Jeffery Deaver – Der Insektensammler (Lincoln Rhyme/Amelia Sachs 3)

Während eines Aufenthalts in den US-Südstaaten wird der gelähmte Ermittler Lincoln Rhyme von der Polizei um Hilfe bei der Jagd auf einen Mehrfach-Mörder und Kidnapper gebeten; ausgerechnet Rhymes Assistentin glaubt an die Unschuld des Verdächtigen und schlägt sich auf seine Seite … Im dritten Band der Rhyme/Sachs-Serie zieht Autor Deaver abermals sämtliche Spannungsregister, während die Glaubwürdigkeit allmählich auf der Strecke bleibt: Lesenswert, doch die Machart schimmert allmählich deutlich durch.

Das geschieht:

Die Angst geht um im Städtchen Tanner‘s Corner, dort gelegen im US-Staat North Carolina, wo sich die Einwohner nach Kräften bemühen, alle Klischees über die Südstaaten am Leben zu erhalten. Sheriff Jim Bell jagt normalerweise nur betrunkene Hillbillys, prügelnde Ehemänner oder Schwarzbrenner. Daher sind er und seine Deputys überfordert, als plötzlich ein Massenmörder losschlägt.

Garrett Hanlon, 16 Jahre alt, Waise und von der Dorfgesellschaft in eine Außenseiterrolle abgedrängt, ist bisher nur durch seine seltsame Vorliebe für die in den Sümpfen existierenden Kerbtiere aufgefallen, was ihm den Spitznamen „Insektensammler“ eingetragen hat. Nun ist der hochintelligente, aber psychisch derangierte Garrett offenbar durchgedreht, hat seine heimliche Liebe, die Studentin Mary Beth McConnell, entführt, ihren Begleiter, den jungen Billy Stail, erschlagen, dem Hilfssheriff Ed Schaeffer eine tödliche Falle gestellt und die Krankenschwester Lydia Johansson in seine Gewalt gebracht. Eine Großfahndung wird angesetzt, aber da Garrett die Wildnis um Tanner‘s Corner wie seine Westentasche kennt, stehen die Chancen schlecht, ihn und die Frauen zu finden.

Da hört Bell, dass sich der berühmte Kriminologe Dr. Lincoln Rhyme im Nachbarort aufhält. In seiner Not bittet er diesen um Hilfe. Obwohl nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt, gelingt es Rhyme gemeinsam mit seiner Partnerin Amelia Sachs, den flüchtigen Garrett zu orten und festzunehmen. Dessen Unschuldsbeteuerungen stoßen auf taube Ohren, aber Amelia Sachs wird nachdenklich. Sie glaubt Garrett und ist außerdem überzeugt, dass dieser unter Zwang niemals den Aufenthaltsort der weiterhin verschwundenen Mary Beth McConnell preisgeben wird.

Um der Wahrheit willen wagt Amelia das Unerhörte: Mit Waffengewalt befreit sie Garrett aus dem Gefängnis und flieht mit ihm in die Sümpfe. Der wütende Sheriff und seine Leute sind dem Duo hart auf den Fersen, und sie haben einen mächtigen Verbündeten – Lincoln Rhyme, der entsetzt sein eindrucksvolles Talent aufbietet, um Amelia und ihren Begleiter möglichst rasch festnehmen zu lassen …

Ein Kopf als Thriller-Held?

Mit Serien ist es so eine Sache: Leser lieben sie, und Verlage schätzen sie ebenfalls, denn es ist einfacher, der Kundschaft etwas zu verkaufen, das sie schon kennt und zu schätzen gelernt hat. Der Autor sieht sich dagegen in einem Zwiespalt. Schließlich ist es nicht damit getan, die eingeführten Figuren zu übernehmen. Sie müssen sich ‚wie im richtigen Leben‘ entwickeln, denn das ist es, was das Publikum neben einer möglichst spannenden Handlung bei der Stange hält.

Bloß: Was lässt sich anfangen mit einem Verbrecherjäger, der nur den Kopf und einen Finger bewegen kann? Die missglückte Verfilmung des ersten Lincoln-Rhyme-Thrillers – unter dem Titel „Der Knochenjäger“ 1999 kurz ins Kino gekommen – legt das Dilemma offen: Durch Action und Drama um Krankenbett und Rollstuhl lässt sich kaum ausgleichen, dass der eigentliche Held nur denken und reden kann.

Dies gilt durchaus auch für den gedruckten Rhyme, denn sein geistiger Vater schätzt turbulente Verfolgungsjagden und Schießereien. So lässt Deaver Rhyme mit allerlei Tricks letztlich doch recht weit in der Welt herumkommen. Freilich geht dies rasch hart an die Grenze der Glaubwürdigkeit, zumal sich der Autor einen Ausweg recht wirksam selbst verbaut hat: Für Menschen mit einer Behinderung wie Rhyme gibt es außerhalb der Science Fiction keine glaubhafte Methode der Heilung!

Jedes Mittel ist recht

Was ganz gut sein könnte, aber nicht ist, weil Autor Deaver allmählich der Mut zu verlassen scheint, seinen unkonventionellen Helden tatsächlich unkonventionell zu belassen. Der Lincoln Rhyme des ersten Teils der Serie war ein verzweifelter Mann, dessen Gedanken ständig um Selbstmord kreisten. Das wurde einleuchtend und eindringlich beschrieben und hob einen ansonsten eher routinierten als außergewöhnlichen Roman über das Gros der modernen Thriller hinaus.

Schon in „Letzter Tanz“, dem zweiten Fall, erwachten Rhymes Lebensgeister mit verdächtiger Kraft neu, und im aktuellen Roman ist er nur noch ein Genie mit einem interessanten Handicap; die Schilderung depressiver Rückfälle wirkt aufgesetzt. Jetzt hat er von einer neuartigen Behandlung erfahren, die speziell für Menschen mit seiner Behinderung entwickelt wurde. Das Risiko ist groß, aber Rhyme träumt davon, wenigstens einen Teil seiner Bewegungsfähigkeit zurückzugewinnen. Allerdings ist Rhymes Flug in die Wunderklinik vor allem ein Trick, den Ermittler aus New York heraus auf ein neues Spielfeld zu bringen. Kein Leser dürfte an eine wundersame Genesung glauben.

Intensiver arbeitet Deaver an der Figur der Amelia Sachs, deren Profil (und Neurosen) er sorgfältig erweitert und vertieft. Amelia steht ohnehin und quasi automatisch mehr im Mittelpunkt der Handlung, weil ihr Mentor und (irgendwie) Lebensgefährte Lincoln Rhyme auch in seinem High Tech-Rollstuhl nicht durch die Wildnis North Carolinas preschen kann.

Die Spannung im Kampf mit der Glaubwürdigkeit

Die eigentliche Handlung gehorcht erneut strikt dem für Deaver typischen Prinzip des dreifach retardierten Finales: Sie beginnt wenig originell und entwickelt sich auf eingefahrenen Thriller-Gleisen. Wer mehr als drei Krimis in seinem Leben gelesen hat, weiß bereits kurz nach der Einleitung, welches Geheimnis in Tanner‘s Corner tatsächlich verborgen bleiben soll. Das ist ärgerlich, aber Deavers Talent, neue und ausgefallene Ermittlungsmethoden vorzustellen, stimmt versöhnlich, lässt den, der Deaver kennt, durchhalten – und richtig: Im letzten Drittel nimmt das Geschehen eine völlig neue Wendung, legt an Tempo zu und mündet in ein wahrhaft furioses Finish. Anschließend meint Deaver jedoch in letzter Sekunde noch eins draufsetzen zu müssen und zaubert einen weiteren Bösewicht hervor, während eigentlich schon der Abspann einsetzt – ein dummes, überflüssiges Stilmittel, auf das der Autor aber anscheinend nicht verzichten mag.

Der Schauplatz der Handlung ist ein eigener heikler Punkt. Die Südstaaten der USA sind in der Unterhaltungsliteratur (und noch mehr natürlich in Film und Fernsehen) längst zu einer Kulisse heruntergekommen, vor der kaum variiert die aus stets denselben Versatzstücken montierten Plotten von scheinheiligen Gentlemen, verschwitzten Schlampen, korrupten Sheriffs, geknechteten Schwarzen und vertierten Rednecks ablaufen: Beim Sterben ist jeder der Erste in der Hitze der Nacht, und der Sumpf des Verbrechens schluckt schließlich auch die Katze auf dem heißen Blechdach.

Deaver klammert die in der Realität zweifellos virulenten, aber als Element einer fiktiven Story lästig gewordene Ku-Klux-Klan-Attitüden der Südstaaten-Bewohner klug aus, führt aber ein unheiliges Trio weißen Abschaums ein, das ob seiner Eindimensionalität dem Leser so manches kummervolle Stöhnen entlockt. Degenerierte, stets betrunkene, in der Gegend herumballernde und jedes weibliche Wesen reflexartig schänden wollende Schmuggler & Schwarzbrenner sind Gestalten, von denen man die Nase einfach voll hat! Wesentlich bedrohlicher wirkt die auch bei Deaver spürbare Atmosphäre bedrohlicher Ruhe und Ordnung unter den ‚normalen‘ Bürgern, bei denen in der Zeitungsablage gleich neben dem „Christian-Life“-Magazin „Guns & Ammo“ liegt. Bei aller Kritik ist es daher eine gute Nachricht, Lincoln Rhyme und Amelia Sachs wieder bei der Arbeit beobachten zu können. Noch funktioniert die Maschinerie des Deaver-Thrillers, aber gewisse Fehlzündungen lassen sich schon nicht mehr überhören.

Autor

Jeffery Deaver (geb. am 6. Mai 1950 in Glen Ellyn, Illinois) gehört zu den festen Größen des unterhaltsamen Thrillers. Ihm ist es gelungen, bereits drei Mal für den angesehenen „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ nominiert zu werden. Zwei Mal konnte er den „Ellery Queen Mystery Magazine‘s Award“ für die beste Kurzgeschichte des Jahres gewinnen. Geschrieben hat Deaver sein ganzes Leben, sein erstes ‚Buch‘ verfasste er bereits mit 11 Jahren. Während seiner Schulzeit gab er ein Literatur-Magazin heraus. Später studierte Deaver Publizistik und Recht. Anschließend praktizierte er acht Jahre in New York als Anwalt. Nebenbei betätigte er sich als Musiker, Texter und Poet (!), bevor ihm schließlich als ‚richtiger‘ Schriftsteller der Durchbruch gelang. Heute lebt und arbeitet Deaver die meiste Zeit des Jahres im US- Staat Virginia.

Taschenbuch: 478 Seiten
Originaltitel: The Empty Chair (New York : Simon & Schuster 2000)
Übersetzung: Hans-Peter Kraft
http://www.jefferydeaver.com
http://www.blanvalet-verlag.de

E-Book: 2179 KB
ISBN-13: 978-3-89480-713-9
http://www.blanvalet-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)