vergleich zu. Die Dialoge sind immer wieder ein wenig vulgär. Es wird viel geflucht und in gangstermäßigem Slang schlau dahergeredet, Drogen werden konsumiert (und das nicht zu knapp), Personen mit Schusswaffen bedroht. Es geht insgesamt schon recht ruppig zu und die handelnden Protagonisten sind alles andere als zimperlich im Umgang miteinander. Dementsprechend verläuft auch „Der Gejagte“ nicht ohne reichlich Blutvergießen und wie auch schon im Auftaktroman der Trilogie geht es in den Schilderungen nicht immer ganz appetitlich zu. Hustons Trilogie ist also nicht unbedingt für zartbesaitete Gemüter und lässt sich innerhalb des Thrillergenres eher in der Hard-Boiled-Ecke positionieren.

Ein paar Worte noch zur Kontinuität: Für Quereinsteiger ist „Der Gejagte“ nicht unbedingt zu empfehlen. Wer das Buch liest, sollte möglichst auch die Kenntnisse aus dem ersten Teil haben. Huston baut zwar Rückblenden auf den ersten Roman ein, aber die können nicht dazu dienen, einem Quereinsteiger zu vermitteln, was im ersten Teil alles passiert ist. Dafür geschieht in der Geschichte einfach zu viel. Vielmehr rufen sie dem Leser ins Gedächtnis, was im ersten Teil besonders wichtig war. Also bitte die Trilogie möglichst komplett und in vorgesehener Reihenfolge lesen. Nach dem ersten Band will man ohnehin wissen, wie’s weitergeht und so kommt man kaum umhin, sie nicht komplett zu lesen.

Auch die Ausgangssituation, die Huston für den dritten Teil der Trilogie schafft, ist sehr vielversprechend. Die Geschichte entwickelt noch eine gänzlich neue Richtung, die im dritten Teil sicherlich die Hauptrolle spielen wird.

Fazit: Was Huston mit „Der Prügelknabe“ so erfrischend und rasant angefangen hat, führt er mit „Der Gejagte“ konsequent fort. Stilistisch bemerkt man eine gewisse dezente Weiterentwicklung. Hank Thompson bleibt als Protagonist außerordentlich interessant. Obwohl er abgebrühter und härter geworden ist, behält er seine sympathische, menschliche Seite – eine Figur, mit der man mitfiebert und mitleidet. Der Roman an sich ist ein rasantes, actiongeladenes und schwarzhumorig angehauchtes Lesevergnügen und ausgezeichnetes Kopfkino. Da darf man mit Spannung erwarten, wie Huston die Geschichte im abschließenden dritten Teil auflösen wird.

Scott, Manda – Im kalten Morgenlicht

Es ist eine kalte, dunkle Nacht in Glasgow, Schottland, in der Dr. Kellen Stewart, Therapeutin, erfahren muss, dass ihre jetzige Freundin und einstige Geliebte Bridget Donnelly tot aufgefunden wurde. Auf ihrem Bauern- und Reiterhof, den sie gemeinsam mit Kellen besitzt, hat sie offenbar mit starken Beruhigungsmitteln Selbstmord begangen; so denkt jedenfalls die Polizei, die natürlich gleichgültig und voller Vorurteile ob solcher moralisch verworfener Kundschaft an den Fall herangeht, wie Kellen und ihre Freundinnen Caroline und Lee sogleich im kollektiven lesbischen Verfolgungswahn konstatieren. (Stopp: „gleichgeschlechtlich“ ist die politisch korrekte Bezeichnung.) Nein, eine solche starke, lebenslustige Frau, eine wahre Heilige – viele (sehr viele) Rückblenden auf entsprechende Episoden des Donellyschen Lebens stellen dies eindrucksvoll unter Beweis -, kann sich niemals selbst gemeuchelt haben. Das wissen Kellen & Co. genau und beginnen folglich mit eigenen Ermittlungen.

Siehe da, Bridget Donnelly ist nicht das einzige Opfer in der Familie: Ihren Bruder Malcolm hat es schon einige Wochen zuvor niedergestreckt. Ein Herzanfall soll die vielversprechende Karriere des Biologen und Genforschers beendet haben, aber bei näherer Betrachtung fallen unseren Hobby-Detektivinnen einige Unstimmigkeiten auf. Der hochbegabte, idealistische und seiner Wissenschaft ergebene Malcolm hatte die Universität verlassen und sich in die Krakenarme eines pharmazeutischen Konzerns geworfen, der ihm seine Forschungen finanzierte, die offenbar weiter gediehen waren als es der Menschheit zuträglich ist – jedenfalls nach Auffassung des plötzlich von Skrupeln befallenen Entdeckers. (Man könnte dies die „Lex Frankenstein“ nennen.) Dabei spielen zwei harmlos aussehende Hühner eine Hauptrolle, die es indes in sich haben. Malcolm hatte sie gentechnisch aufgerüstet und dann, als ihm der Schrecken ob seines sündhaften Tuns (seltsam, dass er nie vor begangener Tat einen Gedanken daran verschwendete …) ins Gebein gefahren war, nicht etwa gebraten und auf solche Weise seinen finsteren Geldgebern entzogen, sondern auf dem Hof der Schwester unter vielen Artgenossen versteckt. Klug ausgedacht, aber in der Realität nicht schlau genug, wie beide Donnellys zu ihrem Nachteil erfahren mussten.

So rekonstruieren Kellen und ihre Verbündeten nach und nach Malcolms und Bridgets letzte Lebenswochen, was es im Dienste der Wahrheit erforderlich macht, des Nachts in zwielichtige Laboratorien einzubrechen, Computernetze zu knacken oder diverse Körperteile auf die Seite zu schaffen, bis endlich die mordlüsternen Hintermänner aufmerksam werden und beschließen, sich der neugierigen und lästigen Schnüfflerinnen zu entledigen …

„Im kalten Morgenlicht“ (dessen Titel im Original wesentlich treffender „Hühnerzähne“ lautet, was aber nicht übernommen wurde, weil es für den geistig schlichten und als Buchkäufer lieber nicht zu verwirrenden Krimi-Michel offenbar zu angelsächsisch, d. h. originell war) ist ein medizinischer Thriller mit ausgeprägten belletristischen Elementen. Die Genre-Leser werden mit den üblichen, aber immer wieder gern gesehenen Szenen (Untat, Ermittlung, Präventivschlag des Täters, großes Finale mit Auflösung und Verfolgungsjagd und/oder Schießerei) bedient, die Anhänger „richtiger“ Literatur massiv mit einer vorgeblich sozialrelevanten Nebenhandlung umworben. Hier bildet das Milieu der gleichgeschlechtlichen Frauenliebe die Kulisse, was völlig legitim und auch interessant ist, wäre die Verfasserin nicht gar zu eifrig damit beschäftigt, eine Art lesbische Parallelwelt zu gestalten, deren Bewohnerinnen geradezu aufdringlich deutlich von denselben großen und kleinen Dingen bewegt werden wie ihre „normalen“ Zeitgenossen. Davon ist der Leser schon bald oder ohnehin überzeugt und beginnt sich zu langweilen, wenn er (oder eher sie, wie man wohl das primäre Zielpublikum einschätzen darf) nicht gar zu sehr an den Irrungen & Wirrungen aus dem zwischenmenschlichen Bereich interessiert ist. Solche Kritik ist subjektiv, das weiß Ihr Rezensent; sie lässt sich hier aber mit objektiven Argumenten bestätigen. Hier sind vor allem die zahlreichen, oft willkürlich eingeschoben wirkenden Rückblenden auf prägende Erlebnisse aus der Vergangenheit unserer Heldinnen zu nennen, welche die ohnehin nicht gerade vor Leben sprühende Handlung unterbrechen und sich arg in die Länge ziehen. Denkt man sich zu all dem Seufzen, den seelenvollen Blicken ins Leere und bedeutungsschwangeren Sprüchen noch die passende Musik dazu, hat man quasi das kommende TV-Highlight der Woche („Genteufel im Moor – Rettet meine Geliebte!“) schon vor dem geistigen Auge.

Unter kriminalistischem Gesichtspunkt stellt „Im kalten Morgenlicht“ ebenfalls Schmalkost dar. Entkleidet man den Plot aller künstl(er)ischen Verwicklungen, kommt er recht bescheiden daher, was immerhin gewährleistet, dass er funktioniert. Dass Manda Scott für ihren Debütroman 1997 für den britischen „Orange Prize for Fiction“ nominiert wurde, erstaunt aber trotzdem. Nur: Solche Auszeichnungen gibt es inzwischen wie Sand am Meer, und sie werden (unter typisch pompösen Namen) heute anscheinend hauptsächlich ins Leben gerufen, um für die Institutionen zu werben, die sie verteilen. Daher sagt so ein Preis zunächst einmal gar nichts über die Qualität des ausgezeichneten Buches aus, was man besonders deshalb im Hinterkopf behalten sollte, da „Im kalten Morgenlicht“ besagten „Orange Prize“ letztlich gar nicht gewonnen hat, was im Klappentext übrigens keine weitere Erwähnung findet … (Ja, ja, der Rezensent prüft so etwas nach!)

Schwer leiden die Darsteller unseres Spiels unter dem Ehrgeiz ihrer geistigen Mutter. Trotzdem verdienen sie es nicht, von der Werbung als schlaue Girls mit flotten Sprüchen in die düstere Kiste zu den unsäglichen „Frauen-Krimis“ verbannt zu werden. Stattdessen sind Scott durchaus dreidimensionale, nicht gar zu dreist angepilcherte Frauengestalten gelungen, die aus ihrem glaubhaft geschilderten Alltag gerissen werden. Freilich ist Scott vorzuwerfen, dass sie den Alibi-Mann Inspektor Stewart MacDonald als typische Klischeefigur auftreten lässt. Recht unbeholfen muss er nach dem Willen der Verfasserin belegen, dass es unter den männlichen Bewohnern dieses Planeten auch ganz Gute gibt. Also ist er betont verständnisvoll, höflich, gebildet, stellt keine chauvinistischen Ansprüche & verschenkt Hundebabys – Herz, was willst du mehr? Ansonsten teilt sich die Welt der Männer in echte Schurken, impertinente Ignoranten und Dummköpfe; sie spielen hier nur die zweite Geige, was im gewählten Rahmen in Ordnung geht, in seiner naiven Schwarz-Weiß-Zeichnung aber dennoch irritiert und verärgert.

Manda Scott ist Tierärztin, passionierte Bergsteigerin und Schriftstellerin. Sie ist in Schottland geboren und lebt heute im ländlichen Suffolk mit einem Jagdhund und allen möglichen anderen tierischen Bewohnern. Kein Werbetexter vergisst, dieses idyllische Bild vom kleinen Schriftsteller-Glück zu malen; wer trotzdem noch Näheres wissen möchte, werfe einen Blick auf die Website der Verfasserin: http://www.mandascott.co.uk.

Als Autorin ließ Scott Kellen Stewart inzwischen in zwei weiteren Kriminalromanen auftreten. Darüber hinaus schrieb (oder besser verbrach) sie ein grauenvolles Historien-Garn namens „Die Herrin der Kelten“ (im |Goldmann|-Verlag erschienen) um Breaca, die Keltenprinzessin und „listige Kriegerin“, die sich (und den Leser) auf der schmerzvollen Suche nach Recht, Weltfrieden & Mr. Right durch das vorzeitliche Britannien quält.

Val McDermid – Das Lied der Sirenen

Bradfield, eine kleine Stadt in Nordengland. Ein Serienmörder versetzt die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die ungewöhnliche Grausamkeit der Taten steigert die Panik, denn die verstümmelten Leichen zeigen deutlich die Spuren bizarrer und grausamster Folterungen. Ein Muster scheint den Morden zugrunde zu liegen: Die Opfer werden immer an Orten und Plätzen abgelegt, die von den homosexuellen Bürgern Bradfields bevorzugt werden. Das ist aber auch die einzige Erkenntnis, zu der die Polizei bisher gelangen konnte, die ansonsten wie üblich im Dunkeln tappt. Bedrängt von diversen Politikern, die auf rasche Aufklärung des Falls pochen, und natürlich von der Presse, muss die Polizei Hilfe von „außen“ in Anspruch nehmen. Assistent Chief Constable John Brandon engagiert den Psychologen Tony Hill, der als „Profiler“ die seltsame Kunst beherrscht, das Wesen eines Serienmörders aus den am Tatort zurückgelassenen Spuren zu rekonstruieren und auf diese Weise einen Steckbrief zu erstellen, mit dessen Hilfe sich der Täter womöglich finden lässt, wenn es keine Fingerabdrücke, Fotos oder andere Indizien gibt, die eine „klassische“ Polizeiarbeit ermöglichen.

Brandons Vorgesetzte, aber auch seine Untergebenen sind wenig begeistert davon, sich von einem „Fremden“ zeigen zu lassen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben. Sie heißen Hill daher keineswegs willkommen, sondern geben ihm mehr oder weniger deutlich (meistens mehr) ihre Ablehnung zu verstehen. Hinzu kommt eine eindeutig homophobe Grundstimmung im Revier: Die Ermittlungen werden durch die heimliche oder offen geäußerte Abneigung vieler mit dem Fall beschäftigter Polizisten gegen die homosexuelle Gemeinde ihrer Heimatstadt behindert.

Stone hat also einen schweren Stand. Private Nöte lassen ihn noch angreifbarer werden. Er kämpft mit eigenen sexuellen Problemen, die er sorgfältig zu verbergen trachtet, wäre ihr Bekanntwerden doch der ideale Ansatzpunkt für seine Gegner, sich seiner zu entledigen – und gleichzeitig seine berufliche Reputation zu zerstören.

Allen Schwierigkeiten zum Trotz fällt dem Profiler bald auf, dass die ermordeten Männer keineswegs zur schwulen Szene Bradfields gehörten, sondern eindeutig heterosexuell waren. Die Möglichkeit, ein schwuler Mörder könne sich an seinen „normalen“ Mitbürgern vergreifen, heizt die ohnehin explosive Situation noch weiter auf. Überhaupt wird die Lage langsam kritisch, da sich der Abstand zwischen den Morden laufend verkürzt.

Der Mörder verfolgt mit dem Interesse eines publicitysüchtigen Künstlers die Berichterstattung über seine Untaten. Seine „Kritiken“ nimmt er sehr ernst und reagiert daher missgelaunt, als das Bild, das sich Tony Hill allmählich von ihm zu machen beginnt, der Presse zugespielt wird und er sich nicht gebührend gewürdigt, sondern als gemeingefährlicher Psychopath gebrandmarkt und herausgefordert sieht. Das fünfte Opfer, so entscheidet der Wahnsinnige, soll daher Tony Stone heißen. Als dieser dann tatsächlich entführt wird und in der Folterkammer des Täters erwacht, weiß er, dass die Zeit des Theoretisierens endgültig vorüber ist. Nun heißt es für den Profiler, sein ganzes Wissen aufzuwenden und mit dem Mörder um sein Leben zu feilschen …

„Das Lied der Sirenen“ gehört zu den größten Erfolgen der seit einigen Jahren ohnehin auf Bestsellerruhm abonnierten Schriftstellerin Val McDermid. Die ehemalige Oxford-Dozentin und Journalistin gehört zu den prominenten Mitgliedern der homosexuellen Gemeinde ihres Heimatortes Manchester. Jahrgang 1955, ist sie gerade noch alt genug, die Zeit der offenen Diskriminierung und Verfolgung persönlich erlebt zu haben. Heute ist es um die Gleichberechtigung besser bestellt, aber die alten Vorurteile haben überlebt und üben ihre unheilvolle Wirkung mehr oder weniger offen weiter aus. McDermid schreibt gegen sie an, aber sie tut es nicht (g)eifernd oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern „verpackt“ das, was sie sagen will, in spannende Genregeschichten. Da sie über ein beachtliches schriftstellerisches Talent verfügt, geht die Rechnung auf, zumal McDermid die Frage der sexuellen Gleichberechtigung nicht stets und unbedingt zum Leitmotiv ihrer Bücher erhebt, sondern harmonisch in die Handlung integriert.

Der vorliegende Thriller gehört eindeutig in die Sparte „Starker Tobak“. Kritiker messen den literarischen „Wert“ (was immer das sein mag) eines Buches gern am Grad der Zurückhaltung, mit der sich der Autor (männlich oder weiblich) seinem Thema nähert. Das gilt besonders, sobald Gewalt ins Spiel kommt. Insofern hat Val McDermid schlechte Karten, denn sie bricht die Spielregeln, und zwar rigoros. Ihr psychopathischer Mörder lässt sich bei seinen Folterungen durch die Vorbilder des Mittelalters „inspirieren“. Damals wie heute erleiden die Opfer dieser Tortur nicht „nur“ höllische Schmerzen; darüber hinaus werden ihre Körper langsam zu einem blutigen Fleischfetzen zerschunden – einst zum Wohle der Gerechtigkeit oder im Namen Gottes, jetzt ganz offen zur krankhaften Belustigung des Folterers. McDermid beschreibt das mit drastischen Worten und in allen Einzelheiten. Wohliges Gruseln stellt sich zu keinem Zeitpunkt ein, denn sie lässt den Mörder selbst seine Gräueltaten schildern. Die morbide Sachlichkeit seiner Worte kann den kaum unterdrückten, wahnsinnigen Zorn nur unzureichend kaschieren – dieser Serienkiller ist kein medientauglicher Publikumsliebling vom Schlage Hannibal Lecters, sondern ein kaltblütiger Schlächter, dessen brutale Unmenschlichkeit keine Möglichkeiten bietet, ihn zu „verstehen“ oder sich mit seinen Taten zu arrangieren.

Auch die „Guten“ taugen wenig als Identifikationsfiguren. Persönliche Ängste und Schwierigkeiten, Engstirnigkeit, Intrigen, Mobbing und über allem das Bemühen, die Serienmorde von Bradfield in einen Baustein für die eigene Karriere zu verwandeln, zeichnen ein sehr realistisches Bild von der Arbeit eines modernen Polizeireviers abseits aller Hollywoodthriller-Klischees.

Val McDermids außergewöhnlichen Fähigkeiten ist es zu verdanken, dass dem schon recht ausgelaugtem Genre des Serienmörder-Thrillers ein neues Glanzlicht aufgesetzt wurde. Die |British Crime Writers‘ Association| würdigte dies, indem sie „Das Lied der Sirenen“ 1995 mit dem |Golden Dagger Award| als besten Kriminalroman des Jahres auszeichneten. Auch in Deutschland war McDermid mit den „Sirenen“ sehr erfolgreich – und zu Recht, denn das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend und liest sich dazu auch noch flüssig.

Walker, Mary Willis – Laß die Toten ruhn

Austin/Texas: In dem US-amerikanischen Staat, der stolz auf seine Wild-West-Vergangenheit und die Wehrhaftigkeit seiner Bürger ist, soll ein neues Gesetz verabschiedet werden, das den Besitz von Feuerwaffen drastisch einschränkt. Befürworter und Gegner liefern sich vor der Abstimmung einen erbitterten Kampf, dessen Ausgang freilich von einigen fanatischen Waffenfreunden zu ihren Gunsten beeinflusst werden soll: Sie planen allen Ernstes, einen Giftgas-Anschlag auf den texanischen Senat zu verüben, wo über besagte Gesetzes-Vorlage entschieden werden soll.

Die obdachlose Sarah Jane Hurley, genannt „Cow Lady“, hört zufällig mit, als das Attentat geplant wird. Die Verschwörer werden auf sie aufmerksam. Durch ein Versehen halten sie jedoch nicht Sarah für die unerwünschte Zeugin, sondern eine Freundin. Als diese brutal ermordet wird und Sarah erfährt, dass die Täter ihren Irrtum anschließend bemerkt haben, sucht sie Hilfe. Sie wendet sich an die Journalistin Molly Cates, die gerade an einer Reportage über obdachlose Frauen in Austin arbeitet und dabei auch Sarah befragt hat.

Sarah kann Molly zunächst nicht erreichen, denn diese ermittelt in eigener Sache: Vor fast drei Jahrzehnten ist ihr Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Schon damals hat sich Molly bemüht, das Rätsel zu klären; darüber ist sie fast zerbrochen. Nun gibt es plötzlich neue Hinweise. Molly nimmt die Spur auf, und wie in ihrer Jugend ist sie bereit, rücksichtslos sich selbst, ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber die Wahrheit herauszufinden.

Daher ist es fast zu spät, als sie der Hilferuf der „Cow Lady“ erreicht. Deren Verfolger haben sie entdeckt und sind ihr hart auf den Fersen. Als Molly, die inzwischen nach Austin zurückgekehrt ist, Sarah endlich findet, schnappt die Falle zu – sie soll zusammen mit Sarah umgebracht werden, um jeden Hinweis auf das geplante Attentat zu verwischen …

Mit dem vorliegenden Werk beschert Mary Willis Walker ihrer Lesergemeinde ein Wiedersehen mit Molly Cates, der engagierten und unbequemen Journalistin aus Texas. Um es vorweg zu nehmen: Nach „Der rote Schrei“ (Goldmann-Verlag, ISBN: 3-442-42984-6) und „Unter des Käfers Keller“ (Goldmann-Verlag, ISBN 3-442-43513-7) ist ihr erneut ein überdurchschnittlicher Thriller gelungen.

Diese erfreuliche Tatsache wurde von der Kritik nicht immer mit der gebührenden Objektivität gewürdigt. Seit „Unter des Käfers Keller“, jenem Buch, das seiner Autorin zu Recht einen überragenden Erfolg bescherte, werden Walkers Romane an diesem außergewöhnlichen Werk gemessen. Doch das ist ungerecht; nicht immer geraten Qualität, aktuelles Zeitgeschehen und Zeitgeschmack so perfekt in einen Gleichklang.

Bei „Laß die Toten ruhen“ war Walker der Wirklichkeit ein paar Jahre voraus. Vor dem Hintergrund des Massakers von Littleton (April 1999), bei dem zwei gestörte Schüler über ein Dutzend ihrer Schulkameradinnen und -kameraden umbrachten, und weiterer Amokläufe gewinnt die Geschichte ganz andere Dimensionen. Hierzulande kann sich vermutlich niemand wirklich vorstellen, mit welcher Inbrunst in den Vereinigten Staaten für und wider den freien Waffenbesitz gestritten wird. Die katastrophalen Folgen der derzeitigen Gesetzgebung werden zwar durchaus erkannt, gleichzeitig jedoch von einer zahlenmäßig etwa gleichwertigen und einflussreichen Gegenbewegung negiert. Freie Waffen für freie Bürger – so lässt sich deren Haltung zu diesem Thema vereinfachend umschreiben. Verfolgt man Berichte über paramilitärische und bis an die Zähne bewaffnete Gruppen, die es überall in den USA zu geben scheint, und ihre oft sonderbaren bis gemeingefährlichen Ansichten, erscheint die Vision eines Giftgas-Attentats auf den texanischen Senat überhaupt nicht mehr unrealistisch.

Walker begnügt sich nicht mit diesem einen Plot. Sie verwebt die eigentliche Kriminal-Handlung mit einem Blick auf das Problem der Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten. Auch hier ist es nicht einfach, die Brisanz des Themas zu erkennen. Zu den Schattenseiten des „Amerikanischen Traums“, nach dem jede/r zu Wohlstand, Erfolg und Glück gelangen kann, wenn er oder sie sich nur tüchtig anstrengt, gehört der unumstößliche Glaube großer Teile der amerikanischen Bevölkerung, dass jene, die auf der Straße leben, sich offenkundig nicht genug ins Zeug gelegt und ihr Unglück selbst verschuldet haben. Ruft man sich dann noch ins Gedächtnis, dass es in den USA, einem der reichsten Länder der Welt, nur ein rudimentäres soziales Netz gibt, das jene auffängt, die das Pech haben, auf dem „American Way of Life“ in eine Sackgasse zu geraten, gewinnt auch der Handlungsstrang um Sarah Jane Hurley, die „Cow Lady“, und ihre unglücklichen Leidensgenossen an Eindringlichkeit.

Als sei dies noch nicht genug für einen einzigen Roman, widmet sich Walker schließlich dem chaotischen Privatleben ihrer Heldin. Molly Cates, die in ihrem Beruf so erfolgreich ist, wurde durch den rätselhaften Tod ihres Vaters nachdrücklich aus der Bahn geworfen. Die fanatische Suche nach den mutmaßlichen Mördern hat sie krank werden, ihre Familie vernachlässigen und ihre Freunde auf Abstand gehen lassen. Dreißig Jahre später hat Molly ihr Leben und ihre Karriere zwar im Griff, doch den Bruch in ihrer Jugend konnte sie niemals wirklich verarbeiten. Schon einige wenige neue Hinweise reichen aus, um sie erneut in den Strudel ihrer Obsession zu ziehen.

Drei Geschichten in einer also, die „Laß die Toten ruhn“ erzählt – ein wenig zu viel für einen simplen Thriller, ließe sich einwenden. Wo steht allerdings geschrieben, dass ein Triller immer einfach sein muss? Mary Willis Walker gelingt es jedenfalls, die von ihr sauber recherchierten Themen zu einem komplexen, dichten und immer spannenden Roman zusammenzufügen. Längen gibt es nicht, und sogar das obligatorische Finale mit Knalleffekten wirkt nicht aufgesetzt, sondern folgerichtig.

Redmond, Patrick – Schützling, Der

Hinter Michael Turner liegt ein hartes Leben. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er in Waisenhäusern auf, bis er zu einer Pflegefamilie kam. Doch auch dort fand er nie die Nähe und Wärme, nach der er sich sehnte.

Heute ist Michael Ende zwanzig und es scheint, dass ihn das Glück endlich erhört hat. Dem jungen Anwalt steht eine gute Karriere in einer renommierten Kanzlei bevor und er hat in seiner Verlobten Rebecca die große Liebe gefunden. Trotzdem fürchtet Michael, das Schicksal könnte eines Tages wieder erbarmungslos zuschlagen und ihm alles nehmen, wofür er lebt.

Bis zum Kauf eines eigenen Hauses ziehen er und Rebecca in eine Übergangswohnung. Bald schon lernen sie den Vermieter kennen. Max ist ein wohlhabender Mann Ende vierzig mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. Von Anfang an zeigt er großes Interesse an Michael. Da auch er seine Kindheit in Waisenhäusern verbrachte, fühlt er sich ihm besonders verbunden. Es scheint, als sähe Max in Michael eine jüngere Version von sich selbst. Immer wieder spricht er Einladungen zum Essen aus und heißt ihn in seinem Landhaus willkommen. Dank seines Einflusses unterstützt er Michael sogar bei beruflichen Missgeschicken. Wann immer er Hilfe braucht, ist Max für ihn da. Schon bald sieht Michael in ihm mehr als einen Vermieter und guten Bekannten, sondern einen väterlichen Freund und Mentor.

Dennoch fühlt sich Michael hin und wieder unwohl durch Max‘ übertriebene Aufmerksamkeit. Auch Rebecca weiß nicht recht, was sie von dieser Männerfreundschaft halten soll. Je mehr Zeit Michael mit Max verbringt, desto mehr scheint er sich von ihr zu entfremden. Das Paar spürt, dass Max mit seiner besitzergreifenden Persönlichkeit Michael am liebsten für sich allein hätte – und dass er dafür zu allem bereit ist …

Die Ähnlichkeiten zu Redmonds erstem Roman [„Das Wunschspiel“ 1488 liegen auf der Hand. Auch hier dreht es sich um die Abhängigkeit von einem anderen Menschen und um den Preis, den man für die Erfüllung seiner Wünsche bezahlt.

Die Charaktere sind nicht ganz so herausragend wie im „Wunschspiel“, aber dennoch lebendig und überzeugend. Protagonist Michael hat keine besonderen Eigenschaften, eignet sich dadurch aber auch gut zur Identifikation. Er ist ein junger Mann mit einer schlimmen Vergangenheit, der durch seine einfache Art dem Leser schnell sympathisch wird. Man gönnt ihm sein Glück mit Rebecca und leidet entsprechend mit ihm, wenn das Schicksal es mal weniger gut meint. Michael ist ein erfolgreicher und sehr intelligenter Anwalt, aber dabei kein Streber. Auch ihm passieren Nachlässigkeiten und Unsauberheiten, er ist also trotz seines Ehrgeizes angenehm unperfekt. Auch in seinem Privatleben gibt es Schwächen, die man nur allzu gut nachvollziehen kann: Rebeccas Familie, bestehend aus ihren Eltern und ihrem Bruder, hat von Anfang an eine große Abneigung gegen Michael. Ihm geht es umgekehrt ebenso und jedes Treffen knistert nur so vor Feindseligkeiten und Anspannung. Diese Kleinigkeiten machen aus Michael eine Figur, in der der Leser sich selbst oder Menschen aus seinem Alltag auf Anhieb wiederfindet.

Ebenso verhält es sich mit Rebecca, die dem Bild einer durchschnittlichen jungen Frau entspricht. Sie träumt von einer Karriere als Künstlerin, was mangels Erfolg jedoch in weite Ferne rückt. Sie ist zerrissen zwischen der Zugehörigkeit zu ihrer Familie und ihrer Liebe zu Michael. Den Höhepunkt ihrer Krise erlebt sie, als sich Max in die Beziehung drängt und sie hilflos mitansehen muss, wie ihr Verlobter sich von ihr entfremdet. Ihre Gedanken und vor allem ihre Ängste werden dabei absolut nachvollziehbar geschildert, so dass sich der Leser ganz auf ihrer Seite fühlt.

Max dagegen ist ein sehr individueller Charakter. Der ältere Mann besitzt eine außergewöhnliche Ausstrahlung, angefangen mit seiner wohlklingenden Stimme bis hin zu seinem souveränen Auftreten in jeder Situation. Trotz seines Geldes schätzt er die einfachen Dinge des Lebens und seine Fürsorge gegenüber Michael erscheint zunächst wie ein Glücksfall. Von Beginn an ist nachvollziehbar, dass Michael von Max fasziniert ist und sich bei ihm gut aufgehoben fühlt. Erst allmählich kristallisiert sich heraus, dass Max in außergewöhnlichem Maße besitzergreifend ist – und dass ihm jedes Mittel recht ist, um seinen Willen durchzusetzen …

_Spannung vom Feinsten_

Für den Großteil der Faszination des Buches ist der geschickte Spannungsaufbau zuständig. Immer wieder spielt der Autor mit dem Leser und schickt ihn auf falsche Fährten. Mehrmals gibt es Hinweise darauf, dass Max seine Loyalität bloß vortäuscht. So wie der Leser zweifelt auch Michael, nur um dann wieder eines Besseren belehrt zu werden, indem Max eine einwandfreie Erklärung liefert. Diese Ambivalenz zwischen Maxens liebevoller Rolle als Vaterersatz für Michael und seinem manipulativen Wesen wächst sich zu einer sanften Bedrohung aus und zieht die Schlinge um Michael von Mal zu Mal enger.

Das komplizierte Verhältnis der beiden Männer zieht immer weitere Kreise. Bald sind nicht nur Rebecca, sondern auch ihre Familie, ihre Freundinnen und Michaels Kollegen und Vorgesetzte in die Geschichte verwickelt. Für Max ist es ein Leichtes, auf alles und jeden Einfluss zu nehmen und jeden Lebensbereich des Paares zu kontrollieren. Und so scheint am Ende eine Katastrophe unvermeidlich …

Durch den flüssige und sehr gut lesbaren Stil liest sich der knapp 500-Seiten-Schmöker wie in einem Rutsch. Es ist keine besondere Konzentration nötig, um der Geschichte zu folgen, so dass man den Roman bequem auf Zugfahrten, in Wartezimmern oder beim Essen lesen kann. Schwächen gibt es, wenn überhaupt, nur in der außergewöhnlichen Überzeugungskraft von Max, der scheinbar jeden Menschen mühelos um den Finger wickelt. Etwas störend ist auch die rasche Vertraulichkeit, als Max bei einem seiner ersten Zusammentreffen mit Rebecca sie direkt auf die Wange küsst, obwohl er bis dato nur den Status des Vermieters innehat. Das kennt man aus Hollywood-Filmen, so wie dort auch Ärzte schnell ihre Patienten beim Vornamen ansprechen, entspricht aber kaum der Realität.

Zeitweise ist der Verlauf der Handlung sehr vorhersehbar, bedingt durch das altbekannte Plotmuster: Ein Fremder tritt in das Leben des Protagonisten, mischt sich immer weiter ein und baut seinen Einfluss aus, um ihn zu isolieren und greift dabei zu den härtesten Mitteln. Dieser schematische Ablauf wird aber ausgeglichen durch das dramatische und – so viel darf verraten werden – angenehm ungeschönte Ende.

Wer unmittelbar davor „Das Wunschspiel“ gelesen hat, stört sich eventuell an den Ähnlichkeiten. Doch auch dann weiß „Der Schützling“ zu überzeugen und bietet jedem Thrillerfan je nach Anspruch und Erwartung solide bis hervorragende Unterhaltung.

_Fazit:_ Ein locker geschriebener und bis zum dramatischen Schluss sehr spannender Roman über Abhängigkeiten, Intrigen und zerstörerische Freundschaften. Wie schon im „Wunschspiel“ überzeugt Patrick Redmond den Leser mit interessanten und gut vorstellbaren Charakteren. Eine glatte Empfehlung für jeden Fan der Spannungsliteratur.

_Patrick Redmond_ wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten.

Sandford, John – Jagdpartie, Die

Die vier Direktoren – und eine weibliche Direktorin – der „Polaris“-Bank gehen auf Einladung ihres Vorstandsvorsitzenden gemeinsam auf die Jagd. Was auf den ersten Blick ein reines Wochenend-Vergnügen zu sein scheint, entpuppt sich als grimmiges Spiel um Macht und Geld. Der Vorstandsvorsitzende hat die Fusion mit einer Konkurrenz-Bank in die Wege geleitet; ein Deal, der ihm unendlich viel Geld bescheren, seinen Direktoren aber wahrscheinlich den Job kosten wird. Da ist es kaum verwunderlich, dass der Vorsitzende plötzlich mit einem Loch in der Brust im Wald aufgefunden wird – ein Jagdunfall ist es nicht gewesen …

Deputy Chief Lucas Davenport von der Mordkommission der Stadt Minneapolis steht vor fünf mächtigen, ungeduldigen Verdächtigen, was die Fahndung erheblich erschwert, zumal der Mörder seine Spuren gut verwischt hat. Weit ist die Polizei mit ihren Ermittlungen noch nicht gekommen, als die weibliche Direktorin plötzlich ebenfalls umgebracht wird. Zusätzlich abgelenkt wird Davenport, als seine ehemalige Verlobte beinahe einem Brandanschlag zum Opfer fällt. Womöglich will sich ein von dem Detective hinter Gitter gebrachter Verbrecher auf diese Weise an ihm rächen.

Trotz der Probleme trägt die Ermittlungsarbeit langsam Früchte. Wilson McDonald, einer der vier überlebenden „Polaris“-Direktoren, kann möglicherweise mit dem Mord in Verbindung gebracht werden. Die geplante Fusion würde seine Karriere auf jeden Fall beenden, und der grobschlächtige Mann, der seine Ehefrau brutal zu schlagen pflegt, ist niemand, der sich dies gefallen ließe.

Hellhörig werden Davenport und sein Team, als sie Hinweise finden, die McDonald mit einigen ungeklärten Mordfällen der Vergangenheit in Verbindung bringen. Und dann ist da noch die unerklärlich hohe Todesrate unter denen, die McDonald in den letzten Jahren beruflich in die Quere gekommen sind …

Bevor Davenport endgültige Klarheit gewinnen kann, überschlagen sich die Ereignisse: Audrey McDonald bringt ihren gewalttätigen Ehemann nach einer neuerlichen Attacke um – anscheinend in Notwehr, denn sie ist schwer verletzt. Davenport ist misstrauisch, denn in ihm steigt langsam der Verdacht auf, dass eher Audrey als ihr Gatte für die zahlreichen Todesfälle im Umfeld dieses seltsamen Ehepaares verantwortlich sein könnte …

Die Lösung dieses ausgezeichneten Thrillers soll an dieser Stelle nicht verraten werden; es wäre ungerecht, obwohl es das Vergnügen an der Lektüre nicht unbedingt schmälern würde. Autor John Sandford lässt die Katze selbst schon vor dem letzten Drittel des Romans aus dem Sack; nun verfolgt der Leser gespannt das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Davenport und dem wahnsinnigen, aber gleichzeitig ebenso intelligenten wie rücksichtslosen Serienmörder.

Lucas Davenport ist nicht gerade das, was man eine Identifikationsfigur nennen würde. Er ist Polizist mit Leib und Seele und engagiert sich oft so intensiv, dass sein Privatleben ernsthaften Schaden nimmt. Dabei treten die weniger angenehmen Seiten seines Wesens zutage. In „Kalte Rache“, dem achten Teil der Davenport-Serie, tötet er überlegt und kaltblütig einen Kidnapper, der seine Verlobte gefangen hält. Diese gibt ihm daraufhin den Laufpass, was Davenport in eine depressive Phase treibt, die ihn zu Beginn von „Die Jagdpartie“ noch in ihrem Bann hält. Doch im Verlauf der Ermittlungen beginnt er eine Affäre mit der Polizistin Sherrill, die indes von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen scheint.

Die differenzierte Figurenzeichnung beschränkt sich nicht auf Davenport. Aber auch der Plot an sich lässt wieder einmal nichts zu wünschen übrig. Man erfährt einiges über das Geschäftsgebaren in den Vorstandsetagen moderner Bank-Konzerne, und da Sandford als Journalist etwas vom Recherchieren versteht und das Ergebnis als Schriftsteller gekonnt umzusetzen weiss, ist plausibel, was er schildert. Die Glaubwürdigkeit der Geschichte hängt an vielen Stellen davon ab – besonders in den ersten beiden Dritteln des Romans, als noch unklar ist, dass der Tod des Vorstandsvorsitzenden mit den internen Machtkämpfen an der Bankspitze nur mittelbar zu tun hat.

Zimperlich geht es in der Welt John Sandfords nicht zu. Gewalt und Verbrechen dienen jedoch nicht der vordergründigen Unterhaltung, sondern sind zweckgebunden: Serienmörder, allein dem Eigennutz verpflichtete Geschäftsleute, überlastete Polizei-Beamte – hier wird mit harten Bandagen gekämpft, und Sandfort schildert diesen Alltag nüchtern, fast dokumentarisch, verweist damit auf seine journalistischen Wurzeln (dazu unten mehr) und erhöht dadurch die Eindringlichkeit seiner Schilderungen.

Aufgelockert wird der Ernst der Handlung durch wohl dosierten, knochentrockenen Humor, den Sandford zum ersten Mal in diesem Umfang einsetzt. Auch hier zeigt er sich als Meister, der die meisten Lacher erzielt, indem er zum Beispiel nur schildert, in welche Nöte Davenport gerät, als 24 Großmütter, die illegal Mohn gezogen und Opiumtee daraus gebraut haben, sich ihm gleichzeitig stellen wollen und sämtliche Kolleginnen und Kollegen sich aus dem Staub gemacht haben … Der Humor entsteht aus der Darstellung; er wird nicht herbeigezwungen und wirkt dadurch wesentlich stärker.

„Die Jagdpartie“ ist seit 1989 bereits das neunte Abenteuer, das John Sandford seinen Lucas Davenport bestehen lässt. Mit dieser Figur begann die schriftstellerische Karriere des Autors, der eigentlich John Camp heißt und 1944 in Iowa geboren wurde. Der junge Mann studierte zunächst Geschichte, leistete dann seinen Militärdienst in Korea und ging anschließend an die Universität zurück. Mit dem „Master’s Degree in Journalism“ in der Tasche arbeitete Camp zwischen 1970 und 1978 für die „Miami Herald Tribune“, wo er Seite an Seite mit seinen inzwischen ebenfalls als Thriller-Autoren zu Ruhm gekommenen Kollegen Carl Hiaasen und Edna Buchanan arbeitete. (In „Die Jagdpartie“ spielt Camp auf diese Zeit an und flicht einen Witz auf Kosten seines Freundes Hiaasen in die Handlung ein: S. 368 und 371.) Seine journalistische Laufbahn gipfelte Mitte der 80er Jahren im Gewinn des renommierten Pulitzer-Preises für eine Artikelserie, die ein Jahr im Leben einer modernen Farmer-Familie beschrieb. Einige Jahre später begann Camp, Romane zu schreiben – er debütierte gleich mit zwei Büchern, von denen das eine – unter dem Pseudonym „John Sandford“ veröffentlicht – den ersten Auftritt Lucas Davenport schilderte. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks ließ Camp pro Jahr einen weiteren Davenport-Roman folgen, die im amerikanischen Original übrigens immer das Nomen „Prey“ – gleich „Opfer“ oder „Beute“ – im Titel tragen.

(Die biografischen Angaben sowie die Liste der Davenport-Romane wurden dem Sandford-Autoreninfo auf der immer empfehlenswerten Website www.kaliber38.de entnommen. John Sandford hat auch eine eigene Website, die bemerkenswert aktuell gehalten wird und unter www.johnsandford.org zu finden ist.)

Peace, David – 1974

„Red Riding Quartet“ nennt David Peace seine Tetralogie, die sich um das England der 70er und frühen 80er Jahre dreht. „1974“ ist deren erster Teil, der international viel Beachtung fand und von der Presse als eines der spektakulärsten Debüts der letzten Jahre gefeiert wird. „1974“ ist ein unglaublich harter Brocken – schwer verdaulich einerseits, absolut atemberaubend andererseits. Ein Krimi, der so düster und desillusionierend ist, dass es schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Der Dezember 1974 ist ein harter Monat für den neuen Gerichtsreporter der Yorkshire Post in Leeds, Edward Dunford. Kaum hat er seinen Job angetreten, stirbt zunächst sein Vater. Doch auch beruflich kommt einiges auf ihn zu: Ein junges Mädchen, Clare Kemplay, wird vermisst gemeldet und wenige Tage später grausam zugerichtet und ermordet aufgefunden.

Dunford recherchiert in dem Fall, knüpft Beziehungen zwischen diesem Mord und zwei weiteren spurlos verschwundenen Mädchen. Er sucht nach Verbindungen zwischen den drei Fällen und sticht mit seinen Nachforschungen in ein Wespennest. Als dann auch noch Dunfords Kollege Barry Gannon bei einem „Autounfall“ ums Leben kommt, steht er plötzlich mitten in einem undurchsichtigen Dickicht aus Korruption und Vertuschung, in das nicht nur die Ermittlungsbehörden verstrickt sind, sondern auch einige hochrangige Persönlichkeiten der Stadt …

Aus der Masse der Kriminalromane sticht David Peace mit seinem Werk deutlich hervor. Bei Peace läuft vieles entgegen der gängigen Klischees. Hier sind die Polizisten die Bösen und die Journalisten die Guten, die ohne Furcht nach der Wahrheit suchen. Zeitlich überschneidet sich der Roman mit einem dunklen Kapitel in der Geschichte Yorkshires. Es war etwa zur gleichen Zeit, als der so genannte Yorkshire Ripper sein Unwesen trieb und vierzehn Frauen ermordete. Fünf Jahre lang lebten die Menschen in Yorkshire in der Furcht vor dem Ripper. Mit dieser Furcht ist auch der im Westen Yorkshires geborene David Peace aufgewachsen, so dass ein Teil des Romans sicherlich auch die Bewältigung dieser Ereignisse beinhaltet.

„1974“ ist ein Roman, wie man ihn so schnell vermutlich nicht wieder zu lesen bekommen wird. Ein |Krimi Noir|, wie er düsterer und beklemmender kaum sein könnte. Vergleiche lassen sich höchstens zu James Ellroy ziehen. Beide Autoren ähneln sich in gewissen Zügen. Beide stricken Geschichten, die ein undurchsichtiges Geflecht von Macht und Korruption, von Gewalt und Brutalität enthalten, und beide ziehen ihren düsteren, schwer durchdringbaren Plot mit einer ähnlichen Sprachgewalt und Faszination auf.

Peaces Stil wirk dabei etwas abgehackt und gewöhnungsbedürftig. Knappster Satzbau, Einwortsätze, eingestreute Songtitel und Schlagzeilen, die nebenbei im Radio laufen und den Geist der Zeit heraufbeschwören, Zitate, die stets wiederholt werden – Peaces sprachliche Mittel erscheinen schlicht, wirken aber umso eindringlicher. Man braucht eine gewisse Einlesezeit, um mit diesem Stil warm zu werden, aber dann beginnt er mit jeder Seite, sich machtvoller zu entfalten. Ähnlich schlicht und knapp, aber gleichzeitig sprachgewaltig wirkt auch James Ellroys [„L.A. Confidential“ 1187 auf mich.

Peace webt eine dichte Atmosphäre und baut einen kontinuierlich aufstrebenden Spannungsbogen auf, der den Leser nägelkauend weiterlesen lässt. Man kommt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von dem Buch los und will, von bösen Vorahnungen geplagt, möglichst bald wissen, wie sich Geschichte und Figuren weiterentwickeln.

Dabei fällt der Einstieg zunächst nicht ganz leicht. Peace verlangt dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, weniger aufgrund des sprachlichen Stils, sondern mehr aufgrund der großen Mengen auftauchender Namen und Figuren. Gerade in den ersten Kapiteln haut Peace dem Leser die Namen um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Peace treibt die Geschichte in einem geradezu halsbrecherischen Erzähltempo ihrem dunklen Höhepunkt entgegen und nimmt den Leser mit auf eine düstere Achterbahnfahrt. Alles in einen Zusammenhang einzuordnen, fällt dabei nicht immer ganz leicht. Peaces Romangebilde ist eben sehr komplex.

Ganz im Zeichen dieser Komplexität steht auch Peaces Umgang mit Klischees. Er stellt vieles auf den Kopf, vertauscht Gut und Böse und zeichnet kein Schwarzweiß-Gemälde. Auch Edward Dunford, der auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Story ist, ist längst kein strahlender Held. Er hat einige unsympathische Züge und behandelt seine Mitmenschen nicht immer gerade nett, was sich besonders an seinem Umgang mit Frauen zeigt. Es gibt keine per Definition rein Guten, so wie es keine irgendwelchen Klischees entsprechenden Bösen gibt. Auch das lässt sich durchaus als Qualitätsmerkmal festhalten, denn es fordert den Leser.

„1974“ ist dabei nicht nur ein Krimi, sondern gleichermaßen eine Gesellschaftsstudie und ein Spiegel seiner Zeit. Mangelnde Moral in gut situierten Kreisen, die Käuflichkeit von so ziemlich jedem und das Interesse der Öffentlichkeit an grausamen Kapitalverbrechen, dessen Halbwertszeit sich nach dem medialen Unterhaltungswert der Meldung richtet.

Das Szenario, das Dunford durch seine Ermittlungen am Ende des Romans entblättert, ist gleichermaßen schockierend und düster. Man ahnt, dass der Antiheld Dunford kein gutes Ende nehmen wird und dass es auch für den Fall an sich kein Happyend geben kann. Alles gipfelt in einem außerordentlich blutigen Finale. Dunford verknüpft die unterschiedlichen Handlungsebenen, zieht die richtigen Schlüsse und steht am Ende vor der grausamen Wahrheit, ohne selbst genau zu wissen, wie er damit umgehen soll. Entsprechend düster, verstörend und bluttriefend fällt das Finale aus, und entsprechend düster ist auch der Abschied von Dunford.

Und ein kleines bisschen ist man am Ende auch froh, dass es vorüber ist, während man gleichzeitig bedauert, dass der Roman zu Ende ist. „1974“ ruft zwiespältige Gefühle hervor und verlangt dem Leser einiges ab. Dennoch blickt man erwartungsfroh nach vorn und wartet ungeduldig auf die Fortsetzung des „Red Riding Quartet“. Peace hat einfach eine packende und faszinierende Art, die zwar etwas anstrengend sein mag, aber eben auch so fesselnd ist, dass man davon nur schwer loskommt.

Kurzum: Preisauszeichnungen und überschwängliches Presselob hat David Peace sich redlich verdient. Sein Debütroman sticht aus der Masse der Kriminalliteratur äußerst positiv hervor. Ian Rankin sieht David Peace als „die Zukunft des Kriminalromans“. Wenn sich das bewahrheiten sollte, sieht die Zukunft des Kriminalromans in der Tat sehr gut aus. Peace weiß zu fesseln, inszeniert einen düsteren Plot und eine beklemmende Gesellschaftsstudie. „1974“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Kriminalroman, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Sprachlich wie inhaltlich ein harter, schwer verdaulicher Brocken, aber dafür einer, der garantiert im Gedächtnis haften bleibt und obendrein Lust auf die weiteren Teile des „Red Riding Quartet“ macht.

Redmond, Patrick – Wunschspiel, Das

England im Jahr 1954: Eigentlich ist es eine Ehre, im elitären Knabeninternat Kirkston Abbey aufgenommen zu werden. Allerdings herrschen dort auch strenge Regeln, Rivalität und eine brutale Hackordnung.

Auch der 14-jährige Jonathan ist hier nicht glücklich. Im Gegensatz zu vielen anderen Jungen stammt er aus eher einfachen Verhältnissen. Ältere Schüler machen sich einen Spaß daraus, ihn herumzustoßen und auch manch ein Lehrer lässt ihn spüren, dass er nicht erwünscht ist. Nur die Freundschaft zu drei Jungen macht die Schulzeit erträglich. Da sind zum einen die Zwillinge Stephen und Michael, die trotz ständiger Streitereien zusammenhalten wie Pech und Schwefel. Und da ist vor allem Nicholas Scott. Nicholas, dank Brille und schmächtiger Statur ebenfalls ein beliebtes Opfer, ist Jonathans engster Vertrauter.

Auch Richard Rokeby, der in ihre Klasse geht, ist ein Außenseiter. Aber im Gegensatz zu den anderen Jungs verzichtet er freiwillig auf Freundschaften. Gutaussehend, hochintelligent und voll zynischen Humors geht er seinen Weg allein. Niemand wagt es ihm zu widersprechen und selbst die Lehrer finden kein Mittel gegen seine beleidigende Höflichkeit. Viele Jungen bewundern ihn wegen seines Mutes und seiner selbstbewussten Ausstrahlung. Gerne wären sie sein Freund – doch Richard hat für alle anderen nur Verachtung übrig.

Umso verblüffter ist Jonathan, als Richard ihm eines Tages im Lateinunterricht aus der Verlegenheit hilft. Ersten zaghaften Gesprächen folgen vereinzelte Treffen, bis sich langsam aber sicher zwischen den beiden eine Freundschaft entwickelt. Jonathan ist stolz darauf, dass ihm alleine Richards Gunst gehört, auch wenn er nicht ganz begreift, warum Richard ausgerechnet ihn erwählt hat. Richard beschützt ihn vor den Angriffen der anderen Jungen und läd ihn sogar in den Ferien zu sich nach Hause ein. Hier beginnt Jonathan zu ahnen, dass sich einige dunkle Geheimnisse in Richards Vergangenheit befinden …

Zurück in der Schule sorgt Richard dafür, dass sich nicht nur Jonathans Feinde, sondern auch seine Freunde immer mehr von ihm abkapseln. Und dann ist da noch dieses seltsame Spiel, das angeblich Wünsche in Erfüllung gehen lässt. Immer tiefer gerät Jonathan in einen Strudel aus Abhängigkeit und Gewalt …

Die ersten dreihundert Seiten des Romans sind wahrlich atemberaubend. Einprägsame Charaktere, eine mitreißende Handlung, lebendige Dialoge und ein flüssiger Schreibstil machen das Buch zu einem „Pageturner“. Diese ersten beiden Drittel lesen sich in einem Rutsch weg, so dass man gar nicht merkt, wie dabei die Zeit vergeht.

Ein großes Plus des Romans sind die überzeugend dargestellten Charaktere. Der Leser ist sofort von der kalten, sterilen Atmosphäre des Internats gefangen genommen und kann nur zu gut Jonathans Einsamkeit dort nachvollziehen. Der junge Protagonist hat keine besonderen, markanten Eigenschaften, aber gerade deswegen passt er auf fast jeden Leser als Identifikationsfigur. Ein liebenswerter, etwas schüchterner, heranwachsener Junge, der sich in einer schwierigen Zeit behaupten muss. Ihm gehören die Symapthien des Lesers. Man muss nicht selber in einem Internat gewesen sein, um die Probleme dort zu verstehen. Jeder Leser wird sich an ähnliche Situationen aus dem eigenen Schülerleben erinnern können und erahnen, dass es den Jungen in Kikston Abbey noch schlimmer ergeht. Sowohl Lehrer als auch Schüler tragen unverhohlenen Standesdünkel nach außen. Jonathans Vater gehört mit seinem Beruf als Bankdirektor schon zur unspektakulären Garde. Wer sich den dominaten Schülern widersetzt, wird entweder zusammengeschlagen oder durch erniedrigenden Rituale gequält. Dazu kommt, dass die zentrale Handlung des Romans nicht in der heutigen Zeit, sondern in den Fünfzigerjahren spielt. Spießbürgertum und Tabus stehen an der Tagesordnung, Homosexualität wird strafrechtlich verfolgt. Es ist eine strenge, kalte Zeit, in der die Jungen leben und in der eine Freundschaft manchmal alles bedeutet – und jeden Preis wert zu sein scheint.

Die zweite zentrale Gestalt des Romans ist natürlich der geheimnisvolle Richard. Obwohl dem Leser von Beginn an klar ist, dass von ihm das Unheil ausgeht, ist er doch gleichzeitig von ihm fasziniert. Richard besitzt einen trockenen, bissigen Humor, der jedem seiner Gegner den Wind aus den Segeln nimmt. Sein Selbstbewustsein und seine lässige Arroganz und vor allem das völlige Fehlen jedweder Anbiederung, sowohl gegenüber anderen Jungen als auch Autoritätspersonen, lassen auch den Leser nicht unberührt. Gleichzeitig fühlt man sogar etwas Sympathie für Richard, als er Jonathan unter seinen Schutz stellt.

Damit hat der Autor einen charakterlichen Volltreffer gelandet: Leser lieben weder die makellosen noch die unsymapthischen Figuren. Richard aber ist ein charmanter Bösewicht, der durch Witz und eine beneidenswerte Souveränität besticht, die ihn unangreifbar macht. Als beispielsweise der angesehene General Collinson eine Rede vor den Schülern hält, kündigt er halb im Scherz an, dass jeder, der etwas Besseres vorhabe, gehen dürfe. Alle lachen, weil diese Bemerkung nicht mehr als eine Floskel ist. Doch Richard schert sich nicht um gute Manieren oder Höflichkeit und verlässt demonstrativ den Saal. Die Lehrer sind aufgebracht, aber da Richard gegen keine feste Regel – sondern nur gegen die Ettikette – verstieß, entgeht er einer Bestrafung.

Für noch mehr Humor als Bewunderung sorgt die Szene, in der Richard es mit dem dümmlich-brutalen George Turner aufnimmt. Als George gerade einen Mitschüler drangsaliert, macht Richard ihm ein Kompliment wegen seiner angeblich schönen Augen. George ist dadurch verwirrter als es jede Beleidigung erreicht hätte. Richard geht noch weiter und fragt in die Klasse, ob jemand etwa der Meinung sei, George habe keinen schönen Augen. Natürlich wagt niemand zu widersprechen. George wird rot, was wiederum Richard laut erwähnt …
Zurück bleiben ein völlig verstörter George Turner und ein amüsierter Leser.

Dieser sowohl bewunderte als auch verachtete Junge wird vor den Augen des Lesers lebendig. Man hört förmlich den lakonischen Tonfall, in dem Richard seine Widersacher zurückweist, man sieht seinen überlegenen Blick und die Kälte in seinen Augen. Man sieht Richard mit Jonathans Augen. Wie ein Ertrinkender klammert sich der Junge an diesen überlegen Freund, der ihm ein nie gekanntes Selbstwertgefühl verleiht. Und gleichzeitig spürt man Jonathans Schaudern auf der Haut, wenn Richards glasiger Blick ins Leere schweift:
„Warum macht er dir solche Angst“, fragt James seinen Schlägerfreund und Stuart antwortet: „Ich weiß nicht, was er tun oder wie weit er gehen würde.“

Man ist hin- und hergerissen zwischen dem Verständnis für Jonathan, dass er sich auf diese gefährliche Freundschaft einlässt, und dem brennenden Wunsch, ihn vor einem Fehler zu bewahren, der sein Leben für immer verändern wird. Richard Rokeby wird für seine Ambivalenz geliebt und gehasst.

Trotz der Dominanz dieser beiden Charaktere sind die restlichen Figuren mehr als nur Staffage. Da ist der allseits beliebte Vertrauensschüler Paul Ellerson, der sich so überraschend das Leben nahm. Nicht nur Jonathan fragt sich, was der Grund gewesen sein mag … Da ist der junge, dynamische Geschichtslehrer Alan Stewart, den ein düsteres Geheimnis umgibt. Da sind die Zwillinge Michael und Stephen, die sich zwischen ihrem Widerwillen gegenüber Richard und ihrer Loyalität zu Jonathan entscheiden müssen. Und da ist Nicholas, dessen Treue zu seinem einstmals besten Freund auf eine harte Probe gestellt wird …

Sie alle verstricken sich in einem unauflösbaren Netz aus Lügen, Hass, Neid und Gewalt, das am Ende zum Tod mehrerer Menschen führen wird.

Die Handlung selber ist vom reinen Plot her zunächst bereits altbekannt: Zwei Außenseiter, die sich zusammentun, und gegenseitige Abhängigkeit sind hier die Schlagworte. Durch die lebendige Darstellung und die überzeugenden Charaktere gelingt es dem Autoren jedoch, den Leser trotz dieses leicht klischeebehafteten Themas bei der Stange zu halten.

Umso unerfreulicher ist dann die übertriebene Wendung, die der Roman nimmt, und die schließlich in einem überzogenen Schluss endet. Meiner Meinung nach hätte die zerstörerische Freundschaft zwischen Richard und Jonathan bereits gereicht, um zu einer Katatstrophe zu führen. Doch stattdessen kommen nach und nach noch übersinnliche Mächte ins Spiel. Zwar subtil angedeutet und immer mit der leisen Option, dass es sich doch um Zufall handelt – aber trotzdem überflüssig. Schade, denn diese Komponente wäre nicht nötig gewesen.

Ebenfalls schade ist das überhastete Ende, bei dem zu viele Dinge fast gleichzeitig geschehen und in Kürze abgehandelt werden. Mehrere Personen sterben in rascher Abfolge, so dass der Leser die Ereignisse kaum verdauen kann.

Unterm Strich bleibt dem Leser ein zu großen Teilen brillanter Thriller über Freundschaften und tödliche Versuchungen, wobei das Ende hinter den Erwartungen des furiosen ersten Teils zurückbleibt.

_Fazit:_ „Das Wunschspiel“ bietet dem Leser in den ersten zwei Dritteln atemberaubende Spannung, um dann leider etwas abzuflachen und mit einem leicht überzogenen Ende auszuklingen. Lebendige Dialoge, der flüssige Stil, sehr gut gezeichnete Charaktere und eine spannende Handlung sorgen für gute Unterhaltung, die nur durch den Schluss und die unnötige übersinnliche Komponente geschmälert wird. Trotz der leichten Schwächen ein absolut empfehlenswerter Thriller über zerstörerische Freundschaft und Abhängigkeiten und ein beeindruckendes Romandebüt.

_Patrick Redmond_ wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten. Inzwischen erschienen noch „Der Schützling“ und „Der Musterknabe“.

Hillerman, Tony – Dunkle Kanäle

„Dunkle Kanäle“ ist das aktuellste Buch aus der Feder des Erfolgsautors Tony Hillerman, der mich in der Vergangenheit bereits mit einigen Büchern begeistern konnte. Daran sollte sich mit dem neuesten Taschenbuchroman natürlich nichts ändern, auch wenn es dieses Mal etwas länger gedauert hat, bis ich mich mit dem Inhalt anfreunden konnte, weil Hillerman seinen Erzählstil und die gesamten Rahmenbedingungen schon ein wenig an die Moderne angepasst hat. Der Spannung schadet das aber natürlich nicht, wenngleich man dieses Mal ungewöhnlich schnell hinter die kriminellen Machenschaften blickt, die den etatmäßigen Cops Manuelito, Leaphorn und Chee das Leben schwer machen.

_Story:_

Ganze 176 Milliarden Dollar Abgaben für indianische Bodenschätze sind spurlos verschwunden, und keiner hat auch nur leiseste Ahnung davon, wie das für einen Treuhandfonds vorgesehene Geld abhanden kommen konnte. Die CIA setzt deshalb einen Agenten unter falschem Namen auf den Vorfall an, und der scheint auch schnell erste Erfolge bei seinen Ermittlungen zu erzielen – bis er kurz darauf von zwei Unbekannten aus dem Weg geräumt wird.

Das ruft den zur Border Patrol gewechselten weiblichen Officer Manuelito auf den Plan, auch wenn sie erst einmal in ganz anderer Sache ermittelt. Sie entdeckt nämlich, dass auf einem abgesperrten Gebiet, auf dem unter anderem nicht mehr verwendete Pipelines verlaufen, plötzlich wieder Aufbauarbeiten beginnen, kann sich aber erst nicht den genauen Zweck hinter dieser seltsamen Angelegenheit ausmalen. Und einen Zusammenhang zum Fund der Leiche des Agenten sieht Officer Manuelito auch nicht, bis sie dann Kontakt zu ihren ehemaligen Kollegen Jim Chee und Joe Leaphorn aufnimmt, die ebenfalls von den mysteriösen Vorfällen erfahren haben und sich infolgedessen auf den Weg ins Grenzgebiet machen.

Inzwischen nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Bernie sieht sich mit einigen recht seltsamen Kontrollen seitens ihres Chefs konfrontiert, Chee gerät in Sorge, weil eine Schmugglerbande in Mexiko ein Foto von Bernie Manuelito bekommen hat, und während die Polizisten sich noch die Köpfe zerbrechen, was auf der abgesperrten Tuttle Ranch passiert, plant eine einflussreiche Gangsterbande einen riesigen Coup …

_Bewertung:_

Hillerman hat auch in diesem Buch an seinem recht verzwickten Stil festgehalten und lässt wiederum mehrere Handlungsstränge parallel und zunächst unabhängig voneinander ablaufen. So erzählt er von den Ereignissen an der mexikanischen Grenze, gibt einen Einblick in korrupte Staatsgeschäfte, beschreibt das innige Verhältnis zwischen Chee und Manuelito, auch wenn die beiden nicht in der Lage sind, ihre Gefühle füreinander auszusprechen, und lässt nebenbei auch wieder den schon länger berenteten Kommissar Leaphorn zu alter Form auflaufen. Gut gemacht, keine Frage, und dennoch ist die Geschichte dieses Mal schon weit im Voraus vorhersehbar oder zumindets in groben Zügen erahnbar, auch wenn Hillerman sich bis zum Ende noch einige vollkommen unerwartete Überraschungen aufgespart hat.

Das Glänzende an diesem Buch sind aber einmal mehr die drei Hauptdarsteller, auch wenn Joe Leaphorn hier nicht mehr ganz so zum Zuge kommt wie in vorangegangenen Geschichten. Mir gefällt vor allem die Rolle des dickköpfigen Cops Jim Chee, vielleicht aber auch, weil ich hier durchaus eigene Charakterzüge wiederentdecke. Auch die herzliche, stellenweise aber auch etwas tollpatschige Bernie Manuelito ist prima dargestellt, mit sämtlichen Stärken und Schwächen, die man auch einem Cop zugestehen muss. Besonders zum Schluss brilliert sie noch mit einem fabelhaften Charakterzug, zu dem ich aber an dieser Stelle nichts verraten möchte.

Zur Gesamtgeschichte sollte noch einmal kurz der etwas modernere Touch der Handlung erläutert werden. Der 11. September ist beispielsweise an manchen Stellen präsent, das neue Medienzeitalter blickt auch manchmal durch, aber auch die Wortwahl von Tony Hillerman tendiert sehr oft ins 21. Jahrhundert. Das soll aber nicht als Abschreckung verstanden werden, denn stilistisch hat sich im Grunde genommen nichts verändert, „Dunkle Kanäle“ ist also auch ein „echter Hillerman“.

Mit den Hillerman-Storys Vertraute sind übrigens klar im Vorteil, denn nicht selten gewährt der Autor Rückblicke in vergangene Bücher, wobei der davor erschienene Roman [„Das goldene Kalb“ 1429 speziell im Bezug auf die Beziehung zwischen Manuelito und Chee immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Voraussetzung für das Verständnis der Handlung sind diese Geschichten aber dennoch nicht.

_Fazit:_

Zweifellos ist es Tony Hillerman wieder gelungen, eine packende und spannende Geschichte zu erzählen, in der er zeigt, dass er trotz seiner langjährigen Erfahrung als Schriftsteller mit der Zeit geht und vor modernen Elementen nicht Halt macht. Das macht ihn einerseits unberechenbarer, zweitens aber auch sympathischer, als Letztes und Wichtigstes aber auch glaubhafter in seinen Ausführungen. Nicht zuletzt deswegen kann ich „Dunkle Kanäle“ daher auch wieder nur weiterempfehlen. Oder anders gesagt: Der Meister des Ethno-Thrillers hat wieder zugeschlagen.

José Giovanni – Das Loch

giovanni-loch-cover-kleinSechs Männer in einer Gefängniszelle. Alle haben sie nur einen Gedanken: hinaus! Sie schmieden einen bemerkenswerten Plan, der ihnen die Freiheit bringen soll. Minuziös und die stets misstrauischen Wärter im Nacken setzen sie ihn um. Doch unter ihnen befindet sich ein Verräter … – Ungemein spannender, auch kongenial verfilmter Krimiklassiker aus Frankreich, der seine besondere Eindringlichkeit dem einschlägigen „Fachwissen“ des Verfassers verdankt, der selbst viele Jahre einsitzen musste und die Gefängniswelt als Mikrokosmos mit ureigenen Regeln beschreibt.
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Catherine Aird – Das Pendel des Todes

aird-pendel-cover-kleinIn einem kleinen englischen Städtchen endet ein prominenter Unternehmer unter einer tonnenschweren Marmorskulptur. Die Kriminalpolizei ermittelt rasch, dass hier kein Unfall vorliegt … – Krimi der klassischen angelsächsischen Art. Die Geschichte vom originell ausgeklügelten, ‚unmöglichen‘ Mord in einem fest verschlossenen Raum wird durchaus modern erzählt. Der knochentrockene Wortwitz erinnert an die berühmte Dalziel/Pascoe-Serie von Reginald Hill: ein kleines Meisterwerk, das hier der Wiederentdeckung harrt.
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Huston, Charlie – Prügelknabe, Der

Was dabei herauskommt, wenn Drehbuchautoren anfangen Romane zu schreiben, sieht man an „Der Prügelknabe“ von Charlie Huston: Ein Buch, das verständlicherweise wie geschaffen dafür ist, verfilmt zu werden. Kein Wunder also, dass die Filmrechte zu Hustons Debütroman schon verkauft sind. Doch funktioniert das Buch als eigenständiger Roman genauso gut wie als möglicher Film? Oder ist es als Vorlage für den Film eher Mittel zum Zweck?

„Der Prügelknabe“ erzählt die Geschichte des sympathischen Verlierers Hank. Nachdem er aufgrund einer schweren Sportverletzung seine hoffnungsvolle Baseballkarriere an den Nagel hängen musste, zog es Hank von Kalifornien nach New York. Dort führt er ein bescheidenes Leben als dem Alkohol arg zugeneigter Barkeeper. Alles in allem eine unspektakuläre Existenz – bis er eines Abends in der Bar von zwei Russen übel zugerichtet wird. Einige Tage später wird Hank aus dem Krankenhaus entlassen, um eine Niere ärmer und den (zugegebenermaßen vom Arzt aufgezwungenen) Vorsatz, sein Leben zu ändern, reicher.

Hank soll dem Alkohol entsagen (was ihm verständlicherweise nicht ganz leicht fällt) und sich von den Strapazen der Nieren-OP erholen, doch Ruhe ist ihm nicht vergönnt. Kaum ist er zu Hause angekommen, tauchen die beiden Russen wieder auf. Dass die Sache offenbar mit seinem Nachbarn Russ zu tun hat, dämmert ihm, als dessen Bude von einem Haufen Gangstertypen durchwühlt wird.

Russ ist derweil untergetaucht, während Hank brav dessen Katze hütet. Was Hank allerdings nicht ahnt, ist, dass in dem Käfig, mit dem Russ vor seiner Abreise vor Hanks Tür stand, nicht nur die Katze war, sondern auch ein ominöser Schlüssel. Und auf den sind plötzlich eine Menge Leute scharf. Für Hank ist dies der Beginn einer Odyssee kreuz und quer durch den New Yorker Großstadtdschungel. Skrupellose Gangster, korrupte Polizisten, die Russenmafia – alle sind sie hinter Hank her, und der lernt in den folgenden Tagen eine Menge einzustecken …

„Der Prügelknabe“ ist eine recht rasante Geschichte. Ohne viel Umschweife steigt Huston direkt ins Geschehen ein, keine Worte werden verschwendet, keine Zeile ist zu viel. Hustons Erzählstil ist ein Stil der schnellen Schnitte und der sprunghaften Überleitungen. Kurze, knappe Sätze, schnelle Wortwechsel und ein hohes Erzähltempo sind die markantesten Eigenschaften des Romans. Huston wechselt schnell von einer Szene zur nächsten, springt, ohne den Leser lang und breit darauf vorzubereiten, in der Handlung vor und zurück und dokumentiert die Dialoge als rasante Wortwechsel, bei denen man als Leser schon mal hier und da nachdenken muss, wer jetzt eigentlich was gesagt hat.

Das wirkt manchmal ein wenig abgehackt und hastig, zum Handlungsbogen passt dieser direkte Erzählstil aber dennoch sehr gut. Huston konzentriert sich auf Hanks Odyssee durch New York. Es gibt nur eine Handvoll Nebenfiguren, deren Charakterisierung aber stets oberflächlich bleibt. Umso detaillierter setzt Huston sich mit seinem Protagonisten auseinander. Hank, der auf den ersten Seiten noch einen etwas asozialen und unsympathischen Eindruck hinterlässt, wächst dem Leser schnell ans Herz. Hank wirkt natürlich und glaubwürdig. Eine gescheiterte Existenz, die irgendwie ihre Lebensziele aus den Augen verloren hat, so wie Menschen nun einmal Ziele aus den Augen verlieren. Er hatte Pech und hat sich zwischenzeitlich damit abgefunden. So wie Hank sind viele Menschen, und das macht ihn als Protagonisten so großartig. Man kann sich in ihn hineinversetzen, findet sich vielleicht sogar ein Stück weit in ihm wieder. Das lässt die Geschichte authentisch wirken und fesselt den Leser in Anbetracht der Dinge, die Hank erlebt, umso mehr.

Zugegeben, was Hank in „Der Prügelknabe“ so alles erlebt, das mag auf Ottonormalverbraucher doch recht unwahrscheinlich wirken. Es ist nun einmal eine actiongeladene Thrillergeschichte, authentische Hauptfigur hin oder her. Hank hat alle möglichen Leute an den Hacken, von denen der eine skrupelloser als der andere ist. Aber Hank bleibt in all diesem Trubel so erfrischend normal, dass die Geschichte auf ihre Art wirklich glaubwürdig erscheint. Er glaubt anfangs beharrlich an ein Missverständnis, glaubt, dass sich schon alles aufklären wird, wenn Russ erst einmal zurückkommt und er glaubt, dass er den Gangstern schon irgendwie begreiflich machen kann, dass er der Falsche ist, doch so einfach ist das natürlich nicht. Hank hat niemanden, den er um Hilfe bitten kann, und steht ziemlich allein vor dem ganzen Schlammassel.

Ein wenig naiv wirkt er, wie er, stets begleitet von Russ‘ Katze Bud (um deren Wohlergehen er sich permanent und geradezu rührend sorgt), durch die Geschichte stolpert. Dieser Umstand hat schon eine gewisse schwarzhumorige Seite, die auch an anderen Stellen des Romans gelegentlich wieder aufblitzt. So knallhart, wie die Geschichte verläuft, so komische Momente hat sie eben auch immer wieder mal, wenngleich der Humor dahinter eher ein unterschwelliger, indirekter ist.

Hank entwickelt sich innerhalb der Geschehnisse weiter, und auch das durchaus glaubwürdig. Zunehmend frustriert darüber, für alle nur der titelstiftende Prügelknabe zu sein und dementsprechend einstecken zu müssen, obwohl er sich das augenblicklich gesundheitlich gar nicht leisten kann, wird Hank mit der Zeit hart im Nehmen. Er beginnt das Spielchen mitzuspielen und entwickelt sich dabei zu einem durchaus ernst zu nehmenden Gegenspieler. Und dann wird das, was im Roman innerhalb weniger Tage passiert, richtig spannend und temporeich.

So rasant wie „Der Prügelknabe“ daherkommt, so blutig ist er teilweise auch. Das, was manche der Figuren an Kaltblütigkeit und Brutalität auffahren, ist nicht unbedingt für die zartesten Gemüter geeignet. Besonders im Gedächtnis bleiben da die Szenen, die mit Nähten und Wunden zu tun haben, denn einmal ist es Hank, der durch eher unsachgemäßes Fädenziehen an seiner OP-Wunde zum Reden gebracht werden soll, ein anderes Mal ist es Hank, der mit Nadel und Faden versucht, Russ‘ Schädel zusammenzuflicken. Alles nicht unbedingt appetitlich in all seiner Deutlichkeit und Detailliertheit. Sehr deutlich ist Huston auch sprachlich. Es wird viel geflucht, der Ton ist derbe, teils vulgär – wie man es von einer echten New Yorker Gangstergeschichte nun einmal erwartet.

Im Klappentext fällt übrigens das gefährliche Wort |Kultroman|. Kultromane lassen sich natürlich nicht durch Klappentexte zu eben solchen machen, insofern bin ich bei dieser Vokabel immer äußerst skeptisch. Es werden allerhand Vergleiche gezogen (Tarantino, Hitchcock, „The Big Lebowski“, „Der Marathon-Mann“, „American Psycho“). Nicht alles zwangsläufig nachvollziehbar, aber die Zielgruppe lässt sich damit immerhin recht ordentlich einkreisen. Meine These ist eigentlich immer die, dass Bücher, auf denen Dinge wie |“der perfekte Kultroman“| stehen, niemals genau das werden können. Schließlich wird Kultstatus nur durch die Resonanz des Publikums erzeugt und nicht durch den Willen des Verlags. Kult geht die merkwürdigsten und unvorhersehbarsten Wege. Ob „Der Prügelknabe“ also jemals in irgendeiner Weise „Kultstatus“ erreichen wird, kann einzig und allein die Zeit zeigen.

Woran der Verlag aber ruhig noch einmal arbeiten dürfte, ist das Lektorat. „Der Prügelknabe“ enthält eine ganze Reihe nervtötender und überflüssiger Fehler, die eigentlich vor der Veröffentlichung ausgemerzt gehören. Da gibt es nicht nur Tippfehler (über die man eventuell noch hinwegsehen könnte), sondern durchaus auch mal Wortdreher und vertauschte Namen und das sind dann Fehler, die wirklich stören.

Ansonsten gibt es abschließend kaum Negatives festzuhalten. Charlie Huston ist ein rasantes, spannendes und ernst zu nehmendes Romandebüt gelungen, mit einem Protagonisten, der dem Leser schnell ans Herz wächst. Er skizziert eine intensive, nervenaufreibende Odyssee durch New York, die zu verfolgen bis zur letzten Seite Freude bereitet. Der sprunghafte, teils etwas abgehackte Erzählstil mit den rasanten Wortwechseln erfordert zwar eine gewisse Konzentration und mag hier und da etwas stören, passt aber gut zum Inhalt.

Wem „Der Prügelknabe“ gefallen hat, der darf sich obendrein auf zwei weitere Bücher um den sympathischen Verlierertypen Hank freuen, denn Huston hat die Geschichte als Trilogie geschrieben, deren zweiter Teil („Der Gejagte“) in diesem Monat in die Buchläden kommt.

Rankin, Ian – zweite Zeichen, Das

Ein ganz normaler Montag im Leben von John Rebus, Detective Inspector bei der Mordkommission der schottischen Metropole Edinburgh. Gerade hat ihn die Freundin verlassen, sein publicitygieriger Chef will ihn für eine Antidrogen-Kampagne zwangsrekrutieren, und selbstverständlich regnet es wieder in Strömen – da passt es gut ins Bild, dass Rebus in die übel beleumundete Siedlung Pilmuir gerufen wird. Dort stehen die meisten Gebäude leer und warten darauf abgerissen zu werden – theoretisch jedenfalls, denn tatsächlich haben sich in den Ruinen Hausbesetzer eingenistet, deren bloße Anwesenheit den Stadtvätern schon lange ein Dorn im Auge ist.

Der junge Herumtreiber Ronnie McGrath ist offensichtlich an einer Überdosis Heroin gestorben – kein ungewöhnliches Ende in Pilmuir. Doch Rankin fällt auf, dass der Körper des Toten mit Blutergüssen übersät ist, und später wird der Polizeiarzt entdecken, dass Ronnies „Stoff“ reichlich mit Rattengift versetzt wurde. In einem Nebenraum irritiert den Inspector ein sorgfältig an die Wand gemaltes Pentagramm – wurde Ronnie ein Opfer satanistischer Umtriebe? Seiner Freundin Tracy weiß davon angeblich nichts, aber sie gibt immerhin zu, dass sich Ronnie in den letzten Wochen seines Lebens verfolgt fühlte.

Rebus dreht sich bei seinen Ermittlungen im Kreis. Überrascht muss er erfahren, dass in Edinburgh mindestens sechs okkultistische Gruppen bekannt sind. Doch die Spuren weisen auch in andere Richtungen: Ronnies Bruder ist Polizist und deckte dessen illegale Aktivitäten. Noch beunruhigender sind die Verbindungen, die Rebus zwischen dem Ermordeten und jener Gruppe vermögender und einflussreicher Geschäftsleute entdeckt, von denen die erwähnte Antidrogen-Kampagne finanziert wird. Sie gehören einer neuen Generation an: Junge, skrupellose, erfolgreiche Finanzhaie sind es, die hart arbeiten und sich in ihrer knappen Freizeit amüsieren wollen – und im Beruf wie im Privatleben ist das Gesetz etwas, über das sie sich jederzeit erhaben fühlen!

Das bekommt Rebus zu spüren, als er der Wahrheit zu nahe kommt. Seine unsichtbaren Gegner fädeln ein Komplott ein, um den lästigen und ihnen allmählich gefährlich werdenden Spielverderber auszuschalten. Doch sie haben Rebus unterschätzt – und sie wissen nichts von Ronnies Vermächtnis, das dieser als Lebensversicherung an einem ganz besonderen Ort verborgen hält …

„Das zweite Zeichen“ ist – wie der Zufall so spielt – nicht nur der deutsche Titel des im Original viel anschaulicher „Verstecken & Suchen“ betitelten Romans, sondern markiert tatsächlich den zweiten Auftritt von John Rebus, Polizist in Edinburgh, der nun definitiv ansetzt, seinen Siegeszug auch durch die hiesige Krimi-Szene anzutreten.

In Großbritannien ist Rebus schon lange Stammgast in den Bestseller-Listen. Zwar geht es gar finster und notorisch depressiv zu in Ian Rankins Edinburgh, aber wenn man schon glaubt, nun geht’s nicht mehr, kommt doch irgendwo ein Lichtlein in Gestalt des berühmten britischen Humors her. Die Welt ist schlecht, das Leben hart, aber das heißt noch lange nicht, dass man beidem keine komischen Seiten abgewinnen könnte!

Dazu kommen die ungewöhnlichen Fälle, mit denen Rankin seinen Inspektor von der traurigen Gestalt konfrontiert. Sie sind beinahe überkompliziert, „gothic“ und ziemlich abgedreht; das wird sich in den weiteren Bänden der Serie sogar noch steigern. Weil Rankin aber den Überblick behält und sein Garn zu spinnen weiß, entsteht stets eine höllisch spannende und rasante Geschichte daraus.

Mit „Das zweite Zeichen“, im Original bereits 1991 erschienen, beweist Rankin ungewöhnlichen Scharfblick: Spätestens als im Kino der „Fight Club“ erfolgreich lief, musste sich die Gesellschaft in den sogenannten Industrieländern der unangenehmen Gewissheit stellen, dass unter denen, die nicht unter die Räder der Globalisierung geraten sind, sondern wirtschaftlich definitiv zu den Gewinnern gehören, eine Generation herangewachsen ist, die sich langweilt mit dem, was sich für schnöden Mammon kaufen lässt, und auch in der bizarrsten Extremsportart den ersehnten Kick nicht mehr findet.

Hier setzt Rankin an. Er hatte allerdings zusätzlich eine solide Basis für seine böse Geschichte vom menschlichen Treibgut, das die Satten und Unbarmherzigen im wahrsten Sinn des Wortes befriedigen muss: Großbritannien im Jahre 1991 war ein durch den Steinzeit-Kapitalismus der Ära Margareth Thatcher zerrüttetes Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur immer größer, sondern das Verantwortungsgefühl der Privilegierten für die (unschuldig) weniger Begünstigten praktisch auf den Nullpunkt gefallen war. An dieses Phänomen konnten wir uns weltweit inzwischen gewöhnen; man denke nur an die verelendeten Länder des ehemaligen Ostblocks, deren Jugend – so denkt man manchmal – hauptsächlich deshalb heranwächst, um der Pornoindustrie des Westens den regelmäßigen Nachschub an Darsteller/inne/n zu sichern. Insofern hat „Das zweite Zeichen“ nichts von seiner Aktualität verloren.

Rebus selbst hat sich verändert. Fröhlicher ist er nicht geworden. Allerdings verliert Rankin auch kein Wort mehr über die Psychosen seines Helden, die auf eine brutale militärische „Spezialausbildung“ bei einer Elite-Fallschirmjäger-Einheit zurückgehen. Bei seinem Debüt drohte Rebus daran noch endgültig zu zerbrechen, aber nachdem die Figur ihre „Serientauglichkeit“ unter Beweis gestellt hatte, ließ Rankin Rebus’ geistige Defekte offensichtlich stillschweigend fallen. Er wird aber trotzdem nie auf dem Tisch tanzen, denn dafür präsentiert ihm die Welt – repräsentiert durch seine Heimatstadt Edinburgh – immer wieder neue Beweise dafür, wie schlecht sie (geworden) ist. In dieser Beziehung ist Rebus Deutschlands Lieblings-Kommissar Kurt Wallander durchaus ein Bruder im Geiste (der richtige sitzt ja als verurteilter Drogendealer im Gefängnis – ein weiterer Nagel zu Rebus’ Sarg …) – nur eben mit Humor.

Ian Rankin, geboren 1960 im schottischen Fife, lebte zwar mit seiner Familie lange in Südfrankreich, konnte sich dort aber offensichtlich gut an seine Jahre in Edinburgh und später London erinnern. Sein erstes John-Rebus-Abenteuer veröffentlichte er 1987; da sich der Erfolg rasch einstellte, ließ Rankin seinem Debüt weitere John-Rebus-Abenteuer folgen, die inzwischen ihren Weg nach Deutschland gefunden haben; kurioserweise in chronologischer Reihenfolge als Taschenbuch die älteren Bände, während die aktuellen Rebus-Thriller gebunden geadelt werden, um die angefütterten Krimi-Freunde besser zur Kasse zu bitten. In seiner schottischen Heimat, aber auch im gesamten britischen Inselreich hat Rankin dank Rebus inzwischen längst Kultstatus erreicht. Dazu trägt in nicht geringem Maße die höchst erfolgreiche TV-Serie „Inspector Rebus“ bei, die das Schottische Fernsehen seit 2000 ausstrahlt. Wer weiß; vielleicht erbarmt sich ja auch hierzulande ein (wahrscheinlich privater) Sender, der noch eine Sendepause zwischen zwei Verkaufsshows füllen muss …

Ford, G. M. – Erbarmungslos

Wer mein Arbeitszimmer beguckt, muss mich mittlerweile für einen arg morbiden Menschen halten. Aus jeder Ecke lugen Serienkiller und wetzen ihre vom menschlichen Hang zum Perversen determinierten Mordinstrumente. Das Blut von tausend Opfern müsste längst die Regalhölzer aus fester Eiche brutal aufgeweicht haben, die Todesschreie müssten mir in den Ohren gellen, während ich doch scheinbar ach so ruhig diese Zeilen schreibe. Dabei läuft es mir kalt den Rücken runter – warum sind so viele Menschen begierig, derlei Romane zuhauf aus den Buchläden zu schleifen und sich einem blutdurstigen Mörder in die Arme zu werfen …

Diese Frage erörtere ich hier natürlich nicht – ich höre bis zu meinem Schreibtisch das Aufatmen! -, aber es ist doch bezeichnend, dass Jahr um Jahr in die breite Phalanx profilierter und frisch hineingewachsener Autoren und Autorinnen neue Epigonen eine Schneise schlagen und sich am Schnitzel-Handwerk versuchen wollen. G. M. Ford (Ein Name wie zwei Automarken! Wenn seine Romane nicht rasant sind, dann weiß ich’s nicht …) ist eines dieser aufstrebenden Jungtalente (das wage ich einmal ohne nähere Verifizierung zu schreiben, denn der Verlag hält sich ungewohnt bedeckt bei Fords Vita: „G. M. Ford unterrichtete einige Zeit Creative Writing in Washington, heute lebt er als freier Schriftsteller in Seattle …“ Ford könnte also auch ein Pseudonym für Irgendwen sein oder raschen Schrittes auf die Hundert zugehen). Mit „Erbarmungslos“ (recht frei übersetzt aus dem Original: „Fury“; der Titel „Wut“ hat eine gewisse Bedeutung) legt er sein Erstlingswerk vor.

Ein vor den Augen der Öffentlichkeit (und somit auch möglicher Arbeitgeber) in Ungnade gefallener Journalist namens Frank Corso steigt in einen alten Fall ein, der ihn vor einigen Jahren bereits in Atem gehalten hat: Der als „Müllmann“ in Seattle und Umgebung bekannt gewordene Serienvergewaltiger und Killer ließ seine acht Opfer allesamt auf Müllbergen zurück. Der Fall schien 1998 aufgeklärt, als Walter Leroy Himes hinter Gitter gebracht werden konnte; die Beweise waren sogar stichhaltig genug, um die Todesstrafe in wenigen Tagen vollstrecken zu können.

Da meldet sich eine Zeugin von damals, die ihre Aussage vor den Leuten der Seattle Sun widerruft; ein Fall für Corso, dem eine letzte Chance vor die Füße gelegt wird. Er nimmt an und greift die losen Fäden auf, die ihn bereits vor Jahren an der Täterschaft von Himes zweifeln ließen. Gemeinsam mit der Fotografin Meg Dougherty, die ihm auf Schritt und Tritt folgen wird, auch wenn sie sich anfangs recht widerwillig geriert, hängt er sich an die wagen Spuren. Dabei darf er nicht auf die Unterstützung der örtlichen Polizei zählen, im Gegenteil, Densmore ist ein richtig schmieriger Polizist, der Corso am liebsten in hohem Bogen aus der Stadt werfen würde. Also forscht Corso auf eigene Faust weiter, was dem notorischen Einzelgänger sicherlich auch sehr nahe liegt.

Na ja, ganz so einzelgängerisch ist Corso nicht, Dougherty (wie sie liebreizend genannt wird) kommt ihm näher; oder war es umgekehrt? Jedenfalls bleibt ein solches koitales Intermezzo natürlich nicht aus, zudem Corso sich seiner haarigen Ex-Frau mit Händen und Füßen erwehren muss. Das alles gestaltet sich zaghaft turbulent und nimmt etwa in der Mitte des Buches, so bei Seite 200 von 386, etwas Fahrt auf, ohne dass der Thriller dem vorbelasteten Namen des Autors alle Ehre machen würde.

Zum Ende hin, als Himes mehr oder weniger errettet wird, nimmt die Handlung noch eine durchaus logische Wendung, denn ein Mitläufer hat sich in die Serienmorde eingeklinkt und möchte unauffällig an der fremden Täterschaft partizipieren. Corso ist der Einzige, dem ein Lichtlein aufgeht, die Polizei dagegen ist bequem und mit dem Erreichten zufrieden (eigentlich auch wieder nicht, denn Ford stellt es so dar, dass wohl alle Himes gerne hingerichtet gesehen hätten – nur Corso will Gerechtigkeit …)

Da hinterlässt uns Ford ein zwiespältiges Buch: Die Spannung ist ja doch vorhanden, aber der Einstieg in die Handlung will nicht so recht marschieren. Das dümpelt stattdessen fade dahin, wenn Corsos Werdegang in Ansätzen aufgedröselt wird – wen interessiert’s, fragte ich mich irgendwann, trägt es doch weder zur Geschichte entscheidend bei, noch verleiht die maue Fehlleistung von Corso ihm so viel Profil, dass sein Charakter an Schärfe gewinnt. Er bleibt blass. Und reiht sich damit in die Gruppe derjenigen ein, die uns Ford ansonsten noch präsentiert: Meg Dougherty – okay, ein nettes Mädchen, aber grau im Teint und schmal hinter Corsos Rücken versteckt. Die übrigen Statisten sind eben nur Randfiguren, deren Leben für den Leser unscheinbar, unnahbar bleibt. Austauschbare Figuren in einem von Corso dominierten Spiel. Wenn dem aber so ist, dann hätte Corso eine kräftige Persönlichkeit sein müssen. Dazu fehlen ihm die Klasse, das Charisma, die Lebensgeschichte, standfeste moralische Grundsätze.

Er ist beliebig, auch wenn ihm Ford an einer Stelle ein starkes Stück in den Mund legt, als die Sprache auf den elektrischen Stuhl kommt und ein Opfer, dem die Flammen zwanzig Zentimeter aus den Ohren schossen: „Lasst die Kids ein paar Dutzend Mal zusehen, wie Kriminelle sich als Bunsenbrenner präsentieren, dann kreuzen garantiert sehr viel weniger von diesen kleinen Scheißern mit Kanonen in der Schule auf … Weil Sachen wie intellektuelle Gewissheit, moralische Entrüstung und rechtschaffene Empörung die Motoren der Gesellschaft sind. Selbstzufriedene Toleranz hat noch nie irgendetwas bewirkt, außer den Blick auf das zu vernebeln, was falsch und was richtig ist.“ Hoppla, starker Tobak und gar nicht politisch korrekt, Mister Ford. Derart verkürzt unters Volk geschleuderte philosophische Exzerpte aus dem Bauch eines Thrillerautoren sind natürlich gefährliches Brot, weil sie ohne nachgehende Erläuterung gar nichts erklären, sondern nur ein brüchiges Statement abgeben. Damit ist niemandem gedient, das sind Stammtisch-Parolen auf gediegenem Niveau, mehr nicht.

Möchte ich G. M. Ford das noch durchgehen lassen, so muss ich ihm den aus verschiedenen Versatzstücken des Krimilehrbuchs erstellten Roman ankreiden: Es wirkt wie bessere Flickschusterei, aus dem Schubfach mit den Motiven nehme ich den psychopathischen Serienmörder, das Fach mit den Hauptdarstellern bevorratet einen beziehungslosen, halbwegs gescheiterten Schnüffler (oder Journalist, was in der propagierten Form auf dasselbe hinausläuft), die Schublade der Begleitpersonen hält eine erst einmal distanzierte, geziemend forsche Frau bereit, und so weiter. Sodann verkürze ich die Sprache, sobald Tempo die Erzählung vorantreiben soll: „Wald ließ den Umschlag los. Corso ließ ihn gegen sein Bein fallen. Wald öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich anders. Drückte auf den Knopf.“ Wenn dieses stilistische Mittel gekonnt eingesetzt wird, fühlt sich der Leser in den Sog der Geschichte hineingezogen. Bei Ford liest es sich dagegen aufgesetzt, weil er wahllos damit hantiert.

Sind das Auswirkungen des „Creative Writing“? – Könnte sein. Dann sollte Ford aber schnellstens einige seiner eigenen Kurse selbst belegen, um sich noch den letzten Schliff zu verpassen.

Ach, und wenn man schon irgendwie hip sein will, dann sollte ein US-Autor wie Ford nach all den Jahren auch kapiert haben, dass sich |Lynyrd Skynyrd| so und nicht anders schreiben. Aber man kann natürlich auch zusammengeschaufeltes Second-Hand-Wissen als eigene Schlaumeierheiten verkaufen – blöd nur, wenn man sein Unwissen dann durch Fehler selbst offen legt. (Okay, als Uralt-Fan reagiere ich hier wahrscheinlich etwas überreizt …)

„Erbarmungslos“ ist für einen Thriller-Erstling nicht schlecht, aber das Sujet hat bessere Kriminalromane gesehen, mit tafferen Ermittlern und Serienmördern mit mehr Kontur. G. M. Ford muss beim nächsten Buch einen Zahn zulegen, um nicht gleich nach der ersten Runde abgehängt zu werden.

|Originaltitel: Fury
Aus dem Amerikanischen von Marie-Luise Bezzenberger|

_Karl-Georg Müller_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Smith, Jonathan – Fenster zur Nacht

In den Jahren 1987 bis 1994 wurde der Autor Jonathan Smith selbst Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls, das vorliegende Buch ist aus dieser Erfahrung heraus entstanden, doch kann der Leser nur mutmaßen, wie weit die autobiografischen Bezüge reichen …

_Ich bin du und du bist niemand_

Patrick Balfour steht in der Mitte seines Lebens und kann auf weitreichende Erfolge zurückblicken: Er ist nicht nur Direktor einer Schule mit ausgezeichnetem Ruf, sondern auch Autor von historischen Bestsellern. Einzig sein Familienleben droht auseinander zu brechen, denn nach der Affäre mit seiner Lektorin Liz existiert Patricks Ehe eigentlich nur noch auf dem Papier. Seine Ehefrau Caroline und er haben sich praktisch nichts mehr zu sagen, außerdem verbringt Patrick mehr Zeit in seiner Wohnung in der Schule als in seinem Haus bei Caroline. Doch eines Tages bricht Patrick Balfours nahezu heile Welt in sich zusammen. Er wird beschuldigt, an einer Tankstelle Benzin gestohlen und in seiner Wohnung pädophile Fotos aufgenommen zu haben. Seine Alibis sind recht dünn, sodass Patrick Balfour sich unverhofft in Untersuchungshaft wiederfindet.

Auf Kaution darf Patrick das Gefängnis schließlich wieder verlassen, doch scheint die Polizei weiterhin von seiner Schuld überzeugt zu sein. Auch die Fotos von „ihm“ an der Tankstelle sprechen gegen ihn, bei dem aufgezeichneten Benzindieb kann es sich nur um einen guten Doppelgänger handeln, doch wie sind die Fotos von dem kleinen Jungen in Patricks Wohnung entstanden? Für Patrick Balfour beginnt das Rätselraten; kann es ein neidischer Kollege sein, der ihm an den Kragen möchte? Wie denkt jemand, der ihm diese Verbrechen anhängen möchte? Und wem kann er nun noch trauen? Soll er mit seiner Frau sprechen oder doch eher mit der ehemaligen Geliebten?

Als verdächtige Botschaften von seinem Widersacher in Patricks Postfach in der Schule auftauchen, scheint der Kreis der Verdächtigen sich weiter einzugrenzen. Doch handelt es sich tatsächlich um ein Ränkespiel innerhalb des Lehrerkollegiums? Zu diesen Sorgen gesellen sich schließlich noch Probleme mit Patricks Tochter Alice, die mehr Zeit in ihr Theaterspiel investiert als in die Schule und die ihren Eltern gegenüber immer abweisender reagiert. Was ist bloß los an Patricks Schule?

_Zerbrechende Idylle_

Zu Beginn des Buches begegnet uns Patrick Balfour, der uns als erfolgreicher Schuldirektor und Bestsellerautor vorgestellt wird, doch dauert es nicht lange, bis er mit der Polizei und ihren Anschuldigungen konfrontiert wird. Völlig unverhofft sieht Patrick Balfour sich Inspector Bevan gegenüber, der Beweisfotos besitzt, die den bekannten Schuldirektor schwer belasten können. Doch wie kann dies sein? Balfour weiß weder von dem Benzindiebstahl noch von den pornografischen Fotos. Nachdem er wieder auf freiem Fuß ist, beginnt für Balfour das Nachdenken. Langsam ahnt der Leser, dass Patrick Balfour mehr Feinde hat, als auf den ersten Blick offensichtlich war. Schnell fallen ihm aus dem Lehrerkollegium einige Namen ein, die durchaus für einen solchen Persönlichkeitsdiebstahl in Frage kämen. Balfour durchdenkt nicht nur gewissenhaft mögliche Tatmotive, sondern versucht sogar, wie sein Feind zu denken. Bei diesen Gedankenexperimenten bemerkt Balfour schnell, wie der Täter vorgegangen sein kann, doch kristallisiert sich immer noch niemand heraus, der für die Botschaften, den Diebstahl und die Fotos verantwortlich gemacht werden kann.

Jonathan Smith inszeniert ein interessantes Psychospiel, indem er Patrick Balfours Gedanken, seiner Ungewissheit und seinen Zweifeln viel Raum gibt. Patrick versucht sogar, sich in den Täter hineinzuversetzen und erschreckenderweise gelingt ihm diese Identifikation äußerst gut. In seinen Gedanken kommt er so seinem Widersacher sehr nah, nur einige wenige Wissenslücken bleiben, die Balfour sich nicht erklären kann. Der Leser ist zu jedem Zeitpunkt mitten im Geschehen und hat Anteil an jedem Gedanken, den Patrick Balfour fasst; hier merkt man der Erzählung an, dass der Autor weiß, wovon er schreibt und dass er diese Gedanken selbst schon gehabt haben muss. In das Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls kann man sich wohl nur schwer hineinversetzen; viele Ideen, die Patrick Balfour kamen, erschienen mir etwas absurd, doch aus Jonathan Smiths eigener Erfahrung heraus wirken sie dennoch realistisch.

Leider hält sich Smith an etlichen Stellen mit zu ausschweifenden Erzählungen auf, springt ohne Überleitung in Patricks Vergangenheit und berichtet ausführlich von seiner Affäre zu Liz oder auch von seinem und Carolines Kennenlernen. Diese Exkurse stellen zwar den Hauptprotagonisten besser vor und helfen uns dabei, uns ein gutes Bild von ihm zu machen, dennoch bremsen sie den Spannungsaufbau arg aus, der gerade zu Anfang zunächst gelungen schien. Über weite Strecken passiert nicht mehr, als dass Patrick Balfour immer neue Nachrichten in sein Postfach gelegt bekommt und über mögliche Täter nachdenkt.

Dem Buch fehlt eine wirklich packende und spannungsgeladene Rahmengeschichte, die dem Roman seine Brisanz verliehen hätte. Zu schnell erhält Patrick Balfour den Rückhalt seiner Familie und auch Inspector Bevan schlägt sich bald auf seine Seite, sodass die drohende Gefahr zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird. Balfour wird dadurch früh zu einem bemitleidenswerten Opfer, um das man nicht wirklich fürchten muss. Von Psychothriller war in diesem Buch daher bedauerlicherweise nur wenig zu spüren. Der Autor verspielt leider viel Potenzial, denn aus diesem Thema hätte gerade Jonathan Smith aus seiner eigenen Erfahrung heraus einen gut durchdachten und spannenden Thriller schreiben müssen.

Jonathan Smith ist die Gratwanderung zwischen interessanten psychologischen Gedankenspielen und stetig wachsender Gefahr leider nicht gelungen, zu sehr legt er seinen Schwerpunkt auf die Suche nach dem Täter und vergisst dabei völlig, den Spannungsbogen steigen zu lassen und zwischendurch Situationen einzustreuen, die die Handlung bedrohlicher gestaltet hätten. Besonders der Mittelteil des Buches zieht sich dadurch lang hin. Am Ende schafft Smith es zwar, mit einer kleinen Überraschung aufzuwarten, allerdings verpufft auch bei der Auflösung viel Spannung.

Insgesamt ist das „Fenster zur Nacht“ zügig durchgelesen und weiß stellenweise auch zu unterhalten, doch erhält es nicht die Faszination, die ich mir von einem Autor erwartet hätte, der selbst über Jahre hinweg Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls geworden ist und daher viele eigene Erfahrungen in die Geschichte hätte einfließen lassen können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Jonathan Smith absichtlich nicht allzu viel von sich preisgeben wollte, denn die beschriebene Situation muss in Wirklichkeit viel bedrohlicher (gewesen) sein, als sie sich dem Leser darstellt. Durch die weitschweifenden Gedankenmonologe Patrick Balfours schleppt sich die Geschichte träge dahin, ohne wirklich Spannung aufzubauen; leider führt dies auch dazu, dass man dem Hauptcharakter recht gleichgültig gegenüber steht. So bleibt am Ende doch eher ein mittelmäßiger Eindruck, weiterempfehlen würde ich dieses Buch daher nicht.