Die seltsamen Sitten der Lunies
Naomi Mitchison ist die schönste Frau auf dem Mond. Gleichzeitig ist sie die einzige Verdächtige bei dem Prozess um einen Mordversuch, dem der Vierte Sprecher des Asteroidengürtels zum Opfer fallen sollte.
Aber sie ist keine Mörderin, soviel ist Gil Hamilton, dem Polizeiagenten mit dem „imaginären Arm“, klar. Beim Heranschaffen der Beweise muss er sich beeilen, denn Gerichtsverhandlungen sind erfahrungsgemäß sehr kurz. Am Ende wandert der Verurteilte in eine der Organbanken, um der Gesellschaft den Schaden zurückzuzahlen, den er verursacht hat. Und es wäre schade, wenn von Naomi nicht mehr übrig blieben als einige besonders hübsche Einzelteile… (Verlagsinfo)
Dieser Roman wurde 1994 in den Sammelband „Planetenträume“ aufgenommen.
Der Autor
Der Mathematiker Larry Niven (*1938) ist einer der wichtigsten Vertreter der naturwissenschaftlich orientierten Science Fiction. Zu seinen wichtigsten Werken gehört der „Ringwelt“ Zyklus (ab 1971). Seine bekannteste Kooperationsarbeit mit Jerry Pournelle ist der Katastrophenroman „Luzifers Hammer“, aber auch „Der Splitter in Gottes Auge“ ist sehr beliebt. Niven ist ein Spezialist im Austüfteln und Schildern fremder Welten. Seine These: Technischer Erfindergeist erweist sich letztlich als vorteilhaft.
Ringwelt-Zyklus
• The World of Ptavvs (1968)
o Deutsch: Die Welt der Ptavv, auch: Kinder der Ringwelt, auch: Das Doppelhirn. 1977, ISBN 3-404-24279-3.
• A gift from Earth (1968)
o Deutsch: Ein Geschenk der Erde, auch: Kinder der Ringwelt, auch: Planet der Verlorenen. 1977, ISBN 3-404-24284-X.
• Ringworld (1970)
o Deutsch: Ringwelt. 1972, ISBN 3-404-24238-6.
• Protector (1973)
o Deutsch: Der Baum des Lebens, auch: Brennans Legende. 1975, ISBN 3-404-24258-0.
• Planetenträume. 1994, ISBN 3-404-21209-6 (Sammelband).
• A World out of time (1977)
o Deutsch: Wie die Zeit vergeht. 1983, ISBN 3-404-22055-2.
• The Patchwork Girl (1980)
o Deutsch: Ein Mord auf dem Mond. 1983, ISBN 3-404-23028-0.
• The Ringworld Engineers (1980)
o Deutsch: Die Ringwelt Ingenieure. 1982, ISBN 3-404-24239-4.
• The Ringworld-Throne (1987)
o Deutsch: Ringwelt-Thron. 1998, ISBN 3-404-24236-X.
• Ringworld’s Children (2004)
o Deutsch: Hüter der Ringwelt. 2006, ISBN 3-404-24352-8.
Handlung
Der Mond ist seit über 150 Jahren besiedelt und sieht entsprechend gut entwickelt aus, als der terranische UNO-Polizist Gil Hamilton mit seinem Shuttle die Hauptstadt Hovestraydt City anfliegt. Bei ihm sind die zwei terranischen Reporter Desiree Porter und Tom Reinecke. Der Anlass ist der Besuch einer internationalen Konferenz über Mondrechte. „International“ bedeutet, dass neben den „Flachländern“ von der Erde sowohl Vertreter der „Lunies“ als auch vier Leute aus dem Asteroidengürtel kommen wollen. Es ist eine ziemlich bedeutende Konferenz, aber beileibe nicht die erste.
Bürgermeister Hove Watson begrüßt die Delegierten und Reporter einen nach dem anderen freundlich und zeigt ihnen ihr Hotel plus Kongresszentrum. Besonders den senkrechten Garten hebt er hervor, denn dessen Simse reichen neun Stockwerke in die Tiefe: Obst, Gemüse und Blumen sind zu sehen. Ganz unten wächst ein großer Baum in die Höhe, eine Esche. Natürlich unter Glas. Die Lunies haben ihre eigene Polizei mitgebracht, kommandiert von Captain Jefferson. Er und Marion Shaeffer, eine Polizistin der Gürtler, werden noch eine wichtige Rolle spielen. Denn sie hat ein Wörtchen dabei mitzureden, ob ein Verbrecher, der zu einem Mindestzeitraum verurteilt worden ist, seine Organe der Allgemeinheit zur Verfügung stellen muss.
Ein Anschlag
Chris Penzler ist der vierte Delegierte der Gürtler. Er wird schon in der ersten Nacht unerwartet Ziel eines Mordanschlags und trägt Verbrennungen durch Wasserdampf davon. Die Reporter Porter und Reinecke hören aus ihren eigenen Hotelzimmern Lärm und versuchen, zu Penzlers Zimmer Zutritt zu erhalten. Zuerst rufen sie Hamilton an, weil er in der Nähe logiert, dann die Luna-Polizei. Mithilfe des Stadtcomputers Chiron gelingt es ihnen, die Tür zu öffnen. Sofort machen sie Fotos: Penzler liegt bewusstlos in seiner Badewanne, aber mit einem Loch in der Brust. Jemand hat versucht, ihn mit einem Lasergewehr durch das Außenfenster hindurch zu erschießen. Nur die spezielle Physik des Mondes hat ihn davor bewahrt, durchlöchert zu werden. Doc McCavity kümmert sich um ihn.
Erste Untersuchungen
Jefferson und Marion Shaeffer leiten die Ermittlung, mit ihrer beeindruckenden Statur und Oberweite strahlt sie eine natürliche Autorität aus. Bei einer Holoprojektion wird der Tatort mittels Sat-Aufnahmen rekonstruiert: Da ist nichts außer einer Gestalt in himmelblauem Schutzanzug. Diese wird von orangefarbenen Lunies abgeführt. Gil wird gebeten, seine spezielle Fähigkeiten anzuwenden: den telekinetischen Psi-Arm. Aber auch der findet die verwendete Tatwaffe nicht, ein Kommunikations-Lasergewehr. Dessen Fehlen wird von der Luna-Polizei bestätigt.
Zwei Freundinnen
Die Gestalt in Himmelblau wird hereingeführt. Zu Gils Erstaunen handelt es sich um Naomi Mitchison, die er vor zehn Jahren mal geliebt hat. Inzwischen hat sie ihren Gatten Itch und ihre Tochter Miranda verloren und wollte zum Gürtel auswandern. Sie behauptet, lediglich auf einem Spaziergang der Trauer draußen bei den Felsen gewesen zu sein. Ihr ist bewusst, dass sie in den Händen der Cops in Lebensgefahr schwebt: Die würden sie natürlich aus Ersatzteillager missbrauchen. Deshalb ist es Gil ein dringendes Anliegen, sie zu entlasten.
Aber er trifft erst einmal seine gegenwärtige Freundin, die Chirurgin Taffy Grimes. Die hat einen sehr guten Draht zu Doc McCavity: Sie scheinen verlobt zu sein, aber das macht nichts: Sie haben dennoch stundenlang guten Sex miteinander. Dabei erweist sich die mangelnde Schwerkraft als wenig hilfreich, und sie muss ihm Nachhilfeunterricht in Mondsex geben.
Keine Funde
Penzler will eine Sekunde vor dem Treffer jemand bei den Felsen in 300-400 Metern Entfernung gesehen haben, bei stockdunkler Mondnacht. Hamilton geht nachsehen, und Alan Watson, der Sohn des Bürgermeisters, begleitet ihn mit kundigen Auskünften. Sie finden zunächst ebensowenig wie mit Gils imaginärem Arm, doch diese mysteriösen Teiche aus Mondstaub stellen ein Problem dar: Man kann nicht hineinsehen. Erst beim zweiten Versuch stößt Gil auf ein verräterisches Gerät. Einen Tag später ist Penzler ansprechbar, aber seine Aussagen ergeben immer noch wenig Sinn, und so fällt der Verdacht weiter auf Naomi. Obendrein kommt ein Motiv ans Mondlicht: Sie wollte zum Gürtel auswandern, doch es war Penzler, der ihren Antrag seinerzeit ablehnte.
Ein Urteil und ein Antrag
Die Lunies setzen einen Gerichtsprozess und verlegen der Einfachheit halber die Rechtsverhandlungen in den Gerichtssaal. Sie haben es auffällig eilig. Alles läuft wie eine Maschinerie ab, und die hat zum Ziel, Naomi zu verurteilen. Das Motiv für ihre vermeintliche Tat ist ja nun klar. Sie weiß inzwischen, dass verurteilte Verbrecher in einem Kühlfach weitere sechs Monate aufbewahrt werden, und solche Kryomaschinen gibt es auch auf Luna. Doch wozu dann diese Eile, fragen sich Hamilton und einige andere Prozessbeteiligte.
Das Urteil fällt wie erwartet aus. Am Abend vor ihrer Verurteilung und der Einweisung in den Kühltrakt bittet Naomi Gil, eine letzte Nacht mit ihr zu verbringen. Weil niemand in der Lage ist, ihm davon abzuraten, willigt er ein und hat Sex mit ihr. Sie will ein zweites Kind. Ihre Geburtsrechtscheine könnten sie ja zusammenlegen, nicht wahr? Genau dieser Wunsch wäre auf der übervölkerten Erde illegal. Das war der Grund, in den Gürtel auszureisen, was sie wegen Penzler nicht kann. Doch was sagen die Lunies zu diesem Kinderwunsch? Und was hatt sie an Bord des Raumschiffs „Chili“ zu suchen?
Aufgetaut
Hamilton erwacht mit einem Brummschädel. Die Rechteverhandlung lässt er lieber sausen. Denn wenig später ereilt ihn die Nachricht, dass Penzler erneut „ermordet“ worden ist, diesmal erfolgreich. Das bedeutet, dass Naomi, weil in einem Kühlfach liegend, nicht die Mörderin sein kann und folglich unschuldig ist. Doch als man sie endlich nach einigen bürokratischen Hindernissen aus dem Kühlfach holen kann, fehlen ihr bereits einige Organe. Ihre Schönheit ist endgültig zerstört.
Doch der oder die wahren Mörder laufen noch frei herum und suchen sich vielleicht schon das nächste Opfer…
Mein Eindruck
„The Patchwork Girl“, so der O-Titel, ist der vierte von fünf Kriminalfällen mit Gil „dem Arm“ Hamilton. Die Fälle wurden später alle in den Sammelband „Flatlander“ aufgenommen. US-Autoren vom Kaliber eines Niven sind eben Meister der Wiederverwendung, als würde sie selbst Organe wiederverwerten. Dahinter stecken aber auch handfeste Interessen ihrer Verlage, weil in USA diese die Urheberrechte (das Copyright) halten und nicht die Autoren. Ob die deutsche Übersetzung viel vom 200-Seiten-Original übriggelassen hat, darf bezweifelt werden.
Der Weltraumkrimi mit Psi-Faktor und ganz viel Sex schildert die Zerstörung einer schönen Frau. Das macht diese Geschichte zu einer poetischen Tragödie. Zunächst wird sie für eine Mörderin gehalten und verurteilt, aber mehr aufgrund der Unfähigkeit der Ermittler und die Eile der lokalen Behörden, also der Lunies. Diese Ermittlung ergibt für mich reichlich wenig Sinn. Gil Hamilton stößt bei seinen Exkursionen zu anderen Siedlungen wie Copernicus und im Kontakt zum Raumschiff „Chili“ auf Auskünfte, die seinen Verdacht soweit vorhanden, bestätigen oder auch nicht. Klar ist, dass es sich um ein klassisches Verfahren zur Eliminierung von Möglichkeiten handelt.
Neben Schönheit und Mord geht es um Sex und Fortpflanzung, also um zwei Themen, die für alle drei Parteien – Terraner, Lunies und Gürtler – von zentraler Bedeutung sind. Gil hat gern und viel einvernehmlichen Sex mit Frauen, besonders mit solchen, die große, schwere Brüste aufweisen. Bei diesem Detail weist er jedes Mal explizit darauf hin, als wäre das sein Fetisch (so wie der vieler amerikanischer Männer um 1980). Wie sein Stelldichein mit seiner Flamme Taffy Grimes belegt, ist Sex eher so eine Art Seelentherapie statt der Fortpflanzung zu dienen.
Einige Leute sehen das aber ganz anders, und das könnte ein Problem sein. Seltsamerweise wird nicht das Sexleben des Mordopfers Penzler erörtert, sondern das von Naomi Mitchison, der vermeintlichen Täterin. Gil stößt auf Hinweise, dass die Lunies ein Problem mit der Vorstellung haben, dass Naomi ein zweites Kind haben wollte. Deshalb wollte sie ja mit einer Geburtslizenz zum Gürtel auswandern, um eine zweite Familie zu gründen. Penzler verhinderte diesen Plan. Nun hat sie offenbar den Anschein erweckt, sie wolle von Gil selbst ein Kind, und hatte Sex mit ihm.
Könnte dies der eigentliche Grund gewesen sein, sie in aller Eile „aus dem Verkehr“ zu ziehen und in ein Kühlfach zu stecken, fragt sich Gil. Wenn dies der Fall ist, dass muss der Verantwortliche auf höchster Ebene zu suchen sein…
Die Übersetzung
Die stilistischen Fähigkeiten des Übersetzers Martschin sind recht begrenzt. Manche seiner Formulierungen bewegen sich an der Grenze der Verständlichkeit. Nicht zuletzt verwechselt er häufig Klein- und Großschreibung bei dem Wörtchen „sie/Sie“. Da das Original über 200 Seiten aufweist, die Übersetzung aber nur 140, darf wohl von massiver Kürzung ausgegangen werden.
S. 50: „Wassersampf“ statt „Wasserdampf“.
S. 72: „hatte ein Beben einen der Dome von Copernicus aufgeschlitzt.“ Mit „Dome“ sind die Stahlkuppeln der Stadt gemeint.
S. 78: “Das ist vertra[c]kt.“ Das C fehlt.
S. 85a: „Oder einen Naderiter?“ Der Ausdruck wird nicht erklärt.
S. 85b: „Schiffe des Gürtels, die Asteroider (!) als Geschosse benutzen…“: Das ist eben sehr die Frage! „AsteroideR“ sind Bewohner der Asteroiden, und es ist fraglich, ob sie sich als Geschosse benutzen lassen würden. Wahrscheinlicher wäre doch, dass sie AsteroideN benutzen würden.
S. 97: „Es gab keinen Dom.“ Gemeint ist keine Kirche, sondern eine Kuppel (eng. „dome“).
S. 114: „Chemie. Natrium, Kalium, Flour.“ Mit „flour“ ist aber kein Mehl (engl. „flour“) gemeint, sondern Fluor.
S. 124: „Filterelemente in dem Fe[n]ster“: Das N fehlt.
S. 133: „könne[n] wir Mrs. Mitchison freibekommen.“ Das N fehlt auch hier.
Unterm Strich
Diese fragwürdige Ruine eines feinen Weltraumkrimis, der vierte Fall für Gil Hamilton, liest sich zwar flott und auch durchaus spannend, ergibt aber die meiste Zeit über wenig Sinn. Das könnte daran liegen, dass der Übersetzer zwar viele Sexszenen ausführlich stehen gelassen hat, aber die Motive von Naomi Mitchison und der Täter bis auf ein absolutes Minimum reduziert hat. („Naomi Mitchison“ ist übrigens der Name eines schottischen Autorin und Poetin, die im Lübbe-Programm der achtziger Jahre mehrfach vertreten war. Dieser Name ist wie einige andere wie etwa „d’Alembert“ eine Hommage an Leute aus dem SF-Umfeld.)
Wie Terraner wie Hamilton ist der Geschlechtsverkehr sowohl Vergnügen als auch Psychotherapie, doch die Lunies haben damit irgendein Problem. Hamilton braucht ewig lange, bis er auf den Trichter kommt und bei den Leuten, die über die „sündige“ Naomi wie über eine Maria Magdalena richteten, die wahren Schuldigen vermutet. Die Bibel lieferte also mit einem ihrer Evangelien (Lukas erwähnt Maria Magdalena nicht einmal mit Namen!) die Steilvorlage für diese Story. Die hohe Nachfrage nach Organen, deren Begründung ich fragwürdig ich fand, steuert den zweiten Faktor bei.
Auch für die schlechte Übersetzung und die Kürzungen gibt es Punktabzug.
Taschenbuch: 141 Seiten
O-Titel: The Patchwork Girl, 1980
Aus dem US-Englischen von Jürgen Martschin.
ISBN-13: 9783404230280
www.luebbe.de
Der Autor vergibt: