Franzen, Jonathan – Schweres Beben

Jonathan Franzen hat sich mit den [„Korrekturen“ 1233 einen Namen gemacht als großartiger Erzähler, der seine Leser auch in Büchern epischer Länge mit nur wenig Inhalt zu unterhalten und zu fesseln weiß. Seine Stärken liegen in einer scharfen Beobachtungsgabe und einem fantastischen Erzähl- und Formuliertalent, die zum Erfolg seines Bestsellerromans deutlich beigetragen haben. Aus verkaufsstrategischen Gründen ist es nur verständlich, dass nun auch Jonathan Franzens frühere Werke ins Deutsche übersetzt werden. „Schweres Beben“ wurde bereits im Jahre 1992 in den USA veröffentlicht und damit neun Jahre vor den „Korrekturen“, sodass man als Leser seine Erwartungen niedriger halten sollte. Allerdings ist dies nach der mehr als erfreulichen Lektüre der „Korrekturen“ nur schwer möglich …

_Erschütternd_

In Massachusetts bebt die Erde. Kaum ist Louis Holland in die Nähe seiner ungeliebten Schwester Eileen gezogen und kaum hat er sich mit seiner Stiefgroßmutter Rita Kernaghan verabredet, platzt dieses Date auch schon wieder, da Rita das einzige Opfer des kleinen Erdbebens geworden ist. Louis‘ Mutter Melanie erbt daraufhin große Aktienpakete des Chemiekonzerns Sweeting-Aldren im Wert von etwa 20 Millionen Dollar. Doch das Unternehmen gerät in die Schlagzeilen, als behauptet wird, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer nicht korrekt entsorgt. Mehrfach erschüttern kleine Beben die Stadt, manchmal sind die Beben so schwach, dass Louis sie gar nicht bemerkt.

Zufällig lernt der 23-jährige Louis die sieben Jahre ältere Seismologin Renée Seitchek kennen, die eine interessante Theorie hat. Bei einer umfassenden Literaturrecherche hat sie nämlich Hinweise darauf gefunden, dass das Chemie-Unternehmen über tiefe Bohrlöcher verfügt, über die eigentlich nach Erdöl gesucht werden sollte. Doch Renée glaubt nicht daran. Sie ist der Überzeugung, dass Sweeting-Aldren seine Abwässer in den Boden pumpt und dadurch diese Erdbeben hervorruft. In den 70er Jahren hatte es bereits eine erste Erdbebenwelle gegeben, die ganz plötzlich aufgehört hat.

Louis und Renée verlieben sich ineinander, doch als die beiden Louis‘ Sachen aus seiner Wohnung holen, damit er bei seiner neuen Freundin einziehen kann, steht plötzlich eine alte Bekannte vor der Tür. Überraschend taucht nämlich Lauren auf, in die Louis einst verliebt war. Geblendet von ihren optischen Reizen, mit denen die bereits 30-jährige Renée nicht mithalten kann, entscheidet sich Louis daher für Lauren. Renée versucht daraufhin auf eigene Faust, Sweeting-Aldren zu überführen und begibt sich damit in große Gefahr. Doch das Schlimmste steht der Gegend rund um Boston noch bevor, denn eine weitere (Natur-)Katastrophe wird die Erde erbeben lassen …

_Franzen goes Brockovich_

Während das erste Erdbeben zunächst noch völlig harmlos wirkt, zumal es so schwach ist, dass kaum jemand es wahrnimmt und es auch nur ein Todesopfer zu beklagen gibt (welches zufällig im angetrunkenen Zustand auf einem Barhocker gestanden und sich beim Sturz tödlich verletzt hat), so spitzen sich die Ereignisse schnell zu, als eine Folge von Erdbeben zu verzeichnen ist. Darüber hinaus scheint mehr hinter den Beben zu stecken als eine natürliche Ursache, denn Renée Seitchek kann anhand wissenschaftlicher Veröffentlichungen plausibel machen, dass Sweeting-Aldren seine schädlichen Abwässer in den Boden pumpt und dadurch die Erdbeben auslöst. Doch das Chemieunternehmen ist mächtig, und somit begibt Renée sich unwissentlich bald in Lebensgefahr.

Thematisch zieht sich die Aufdeckung eines großen Umweltskandals durch das ganze Buch und hält ein wenig die losen Handlungsfäden zusammen. Immer wieder entdeckt Renée neue Hinweise auf die dubiosen Machenschaften des Chemiekonzerns und immer wieder bebt die Erde und erinnert die Menschen an die drohende Gefahr. In Art einer Erin Brockovich versucht auch Renée Seitchek, andere Leute von ihrer zunächst abwegig klingenden Theorie zu überzeugen. Die Beweise sind dünn, dennoch verdichten sie sich im Laufe von Renées Nachforschungen.

Jonathan Franzen greift sich hier ein Thema heraus, das auch heute noch brandaktuell ist, da nach wie vor das Problem einer umweltgerechten Entsorgung von schädlichen Abwässern besteht. Unternehmen standen schon häufig unter dem Verdacht, heimlich ihren Müll so einfach wie möglich zu entsorgen. Welche Auswirkungen dies haben kann, zeigt Franzen in „Schweres Beben“ auf.

_Familiengeschichte_

Aber es geht um mehr: Die Umweltthematik taucht zwar immer wieder auf und hat dem Buch auch seinen Titel verliehen, doch wäre Jonathan Franzen nicht Jonathan Franzen, wenn er nicht auch die Geschichte einer auseinander brechenden Familie erzählen würde. In diesem Falle erfahren wir die Geschichte der Familie Holland, die nach dem ersten kleinen Beben einen unerwarteten Geldsegen zu verkraften hat. Während das Erbe den Marihuana-rauchenden Vater kaum interessiert, zerbricht Mutter Melanie fast an der Angst, das Geld wieder zu verlieren. Und während Eileen sich von ihrer nun reichen Mutter gleich eine teure Eigentumswohnung sponsern lässt, geht Louis wieder einmal leer aus. So weit ist dies für den männlichen Holland-Sprössling nichts Neues, denn Eileen kam noch nie mit ihrem eigenen Geld aus und bettelte schon immer (erfolgreich) ihre Mutter an. Aber dieses Mal kommen auch private Probleme hinzu, denn nach einer anfänglich glücklichen Liebelei mit Renée lässt Louis sich zu schnell von der hübschen Lauren den Kopf verdrehen. Auch beruflich läuft es für Louis alles andere als erfolgreich, denn seinen Job bei einem kleinen Radiosender hat er verloren, nachdem ein fanatischer Abtreibungsgegner den Sender gekauft hat. Louis’ Leben hat also ebenfalls schwere Beben zu verkraften, zeitgleich gehen sein Privat- und Berufsleben den Bach herunter und von seiner Familie kann er auch kaum Rückhalt erwarten. Wäre Louis zumindest an seiner privaten Misere nicht selbst schuld, könnte er einem fast leidtun.

Anders als in den „Korrekturen“ setzt Franzen seinen Schwerpunkt ganz klar auf die Vorstellung nur eines Protagonisten, nämlich die von Louis Holland, über den Rest seiner Familie lesen wir nur ganz nebenbei etwas. Neben Louis erhalten auch Renée Seitchek und ihr Kollege Howard Chun eine ausführliche Präsentation, doch während Renée im Laufe des Romans eine wesentliche Rolle spielt, bleibt Howard immer nur im Hintergrund und ist für die Handlung nicht wirklich wichtig. Warum Franzen sich also viel Zeit nimmt, um auch Howard darzustellen, ist mir nicht klar geworden.

_Thematische Überfrachtung_

Jonathan Franzen scheint ein Faible für lange Romane zu haben, „Schweres Beben“ füllt in der deutschen Übersetzung ganze 685 Seiten und ist voll gepackt mit Informationen über die handelnden Personen, die Spekulationen über mögliche Umweltsünder, über Episoden, die die Handlung ausschmücken und auch bestückt mit allerhand Beiwerk. Die Geschichte wirkt etwas zusammenhanglos. An einer Stelle braucht Franzen einen etwa 50-seitigen Exkurs, bei dem er sogar einen Schlenker über die Geschichte der Indianer macht, um Louis zu erklären, welche familiären Verwicklungen die Familie Holland mit dem Chemiekonzern aufzuweisen hat. Oft entsteht der Eindruck, dass Franzen nicht genug zu sagen hat, als dass es 685 Seiten spannend füllen könnte. Während er sein Meisterwerk mit liebevoller Figurenzeichnung ausgestattet hat, die gerne eien solchen Umfang einnehmen konnte, schafft er es nicht, uns die Familie Holland so zu präsentieren, dass sie uns ans Herz wachsen könnte. Familie Lambert war einfach etwas Besonderes, wir haben sie lieb gewonnen, weil sie eigen und ein wenig chaotisch, aber doch so normal war. An Familie Holland ist kaum etwas normal, auch werden einem die Menschen kaum sympathisch, da sie immer wieder von einem Unglück ins nächste geraten und sich dies meist selbst eingebrockt haben.

Kurz: Der Funke mag nicht so recht überspringen. Der Leser wird nicht recht warm mit dem Buch und auch die Figuren erscheinen uns teilweise sehr nervig (wie Lauren) oder unentschlossen (wie Louis). Besonders Louis‘ Verhalten bleibt meist nicht nachvollziehbar, er dreht sich wie die Fahne im Wind und scheint gar nicht zu wissen, was er eigentlich möchte. Zwar ist er erst 23, dennoch würde ich einem selbstständigen jungen Mann in diesem Alter doch etwas mehr Entschlossenheit zutrauen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Franzen oftmals unangekündigt in der Zeit hin- und herspringt. Wir bleiben über lange Strecken stets bei Louis Holland und begleiten ihn überall hin, allerdings auch in seine gedanklichen Ausflüge in die eigene Vergangenheit. So ist es eine echte Herausforderung für den Leser, an jeder Stelle den Überblick zu behalten über die Zeit, in der die momentane Handlung spielt.

_Wortgewandt_

Während Franzen leider keine so mitreißende (Familien-)Geschichte zu erzählen hat, wie ich es mir erhofft hatte, so punktet er deutlich im sprachlichen Bereich. Schon 1992 in seinem zweiten Roman beweist Franzen, dass er mit Sprache umgehen kann. Lange Schachtelsätze, die sich teilweise über ganze Absätze ziehen, sind keine Seltenheit, doch sind sie stets so formuliert, dass man beim Lesen nie den Überblick verliert. „Schweres Beben“ ist wunderbar zu lesen und macht auf sprachlicher Ebene auch einfach Spaß.

An einigen Stellen zeigt Franzen auch hier, dass er den geübten Blick für Kleinigkeiten hat. So beobachtet er oftmals Dinge, die den meisten Menschen gar nicht auffallen würden. Diese Eigenart hat die „Korrekturen“ zu etwas Besonderem gemacht, im vorliegenden Buch ist davon leider noch zu wenig zu spüren. Man merkt einfach, dass Jonathan Franzen erst eine Entwicklung durchmachen musste, bevor er zu solch überzeugendem Erzähltalent gelangen konnte, wie er es in seinem Bestseller bewiesen hat.

_Warten auf einen neuen Franzen_

„Schweres Beben“ kann praktisch nur enttäuschen, will man es doch mit seinem Nachfolgeroman vergleichen. So ungerecht der Vergleich mit einem so viel jüngeren Buch auch ist, so gerechtfertigt erscheint er doch angesichts der Begeisterung, die die „Korrekturen“ ausgelöst haben. Das vorliegende Buch zeigt in Ansätzen, wo Jonathan Franzens Stärken liegen. Natürlich steht auch hier eine kuriose Familiengeschichte im Mittelpunkt des Geschehens, wobei die Handlung zusammengehalten wird durch den vermuteten Umweltskandal der Firma Sweeting-Aldren. Thematisch hat Franzen sein Buch etwas überfrachtet, oftmals schweift er in seiner Erzählung ab und verlangt von seinen Lesern dadurch einen langen Atem. Inhaltlich ist „Schweres Beben“ durchaus interessant und auch hochaktuell, dennoch weiß das Buch nicht mitzureißen. Für die 685 Seiten sind Ausdauer und Durchhaltevermögen erforderlich. Auch wenn „Schweres Beben“ sicherlich nicht schlecht ist, gehört es nicht zu den Büchern, die man unbedingt gelesen haben muss.

Fleming, Ian – James Bond: Casino Royale

_Das geschieht:_

Royale-les-Eaux war einst ein mondäner Ferienort an der französischen Kanalküste. Jetzt – d. h. Anfang der 1950er Jahre – ist nur noch das Casino einen Besuch wert. Viel Geld wechselt hier ohne besonderes Aufsehen den Besitzer: Dies ist ein Umfeld, nach dem Le Chiffre gesucht hat. Der hinterhältige Meisterspion der Sowjets hat sich mit einigen Nebenbei-Geschäften verspekuliert und dabei Geld aus der Portokasse genommen; sehr viel Geld, um genau zu sein, was für Le Chiffre ein Problem ist. Der russische Geheimdienst bringt sehr wenig Verständnis für solche Eskapaden auf und wird ihm womöglich die Terror-Truppe „Smersch“ auf den Hals hetzen, die vom Kurs abgekommene Kommunistenspitzel sehr rüde zu behandeln pflegt.

In seiner Not beschließt Le Chiffre, ein Vermögen am Spieltisch zu gewinnen. Auf diese Situation hat der britische Secret Service lange gewartet. Le Chiffre soll ruiniert und als Agent außer Gefecht gesetzt werden. Der richtige Mann dafür ist James Bond, dessen Kennziffer „007“ dem Eingeweihten verrät, dass dieser ungewöhnliche Staatsbeamte die Lizenz zum Töten besitzt. Das war bisher zweimal nötig, und auch sonst ist mit diesem Bond nicht gut Kirschen essen, denn er liebt seinen Job und hasst die Roten.

Umgehend macht sich 007 auf nach Royale. Dort trifft er die ihm zugewiesene Kontaktfrau Vesper Lynd, die recht unprofessionell wirkt aber immerhin ausgesprochen ansehnlich ist. Doch erst die Arbeit, dann das Vergnügen, so Bonds strenge Regel. In einem nervenaufreibenden Bakkarat-Duell mit Le Chiffre obsiegt Bond. Der Triumph lässt ihn unvorsichtig werden. Le Chiffres Schergen kidnappen Vesper und locken 007 in eine Falle. Sein Widersacher foltert ihn auf brutalste Weise, um sein Geld zu erpressen.

Aber Le Chiffre hat die Rechnung ohne den Smersch-Wirt gemacht, und Bond kommt an Leib und Seele schwer gezeichnet frei. Allerdings freut er sich zu früh, denn seine eigentliche Prüfung erwartet ihn noch …

_Hitzkopf für den Kalten Krieg_

„Casino Royale“ ist ein rasanter, lakonischer, gewalttätiger Thriller, der noch heute die Aufregung spüren lässt, die er 1953 bei denen hinterließ, die ihn unvorbereitet lasen. (Allerdings lag die Erstauflage bei gerade 4.750 Exemplaren.) Für die betulichen Fans von Edgar Wallace oder Agatha Christie muss damals das Ende der Welt nahe gewesen sein. Aber auch die Schnüffler vom Schlage eines Philip Marlowe oder Lew Archer sahen alt aus gegen James Bond, den Agenten des Secret Service, der finanziell und ausrüstungstechnisch üppig ausgestattet gegen die Feinde der westlichen Zivilisation zu Felde zog.

Dem ‚heißen‘ II. Weltkrieg folgte ab 1945 ein ‚kalter‘ Krieg der beiden Supermächte USA und UdSSR. Er wurde heimlich aber erbittert ausgefochten. Das Verbrechen gewann eine neue, politische Dimension: Nicht Raub oder Mord aus Gier oder Rache waren die Motive im „Großen Spiel“ der Regierungen. Die (angeblich) legitime Abwehr und Schwächung heimtückischer Feinde des jeweiligen Systems standen im Vordergrund. Menschen und Opfer wurden zu Spielfiguren und Zahlen. Unsicherheit bestimmte das Zwielicht hinter den Kulissen. Wer war Freund, wer Feind? Galten diese Klassifizierungen überhaupt noch?

Natürlich bot die Welt der Geheimdienste nur eine grobe Schablone, vor der Ian Fleming 1953 James Bond 007 agieren ließ. Zwar konnte der Verfasser (s. u.) auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, die er jedoch aufs Spektakuläre zuspitzen musste: Auch Agentenarbeit ist primär langweilige Routine. Als Schriftsteller war Fleming zudem Neuling. Das merkt man einer Geschichte an, die deutlich in drei Teile zerfällt: Bonds Vorbereitungen zum grandiosen Kartenspiel-Gefecht mit Le Chiffre im Casino Royale (sehr gelungen), die anschließende Gefangennahme, Folter und Rettung von Bond (unbehaglich intensiv) sowie schließlich der tragisch gemeinte aber recht missglückte, weil an einen bereits abgeschlossenen Spannungsbogen anknüpfen wollende Epilog vom großen Verrat der Vesper Lynd.

|Aller Anfang ist (erstaunlich) zäh|

Für Bond-verwöhnte Kinobesucher geschieht erstaunlich wenig in diesem Roman. Es gibt eine Bombenattacke, eine Autoverfolgungsjagd und eine ausgiebige Folterszene. Das war’s an Action. Raffinierte Agententechnik aus dem Hause Q glänzt durch Abwesenheit. Bond fährt einen Bentley Baujahr 1933 und benutzt eine Beretta Kaliber 25. (Später informierte ein Waffenexperte Fleming, dass diese als Damenpistole galt. Danach wechselte 007 schleunigst zur Walther PPK.)

Was „Casino Royale“ (neben nostalgischen Gründen) immer noch lesbar macht, ist Flemings offensichtliches Bemühen, dem Getümmel eine dritte Dimension zu verleihen. Auffällig sind die ausführlichen Beschreibungen von Kleidern, Speisen, Möbeln usw. Ian Fleming verstand sich als Mann mit Stil, und das gab er an seinen James Bond weiter. Diesen sah er darüber hinaus als Muster für den Menschen der Gegenwart und deshalb rasch und notgedrungen rücksichtslos im Denken und Handeln.

Vergessen ist spätestens seit der Ära des 007-Clowns Roger Moore, dass James Bond ein Produkt des II. Weltkriegs ist. Fleming geht mehrfach auf dessen prägende Kriegserlebnisse ein. (Dies brachte ihn später in Schwierigkeiten, da er Bond zunächst ’normal‘ und dann langsamer altern ließ, bis dieser eigentlich bereits als Schuljunge ins Feld gezogen sein musste, wenn man nachrechnete.) Auch deshalb ist der 007 aus „Casino Royale“ uns heute recht fremd.

|Das Bond-Universum in seiner Steinzeit|

Ian Flemings James Bond war lange ein vom Kino-007 völlig konträre Figur. Die beiden ersten Filme („James Bond jagt Dr. No“, 1961, und „Liebesgrüße aus Moskau“, 1963) mit Sean Connery kamen dem eiskalten, beinahe fanatisch auf sein Ziel fixierten und dabei buchstäblich über Leichen gehenden Bond aus „Casino Royale“ nahe.

Selbst Fleming milderte die schroffe Persönlichkeit seines Helden rasch ab; der spätere James Bond ist nicht milder im Handeln aber psychisch stabiler. Er wird weniger deutlich von gar zu offensichtlichen Selbstzweifeln und unterdrückten Emotionen bestimmt, die er hinter der Maske des 007 zu verbergen trachtet. Erst 2006 trat im „Casino-Royale“-Film – der gleichzeitig zum Reboot der 007-Saga wurde – dieser Aspekt wieder stärker in den Vordergrund.

Bonds Frauenbild ist ein unverfälschtes Spiegelbild seiner Zeit. Er lehnt weibliche Agenten ab, weil sie seiner Meinung nach niemals dieselbe Konsequenz wie ein Mann aufbringen können. Prompt versagt Vesper Lynd, und Bond flucht sie in die Rolle der Ehefrau und Mutter zurück. Schlafen will er aber unbedingt mit ihr, das steht auf seiner Liste – sobald er den Job erledigt hat: Diesen Bond kennen wir gut.

Allerdings verliebt sich 007 später in Vesper und macht ihr einen ernstgemeinten Heiratsantrag. Sogar aus dem Agentengeschäft will er sich zurückziehen. Aber Vesper ist eine Doppelagentin und die Welt schlecht. Damit sie nicht zu allem Überfluss rot wird, macht es in Bonds Hirn „Klick“. |“Das Biest [= Vesper] ist tot“|, wird nach London gemeldet, und dann wirft sich 007 wieder in den Kampf mit dem Reich des Bösen.

|Die Schöne und das Biest|

Vesper Lynd ist paradoxerweise emanzipierter als eigentlich alle Kino-Bond-Girls bis in die Gegenwart. Sie wirft sich weder bereitwillig in 007s starke Arme, noch wälzt sie sich (zuschauerfrei ab 12 Jahre) mit ihm auf einem Eisbärenfell. Ihre Vergangenheit ist tragisch, ihr Schuldgefühl echt, ihr Ende rührt, selbst wenn dieser Effekt von Fleming vor allem konstruiert wurde, um Bond noch einmal als harten Kerl dastehen zu lassen.

Le Chiffre ist bereits der erste der überlebensgroßen Bösewichter, die später typisch für den Bond-Kosmos wurden. Noch greift er nicht nach der Weltherrschaft, sondern ist mehr oder weniger Handlanger der (realen) Sowjetmacht. Aber in seinem Folterkeller legt er bereits die Bond-typische Mischung aus Sadismus und Größenwahn an den Tag. Sein Ende ist schrecklich gewöhnlich – ein Fehler, den Fleming und vor allem die Kinofilme später vermeiden werden.

Überhaupt hat Fleming den Löwenanteil seiner Fehler bereits in diesem ersten Bond-Roman begangen. Er lernte schnell und besserte nach, was er zu Recht negativ kritisiert fand. Schon „Live and Let Die“ (dt. „Leben und sterben lassen“), dem 1955 erschienenen zweiten Bond-Thriller, hatte das Zeug zum echten Klassiker.

_Autor_

Ian Fleming (1908-1964) blickte im „Casino Royale“-Jahr 1953 auf eine inspirierend abenteuerliche Vergangenheit zurück. Er war ein typisches Oberschicht-Gewächs des spätimperialistischen Großbritannien mit erstklassiger Schulbildung (Eton) und der sprichwörtlichen „steifen Oberlippe“. Im II. Weltkrieg lernte Fleming als Mitarbeiter des Marine-Geheimdienstes die geheimnisvolle Halbwelt kennen, die er später so effektvoll zu dramatisieren wusste. Einige wagemutige Kommandounternehmen im Mittelmeer werden ihm zugeschrieben. Den Globus hatte Fleming schon vor dem Krieg als Journalist (u. a. in Moskau) bereist, was er nach 1945 als Auslandskorrespondent der „Sunday Times“ fortsetzte. Er zog die Sonne dem englischen Regen vor und ließ sich an der Nordküste der damals noch britischen Inselkolonie Jamaica nieder.

1951 erschütterte der Cambridge-Skandal das Empire: Zwei hochrangige britische Diplomaten entpuppten sich als langjährige Spione im Dienst der UdSSR. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich zwei „old boys“ dafür hergeben würden. Aber im Krieg der Spione gibt es weder Ehre noch Moral. Diese Erkenntnis beeindruckte Ian Fleming tief. Er hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, einen Roman zu schreiben und nun seinen Aufhänger gefunden. Im James Bond aus „Casino Royale“ hallt der Schock über den Verlust traditioneller Werte und die daraus resultierenden Unsicherheiten deutlich wider.

Den Namen „James Bond“ entlieh Fleming einem gleichnamigen Vogelkundler, der die gefiederten Bewohner der westindischen Inselwelt erforschte. Eine kluge Wahl, denn wer könnte – sehr ratsam für einen guten Spion – unauffälliger wirken als ein solcher Zeitgenosse?

Der eigentliche Erfolg des Schriftstellers Ian Fleming kam nur allmählich, der Quantensprung zum Superseller gelang erst in den 1960er Jahren, als der Kino-Bond zum modernen Mythos wurde. Damit hatte Fleming nur noch mittelbar zu tun. Er war gern gesehener Gast am Drehort und kassierte gutes Geld für seine Figur, die er in insgesamt zwölf Thrillern und zwei Kurzgeschichten-Sammlungen mehr oder weniger aufregende Abenteuer erleben ließ, wobei er (zum Unwillen der Leserschaft) durchaus mit seinem Helden experimentierte.

Nach 1960 begann Flemings Gesundheit zu verfallen. Er weigerte sich, seinen Lebensstil zu ändern, d. h. seiner Herzkrankheit entsprechend zu leben. Folgerichtig erlag er – immerhin stilvoll – auf dem Royal St. George’s Sandwich-Golfplatz in Kent am 12. August 1964 einem Herzinfarkt.

|Anmerkung|

„Casino Royale“ ist der erste der James Bond-Romane, die der Cross-Cult-Verlag anlässlich des 50. ‚Geburtstags‘ des Kino-Helden 007 neu übersetzt, ungekürzt und mit sehr schönen ‚Retro‘-Titelbilder herausbringt: eine gute Gelegenheit, den „Ur-007“ neu oder womöglich zum ersten Mal kennenzulernen.

|Taschenbuch: 240 Seiten
Originaltitel: Casino Royale (London : Jonathan Cape 1953)
Übersetzung: Stephanie Pannen/Anika Klüver
ISBN-13: 978-3-86425-070-5|
[Verlagshomepage]http://www.cross-cult.de

(Michael Drewniok)

Pfanner, Thomas – T 73: Das KrogiTec-Komplott

In seinem neuen Buch „T 73: Das KrogiTec-Komplott“ zeichnet Thomas Pfanner die gar nicht mal so unrealistische Zukunftsversion einer Welt, die von einer Handvoll globalisierter Mega-Konzerne beherrscht wird, und in der die Werte des einzelnen Menschen vollständig unter den Tisch gekehrt werden. Idealismus und Demokratie sind dieser Welt fern, auch wenn einige wenige sich immer noch für die scheinbar veralteten Normen einsetzen: Gegen das allmächtige Herrscher-Monpol sind die Bewohner machtlos und fügen sich dementsprechend dem ungerechten System, ohne sich dabei irgendwie aufzuraffen, um den illegalen Machenschaften Paroli zu bieten.

Man könnte das Buch jetzt entfernt eine politische Satire nennen, denn die einzelnen Extreme werden von Pfanner schon mit einem Schmunzeln im Hintergrund dargestellt, aber wenn man mal ehrlich ist, dann kann man gar nicht verleugnen, dass trotz so mancher überspitzter Versinnbildlichung ein kleines Fünkchen Realismus mit in die Geschichte einfließt und die Entwicklung im Zuge der Globalisierung mit einigen Vorstellungen, die in diesem Roman beschrieben werden, durchaus konform geht. Davon mal abgesehen, ist „T 73: Das KrogiTec-Komplott“ aber auch eine kurze und spannende Unterhaltungsbroschüre, die einen gedanklich mal wieder wachrüttelt …

_Story:_

Die Welt in zwanzig Jahren: Einige wenige globalisierte Mega-Konzerne vereinigen alle denkbaren illegalen und legalen Geschäfte auf sich, opfern Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit der Menschheit ihrem Profitstreben unter und entmachten die staatlichen Behörden. Diesen bleibt nur noch die Möglichkeit, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben – und dieser heißt in diesem Falle T 73, eine von der UNO beauftragte Firma, die mit ähnlich skrupellosen Mitteln wie die aktuellen Machthaber gegen die Konzerne vorgeht und die Zivilisation wieder retten soll. Dort arbeiten auch so zwielichtige Gestalten wie Drusus Uslar und Saskia Johimbe, gefühlskalte Atheisten und unberechenbare Killer, die unter den Konzernen Angst und Schrecken verbreiten. Während der Erste einfach nur durch seinen generellen Menschenhass abschreckt, ist sein weibliches Pendant vor allem bei der Art der Verbrechen im Sinne der Gerechtigkeit unglaublich brutal. Selbst beim Liebesspiel mit einem ihrer Feinde vergisst sie jegliche Moral und bringt ihren zeitweiligen Gefährten um.

Dies ist auch dem Führer des Mega-Konzerns KrogiTec bekannt, der seinerseits versucht, die Konkurrenz auszubooten und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dazu hat er sich mehrere Mittel ausgesucht: Zunächst erfindet (!) er einen Wissenschaftler, dann geht er ein Bündnis mit den übelsten Terroristen ein, und schließlich kümmert er sich um die Ausradierung von T 73. Aber die Sache ist nicht so einfach, wie der Mann sich das vorstellt …

Deutschland in Endzeitstimmung, mit dieser symbolischen Darstellung erzielt Thomas Pfanner in diesem Buch eine wirklich abschreckende Wirkung. Das vorgelegte Erzähltempo – Pfanner geht von Anfang an aufs Ganze – unterstützt diese bedrohliche Atmosphäre, die sich durch den gesamten Roman zieht, und spiegelt auch die sehr direkte und unverfälschte Erzählweise des Autors wider. Hier wird schonungslos aufgedeckt und erklärt, und irgendwie gelingt es Pfanner auch immer wieder, für diesen oder jenen Missstand eine angebrachte Erklärung zu finden und herzuleiten, was wann wo schief gelaufen ist.

„T 73: Das KrogiTec-Komplott“ ist zweifellos ein starkes Stück Gesellschaftskritik, gefüllt mit einer Menge Sarkasmus und inszeniert in einem radikalen Rundumschlag, bei dem jede Organisation und Volksgruppierung ihr Fett weg bekommt, seien es nun Politiker, Gangster oder doch die im Mittelpunkt der Anklage stehenden Konzerne. Teilweise wird Pfanner bei seinen Darstellungen auch richtig bösartig, schießt aber nie über das Ziel hinaus, sondern bedient sich lediglich seiner arg zynischen Stilelemente, mit denen er das Buch auf jeder der 218 Seiten schmückt. Geschrieben und erzählt ist die Geschichte dementsprechend auch sehr originell, denn hier wird nicht einfach nur plump gegen jeden, der Angriffsfläche bietet, geschossen. Der Autor hat die Sache sehr intelligent verpackt und bietet trotz der oberflächlich erscheinenden Storyline eine Menge Tiefgang zwischen den Zeilen.

Schade finde ich nur, dass er sich diese Besonderheit durch die arg zweifelhafte Umgangsweise der beiden Hauptcharaktere miteinander zerstört. Wie in einem schlechten Krimi machen sich die beiden Ermittler immer wieder von der Seite an und entwickeln dabei eine Hassliebe, ohne die ihre Zusammenarbeit aber auch nicht funktionieren würde. Im Grunde genommen ist die Idee ja gar nicht so schlecht, die Umsetzung in Form von einigen gegeneinander ausgeteilten Breitseiten aber eher mangelhaft und der einzige Schwachpunkt des Buches.

Ansonsten gibt es aber nichts auszusetzen: eine Welt, in der Verbrechen von Verbrechern bekämpft wird, illegale Machenschaften durch Morde gerade gerückt werden und kein Teil der Gesellschaft sich mehr sicher fühlen kann, all das beschreibt Thomas Pfanner in diesem Buch – und spannt den Bogen beim überraschenden Ende bis zur Schöpfungsgeschichte; aber hierzu möchte ich jetzt nicht mehr verraten. Besorgt euch dieses Buch, es lohnt sich, auch wenn das Cover eher schlicht und uninteressant wirkt!

Heilemann, Wolfgang ‚Bubi‘ / Thomas, Sabine – Alice Cooper. Live on Tour – Backstage – Private: Photos 1973-1975

Um die Phrasen gleich zu Beginn zu verbraten: |Alice Cooper| sind die Urväter des Schock-Rock. Seit über 35 Jahren veröffentlicht die Gruppe nun schon Platten, deren Bandleader und Sänger (bürgerlich Vincent Damon Furnier) sich praktischerweise auch gleich Alice Cooper nennt.

Wolfgang „Bubi“ Heilemann, der in den 70er Jahren als Fotograf der „Bravo“ (die Jugendzeitschrift mit dem Papstposter hinter der Aufklärungsseite) Alice Cooper und andere Stars ablichtete, hat einen Bildband mit Fotos der Band und ihres Frontmanns vor und hinter der Bühne aus der Zeit von Ende 1972 bis 1975 herausgebracht. Etliche teilweise ganzseitige Bilder zeigen Band und Frontmann auf der Bühne bei ihren berühmt-berüchtigten Horror-Shows, bei Partys und Presseterminen, auf Reisen und hinter der Bühne beim Kartenspielen. Zwischen den Bildseiten sind einige kurze Texte (Deutsch und Englisch) eingestreut, in denen Heilemann Erinnerungen und Anekdoten aus jener Zeit zum Besten gibt. Alice Cooper hatten sich zu dieser Zeit schon mit ihren Hits ‚I’m Eighteen‘ und ‚School’s Out‘ einen Namen gemacht. In den Jahren, die dieser Bildband begleitet, erschienen ihre Erfolgsalben „School’s Out“ (1972), „Billion Dollar Babies“ (1973), „Muscle Of Love“ (1974) und – Bandchef Cooper hatte die Besetzung inzwischen komplett ausgetauscht – „Welcome To My Nightmare“ (1975). Und zu fast jedem Album gab es eine große Tournee mit den bekannten grellen Schockeffekten.

Die meisten Fotos zeigen die Band auf der Bühne: Alice Cooper mit der schwarz-weißen Schminke, bewaffnet mit Äxten und Säbeln, im Kampf mit Spinnen, Monstern und Schaufensterpuppen, die Boa Constrictor um den Hals, und natürlich unter der Guillotine. Am Ende der Konzerte inszenierte der Sänger immer seinen eigenen Tod am Strick oder unter dem Fallbeil (alle anderen waren dann schon tot). Die grellsten Geschmacklosigkeiten – bei Cooper-Gigs fielen auch schon mal Konzertbesucher in Ohnmacht – wurden aber ausgespart. Andere Bilder zeigen einen flachsenden Alice Cooper – den Mann, nicht die Band – auf dem Flughafen, im Gespräch mit dem Schlagersänger Udo Jürgens oder auf einer Party zusammen mit dem berühmten spanischen Maler Salvador Dalí. Cooper und Dalí waren Fans des jeweils anderen. Dalí hat von Cooper ein Bild mit dem Titel „Geopoliticus Child“ gemalt und den abgeschlagenen Kopf für die Enthauptungen bei den Shows entworfen! Abseits des Rummels erscheint der Bandleader als netter, sympathischer Kerl, der stets ein Grinsen auf dem Gesicht hat und den man sich kaum als Schock-Rocker vorstellen kann. Auf anderen Fotos aber sieht man ihn müde und geschafft; die ständig präsenten Bierdosen deuten ein Problem an, mit dem Cooper in den darauf folgenden Jahren schwer zu kämpfen hatte.

Bei einigen Fotos hätte man sich erläuternde Bildunterschriften gewünscht. Und für den Anhang hätten Autor und Verlag noch etwas Papier und eine kurze Recherche springen lassen können, damit unter dem Stichwort Diskografie nicht nur ein Best-of-Album genannt werden muss. Aber von diesen kleinen Mankos abgesehen, liegt hier ein edler großformatiger Bildband vor, der Alice Cooper in der klassischen Erfolgsphase der Band bei ihren heute noch legendären Tourneen zeigt. Alice Cooper-Fans werden ohnehin zuschlagen, aber auch für jeden, der sich für die wilden 70er, in denen es abseits der Schubladen originelle und individualistische Gruppen gab, interessiert, dürfte dieser Band das Richtige zum Lesen und Anschauen sein.

Dieses Buch ist Teil einer Serie von Bildbänden mit Fotos aus Heilemanns Archiv, in der schon Ausgaben u. a. über ABBA und [AC/DC 741 erschienen sind und die noch fortgesetzt werden soll.

Mehr Infos zum Buch gibt es unter http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de/toptitel/alicecooper.html.

Dewitz, Bodo von / Johnson, Brooks (Hgg.) – Shooting Stalin – Die \’wunderbaren Jahre\‘ des Fotografen James Abbe (1883-1973)

Es klingt fast wie ein Märchen: Ein schmächtiger, kleiner Mann aus Virginia, dem schon in seinen Zwanzigern alle Haare ausgefallen sind, reist mit seiner Kamera durch die ganze Welt, ist per Du mit den größten Film- und Theaterstars seiner Zeit, gern gesehener Gast an den Tafeln mächtiger Finanzmagnaten, Fotograf der wichtigsten Politiker, Potentaten & Diktatoren einschließlich Adolf Hitler und Josef Stalin. Gleichzeitig bricht er immer wieder aus dem Luxusleben eines etablierten Ablichters aus, vagabundiert durch gefährliche und unerfreuliche Regionen des Erdballs: die Elendsviertel des nur scheinbar glorreichen Sowjetreiches, die Schlachtfelder diverser Bürgerkriege, das Deutschland der frühen Nazi-Jahre.

Seit James Abbe (1883-1973) im Jahre 1903 einen Auftrag abgelehnt hatte, der sich als Möglichkeit der fotografische Dokumentation des ersten Motorflugs durch die Brüder Wright entpuppte, hörte er nie wieder auf die Stimme der Vernunft, sondern machte sich auf den Weg, wenn sich die Chance eines „Schusses“ bot, mit dem sonst niemand aufwarten konnte. Das Glück ist manchmal mit dem Tüchtigen; so begann Abbe seine lange Karriere 1898 mit Bildern des vor Anker liegenden US-Schlachtschiffs „Maine“, das kurze Zeit später im Hafen von Havanna in die Luft flog und zum Mitauslöser des Spanisch-Amerikanischen Kriegs wurde.

Schon bald wurde Virginia zu klein für den Mann mit der Kamera. Als Porträtist ließ er sich in New York nieder, verfeinerte in der täglichen Praxis sein beachtliches Talent, scheinbar lebensechte Aufnahmen zu inszenieren und mit Licht & Schatten besondere Akzente zu setzen. Es dauerte nicht lange, da wurde das noch junge Hollywood auf Abbe aufmerksam. In der Sturm-und-Drang-Zeit der Filmindustrie gelangen ihm Aufsehen erregende, zeitlose Bilder und Standaufnahmen der ganz großen Stars (Charles Chaplin, die Schwestern Gish, D. W. Griffiths u.v.a.), aber auch – Abbes Spezialität – Fotos der „kleinen“ Filmleute. Statisten, Beleuchter, Tänzerinnen.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte dem Spaß der „Roaring Twenties“ ein Ende, der Tonfilm trieb die Stars von Gestern ins Aus, moralinsaure Spießer und Tugendbolde übernahmen in Hollywood die Zügel. Doch James Abbe war schon weit weg in Europa, wo er den „Tanz auf dem Vulkan“ der Jahre vor dem II. Weltkrieg in Paris, London oder Berlin in meisterhaften Fotos festhielt, zu denen er – auch eine Besonderheit – die Artikel selbst schrieb. Als „Tramp-Fotograf“ reiste er den Ereignissen hinterher, wurde nicht nur wegen seiner Fotokunst, sondern auch wegen seiner Allgegenwärtigkeit ein gefragter Mann. Dabei hatte er nie Angst, sich die Finger schmutzig zu machen und sich in Gefahr zu begeben. So war er 1929 an den zahlreichen Fronten des Mexikanischen Bürgerkriegs zu finden, wo er praktisch als einziger Fotoreporter unter schwierigsten Bedingungen seinem Job nachging. Dies wiederholte er 1936 in Spanien.

James Abbe schien als „neutraler“ Amerikaner in Europa überall Zugang zu haben. In den frühen 1930er Jahren schloss das auch die nazideutschen Machthaber ein. Hitler, Göring, Goebbels: Von diesen und anderen Gewaltherrschern gelangen Abbe oft entlarvende Aufnahmen. Sein größter Coup gelang ihm 1932, als er einen angeblich kranken Stalin im Moskauer Kreml fotografieren durfte – ein unerhörtes Novum.

Noch vor dem II. Weltkrieg kehrte Abbe in die Vereinigten Staaten zurück. Als Auslandskorrespondent war er zu alt, deshalb wechselte er das Metier und ging zum Hörfunk, wo ihm mit der üblichen Energie eine neue Karriere gelang. In den 1960er Jahren ging Abbe in den Ruhestand. 1973 starb er neunzigjährig. Fotografiert hatte er seit über drei Jahrzehnten kaum noch.

Man sollte meinen, dass ein Mann mit Abbes Meriten zu den anerkannten Größen seines Metiers gehört. Tatsächlich ist sein Werk heute nur noch einer recht kleinen Schar einschlägiger Fotohistoriker bekannt. James Abbe ist nie ein Chronist seiner eigenen Arbeit gewesen, die über viele Länder verstreut und teilweise verloren ist. Erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod beginnt man ihn neu zu entdecken.

Vom 2. Oktober 2004 bis zum 9. Januar 2005 fand im Museum Ludwig Köln die Ausstellung „Shooting Stalin. Die ‚wunderbaren‘ Jahre des Fotografen James Abbe (1883-1973)/The ‚Wonderful‘ Years of Photographer James Abbe (1883-1973)“ statt. Deutschland ist ein durchaus angemessener Ort, das Werk eines Mannes zu würdigen, der als Amerikaner ein wichtiges Element auch der deutschen Pressegeschichte gewesen ist. Das hier vorgestellte Buch ist gleichzeitig der Katalog zu besagter Ausstellung. Er liegt zweisprachig vor; auf den Textseiten findet sich links die englische, rechts die deutsche Fassung.

Inhaltlich gliedert sich „Shooting Stalin“ in drei Abschnitte. Teil 1 berichtet kursorisch von Leben und Werk des James Abbe (S. 1-49). Es folgt eine lange Strecke mit exemplarischen Fotos aus den verschiedenen Schaffensphasen (S. 50-287). Vielen bekannten Bildern, die z. B. Rudolph Valentino, Gloria Swanson oder eben Stalin in Ikonen verwandelten, werden selten oder gar nicht gesehene Aufnahmen gegenüber gestellt. So war die Existenz der Abbeschen Fotos von Thomas Mann bisher unbekannt.

Die einzelnen Fotokapitel werden von Texten aus Abbes Feder eingeleitet und kommentiert. Da er die Angewohnheit hatte, auf den Rückseiten der Abzüge Orte, Daten und knappe Beschreibungen zu vermerken, ließen sich viele Bilder gut chronologisch und thematisch einordnen, was sie gleichzeitig zu historischen Quellen macht. Dass ihre Wiedergabequalität eindrucksvoll hoch ist, muss wohl nicht eigens angemerkt werden.

Teil 3 sammelt einige Aufsätze, die einzelne Aspekte des Menschen und Fotografen James Abbe zusätzlich aufhellen (S. 288-331). Brooke Johnson interpretiert unter dem Titel „Mach das Foto, hol die Geschichte“ Abbes Wirken als Teil der Entstehung des modernen Fotojournalismus. Sehr US-amerikanisch stilisiert er ihn dabei zum Selfmademan hoch, der für sich den „Amerikanischen Traum“ realisierte und gleichzeitig Geschichte schrieb. Da hat er Recht, aber vollständig wird das Abbe-Bild wohl nur unter Berücksichtigkeit der Tatsache, dass er viermal verheiratet war und drei Familien auf mehreren Kontinenten hatte – das war der Preis, den ein „Globetrotter-Fotograf“, primär jedoch seine Angehörigen zahlen mussten; Abbe zahlte ihn jedenfalls lieber als seine Gattinnen, Geliebten & Kinder.

Daniel Kothenschulte erinnert in „Der amüsante Teil der Erotik“ an „James Abbes Beitrag zur Hollywood-Porträtfotografie“. Der Fotograf war der richtige Mann zur richtigen Zeit am rechten Ort. Abbe nahm seinen Job sehr ernst, aber er hatte viel Sinn für Humor und war der Selbstironie fähig. Offensichtlich verfügte er über ein einnehmendes Wesen, gewann das Vertrauen seiner Modelle, brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Das Ergebnis sind erstaunliche, in jeder Hinsicht sinnliche Bilder aus einer Zeit, die man gemeinhin für zugeknöpft und allzu sittenstreng hält, wenn man die typischen, steif posierenden Gestalten im gestärkten Sonntagsstaat betrachtet. Wie Abbes Bilder beweisen, lebten in den 1920er und 1930er Jahren Menschen aus Fleisch und Blut. Plötzlich erscheinen vergangene Zeiten gar nicht mehr so fremd wie aus einem Geschichtsbuch.

Sehr interessant weil kritisch äußert sich Bodo von Dewitz im Kapitel „Was der Amerikaner sah. James Abbe in Deutschland“ zum Fotografen aus Leidenschaft. Er rundet das Bild ab, indem er Abbe als von seiner Arbeit besessen und deshalb angstlos, unbekümmert aber durchaus eitel und vor allem stets in Gefahr, instrumentalisiert zu werden bzw. sich instrumentalisieren zu lassen, schildert: James Abbe war sowohl Künstler als auch Geschäftsmann. Er ließ sich seine Arbeit sehr gut bezahlen. Der moralische Aspekt interessierte ihn weniger. So wusste er genau, dass Stalin ihm keine Gunst gewährte, als er gerade ihn zur Fotoaudienz vorließ, sondern den Amerikaner als Mittel zum Zweck wählte, vor dessen Linse er sich als kraftvoller Staatsmann inszenierte. Wie sehr sich dies der Manipulation nähert, belegen eindrucksvoll die Kontaktkopien eines Fototermins mit Joseph Goebbels (S. 250), die Abbes Fähigkeit beweisen, wie ein Bildhauer aus einem unsympathischen, misstrauischen Finsterling einen durchgeistigten aber tatkräftigen Mann zu „erschaffen“. Zufrieden waren beide – der wie durch ein Wunder medienwirksam geschönte Goebbels wie Abbe, der wieder für gutes Geld einen Machtmenschen „geschossen“ hatte. Sicherlich auch deshalb sehen wir die ‚wunderbaren Jahre‘ des Untertitels in Anführungsstriche gesetzt.

Abgeschlossen wird „Shooting Stalin“ durch ein ausführliches Verzeichnis der abgebildeten Fotos, denen die ursprünglichen Pressetexte angefügt wurden (S. 332-348), ein „Kleines Lexikon der fotografierten Personen (Auswahl)“ (S. 348-356) sowie eine Bibliografie samt Literaturliste (357/58).

„Shooting Stalin“ ist kein preisgünstiges Buch. Dieses Mal trifft der alte Spruch indes zu: Qualität hat ihren Preis. James Abbes Fotos erfahren auf feinem Kunstdruckpapier und großformatig die Behandlung, die ihnen zusteht. Man schaut und ist fasziniert. Dieses Gefühl bleibt auch im Wissen um die Schattenseite der Abbeschen Fotokunst unbeeinträchtigt: Kunst wird von Menschen gemacht und die sind – glücklicherweise – niemals unfehlbar.

Fuchs, Kirsten – Titanic und Herr Berg, Die

Eine „Amour fou“ in Zeiten sozialer Kälte verspricht der Klappentext zu Kirsten Fuchs‘ Debütroman „Die Titanic und Herr Berg“. Radikal soll er sein, erotisch und hart am Abgrund. Das trifft im Groben und Ganzen durchaus zu, erfordert bei näherer Betrachtung aber noch einiges an Differenzierung.

Fuchs erzählt die Geschichte einer Liebesbeziehung: Tanja (vermutlich Mitte 20 – so ganz deutlich wird das nicht), Sozialhilfeempfängerin, unkonventionell und weltverklärend, lernt beim Behördengang Peter kennen, der auf der anderen Seite des Sozialamtsschreibtisches sitzt. Peter ist 42, zweifach geschieden, zweifacher Vater, beziehungsunfähig und von der beruflich bedingten Überdosis Wirklichkeit abgestumpft.

Tanja ist sofort hin und weg von Peter, sieht ihn als ihren Mann fürs Leben an. Peter lässt sich darauf ein, will aber von Liebe gar nichts wissen. Während sie in die Beziehung immer mehr Hoffnungen steckt, ist sie für ihn eine rein sexuelle Angelegenheit und zumindest in der Hinsicht stimmt die Gleichung – beide fühlen sich wahnsinnig stark zueinander hingezogen.

Doch je länger die Beziehung dauert, desto mehr ist Tanja sich ihrer Sache sicher, dass Peter ihr Ein und Alles ist und sie zusammen den Rest ihrer Lebens verbringen werden. Doch was soll daraus werden, wo Peter von Beziehungen doch gar nichts wissen will?

Schon der etwas unkonventionelle Titel deutet an, dass „Die Titanic und Herr Berg“ kein Roman von der Stange ist. Sprachlich verspielt und so phantasievoll wie die weibliche Hauptfigur erscheint der Roman somit auch auf den ersten Seiten. Kirsten Fuchs‘ Stil ist sehr eigenwillig, verspricht zunächst aber ganz erfrischende und unterhaltsame Lektüre. Spielerischer Umgang mit Satzbau und Formulierungen, ein sehr deutlicher Hang zu Wortspielereien und Doppeldeutigkeiten mit einer gewissen Portion Witz – man ist anfangs wirklich versucht zu glauben, dass „Die Titanic und Herr Berg“ ein toller Roman sein könnte.

Doch leider täuscht der erste Eindruck. Obwohl ich Bücher mit Sprachwitz und Doppeldeutigkeiten mag, und obwohl ich auf den ersten Seiten noch das eine oder andere Mal über Kirsten Fuchs‘ bildhafte Sprache geschmunzelt habe – mit der Zeit wurde die Lektüre immer anstrengender. Anfangs freut man sich durchaus noch über gelungene Sätze wie diese hier: |Ich habe am häufigsten in meinem Leben das Wort „ich“ gesagt und das Wort „und“. Ich sage sehr oft „ich“. Das ist mein Lieblingssatzanfang. Ich, ich, ich bin nicht eloquent. Ich bin der Mittelpunkt meines Mittelpunktes und definiere an mir angepflockt wie eine Ziege einen kleinen Radius um mich herum.| (S. 8)

Je weiter sich die Geschichte allerdings hinzieht, desto zäher wird leider auch die Lektüre. Kirsten Fuchs‘ sprachliche Mittel wirken mit der Zeit ermüdend. Ihr Satzbau wirkt ein wenig gekünstelt, manchmal ein wenig wie mit der Brechstange zurechtgebogen und bemüht um jeden noch so kleinen Wortwitz. Darunter leidet des Öfteren der Lesefluss. Die künstlerische Verspieltheit, die anfangs noch so erfrischend wirkt, mündet immer mehr in eine träge, schwere Künstlichkeit. Man gewinnt den Eindruck, dass die Autorin sich mitsamt ihrer Figuren hinter einem Wall gekünstelten, anstrengenden Satzbaus verschanzt und den Leser nicht an sich heranlässt. Die Figuren bleiben genauso blass und fremd, wie die sprachliche Frische schon nach wenigen Kapiteln verpufft.

Fuchs hält ihre Figuren auf Distanz zum Leser. Man kommt einfach nicht an sie heran, kann sie schlichtweg nicht verstehen und somit auch absolut nicht mit ihnen mitfiebern. Sie bieten nur wenige Identifikationspunkte. An Peter kann man noch so manches nachvollziehen, aber in Tanja gipfelt die Kluft zwischen Leser und Figuren sehr deutlich. Man erfährt zu wenig über sie. Trotz der gewählten Sichtweise des ständig wechselnden Ich-Erzählers, der mal aus Peters und mal aus Tanjas Perspektive berichtet, gelingt es kaum, sich ein nachhaltiges Bild von Tanja zu machen. Erst spät erzählt Kirsten Fuchs etwas aus Tanjas Leben, so richtig begreifbar wird die Figur dadurch zu diesem späten Zeitpunkt aber auch nicht mehr. Eine Sozialhilfeempfängerin, die den 100-Euro-Schein, den ihr ihre Freundin reicht, einfach aus dem Autofenster flattern lässt, die sich mitten im Winter in der leeren Straßenbahn bis auf den BH auszieht – da hapert es einfach ganz grundsätzlich an der Greifbarkeit der Figur. Man kann über sie rätseln, aber man kann sie nicht verstehen.

Peter wirkt daneben schon menschlicher. Während Tanja weltfremd und absonderlich erscheint, nichts in ihrem Leben geregelt bekommt, wenn nicht einer ihrer Freunde für sie die Dinge in die Hand nimmt, steht Peter mit beiden Beinen auf dem Boden. Er steht schon ein bisschen zu sehr auf dem Boden der Tatsachen, denn irgendwo im Laufe seines bisherigen Lebens scheint ihm da etwas ganz Grundsätzliches verloren gegangen zu sein. Seine Grundeinstellung ist eine eher pessimistische, sein Selbstwertgefühl nicht der Rede wert und sein Alltag eher trostlos. Aber zumindest kann man ihn halbwegs verstehen.

Letztendlich ist der Gegensatz zwischen den Hauptfiguren einer, der Potenzial für eine spannungsreiche Liebesgeschichte bietet. Aber dieses Potenzial nutzt Kirsten Fuchs leider nicht so geschickt aus, wie man es tun könnte. Da die Sprache eine Distanz zum Leser schafft, die Figuren dadurch nicht mitzureißen wissen, kommt auch der spannungsreiche Kontrast zwischen den beiden Hauptfiguren nicht so stark zum Tragen. Schade eigentlich.

Da Kirsten Fuchs viel Gewicht auf sprachliche, sich verflüchtigende Effekte legt, kann auch die restliche Geschichte nicht so recht zünden. An manchen Stellen wirkt das Geschriebene geradezu belanglos (|“Erst ist Montag und dann ist Dienstag. Und welch ein Wunder, dann ist Mittwoch.“| S. 43, |“Die Mülltonnen stehen noch da, wo die Mülltonnen immer stehen.“| S.74). Teilweise ist es aber weniger das Beschriebene, was stört, sondern mehr die Art, wie es geschrieben ist.

Anstrengend umständlicher Satzbau und eine Grammatik, die manchmal zum Haareraufen ist. Dass man beispielsweise in einem Satz nach „brauchen“ den Infinitiv mit „zu“ bildet, scheint Kirsten Fuchs entweder nicht zu wissen oder kategorisch zu ignorieren. Vielleicht soll es auch nur die grammatikalische Unwissenheit ihrer Hauptfigur Tanja ausdrücken, wer weiß. Auch ansonsten stolpert man immer wieder über einen Satzbau, für den einem jeder Deutschlehrer die Ohren lang ziehen würde: |“Holger meinte, es sei billiger, ich würde die Rückfahrkarte in Prag kaufen, aber wenn das Geld alle ist, kann sein, es reicht nicht mehr für eine Rückfahrkarte.“| (S. 208) Und so wird das Buch mit zunehmender Seitenzahl stetig anstrengender und ermüdender und der Leser mit der Zeit ein wenig genervt. Die Lektüre von „Die Titanic und Herr Berg“ erfordert nicht nur Geduld, sondern auch Durchhaltevermögen.

Das Ganze gipfelt dann in einem Finale, das uns für all das mühsam aufgebrachte Durchhaltevermögen leider noch nicht einmal anständig entschädigt. Nachdem ich das Buch am Ende zugeschlagen hatte (und zumindest über diesen Umstand doch recht glücklich war), saß ich noch eine ganze Weile mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn da. Das Fragezeichen wich aber auch später keiner Erkenntnis.

Tanja beweist in dem Buch mehrfach, dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und eine ganz gute Lügnerin ist. Insofern wird leider auch nicht deutlich, welche Teile der finalen Handlung man nun ernst nehmen kann bzw. muss und welche nur ihrer Phantasie entsprungen sind. Tanja verabschiedet sich aus der Handlung, ohne auch nur einen Funken Sympathie erzeugt zu haben und ohne auch nur eine Winzigkeit verständlicher geworden zu sein. Und auch Peters Abgang bleibt seltsam diffus.

Alles in allem habe ich das Buch am Ende ziemlich enttäuscht aus der Hand gelegt. Nach einem recht vielversprechenden Start entwickelt sich Fuchs‘ Schreibstil zunehmend anstrengend und ermüdend. Die Figuren wissen nicht mitzureißen und bleiben dem Leser fremd und auch der Schluss lässt den Leser verwirrt und unzufrieden zurück. Ein Buch, das eine Handvoll schöner Momente aufweist, die einen zum Schmunzeln bringen, und das immer dann, wenn Kirsten Fuchs die Geschichte einfach mal ohne viel sprachliche Künstlichkeit laufen lässt, ganz ordentlich in Fluss kommt, aber über diese paar hellen Momente hinaus leider doch eher düster im Gedächtnis bleibt. Schade eigentlich, denn Potenzial wäre da gewesen.

Clive Barker – Das erste Buch des Blutes

Band 1 der „Bücher des Blutes“, mit denen Clive Barker in den frühen 1980er Jahren seinen Durchbruch als Verfasser phantastischer Geschichten und Romane erlebte: sechs Storys, einst bahnbrechend, noch heute bemerkenswert in ihrer Mischung aus virtuoser, atmosphärisch dichter Handlung und drastischem Nebeneinander von Sex & Splatter, aber unverdient darunter leidend, dass allzu viele Nachahmer den ‚Barker-Stil‘ aufgegriffen haben.  Clive Barker – Das erste Buch des Blutes weiterlesen

Herkle, Matthias – Wurmics – Born to be Worm

_Der Wurmzeichner:_

Matthias Herkle wurde am 24.11.1966 in Affaltrach geboren. Seine Liebe galt schon immer dem Zeichnen und Malen – Comics waren dabei seine absoluten Favoriten.

Nach einer Ausbildung zum Technischen Zeichner begann er zuerst nebenberuflich und kurze Zeit später hauptberuflich als Grafiker und Illustrator zu arbeiten. Nach mehreren Stationen ist er nun im Atelier einer Werbeagentur angestellt.

Matthias Herkle lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Neckarsulm-Dahenfeld. Am heimischen Esstisch entstehen neben vielen anderen Figuren und Motiven auch die Wurmics. Erste Gehversuche unternahmen die Comic-Strips mit den beiden Würmern Bodo und Willi in einem Heilbronner Stadtmagazin. Kurze Zeit später trieben sie in einem Würzburger Wochenblatt ihr Unwesen. Nach einer Ausstellung auf der Schweizer Comic-Messe Fumetto zum Thema Helden wurde ein zweiseitiges Phantomwurm-Abenteuer in einer Comic-Anthologie bei DasNorm veröffentlicht.

„Wurmics – Born to be Worm“ ist seine erste albumfüllende Arbeit.

_Die Charaktere:_

Die beiden skurillen Würmer Bodo und Willi treiben schon seit längerer Zeit in einem Heilbronner Stadtmagazin ihr Unwesen und haben auch in einem Würzburger Wochenblatt schon einige Gastauftritte gehabt. Jetzt hat Matthias Herkle seine bisherigen Wurm-Werke gesammelt und ihnen einen ganzen Band mit kurzen Comic-Strips gewidmet. „Born To Be Worm“, der Untertitel dieses Buches, scheint auch so ungefähr das Lebensmotto des Zeichners zu sein, denn die beiden tolpatschigen Würmer, einer mit einem schicken Zylinder, der andere mit einer tief sitzenden, schlappen Mütze, sind von Herkle sehr schön und mit viel Liebe gezeichnet worden und wirken im Kontrast zu den schlichten Hintergrund-Darstellungen auch sehr gut. Lediglich in manchen kleinen Bildern, in denen viele Details versteckt sind, kommen die schwarz-weißen Illustrationen an ihre Grenzen und werden undeutlich, was jedoch nicht besonders häufig vorkommt.

_Die Texte:_

Im Gegensatz zu den schlichten aber effektvollen Zeichnungen, sind die Texte aber ziemlich plump und bedienen sich in erster Linie bei abgedroschenen Phrasen, kaum mehr lustigen Witzen und oft erfolglosen Versuchen, bekannte Sprichwörter mit (dem hier fehlenden) Wortwitz auf das Leben eines Wurmes zu beziehen. In den meisten Fällen verpuffen die witzigen Zeichnungen daher auch schnell, weil die manchmal recht sinnleeren Dialoge mal wieder die Magie des kurzen Strips nehmen. Vielleicht sind es deswegen auch speziell die über mehrere Episoden verlaufenden Geschichten, die wirklich gelungen sind und auf zwei Drittel der übrigen der insgesamt 112 Mini-Storys einen deutlichen Schatten werfen.

_Das Gesamtbild:_

Was als kurze Aufheiterung in der Tageszeitung noch funktionieren mag, funktioniert in diesem Falle als Ansammlung solcher Miniatur-Comics nicht mehr, und das gerät „Wurmics“ auch zum deutlichen Nachteil, der schnell den Spaß an den coolen Wurm-Darstellungen raubt.

Schade eigentlich, aber die Motivation „ein Buch mit Phantasie“ herauszubringen, ist Matthias Herkle hier nur sehr bedingt gelungen. Wer trotzdem Interesse hat, der findet unter http://www.wurmics.de einen Song zum Download, Shirts und andere Sachen rund um das Wurm-Universum, bei denen dann vielleicht auch mehr Spaß herüberkommt als bei diesem Sammelband.

Petersen, Sandy / Willis, Lynn / Heller, Frank / Johanus, Marcus uvm. – CTHULHU Spieler-Handbuch

1.
|_CTHULHU_
sein obszöner, gigantischer Leib liegt im Todesschlaf begraben in der versunkenen Stadt R’lyeh, die nicht von Menschen errichtet wurde. Wenn die Sterne richtig stehen, wird _Cthulhu_ erwachen und die Welt, wie wir sie kennen, vernichten. Viele glauben, dass wir in den Zeiten der Apokalypse leben und dass der Zeitpunkt, an dem sich _Cthulhu_ erheben wird, nicht mehr fern ist … (Auszug aus dem Regelwerk)|

2. _Das CTHULU-Rollenspiel_ ermöglicht das Spielen eines Investigatoren des Unglaublichen in der Welt des Horrorgurus H. P. Lovecraft. Die Unterschiede zu unserer Welt bestehen darin, dass die Welt von Lovecraft voll verbotenen, okkulten Wissens und ausseridischen Schreckens steckt … Vorgesehen ist es, in den 1920ern zu spielen, allerdings ist es auch möglich, jede andere Zeitepoche zu wählen. Exemplarisch werden noch die 1890er und die heutige Zeit behandelt.

Im hier besprochenen „CTHULHU Spieler-Handbuch“ wird hauptsächlich auf die Regeln und die für Spieler relevanten Dinge wie Regeln, Charaktererschaffung und die Geistesstörungen eingegangen. Der Rest, der zum Spielen nötig ist, ist im „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“ enthalten. Das eine ist ohne das andere nur sehr bedingt zu gebrauchen, da die Monster, das geheime Wissen usw. nur im Spielleiter-Handbuch erörtert werden, die Regeln aber im Spieler-Handbuch.

Dieses Rollenspiel legt sehr viel Wert auf den Horror und seine Auswirkungen. Daraus ergibt sich, dass weniger kämpferische als literarische und wissenschaftliche Fertigkeiten im Vordergrund stehen. Das heißt, es geht um die Nutzung von okkultem Wissen und kosmischen Geheimnissen und nicht um Ballerei und sinnloses Bekämpfen mit sonstigen Waffen.

Der Geisteszustand der Protagonisten nimmt eine zentrale Stellung in diesem Spiel ein, da die Charaktere mit schrecklichen Enthüllungen umgehen müssen, die sich nicht so leicht verarbeiten lassen. Jeder, der sich schon mal mit Lovecraft’scher Literatur befasst hat, wird wissen, dass die Protagonisten häufig am Rande des Wahnsinns wandeln oder bereits über ihn hinaus sind.

3. _Aufmachung des Buchs_

Das Buch ist in einem edlen Hardcover im Stile der goldenen 20er erschienen. Die |Pegasus Spiele| GmbH, die die deutsche Ausgabe herausbringt, hat sehr viel Wert auf diesen Stil gelegt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich dies auch innerhalb des Buches fortsetzt.

Interessante Zeichnungen (vornehmlich von Monstern und okkulten Praktiken) wechseln sich mit zeitgenössischen Bildern aus den Zwanzigern ab. Neben Fotos von Charly Chaplin, Josephine Baker und Albert Einstein sind auch kurze Biographien von wichtigen Persönlichkeiten dieser Zeit vorhanden. So sind Roald Amundsen, Charles Lindbergh, Babe Ruth, Johnny Weißmüller, Henry Ford, Al Capone, Ernest Hemingway sowie Bonnie und Clyde eine kleine Auswahl selbiger. Das macht es ungemein kurzweilig, die Berufsliste zu lesen, die mit über 40 Seiten sehr ausführlich ist, da diese Persönlichkeiten als herausragendes Beispiel für den jeweiligen Beruf vorgestellt werden.

Auch der für CTHULHU so elementare Wahnsinn wird ausführlich behandelt. Speziell für das Thema Phobien gibt es eine Liste mit über fünfzig dieser Angstkrankheiten (der interessierte Leser möge bitte nachschlagen, was eine Gephydrophobie ist). Auch die Ausrüstungsliste mit den Autos und Waffen der 20er Jahre ist sehr interessant. Ebenso die Beschreibung der zeitgenössischen Kleidung und Verhaltensformen.

Als Zugabe ist zum Schluss auch noch ein Soloabenteuer namens „Schatten über Arkham“ enthalten.

4. _Regeln_

Ein Charakter bei CTHULHU definiert sich über neun Attribute (Stärke, Konstitution, Größe, Geschicklichkeit, Intelligenz, Bildung, Erscheinung, Mana und geistige Stabilität) und eine Vielzahl von verschiedenen Fertigkeiten.
Die Attribute haben für gewöhnlich einen Wert zwischen 3 und 21. Allerdings werden die meisten Proben eher auf die Fertigkeiten abgelegt, die mit einem Wert zwischen 1 % und 99 %
angegeben werden. Auf diese wird generell ein Prozentwurf (normal mit zwei zehnseitigen Würfeln) abgelegt. Je niedriger der Wurf, desto besser. Sollte es für manche Würfe keine passende Fertigkeit geben, wird vom Spielleiter ein passendes Attribut bestimmt und dieses mit einem Faktor X (je nach erwünschter Schwierigkeit zwischen 2 und 5) multipliziert und dann ein Prozentwurf darauf abgelegt. Auf den ersten Blick mag das ein wenig willkürlich erscheinen, allerdings gewährt diese Vorgehensweise dem Spielleiter auch eine gute Kontrolle über das Spielgeschehen.

Das wichtigste Attribut ist wohl die geistige Stabilität, die bestimmt, wie viele Geheimnisse und Horror ein Charakter aushält. Je weiter man in den CTHULHU-Mythos eindringt (repräsentiert durch die gleichnamige Fertigkeit) desto näher kommt man dem Wahnsinn.

Die Charaktererschaffung ist sehr individuell gestaltet, und eine Vielzahl von Tabellen geben massenhaft Anregungen für interessante Charakterkonzepte sowie deren Aussehen.

5. _Änderungen zum Vorgänger_

Die größte Änderung ist sicherlich die Aufteilung in ein Spieler- und ein Spielleiter-Handbuch.
Doch diese Trennung ist äußerst sinnvoll, da es beim Vorgänger oft so war, dass das Regelwerk vom Spielleiter unter Verschluss gehalten wurde, damit seine Spieler nicht darin herumschnüffelten. Dem ist jetzt vorgebeugt, da das „CTHULHU Spieler-Handbuch“ wirklich nur das enthält, was der Spieler wissen muss bzw. darf. wie zum Beispiel Regeln, Ausrüstung und natürlich die Charaktererschaffung. Dies sorgt wiederum dafür, dass die Spannung aufrechterhalten wird, da die Protagonisten nicht wissen, was sie erwartet.

Die sonstigen Änderungen liegen hauptsächlich im Unfang (mehr Berufe, mehr über das leben in Deutschland) und in der Änderung der Begrifflichkeiten durch bessere Übersetzung.

6. _Fazit_

CTHULHU ist ein äußerst interessantes Rollenspiel, stellt aber an die Teilnehmer hohe Ansprüche. Daher ist es nicht für rollenspielerische Anfänger geeignet, da ich das gekonnte Ausspielen des Horrors und vor allem das des Wahnsinns für zu schwierig halte und die Gefahr sehe, dabei ungewollt ins Lächerliche abzudriften. Erfahrenen Rollenspielern kann ich dieses Spiel allerdings unbesorgt empfehlen. Wer Wert auf gepflegtes, stimmungsvolles Horrorrollenspiel legt, ist hier gerade richtig.

Das verwendete System ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber durchaus einfach und realitätsnah.

Für die angehende Spielrunde noch ein Tipp: Holt euch einige von Lovecrafts Werken, da die CTHULHU-Stimmung so am leichtesten zu erzeugen ist, wenn die Spieler bereits mit ihr vertraut sind. Ich zum Beispiel hab mir einen Sammelband zu Gemüte geführt und muss sagen, dass er mir beim Verständnis des Spiels und dessen Atmosphäre sehr weiter geholfen hat.

http://www.pegasus-spiele.de/cthulhu.html

|H. P. Lovecraft & Co. bei Buchwurm.info:|

[Der Cthulhu-Mythos 524 (Hörbuch)
[Cthulhu: Geistergeschichten 1421
[Das Ding auf der Schwelle & Die Ratten im Gemäuer 589 (Hörbuch)
[Der Fall Charles Dexter Ward 897
[H. P. Lovecraft – Eine Biographie 345
[Hüter der Pforten 235
[Die Katzen von Uthar und andere Erzählungen 1368
[Berge des Wahnsinns 72
[Necrophobia 1 1103 (Hörbuch)
[Necrophobia 2 1073
[Die Saat des Cthulhu 1231
[Schatten über Innsmouth 506
[Der Schatten über Innsmouth 424 (Hörbuch)
[Spur der Schatten 1389

Leaf, David / Sharp, Ken – KISS demaskiert: Die offizielle Biographie

Biographien über KISS gibt es ja massig, man denke nur an den überteuerten Mega-Schinken „Kisstory“. Doch eine offizielle Biographie in deutscher Sprache hat es in den über 30 Jahren der Existenz dieser Band noch nicht gegeben – bis heute. David Leaf und Ken Sharp haben nun endlich nach langen Jahren einen Traum Wirklichkeit werden lassen und eines der ausführlichsten und wohl zweifelsohne besten Biographie-Werke im Bereich der Rockmusik erstellt, bei dem die beiden Autoren auf wirklich kein einziges Detail verzichten. Mit anderen Worten: Das ist wirklich die komplette Geschichte eines der größten Phänomene des gesamten Musikbusiness.

Eigentlich besteht die Idee zu diesem Buch auch schon seit nunmehr 25 Jahren, denn damals wurde David Leaf dazu beuaftragt, sich in Gesprächen mit den einzelnen Bandmitgliedern von KISS die Geschichte dieser Gruppe erzählen zu lassen. 1979 reiste Leaf daher nach Los Angeles und traf zum ersten und einzigen Mal das legendäre, maskierte Quintett und sah eine ihrer Shows. In penibler Feinarbeit würfelte er die einzelnen Storys zusammen, erstellte ein erstes Manuskript und musste ein Jahr später erfahren, dass das Buch es nicht auf den Markt schaffen würde. Die Gründe hierfür verschweigt Leaf auch heute noch, aber Fakt war und ist, dass die Stapel an Papier für lange Zeit beiseite gelegt wurden und die Biographie aus dem Gedächtnis von David Leaf verschwand.

Eines Tages traf er jedoch dann Ken Sharp, der die Manuskripte las und David dazu ermutigte, dieses Projekt doch noch zu realisieren. Das jetzt vorliegende Gesamtwerk entstand im Folgenden in einer Zusammenarbeit von Leaf, der das erste Drittel der Geschichte sehr ausführlich beleuchtet, und Sharp, der schließlich die jüngere Geschichte von KISS erzählt und dabei vor allem die Reunionspläne und ihre Durchführung schildert.

So bekommt der Leser wirklich einen ausführlichen Komplettabriss der Historie von der ersten Sekunde an bis heute vorgelegt, bei dem auch zahlreiche prominente Musiker zu Wort kommen, sowohl Liebhaber als auch Verächter. Dabei reicht die Spanne der Aussagen von Lobhuldigungen bis hin zu Anschuldigungen, aber allesamt legen sie deutlich dar, welchen Stellenwert KISS während ihrer Hochphase hatten. Sharp und Leaf haben diese Zitate aber auch wunderbar in ihre Storys eingewoben, lassen sie mitten in Interviews hineinplatzen und schaffen es so, dass die Ereignisse immer sehr schön im Zusammenhang bleiben.

„KISS demaskiert: Die offizielle Biographie“ läuft aber dennoch nicht ganz chronlogisch ab, denn zwischen den Schilderungen der wichtigsten Eckpunkte zeichnet David Leaf anfangs noch sehr umfassende Portaits der einzelnen Musiker. In weiteren Kapiteln schildert Leaf den Weg zum Erfolg und den schnellen Sturm an die Spitze, wirft die Diskussion über das zwiespältig aufgenommene „The Elders“-Album noch mal auf, beschreibt das Karrierehighlight „Alive!“ und den anschließenden Abstieg bis hin zur Phase, in der KISS ihre Masken ablegten. Dieser Teil ist insgesamt auch der interessanteste und erhält demzufolge auch mit über hundert Seiten den größten Raum im Buch. Die darauf folgenden Beschreibungen der „Creatures Of The Night“-Phase und die demaskierte Phase in der neuen Besetzung werden hingegen recht kurz abgehandelt, sprich, das von manchen Fans gar nicht erst akzeptierte Stück der KISS-Geschichte spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Von da an, wo KISS sich aber auf dem USS Intrepid Aircraft Carrier zu einer spektakulären Pressekonferenz zusammenraufen und die Reunion ankündigen, geht Sharp wieder mehr ins Detail und erklärt die Maschinerie, die hinter dem „Psycho Circus“ und der sich dahinter befindenden Tour steht.

Nach 200 überaus informativen Seiten ist die eigentliche Gechichte dann bearbeitet, und selbst Insider werden in dieser Zeit Informationen entdeckt haben, von denen sie bislang noch nichts wussten. Das Buch geht aber noch weiter, denn im letzten Drittel folgt dann der Abschnitt, der wohl eher den fanatischsten Fans vorbehalten ist. Hier geben Musiker, Bekannte, Manager, Kollegen und Pressevertreter Stimmen zu allen bisher veröffentlichten Songs ab, erzählen etwas zur Entstehungsgeschichte und zur Rolle, die die jeweiligen Kompositionen gespielt haben. Auch hier steckt eine ganze Menge Liebe zum Detail hinter der Arbeit von Ken Sharp, und man bekommt den Eindruck, dass die beiden Autoren wirklich jede einzelne Information in einem Text verarbeitet haben.

Nicht nur für KISS-Fans ist dieses Buch daher unabdinglich; eine solch ausführliche, superb inszenierte und mit derart vielen Originalkommentaren ausgestattete Biographie habe ich bislang noch nirgends gesehen oder gelesen, und zu dieser Leistung kann man den beiden Männern hinter „KISS demaskiert: Die offizielle Biographie“ nur gratulieren. Es scheint eine höhere Macht dahintergesteckt zu haben, dass David Leaf und Ken Sharp sich eines Tages begegneten und eine ganz besondere Leidenschaft teilten, so dass dieses Buchprojekt tatsächlich noch realisiert werden konnte. Ich bin schlichteg überwältigt und empfehle dieses Buch ohne jegliche Einschränkung weiter!

Heitz, Markus – Trügerischer Friede (Ulldart – Zeit des Neuen 1)

Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass Markus Heitz in den letzten Jahren der Shooting-Star der deutschen Fantasy gewesen ist. Er schrieb sich mit seinem Ulldart-Zyklus und den Abenteuern um „Die Zwerge“ in das Herz seiner Leser.
So sind Fortsetzungen einfach ein Muss. Nicht nur der dritte Band seiner „Zwergen“-Saga wird im Winter 2005 erscheinen, nun liegt auch der Auftakt seiner Fortsetzung der „Ulldart“-Saga vor.

Die Handlung des Buches beginnt nur wenige Wochen nach den in die „Quellen des Bösen“ geschilderten Ereignissen. Mortva Nesreca und Govan konnten besiegt, die Rückkehr des finsteren Gottes Tzulan verhindert werden. Die Völker Ulldarts sind wieder frei von der Knute der tarpolschen Dynastie und kehren in ihr gewohntes Leben zurück. Wo Städte und Länder in Trümmern liegen, beginnen die Menschen den Wiederaufbau.

Diejenigen, die sie knechteten, sind verschwunden oder tot, die neuen Herrscher versprechen eine Zeit des Friedens, der Freiheit und des Glücks. Alles Dunkle scheint vertrieben zu sein und ein neuer Friede die Hoffnung der Menschen zu schüren.

Selbst Lodrik, der das ganze Unheil verursachte und sich am Ende auf die Seite der Befreier stellte, ist nur noch ein blasser Schatten, der sich immer tiefer in die Welt der Toten verliert und von seiner Leidenschaft zur Nekromantie gefangen nehmen lässt. So gut er kann, unterstützt er seine Frau Norina, die die Herrschaft über Tarpol übernommen hat, und beobachtet wohlwollend seine Söhne, die auf Ulldart geblieben sind, der eine als Prinz, der andere als Ritter im Orden der Schwerter. Nur sein Liebling, Lorin, ist auf den Kontinent zurückgekehrt, auf dem er aufwuchs, um sich dort um die Probleme zu kümmern, die er zurückgelassen hatte.

Doch der Friede ist trügerisch.

Einerseits gibt es noch immer Kämpfe mit den menschlichen Dienern Tzulans zu Land und zu Wasser, andererseits sind noch längst nicht alle Spuren der dunklen Herrschaft geborgen und vernichtet worden. Finsteren Artefakten und Monstern müssen sich die Helden in tapferen Kämpfen stellen. Doch das sind nur die offensichtlichen Gefahren.

Im Verborgenen arbeitet Aljascha an ihrer Rache an Lodrik und versucht sich neue Macht zu schaffen. Sie ist nicht allein. An ihrer Seite wächst rasend schnell der von Mortva Nesreca gezeugte Sohn heran und zeigt vielversprechende Anlagen. Bald schon muss Lodrik erkennen, dass er nicht der Einzige ist, der sich auf Totenmagie versteht und seine Ränke in den Schatten spinnt. Er hat eine ernst zu nehmende Gegnerin bekommen, die mehr weiß als er. Nicht zuletzt tauchen Fremde auf, die die Kensustrianer als Verräter bezeichnen und ihre Auslöschung fordern. Die dunkle Zeit ist also noch nicht vorüber …

Ohne seinen Helden Ruhe zu gönnen, setzt Markus Heitz die Abenteuer auf Ulldart so logisch fort, wie man es erwarten konnte. Weder die Schatten Tzulans noch die überlebenden Gegenspieler haben aufgegeben, und um das alles noch ein wenig zu würzen und den Kämpfen wieder eine größere Dimension zu verleihen, gibt es zum Ende des Buches hin noch eine weitere Gefahr, die vom Meer heraufzieht und für einigen Ärger sorgen wird.

Gewohnt routiniert spult der Autor seine überwiegend actiongeladenen Szenen in sechs bis acht Handlungsebenen ab. Man erfährt, was Lorin in seiner Wahlheimat anstellt, wie Lodrik durch die Gegend schleicht und Norinas Versuchen zu regieren zuschaut, oder beobachtet auch Aljasha in ihrem Exil. Die meisten der alten Hauptfiguren werden mit Szenen bedacht, einzig Waljakow und Storko, die ehemaligen Erzieher Lodriks, scheinen wie vom Erdboden verschluckt.
Interessanterweise scheint kaum eine der Figuren aus ihren bitteren Erfahrungen gelernt zu haben. Weder hat es Aljasha aufgegeben, sich Sorgen um ihre Schönheit zu machen und sich Männer ins Bett zu holen, noch hat Lodrik seine jugendliche Naivität verloren und ist ganz verwundert, dass für seine Norina die Überraschung, die er ihr bereitet, keine ist, sondern eher das Gegenteil. Dadurch wirkt er eher wie ein Hobby-Nekromant, der mit seinen Kräften gerne herumspielt, aber nicht die Verantwortung sehen will, die er eigentlich trägt. Magie ist, wie auch die – überraschenderweise in den Hintergrund getretenen – neuartigen Waffen es sind, Mittel zum Zweck.

Die Charaktere – egal ob altvertraut oder neu eingeführt – sind immer noch auf wenige Charakterzüge reduziert und haben sich kaum oder nur oberflächlich weiterentwickelt.

Mit Frauenfiguren hat Markus Heitz weiterhin seine Probleme, zum eigensüchtigen und sexbesessenen Luder Aljasha, dem blassen Weibchen Norina, das vor Bescheidenheit nur so strotzt, und der geschlechtslosen Magierin Sosha ist nur noch eine kalte grausame Hexe gekommen, die für ihre Macht teuer bezahlt hat.

Die Handlung des Romans ist zwar rasant und actionreich, allerdings lässt sich mittlerweile auch eine gewisse Routine im Stil des Autors nicht abstreiten; Teile des Buches lesen sich wie eine Fantasy-Nummern-Revue, deren Inhalte man irgendwo genau so bereits gelesen hat, entweder bei ihm selber oder bei anderen.

Man merkt, dass Markus Heitz sich vor allem an sein Zielpublikum aus dem Rollenspiel- oder Games-Bereich richtet, das die klassische Figurenzusammensetzung, das vertraute Setting in einer pseudomittelalterlichen Welt und die traditionellen Geschehnisse wiedererkennen wird, das vordergründige Action liebt, in der es kracht und zischt, und das letztendlich mit leisen Andeutungen, undurchschaubaren Grauzonen oder tiefgründigen Charakterentwicklungen nicht so viel anfangen kann.

Was bleibt, ist ein gefällig geschriebener Roman ohne wirkliche Höhen und Tiefen, der den derzeitigen Massengeschmack zufrieden stellt, aber für ältere und erfahrenere Leser nichts Besonderes bietet.

„Trügerischer Friede“ ist zwar der Auftakt eines neuen Zyklus, doch sollte man für wirklichen Lesegenuss auch die vorhergehenden sechs Bände kennen, da Markus Heitz darauf verzichtet, die altbekannten Helden und Ereignisse noch einmal ausführlich vorzustellen. Das Ende bleibt leider weitestgehend offen – Fortsetzung folgt.

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Adamczak, Bini – Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird

Während die Buchhändlerin auf die Kasse eintippt, weiß ich nicht so recht, was ich mit dem kostenlosen Lesezeichen anfangen soll. Neugierig wende ich den kleinen Streifen Papier hin und her. Auf einer Seite springt mir eine Karikatur ins Auge: eine Frauenfigur in einem Arbeitskittel. Sie hebt die rechte Hand zur Faust und stützt die linke in die Hüfte. Darunter steht das Wort »Kommunismus«. Arbeiter aller Länder, vereinigt euch! Es lebe die Revolution!

Das Lesezeichen mit der Figur ist ein Werbemittel aus dem |Unrast|-Verlag. In dem sozial motivierten und gesellschaftskritischen Verlagsprogramm findet sich schnell das entsprechende Buch. Auf dem Cover des Bändchens erkenne ich die trotzige Frauenfigur wieder. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und blättere los.

Die ersten zwei Drittel lesen sich wie im Flug. In kurzen Abschnitten führt Adamczak in die Kritik der politischen Ökonomie ein, erklärt dabei, was Arbeit ist, was der Markt und was eine Krise. Marx für Anfänger. Dabei klingen die Worte so, als wären sie für ein neugieriges Kind bestimmt. Ganz klar, ganz einfach, ohne Schnörkel. Ich fühle mich wie bei der »Sendung mit der Maus« und stelle fest, dass mich diese Textform amüsiert. Schriften über den Kommunismus gelten doch gemeinhin als staubtrocken oder ideologisch verseucht. Das letzte Drittel liefert dann den notwendigen ernsthaften Ansatz, in dem sich Adamczaks eigentliches Anliegen verbirgt. Ein bisschen Ideologie muss dann doch sein. Sie stellt fest, dass die Zeiten, in denen der Kommunismus als alternatives Gesellschaftssystem diskutiert wurde, vorbei sind. Die Intellektuellen sind frustriert, der Kapitalismus hat gewonnen. Und nun?

Neben dem Anspruch des Kommunismus, ein zum Kapitalismus alternatives Gesellschaftssystem zu entwerfen, wird leicht vergessen, dass der Kommunismus dem Kapitalismus entspringt – und zwar als dessen kritischer Gegenentwurf. Diese Kritik verändert sich gemeinsam mit dem Kapitalismus und darf nicht einschlafen. Kommunist zu sein, ist anachronistisch. Stattdessen gilt es, sich kritisch mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen. Das kapitalistische System ist schließlich noch immer nicht gerecht und daher kritikwürdig. Ungerechtigkeiten aufzeigen, erklären und über alternative Lösungen nachdenken – das ist ein hehrer Weg in die Zukunft. Adamczaks Buch appelliert an den Leser, nicht wegzuschauen und zu schweigen, wenn durch eine allzu freie Marktwirtschaft Not und Elend entstehen. Adamczak wünscht sich mehr Diskussion und Offenheit im Umgang mit gesellschaftskritischen Fragen.

Adamczaks Anspruch in allen Ehren, aber im Grunde führt sie den Begriff des Kommunismus ad absurdum. Ihr Bemühen, das politisch vorbelastete Wort auf eine neue Bahn zu lenken, schlägt fehlt. Ihr Text entspringt dem so genannten »Trauma 89«, das intellektuelle Bücherstuben heimgesucht hat. Sie wünscht sich eine regere Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, keine Stagnation und kein sehnsüchtiges Revolutionsgehabe. So weit, so gut. Doch die Autorin scheitert an einem Spagat. Auf der einen Seite beerdigt sie den Kommunismus von gestern, auf der anderen Seite spielt sie Geburtshelfer des Kommunismus von morgen. So verfängt sie sich manchmal in der einen, manchmal in der anderen Argumentationslinie. Warum macht sie es sich eigentlich so schwer und schleppt das politisch vorbelastete Wort »Kommunismus« mit sich herum? Eigentlich geht es ihr doch um etwas anderes.

Ich lege das Buch zur Seite und wende wieder das Lesezeichen zwischen meinen Fingern. Die Frauenfigur darauf blickt mir jetzt mit anderen Augen entgegen. Die kleine Arbeiterin erscheint nun eher verträumt und hoffnungsvoll, weniger kämpferisch und revolutionär. Wahrscheinlich wünscht sie sich eine gerechtere Welt für alle. Um solch eine Welt möglich zu machen, beginnt sie zu erklären, was genau ungerecht ist und welche Ursachen es dafür gibt. Sie argumentiert auf der Grundlage von Marx. Sie möchte die Welt verbessern. Aber eine Kommunistin – das ist sie nicht.

Hyung, Min-Woo – Priest – Band 5

[Band 1 1704
[Band 2 1705
[Band 3 1707
[Band 4 1709

Die Geschichte geht weiter, und sie geht vor allem noch weiter in die Tiefe, denn nachdem Min-Woo Hyung im vierten Band bereits nähere Auskünfte über die Vergangenheit von Ivan Isaacs gegeben hat, gräbt er nun im Vermächtnis des gefallenen Erzengels Temozarela und erzählt bzw. illustriert, wie er wieder zum Leben erweckt wurde. Interessant ist hierbei, dass der Autor die ganze Geschichte aus der Sicht des Priesters Vater Simon aufzieht, der seinerseits im Tagebuch von Ivan Isaacs herumstöbert und dort dessen Berichte über Temozarela und seine Wiedergeburt aufschnappt. Es handelt sich quasi um eine Geschichte in einer Geschichte, die wiederum Part der eigentlichen Handlung ist. Klingt kompliziert, ist aber im Endeffekt doch sehr simpel.

_Story:_

Einst war der Kreuzritter Vascar de Guillon bereit, sein Leben für den Glauben zu opfern. In unzähligen Schlachten bewies er sich als Verfechter des christlichen Glaubens und kämpfte erfolgreich gegen das durch die Ketzer hervorgerufene Leid. Als eines Tage seine Frau an einer gefährlichen Krankheit laboriert, schlägt de Guillons Mission in puren Hass um. Er glaubt, dass der Teufel durch seine Untertanen, die Ketzer, für die Krankheit von Marianne verantwortlich ist, und von diesem Tag an kämpft er nicht mehr für seinen Glauben, er mordet im Namen Gottes – bis zu dem Tag, als seine Frau im Namen der Kirche bei lebendigem Leib verbrannt wird. Vascar vergisst sämtliche ihm auferlegte Dogmen, und sein Zorn ist so unermesslich, dass er mit dem Erzengel Temozarela einen teuflischen Pakt schließt, der ihn von den Fesseln der christlichen Glaubensgemeinschaft befreien soll …

Die Geschichte von Temozarela bzw. Vascar de Guillon ist faszinierend und nochmals eine Steigerung zu den Erzählungen über Ivan Isaacs. Ganz klar hat die Story von „Priest“ im fünften Band ihren bisherigen Höhepunkt erreicht, und zunehmend versteht man die Motivation der beiden vorläufigen Hauptcharaktere Temozarela und Isaacs, den geschürten Hass dem jeweils anderen gegenüber in einem erbitterten Kampf zu entfesseln.

Besonders überzeugend hat Min-Woo Hyung hierbei die Dramatik im Leben des Vascar de Guillon dargestellt, einem Mann, der für seinen Glauben alles getan hätte, der sich aber letztendlich von seiner Kirche im Stich gelassen und betrogen fühlt. Anders als bei so vielen Mangas hat sich der Autor hier genügend Zeit gelassen (immerhin ein ganzes Buch), um das Herausbilden des Hasses, die sehr emotionale Story und das tragische Schicksal dieses Menschen zu schildern, und das tut der ganzen Handlung wirklich sehr gut.

Andererseits knistert die Spannung im Hintergrund weiter, denn irgendwann – das weiß man nun bereits – wird Hyung die ganzen Fakten zusammenfügen müssen, und auf diesen Moment bin ich jetzt schon sehr gespannt. Leider sind bislang nur die bis dato besprochenen fünf Bände erhältlich (Band sechs kommt in Kürze), was die Wartezeit natürlich nicht gerade einfach macht. Aber der bisherige Verlauf ist schlicht und einfach genial illustriert worden, weshalb ich noch einmal betonen möchte, dass man „Priest“ auf jeden Fall gelesen haben sollte!

Rebecca Gablé – Die Hüter der Rose

„Die Hüter der Rose“ ist der fünfte historische Roman der deutschen Bestsellerautorin Rebecca Gablé (* 25.09.1964), die sich mit dem Roman „Das Lächeln der Fortuna“ und ihren weiteren historischen Werke einen Namen gemacht hat. Sie studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Bankkauffrau Anglistik und Germanistik mit Schwerpunkt auf Mediävistik, wobei ihr besonderes Interesse offenkundig den englischen Königshäusern galt. Denn um das Haus Lancaster und die von ihr erfundene Familie des Robin of Waringham, der ihren Fans bereits aus „Das Lächeln der Fortuna“ bekannt ist, dreht sich in dieser direkten Fortsetzung der Familiengeschichte der Waringhams alles.

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Festa, Frank (Hg.) – Necrophobia – Meister der Angst

Diese Buchbesprechung könnte sich der Rezensent sehr einfach machen. Zwanzig Horrorgeschichten präsentiert uns Herausgeber Festa. Es gibt kein Thema („Spukende Friedhofskaninchen“, „Zombie-Verschwörer aus dem Vatikan“ o. ä.), unter das diese Storys gestellt wurden. Auch eine chronologische Reihenfolge fehlt; „Necrophobia“ deckt etwa ein Jahrhundert phantastischer Kurzliteratur ab. Der Kitt, der diese Erzählungen zusammenhält, ist laut Frank Festa allein ihr Unterhaltungswert. Auf eine Vorstellung der einzelnen Geschichten wird an dieser Stelle deshalb verzichtet; sie wäre wenig sinnvoll und würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Den Puristen, der seinen Lesestoff systematisch gegliedert vorzieht, mag die scheinbare Beliebigkeit stören, doch wieso eigentlich? Das eigentlich Verblüffende an „Necrophobia“ ist die reine Existenz dieser Sammlung. Es ist schon eine Weile her, dass Kollektionen wie diese regelmäßig erschienen. Ihr „Sinn“ besteht darin, dem Freund des Phantastischen im Guten wie im Schlechten das Spektrum „seines“ Genres vor Augen zu führen. Die jüngere Generation von Horrorfreunden (und –freundinnen) ist weitgehend in einer Monokultur aufgewachsen. King, Koontz, Hohlbein, Rice – das soll angeblich moderner Horror sein.

Von den alten Meistern ganz zu schweigen. H. P. Lovecraft ist noch präsent, aber William Hope Hodgson, der Verfasser grandioser Seespuk-Storys? Oder Clark Ashton Smith? Wer weiß, dass Bram Stoker nicht nur „Dracula“, sondern auch ausgezeichnete Kurzgeschichten geschrieben hat? Oder ein Gustav Meyrink zumindest symbolisiert, dass es auch in Deutschland eine echte Geschichte klassischer Gruselliteratur gibt?

Zugegeben: Objektiv ist die Auswahl natürlich nicht. Guter Horror entsteht seit jeher nicht nur im angelsächsischen Sprachraum. Die im |Festa|-Verlag veröffentlichten Autoren dominieren auch „Necrophobia“. Aber würden ohne besagten Verlag Namen wie Richard Laymon, Jeffrey Thomas oder Brian Lumley hierzulande überhaupt einen Klang besitzen? Diese und andere |Festa|-Hausautoren weiten das Feld der Phantastik für die deutschen Leser. Das zählt stärker als jeder potenzielle „Vorwurf“ einer selektierenden Eigenwerbung.

Zumal „Necrophobia“ auch haptisch ein echtes Geschenk an sein Publikum ist. Mehr als 400 eng bedruckte Seiten für weniger als 10 Euro – das ist ein echtes Schnäppchen in der heutigen Hochpreis-Ära. Die Übersetzungen lesen sich flüssig, das Cover macht neugierig. Nein, auch hier gibt es keinen Grund zur Klage.

Was die Kriterien der Auswahl angeht, so ließe sich natürlich ausgiebig diskutieren. Storys wie „Die Stimme in der Nacht“ (W. H. Hodgson), „Pickmans Modell“ (H. P. Lovecraft), „Die Rückkehr des Hexers“ (C. A. Smith) oder „Die Squaw“ (B. Stoker) gelten mit Recht als zeitlose, bewährte Meisterstücke des Genres. Sie sind es wert, wieder einmal gedruckt und vor dem Vergessen bewahrt zu werden.

Die modernen Gruselgarne müssen sich ihre Sporen noch verdienen. Seien wir ehrlich: Den meisten wird es kaum gelingen. Das Zeug zum echten Klassiker haben u. a.
– „Summertime“ (S. P. Somtow mit einer wirklich üblen Story über ein psychopathisches Vater-Sohn-Serienmördergespann);
– „Der Mann, der Clive Barker sammelte“ (K. Newman mit einer schwarzhumorigen Satire auf Bücherfreunde, die ihr Hobby allzu ernst nehmen);
– „Puppen“ (R. Campbell mit einer Geschichte, die von einer Hexen- und Hexerschar in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erzählt; selten wird die übliche Differenzierung zwischen Christentum = „gut“ und Teufelsglaube = „böse“ so überzeugend in Frage gestellt).

Ansonsten regiert das Mittelmaß, was hier keineswegs als Abwertung zu verstehen ist: Michael Marshall Smith, Brian McNaughton oder Graham Masterton sind einfach viel zu gute Horror-Handwerker, als dass ihre Storys den eigentlichen Zweck zu unterhalten nicht erfüllen könnten. Es ist zum Weinen, mit welcher Leichtigkeit die vorgestellten Autoren die deutschen Grusel-„Schriftsteller“ sogar dann deklassieren, wenn es „nur“ um das Abspulen eines ganz einfach gestrickten Gruselgarns geht. „Trentino Kid“ (J. Ford mit einer wunderbaren Spuk-auf-See-Geschichte), „Schluck die üble Saat“ (S. Clark variiert das uralte Thema des unausweichlichen Fluchs) oder „Die Hütte im Wald“ (R. Laymon mit einer richtig guten und unaufdringlichen Hommage an H. P. Lovecraft) seien als Lesetipps hervorgehoben. Aber auch Brian Lumley („Die dünnen Leute von Barrows Hill“) kann überraschen: Wenn er sich nicht gerade als zweitklassiger Lovecraft-Imitator („Titus-Crow“-Reihe) versucht oder als „Totenhorcher“-Fließbandautor tätig ist, bringt der Mann wirklich Lesbares zustande! Das gilt auch für Paul Busson, der die kürzeste Story dieser Sammlung („Rettungslos“) schrieb und uns mit seiner 1903 (!) entstandenen Schauermär vom lebendig Begrabenen und einem wirklich haarsträubenden Schlussgag in Angst & Schrecken versetzt.

Selbst Fehlschläge wie „In der letzten Reihe“ (B. Lumley versucht uns einen Uralt-Schlussschock anzudrehen, den noch der dümmste Leser bereits nach wenigen Absätzen erahnt), „Von Heiligen und Mördern“ (B. Hodge – lang & langweilig) und vor allem „Eine Halloween-Überraschung“ (F. Paul Wilson mit einem ganz legitim auf Ekel und Provokation setzenden, doch lächerlichen Machwerk; wie man Kotzgrusel richtig inszeniert, zeigt G. Masterton mit „Ein gefundenes Fressen“, seiner boshaft witzigen Story vom besessenen Hausschwein) ändern nichts am positiven Eindruck von „Necrophobia“. Es ist wirklich für jede/n etwas dabei – und die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.

„Necrophobia“ – das ist übrigens nicht nur diese Sammlung von Kurzgeschichten, sondern auch der Titel einer Hörbuch-Reihe aus dem Hause |Festa|. Einige der nun gedruckt vorliegenden Storys gibt es – neben anderen – auch professionell vorgelesen auf zwei Doppel-CDs. Viel Potenzial also für eine Fortsetzung des „Necrophobia“-Projekts – als Hör- und Lesebuch.

Die Hörbücher:
[Necrophobia 1 1103
[Necrophobia 2 1073

Charles Stross – Supernova

„Supernova“ ist der Titel der direkten Fortsetzung von Charles Stross‘ Debütroman „Singularität“. Der Planet Moskau liegt mit Neu-Dresden in einem wirtschaftlichen Konflikt. Anscheinend steckt Neu-Dresden hinter der Attacke, die die Sonne Moskaus in eine Supernova verwandelt und ein Volk auslöscht. Eine etwas brachiale Methode der Konfliktlösung, möchte man meinen. Und natürlich streitet Dresden alles ab, sieht sich sogar selbst als Ziel des Rückschlags: Planetenbomber liegen unsichtbar auf Kurs.

Aus „Singularität“ ist bekannt, was eine „Verbotene Waffe“ ist: Kausalitätsverletzende Tätigkeiten, darunter fallen auch Waffen, können der Wesenheit „Eschaton“ gefährlich werden, sogar seine Existenz gefährden. Es ist also sein höchstes Bestreben, derartige Fälle zu verhindern; dabei greift es bei Bedarf auch hart, aber auf gewisse Weise humorvoll durch. Seit der Singularität, dem Entstehen des Eschaton, steht die Menschheit unter dessen Geboten, jegliche Kausalitätsverletzung zu unterlassen.

Nun beginnt „Supernova“ mit einer ebensolchen, hervorgerufen durch eine Verbotene Waffe. Ein Sonnensystem wird zerstört, ein bevölkerter Planet verdampft. Das wirft sofort die Frage auf, warum das Eschaton nicht eingegriffen hat?!

Versammlungsort: Weltraum
Wednesday Child

Wednesday, ein etwa neunzehnjähriges Mädchen, wird in den Fall verwickelt. Seit früher Kindheit steht sie mit Hermann, dem uns bekannten „Agenten“ des Eschaton, in Verbindung. Hermann brachte sie dazu, die verschiedenen Fertigkeiten der Spionage zu erlernen, so dass sie die dem Moskausystem vorgelagerte Raumstation, ihre Heimat, kennt wie unsereins den Inhalt seines Kühlschranks. Bei der Zwangsräumung der Station als Folge der Supernovabedrohung stößt Wednesday mit Hermanns Hilfe auf geheime Unterlagen, die brisante Informationen über die Schuldigen an der Katastrophe enthalten. Nun steht sie selbst im Fadenkreuz der Täter. Sie flüchtet über ein Luxusraumschiff, von Hermann mit den finanziellen Mitteln ausgestattet.

Die Übermenschen

Es existiert eine Organisation, die sich selbst als „Übermenschen“ bezeichnet. Ihre Mitglieder werden militärisch höchst effizient ausgebildet, ihre Fähigkeiten über Implantate verstärkt und ihre Emotionen kontrolliert. Ziel der Übermenschen ist es, das Eschaton zu vernichten und einen eigenen Gott zu entwickeln, in den der Geist aller verstorbenen Menschen zu seiner Entwicklung eingehen soll. Zu diesem Zweck sammeln die Übermenschen mit einer geheimen Technik Geistesinhalte ihrer Mitglieder, sobald diese gegen Vorschriften verstoßen – eine geeignete Kontrolle. Diese Tätigkeit sowie ihre hinterhältigen Eroberungsfeldzüge sind allgemein unbekannt, so dass sie weitgehend ungestört arbeiten können und der Allgemeinheit höchstens unheimlich sind.
Planetenregierungen übernehmen sie, indem sie die Mitglieder in Marionetten verwandeln, zu einer Volksrevolution treiben und sich schließlich als Hilfe anbieten, so dass sie ganz „legal“ an die diktatorische Macht kommen. Dass es daraus resultierende „Erziehungslager“ gibt, in denen brutal gewirtschaftet wird, ist weitgehend unbekannt.

An Bord des Luxusraumschiffs befindet sich eine kleine Gruppe der Übermenschen, die eine als Jugendfahrt getarnte Rundreise über jene Planeten unternehmen, auf denen Exminister der Moskauer Regierung sind, die über eine ultimative Vergeltungswaffe – die Planetenbomber – verfügen. Merkwürdigerweise gibt es unerklärliche Mordfälle an diesen Ministern, die zeitlich mit der Anwesenheit des Luxusschiffes zusammenfallen.

Die UN

Auf dem Schiff befindet sich auch die Geheimdienstlerin der Vereinten Nationen Rachel Mansour, die letztens den Konflikt in der Neuen Republik (vgl. „Singularität“) klärte, mit ihrem Mann Martin Springfield, der in selbigem Fall als Agent des Eschaton arbeitete (sein Verbindungsmann war ebenfalls Hermann, der sich jetzt um Wednesday kümmert). Sie sollen versuchen, die Mordserie aufzuklären und weitere Morde zu verhindern, um die Planetenbomber nicht in fremde Hände fallen zu lassen und sie von ihrem jetzigen Vergeltungsschlag gegen Neu-Dresden abzubringen.

Konfliktlösung

Stross befleißigt sich einer klareren Ausdrucksweise als im Vorgänger, so dass sich der Übersetzer weniger mit langen Anmerkungen zu arbeiten genötigt sah. Dadurch wird zumindest eine höhere Lesbarkeit erreicht und gleichzeitig das Augenmerk des Lesers auf den Inhalt gerichtet, wohin es gehört (das ist vielleicht der Unterschied zwischen der deutschen und der Originalausgabe von „Singularität“, das ja in englischsprachigen Ländern ein großer Erfolg war). Statt übermäßig vielen Anspielungen auf gesellschaftliche Begebenheiten der Heimat, unverständlich für Ausländer, und große physikalische Erklärungen entwickelt Stross eine mehrschichtige, spannende Handlung, die auch in „normaleren“ Bahnen abläuft als „Singularität“. Dabei bleiben leider einige interessante Aspekte als lose Fäden hängen, wobei die Hoffnung auf Auflösung in späteren Romanen begraben werden muss: In einem Interview für die SF-Zeitschrift „Locus“ soll sich Stross von den beiden Romanen distanziert haben. Er würde die Sache nicht weiter verfolgen, da ihm einige Inkonsistenzen durchgegangen seien. So werden wir wohl leider weder das Festival näher kennen lernen noch uns mit dem Eschaton und der großen Bedrohung für es auseinander setzen können.

Nochmal die Übermenschen

Davon abgesehen, kreiert Stross in Supernova wieder Spitzencharaktere mit vielfältigen Eigenarten und Hintergründen, die die Eigenarten glaubwürdig machen. Höchst interessant ist die Darstellung der Organisation der Übermenschen als brutal organisierte und gedrillte Sekte. Die Mitglieder lösen sich möglichst von den groben menschlichen Emotionen, alle Taten werden von dem großen Ziel geleitet, das Eschaton zu vernichten, um der eigenen Gottheit Willen. Dabei wagt sich Stross auf ein Terrain von großem Konfliktpotenzial: Die Übermenschen erinnern mit ihrer stolzen Logik und Überheblichkeit an die Darstellung der deutschen Nazis in Hitlers Gefolgschaft. Verstärkt wird der Eindruck durch deutsche Namen für die Handelnden; so heißt die Führerin passender Weise „Hoechst“, die Soldaten Karl, Paul und Mathilde begleiten sie. Ihren Namen voran wird ein U. gestellt, was ihre Zugehörigkeit zu den „Uebermenschen“ symbolisiert. Das Wort allein ist eine Übersetzung der Herrenrasse, der Arier. Ihre Handlungen sind von ähnlicher Abscheulichkeit: In den „Erziehungslagern“ werden Menschen umerzogen, Gehirne gewaschen, Menschen erniedrigt und gequält (was wiederum nicht an die Öffentlichkeit zu kommen bestimmt ist) -> Konzentrationslager der Zukunft.

Die Ideologie wird radikal und konsequent umgesetzt – die Frage dabei ist nur die nach Stross‘ Motivation diesbezüglich. Wenn man eine Verbindung zwischen dieser Organisation und den Nazis finden kann, erhält man sofort eine vorgebildete Meinung über die Mitglieder und die Glaubwürdigkeit von gemäßigten Aussagen und Standpunkten. Eine Vereinfachung der Charakterisierung für Stross, einfach Teil seines Zukunftsbildes oder steckt mehr dahinter? Natürlich gibt es auch hier Abtrünnige, wie es diese auch zu jeder Zeit in jedem diktatorischen Reich gibt und gab.

Das Eschaton

Was verbindet „Supernova“ mit „Singularität“? Die Protagonisten Mansour und Springfield (wobei Letzterer eine sehr viel geringere Rolle innehat) sowie der Eschatonagent Hermann und das Eschaton selbst, schließlich natürlich Bezüge wie die Erwähnung der „Neuen Republik“. Das Eschaton offenbart eine Schwäche und ein paar Eigenschaften, Dinge, die zu den interessantesten Themen dieses Universums zählen. Es existiert auf verschiedenen Zeitebenen und schickt seinen „jüngeren“ Ichs Informationen aus der Zukunft, vor allem, was die Gefahr von Kausalverletzungen angeht. Dadurch müsste es eigentlich Geschehnisse wie die Supernova des vorliegenden Bandes mittels Verbotener Waffen frühzeitig erkennen und verhindern können. Dass es das nicht konnte, deutet auf eine Schwäche oder einen mächtigen Gegner hin – mächtiger, als Hermanns Meinung nach die Übermenschen sind, die eigentlich mit ihrer ideologischen Planung eines „ungeborenen Gottes“ dem Eschaton noch längst nicht gefährlich werden können.

Sind die Übermenschen etwa doch mächtiger und dem Eschaton bereits ebenbürtig, war die verbotene Supernova doch ein Zufall (herbeigeführt durch unverstandene Experimente) oder existiert noch ein Gegner im Hintergrund, den Stross erst später vorstellen wollte? Fragen, die leider wohl keine Antwort mehr finden werden, soll man den Gerüchten um sein Interview glauben.

Fazit

Supernova ist weit besser lesbar als sein Vorgänger, die Kreativität der Geschichte ist beeindruckend und verlangt eigentlich nach Fortsetzung, in dieser Unabgeschlossenheit reicht es noch nicht zur vollen Befriedigung. Immerhin besteht die Hoffnung, dass Stross seine Ideen in anderer Richtung entfalten wird.

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (7 Stimmen, Durchschnitt: 1,86 von 5)

Köster-Lösche, Kari – Mit Kreuz und Schwert (Sachsen-Trilogie, Band 3)

[Das Blutgericht 1719
[Donars Rache 1729

Ich habe es in den vorangegangenen Rezensionen zur „Sachsen-Saga“ bereits anklingen lassen, dass mich die aktuelle Reihe von Kari Köster-Löscher nicht sonderlich aus den Schuhen gehauen hat, was vor allem mit ihrem recht abgehackten Schreibstil und dem verminderten Aufbau von echter Spannung zu tun hat. Dementsprechend wusste ich nun nicht, worauf ich mich beim dritten und letzten Band am meisten freuen sollte – auf das Buch an sich, oder doch mehr auf das Ende der Reihe, durch die ich mich anfangs wirklich gequält habe … 318 Seiten später weiß ich, dass die Wahrheit für mich persönlich wohl irgendwo dazwischen liegt, denn „Mit Kreuz und Schwert“ ist einerseits keine solch herbe Enttäuschung wie „Das Blutgericht“, andererseits aber auch nicht so gut und einigermaßen spannend erzählt wie „Donars Rache“. Dennoch werden Fans der Serie hier sicherlich ihre Freude haben, zumal sie bis zu diesem August ungefähr ein Jahr auf den letzten Teil der „Sachsen-Saga“ haben warten müssen.

_Story:_

Die Vergangenheit in der Zukunft ist für Gunhild scheinbar bewältigt, denn mittlerweile fühlt sie sich im Sachsen der Vergangenheit weitaus wohler als in der Kölner Siedlung, in der sie einmal gelebt hat. Nach einer erfolgreichen Flucht aus dem Lager der Franken, dem Glaubenskampg an der Seite von Gerowulf und der finalen Gerechtigkeit hat sie sich nun in ihrem neuen Heim niedergelassen und genießt das schlichte Leben in Sachsen. Ihr Geliebter Gerowulf ist seit einiger Zeit ihr Ehemann, und ihr gemeinsamer Sohn Helco entwickelt sich prächtig. Dennoch sind die Krisenzeiten keineswegs vorbei, denn nach wie vor kämpfen die Franken mit aller Macht um das noch nicht verloren geglaubte Sachsen. Doch auch in der Ehe von Gunhild und Gerowulf läuft nicht mehr alles zum Besten. Hinterlistige Intrigen und ein übler Verrat stellen das gemeinsame Leben auf eine harte Probe, und Gunhild zweifelt mehr und mehr daran, ob sie wirklich den Rest ihres Lebens mit Gerowulf in Sachsen verbringen möchte, oder ob sie doch lieber mit ihrem Sohn Helco in die Zukunft zurückkehren soll. Gunhild steht vor einer schweren Entscheidung, mit der sie sich nicht mehr lange Zeit lassen kann …

_Bewertung:_

Stand die Glaubensfrage in den ersten beiden Bänden noch deutlich vor der Liebesgeschichte zwischen Gunhild und Gerowulf, so nimmt diese in „Mit Kreuz und Schwert“ eine viel gewichtigere Rolle ein. Selbst die Tatsache, dass Gunhild sich bereits nach ihrer ersten Rückkehr in die heutige Zeit weiterhin nach Gerowulf sehnte, wurde von Kari Köster-Lösche nur recht knapp abgehandelt; jetzt jedoch, wo die Beziehung ersnthaft bedroht ist, ist sie das Hauptthema des ganzen Buches und degradiert den Kampf um Sachsen fast gänzlich zum Nebenschauplatz. Das wäre ja nicht weiter schlimm, nur hat die Autorin ersnthafte Probleme dabei, die aufkochenden Emotionen in Worte zu fassen und hält sich trotz der Dominanz des Themas mit Schilderungen über Gefühle ziemlich nüchtern zurück. Das erschwert wiederum den Zugang zum Buch, denn etwas Zwischenmenschliches so trocken zu beschreiben, langweilt phasenweise und wirft auch die zuletzt noch gelobte Spannung wieder zurück, denn diese ist in Teilen mal wieder kaum vorhanden.

Ebenso wird der Zwiespalt, in dem Gunhild sich zum Ende des Buches hin befindet, nur gerade mal ausreichend beschrieben. Der innerliche Konflikt, der ja nach außen hin ganz klar vorhanden ist, lässt emotionale Details vermissen, und bevor Gunhild dann richtig mit dem eigenen Gewissen zu ringen beginnt, ist die Sache auch schon wieder aufgelöst. Genau dieser hölzerne Stil ist es schließlich auch wieder, der mich an einigen Stellen der aufkeimenden Begeisterung beraubt und mich schließlich auch zu dem Urteil kommen lässt, dass Köster-Lösche mit diesem Buch eine recht durchschnittliche Serie mit einem gleichermaßen durchschnittlichen Band zu Ende gehen lässt. Ich kenne jedenfalls mehrere Dutzend lohnenswerterer HistoFantasy-Reihen, auch wenn sie sich thematisch nicht immer an tatsächlichen Begebenheiten orientieren. Die Autorin hat ihre Chance gehabt, ein solch gewagtes Thema für drei bewegende Romane zu verwenden, und meiner Meinung nach hat sie diese kaum genutzt.

Sara Paretsky – Die verschwundene Frau

Paretsky Verschwundene Frau Cover TB 2002 kleinDas geschieht:

Auf dem Heimfahrtüberrollt Privatdetektivin Vic Warshawski zu später Stunde in einem verrufenen Viertel ihrer Heimatstadt Chicago beinahe den leblosen Körper einer jungen Frau, die mitten auf der Straße liegt. Die Polizei scheint mit Warshawskis Schilderung zunächst zufrieden zu sein. Doch am nächsten Tag wirft man ihr plötzlich vor, den Tod verschuldet zu haben. Ganz offensichtlich sucht die Polizei einen Sündenbock. Die Leiche verschwindet, der Unfallbericht wird gefälscht. Der korrupte Detective Lemour wird Warshawski auf den Hals gehetzt, um sie einzuschüchtern.

Aus purer Not beginnt die Detektivin in eigener Sache zu ermitteln. Trotz der Verschleierungstaktik bringt sie in Erfahrung, dass es sich bei der Frau um die junge Immigrantin Nicola Aguinaldo handelt, die man fast tot geprügelt hatte, bevor man sie ihr vor das Auto legte. Nicola arbeitete als Kindermädchen für Robert Baladine, den Eigentümer von „Carnifice“, eines Sicherheitsdienst-Imperiums mit 3000 Beschäftigten, zu dem sogar eine eigene Haftanstalt vor den Toren der Stadt gehört. Hier saß Nicola als Gefangene ein, nachdem sie Eleanor, Baladines Gattin, ein wertvolles Schmuckstück gestohlen hatte. Auf mysteriöse Weise gelang es ihr später scheinbar zu fliehen. Sara Paretsky – Die verschwundene Frau weiterlesen

Nibelungen-Festspiele Worms

Uns ist in alten maeren
Wunders viel geseit
Von helden lobebaeren
Von grozer arebeit
Von freuden, hochgeziten
Von weinen und von klagen
Von küener recken striten
Muget ihr nun wunder hoeren sagen.

Aus dem Nibelungenlied

Vor vier Jahren begann Worms damit, Nibelungenfestspiele (http://www.nibelungenfestspiele.de) durchzuführen und wurde im ersten Jahr bundesweit als Provinz noch sehr belächelt. Ab dem zweiten Festspieljahr sah das schon anders aus und in diesem Jahr lief es bislang am besten: Alle 13 Vorstellungen der Hebbel-Inszenierung vor dem Nordportal des Wormser Doms waren ausverkauft. Mehr als ausverkauft geht nun einmal nicht, aber über eine künftige Verlängerung von zwei auf drei Wochen wird nun nachgedacht.

Die rund 19.000 Zuschauer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz bejubelten das Stück von Karin Beier sowie das Starensemble um Maria Schrader, Joachim Król, Manfred Zapatka, André Eisermann, Götz Schubert und Wiebke Puls. „Eine solche Resonanz wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nicht erlebt. Die Festspiele 2005 verliefen sehr positiv, ich bin rundum zufrieden“, sagt Festspielintendant Dieter Wedel.

Worms kann stolz auf seinen Glanz und Glimmer sein, denn vor fünf Jahren war es ein großes Wagnis, ohne Staatstheater und entsprechende Infrastruktur Festspiele in dieser Größe zu starten. Die Organisation, die im Vergleich zu anderen Festspielstädten nur von wenigen Machern betrieben wird, läuft reibungslos. Die Wormser sind stolz auf ihre Festspiele und das ist wichtig, denn wenn Steuergelder ausgegeben werden, ist es notwendig, dass solch große Events von der Bevölkerung breit unterstützt werden.

Das Rahmenprogramm wurde in diesem Jahr stark aufgewertet und mit hochkarätigen Namen besetzt. Zu den Höhepunkten zählten Veranstaltungen mit Manfred Krug, Christian Quadflieg, Otto Sander und dem Kabarettisten Werner Schneyder. Die Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen: Knapp 6.000 Gäste kamen zu den Lesungen, Konzerten und den Theaterbegegnungen. Das Herrnsheimer Schloss wurde als zweite Festspielstätte hervorragend angenommen.

Die Vorhaben, Worms durch die Nibelungen touristisch aufzuwerten, sind vollkommen aufgegangen. Durch die Festspiele und auch die Nibelungen-Thematik, die sich durch das ganze Jahr hindurchzieht, kommen mehr und mehr Touristen in die Stadt.

In eine riesige VIP-Lounge verwandelte sich der romantische Heylshofpark rund um den Dom: Bunte Lichter, Wasserfontänen, der dunkelrote Drachenblutbrunnen und klassische Klänge sorgten für eine stimmungsvolle Atmosphäre vor und nach den Aufführungen. Das elegante Ambiente zog
jeden Abend hunderte Besucher an. „Einfach sagenhaft“, lautete das Urteil der Gäste. Und mittlerweile zieht auch es auch viele Prominente von Salzburg über Bayreuth nunmehr regelmäßig nach Worms. Das Ambiente vorm Dom ist auch einzigartig. Die erscheinende Prominenz, die zu den Festspielen über sämtliche Aufführungen hinweg anreist, befindet sich natürlich auch immer im Blickpunkt der lokalen Presse, aber diese hier ausführlich zu benennen, erscheint mir nicht relevant. Jedenfalls gibt es bereits bei der Premiere, wie auch sonst allenorts üblich, einen breiten roten Teppich und jede Menge VIPs, umlagert von Fotografen. Der Medienrummel von rund 200 Medienvertretern bei der Premiere war schon sehr ungewöhnlich, zumal es sich ja „nur“ um eine Wiederaufführung der Hebbel-Inszenierung gehandelt hatte. Die Party nach der Premiere im festlich geschmückten, an den Dom grenzenden Heylspark ist mit all seinen Lichtern und Fackeln ein unvergleichliches Erlebnis, das man so nicht anderweitig zu sehen bekommt – weder in Salzburg noch in Bayreuth. Diese Party ging bis morgens um acht Uhr.

Trotz des verregneten Sommers blieb es in Worms während der Aufführungen die meiste Zeit trocken. Nicht eine einzige Vorführung mussten die Veranstalter – im Gegensatz zum Vorjahr – wegen schlechten Wetters absagen. Der Kampf mit dem Wetter – das zudem abends sowohl für die Schauspieler auf der Bühne als auch auf der hohen, windigen Tribüne für Sommerverhältnisse mitunter sehr kalt war – ist bei Freilichtspielen eine große Herausforderung. Einmal musste nach einem Regenbruch kurz vor der Pause fast abgebrochen werden – das Mikrofon von Kriemhild drohte den Dienst zu versagen –, aber auch hier gab es trotz diesen Widrigkeiten am Ende den gewohnten stürmischen Applaus. Doch diesmal applaudierten auch die Schauspieler umgekehrt dem Publikum und demonstrierten damit ihrerseits, dass auch diesem für das tapfere Ausharren Dank gebührte. Die Wormser Bevölkerung und die Sponsoren stehen zu ihren Nibelungen-Festspielen. Nach nur vier Jahren hat es Worms geschafft, sich bundesweit als Festspielstadt einen renommierten Namen zu erobern und als kultureller Leuchtturm zu etablieren.

Die Zuschauer saßen dieses Jahr noch einmal zwei Meter höher als letztes Jahr: auf einer 18 Meter hohen Tribüne, 26 Meter in der Breite. Für Rollstuhlfahrer wurden Rampen eingerichtet. Die normalen Preise rangierten von 25 Euro für die oberen Ränge bis zu 85 Euro für die untersten Plätze. Aber es gab auch Logen zu Preisen von 260 Euro für Einzelplatzkarten und 498 Euro für zwei Personen.

Im kommenden Jahr wird Dieter Wedel auf der Südseite des Doms „Die Nibelungen“ mit einem neuen Ensemble inszenieren. Angedacht ist eine überarbeitete Fassung von Moritz Rinke mit neu geschriebenen Szenen und Schwerpunkten. Die Geschichte endet in der Saison 2006 mit Siegfrieds Tod. Die grausame Rache der Kriemhild wird dann in der Fortsetzung des Stoffes im Sommer 2007 zu sehen sein.

So weit der Einstieg, aber schauen wir uns das Geschehen auch noch im Einzelnen an.

_Hebbel-Inzenierung der Nibelungen von Karin Beier_

In den bisherigen vier Jahren der Wormser Nibelungen-Festspiele mit unterschiedlichen Inszenierungen sahen insgesamt etwa 90.000 Zuschauer das Nibelungen-Drama. Seit zwei Jahren ist Dieter Wedel Intendant des Epos um Liebe und Hass, Politik und Rache am Originalschauplatz vor der atemberaubenden Kulisse des Wormser Doms. Dieses Ambiente ist theatertechnisch sensationell.

Karin Beiers Stück ist eine ernst zu nehmenden Inszenierung. Ihre Fassung ist intimer und konzentrierter als das Rinke-Stück der ersten beiden Festspieljahre. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den Frauengestalten und ist damit eine sehr andere Nibelungengeschichte als die von Moritz Rinke. Die Geschichte der Frauen im Stück ist viel intensiver und auch die dunkle Seite Siegfrieds wird mehr beleuchtet. Im Grunde haben alle männlichen Schauspieler bei Beier neben den mitreißend intensiven Damen Maria Schrader und Wibke Puls einen schweren Stand. Sonstige Identifikationsmöglichkeiten gibt es da fast keine. Erstmals war dieses Jahr die Inszenierung tontechnisch zudem in Dolby Surround zu hören. Durch Highend-Digitaltechnik mit einem 5.1-Surround-System wurde die eindrucksvolle Inszenierung akustisch rundum erlebbar.

Dabei sind die Protagonisten in Worms auch für die Bevölkerung ansprechbar. Soweit es die aufwendigen Proben und fast täglichen Auftritte erlauben, integrieren sie sich in das städtische Leben, und vor den Vorführungen finden täglich abwechselnd mit allen lockere Talkgespräche bei freiem Eintritt für das interessierte Publikum statt.
Man sieht sie also zwar ständig in der Stadt, aber bei diesen Gesprächen hat man die Gelegenheit, ganz nah an die Darsteller heranzukommen und „live“ etwas über ihre Arbeit auf der Dombühne, aber auch viel „Privates“ zu erfahren. Die Schauspieler zeigen sich dem Publikum und allen Beteiligten dankbar: So fand ein Besuch der Mitarbeiter in der Wäscherei der Lebenshilfe statt, wo man sich bei den Behinderten bedankte, welche die anfallende Wäsche während der Festspielen waschen, trocknen und pflegen. Bei 13 Aufführungen werden alleine schon circa 1.100 Kostümteile gebügelt. Für die Behinderten selbst war das ein großes Ereignis, stolz zeigten sie, wie sie arbeiten, und manch einer brachte auch seine persönlichen Nibelungen-Sammelstücke mit zum Vorzeigen. Auch für den Weltladen waren sie aktiv und kamen zu dessen mit dem entwicklungspolitischen Netzwerk Rheinland-Pfalz organisierten „Nibelungen-Brunch“, wo ein Frühstück mit fair gehandelten Produkten, Musik und Stars zum Anfassen aufgeboten wurden.

Da die Festspiele immer nahtlos in das danach beginnende Bachfischfest – eines der größten Volksfeste am Rhein – übergehen, unternahmen die Schauspieler auch einen gemeinsamen Rundgang über den Festplatz. Diese Führung übernahm André Eisermann, der aus einer Wormser Schaustellerfamilie stammt und das Backfischfest von klein auf sehr intim kennt. Nicht dabei sein konnte Hagen-Darsteller Manfred Zapatka, der als Einziger länger als geplant in Worms verweilen musste. Während der Festspiele hatte er bereits große Schmerzen im Knie, lehnte schmerzstillende Mittel bei den Vorführungen allerdings ab, damit er „unvernebelt“ auftreten konnte. Sofort nach Ende der Festspiele musste er im Wormser Krankenhaus am Meniskus operiert werden und benötigte noch Schonung; die erste Zeit konnte er natürlich nur an Krücken gehen. Das zeigt aber auch ein eigentliches Problem, denn wenn ein Schauspieler generell mal bei den Festspielen ausfällt, steht keine Zweitbesetzung zur Verfügung. Im Vorjahr zum Beispiel war auch schon Wiebke Puls bei den Proben in eine Bühnenöffnung gestürzt und hatte sich „glücklicherweise“ dabei nur das Nasenbein gebrochen. Der damals nachfallende Joachim Kròl blieb unverletzt. Das Ensemble stand trotzdem einige Tage unter Schock.

_Dieter Wedel_
Seit mehr als einem Jahr ist Dieter Wedel Intendant der Festspiele. Er promovierte an der Freien Universität Berlin in den Fächern Theaterwissenschaften, Philosophie und Literatur. Unzähligen Theatererfahrungen folgten eine kurze Zeit als Hörspielautor und dann Engagements fürs Fernsehen sowie erste Filme: „Einmal im Leben“ war der erste TV-Mehrteiler, womit die Erfolgsstory der Familie Semmeling begann. Es folgte die Fortsetzung „Alle Jahre wieder“ und dann gründete er seine eigene Produktionsfirma. Seitdem ist er Autor, Regisseur und Produzent in einer Person. Neben den großen Fernsehproduktionen wie „Kampf der Tiger“ oder „Wilder Westen inclusive“ bleibt er weiterhin Theaterbühnen treu. Für seine TV-Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Die Affaire Semmeling“ erhielt er auch international zahlreiche Auszeichnungen. 2002 inszenierte er die Nibelungenuraufführung von Moritz Rinke. Danach wurde er Intendant der Wormser Festspiele.

_Karin Beier_
Sie ist renommierte Theater- und Opernregisseurin. Begonnen hatte sie mit einer eigenen Theatergruppe und führte Shakespears Dramen im Original und unter freiem Himmel auf. Dann folgten eine Regieassistenz am Düsseldorfer Schauspielhaus und seither eigene Arbeiten. Sie inszenierte die deutsche Erstaufführung von „Die 25. Stunde“ von George Tabori sowie Shakespeares „Romeo und Julia“, für das sie 1994 zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt wurde. 1995 erarbeitete sie mit vierzehn Schauspielern aus neun Ländern eine mehrsprachige, multikulturelle Inszenierung des „Sommernachttraums“. 1997 schloss sich mit Bizets „Carmen“ ihre erste Oper an. Es folgten unter anderem „99 Grad“, „Das Maß der Dinge“ und „Der Entertainer“. Dieses Jahr inszenierte sie mit kleinen Veränderungen zum zweiten Mal in Worms ein neues Stück nach der klassischen Textvorlage von Friedrich Hebbel. Karin Beier, die, wenn sie nicht arbeitet, ganz alternativ im Norden Schottlands lebt und kleine Lämmer auf die Welt holt, schaut auf ihre zwei Jahre Festspielzeit in Worms gerne zurück. Nachdem sie vor zwei Jahren noch Bedenken hatte, mit Schauspielern aus unterschiedlichsten Sphären des Films und Theaters zu arbeiten, hat sich alles für sie „extrem gelohnt“ und die Ängste waren unbegründet. Keiner des Ensembles hat Starallüren, und nach einem Jahr nach Worms zurückzukommen, war dieses Mal wie eine Heimkehr.

_Maria Schrader_
Sie ist wohl eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen heutzutage. Sie begann ihre Ausbildung am Max-Reinhard-Seminar in Wien. Dann spielte sie an Schauspielhäusern unter anderem in Hannover und Bonn. Ihr Kinodebüt gab sie mit „Robby, Kalle, Paul“. Bekannt wurde sie dann mit Doris Dörries Komödie „Bin ich schön?“. 1999 erhielt sie den Silbernen Bären und den Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in „Aimée und der Jaguar“. Von Anfang an spielt sie in Worms die Kriemhild.

_Wibke Puls_
Ausbildung an der Berliner Hochschule der Künste. Danach Schauspielhaus Hamburg. Sie spielt auf mitreißende Art seit Beginn der Festspiele die Brunhild. Vor ihrer Schauspielkarriere machte sie Musik, was sie in den letzten beiden Festspieljahren für die Wormser durch ihren einzigartig intensiven Konzertauftritt mit dem Festspielensemble auch unter Beweis stellt. Sie tritt in Beiers Stück mit nacktem Oberkörper auf, was dieses Jahr in der „Regenbogen-Presse“ für Aufsehen sorgte. „Bild“-Zeitungsüberschrift mit entsprechendem Foto: „Brusthild und die Nippelungen“. Selbst die „Münchner Abendzeitung“ meldete „Die nackten Nibelungen in Worms“. Trotz der kargen Bekleidung hat sie die aufwendigste Maske bei den Aufführungen, denn in der ersten Hälfte vor ihrer Verheiratung mit Gunther trägt sie am ganzen Körper amazonenwilde Tattoos. In der aktuellen Inszenierung der Nibelungen von den Münchner Kammerspielen spielt sie interessanterweise anstelle der Brunhild die Kriemhild und erhielt dafür den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

_Manfred Zapatka_
Ausgebildet an der westfälischen Schauspielschule Bochum, danach an Theatern wie Stuttgart und München engagiert. Er ist einer der großen Charakterdarsteller im deutschen Film und Fernsehen, bekannt z. B. aus der TV-Serie „Rivalen der Rennbahn“ (1989) und in Dieter Wedels Mehrteiler „Der große Bellheim“ (1992). Für die Rolle des Heinrich Himmler in „Das Himmler-Projekt“ (2002) wurde er mit dem Adolf-Grimm-Preis ausgezeichnet. Bei den Nibelungen-Festspielen trat er als Hagen auf. Auffallend war beim Publikumsgesprächsabend mit ihm sein politisches Engagement. Zwar rief er nicht direkt zur Wahl der Linkspartei auf, übte aber starke Kritik an der SPD, für die er früher immer eintrat.

_André Eisermann_
Mit der Rolle des „Kaspar Hauser“ wurde Eisermann 1993 aus dem „Nichts“ heraus international bekannt. Er wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so z. B. mit dem Darstellerpreis des Internationalen Filmfestes von Locarno, dem Bayrischen Staatspreis und dem Deutschen Filmpreis. Danach folgte der ebenso grandiose Film „Schlafes Bruder“. Für diese Rolle war er für den Golden Globe nominiert. Seitdem er den Bundesfilmpreis bekam, ist er Akademie-Mitglied der Bundesfilmpreisverleihung. Allerdings ist er auch durch verschiedene Lesungen sehr bekannt geworden. Seit Beginn der Wormser Nibelungenfestspiele hatte er die Rolle des Giselher inne. Derzeit spielt er in Füssen im Musical „Ludwig II.“ dessen Bruder Otto. Als Wormser ist er seit seiner Kindheit mit dem Nibelungenthema vertraut, und selbst wenn er im nächsten Jahr nicht mehr zur Besetzung gehören wird, gibt es wie bisher etwas Neues von ihm im Rahmenprogramm der Festspiele. Im nächsten Jahr wird es endlich auch wieder einen großen Film mit ihm geben, ein Projekt, über das bislang aber nirgendwo etwas verraten wird.

_Joachim Król_
Als einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands wird er nach wie vor hauptsächlich mit seiner Rolle im Film „Der bewegte Mann“ von 1994 identifiziert, den er nach seinen Engagements an deutschen Theatern spielte. Für die dortige Rolle des leidenden Norbert Brommer an der Seite von Til Schweiger erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, so etwa den Bambi und den Deutschen Filmpreis. Danach folgten „Rossini“ und, ebenfalls zusammen mit Maria Schrader, der Film „Bin ich schön?“ von Doris Dörries. Auch internationale Filmprojekte folgten („Zugvögel … einmal nach Inari“ und „Gloomy Sunday – Ein Lied von Liebe und Tod“). Als Commissario Brunetti spielte er in Donna Leons Fernsehkrimis und war zuletzt im Kino als Killer in „Lautlos“ zu sehen. In Worms spielte er den König Gunther.

_Götz Schubert_
Er studierte an der staatlichen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Zunächst Theater auf den Bühnen in Berlin, dann zahlreiche Fernsehproduktionen wie „Der Zimmerspringbrunnen“, „Die Affaire Semmeling“ von Dieter Wedel und der Kinofilm „NAPOLA“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für die Wormser ist er mittlerweile der „klassische“ Siegfried-Darsteller geworden und spielte diese Rolle schon bei der modernen Interpretation von Moritz Rinke in den ersten beiden Festspieljahren. Im letzten Jahr fiel er aus, wurde aber für die Wiederauflage des Beierschen Hebbel-Stückes erneut als Siegfried verpflichtet und ersetze Martin Lindow, der zuletzt den Siegfried spielte. Die Siegfried-Rolle bei Beier ist weniger männlich angelegt als die des kahlköpfigen Haudegen bei Rinke. Zuletzt drehte Schubert mit Veronika Ferres den ZDF-Zweiteiler „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, davor stand er für Dieter Wedels Zweiteiler „Papa und Mama“ vor der Kamera, der im Januar 2006 im Fernsehen zu sehen sein wird. Im Maxim-Gorki-Theater in Berlin spielt er aktuell neben Jörg Schüttauf in der „Dreigroschenoper“ und als nächstes ebenfalls dort im „Zerbrochenen Krug“ den Dorfrichter.

_Tilo Keiner_
Er war auf der London Academy of Music and Dramatic Art. Neben verschiedenen Theaterengagements (u. a. Trier, Nürnberg und Köln, Hamburg, Bochum, Nürnberg) ging er auch zum Film und Fernsehen, z. B. für TV-Serien wie „SOKO 5113“ oder „Girlfriends“. Dann spielte er im Film „Saving Private Ryan“ unter der Regie von Steven Spielberg. Auch im deutschen Film „Der Ärgermacher“ war er zu sehen. Derzeit gastiert er auch als Musicaldarsteller Harry im ABBA-Stück „Mamma Mia!“ in Stuttgart. Bei den Nibelungen spielte er den Werbel an Etzels Hof und war damit dieses Jahr neu im Ensemble. Er ersetzte die Rolle von Andreas Bikowski (den Werbel vom letzten Jahr).

_Isabella Eva Bartdorff_
Sie spielte die skurrile Tochter Rüdigers und glänzte an der Seite von André Eisermann, der sie als Giselher in diesem Stück heiraten sollte, ganz besonders. Sie studierte Schauspiel an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und war bereits an Theaterhäusern in Hamburg, Frankfurt, Essen, Bonn und Darmstadt.

_Itzhak Fintzi_
Er gilt in Bulgarien als Superstar und spielte vorm Wormser Dom auf seine charismatische Art den König Etzel. Dass er viele Passagen auf Bulgarisch spricht, macht seine Rolle besonders atmosphärisch.

_Sebastian Hufschmidt_
Er gibt den Gerenot, den Bruder des Königs Gunther. Er spielte an Theatern u. a. in Düsseldorf, Braunschweig und Hannover.

_Josef Ostendorf_
An Schauspielhäusern spielte er in Hamburg, Basel und Zürich. Bekannt ist er auch aus Fernsehfilmen wie „Wolffs Revier“, „Die Männer vom K3“, „Tatort“, „Bella Block“ und „Adelheid und ihr Mörder“. Mehrere Kinofilme sind auch darunter, z. B. „Der Campus“. Bei den Nibelungenfestspielen ist er von Anfang an dabei und spielte in den ersten beiden Jahren den Königsbruder Gernot. Bei Katrin Beier hatte er dagegen die Rolle des Volker von Alzey.

_Michael Wittenborn_
Er spielte an Theatern Hamburg und München. Für Dieter Wedel spielte er im Fernsehen u.a. „Der Schattenmann“, „Der große Bellheim“ und „Die Affaire Semmeling“. Bei den Festspielen spielte er den Markgraf Rüdiger von Bechelarn und ist der Ehemann der Regisseurin Karin Beier.

_Wolfgang Pregler_
Lernte an der Hochschule für Künste in Berlin. Schauspielerfahrung an den Theatern München, Berlin und Hamburg. Ebenso Film- und Fernsehproduktionen wie „Die Affaire Semmeling“ in der Regie von Dieter Wedel (2001) und der internationale Kinofilm „Rosenstraße“ mit Maria Schrader (2003). Auch er gehört zur Urbesetzung und spielte in den ersten beiden Jahren den König Gunther, bei Karin Beier allerdings Dietrich von Bern. Er stammt von den Münchner Kammerspielen.

Nach der letzten Vorstellung, die wie gewohnt mit langem Schlussapplaus endete, drückte Karin Beier jedem Schauspieler ein Glas Sekt in die Hand und es gab zahlreiche Küsschen zu sehen. Auch als die Zuschauertribünen dann leer waren, ging es nochmals gemeinsam auf die Bühne, um Abschied von der großartigen Kulisse vor dem Kaiserdom zu nehmen. Darauf folgte die Abschiedsparty mit Livemusik und einer Stimmung aus Heiterkeit und Melancholie. Lange Umarmungen und auch Tränen, denn dieses Ensemble, das sich menschlich so gut verstand, wird in dieser Zusammensetzung nie wieder zusammenkommen. Dieter Wedel hat angekündigt, für die nächsten Inszenierungen neue Schauspieler nach Worms zu schicken.

_Ein Blick auf die Statisten_

Ohne die Wormser Statisten, die jedes Jahr den Sommer für Proben und Aufführungen opfern, wären die Festspiele nicht vollständig. Es sind viele Wormser involviert, und das bereitet ihnen großen Spaß. Auch eine Hundemeute ist dieses Jahr mit auf der Bühne gewesen, und manche davon haben nach den Festspielen ein neues Herrchen bei den Statisten gefunden.

Manche entpuppen sich dabei als Neueinsteiger mit Karriere-Erwartungen im Schauspielbusiness. Seit dem ersten Festspieljahr besteht einmal im Monat ein regelmäßiger Statistenstammtisch. Trotz der intensiven, fast unbezahlten Arbeitszeit, ist es für alle ein Genuss, mit Größen wie Dieter Wedel oder früher Mario Adorf als Hagen gearbeitet zu haben. Mitunter erscheinen dort auch die Regieassistenz und der künstlerische Leiter der Festspiele, James McDowell.

_Ilka Kohlmann_
Hatte in den ersten beiden Jahren als Statistin angefangen und spielt nun bereits zum zweiten Mal die Mutter von Gudrun. Zwar hat sie nur einen Kurzauftritt, aber natürlich ist jeder Abend auch für sie ein großes Erlebnis, steht sie doch auch beim Schlussapplaus vor stehenden Ovationen mit auf der Bühne. Auch ihr Ehemann Jürgen ist immer dabei, in diesem Jahr als „Hunnen-Trommler“. Auch im nächsten Jahr werden beide wieder gefragt sein.

Ein kleiner Wormser Junge freut sich auch jedes Jahr ganz besonders auf seine Rolle. Er spielt das Kind von Kriemhild und Etzel, auch wenn er anschließend stets geköpft und verstorben die Bühne verlässt.

Dreißig Hunnen sind im Einsatz als Statisten, und deren Maske ist von den Professionellen zeitlich nicht zu bewältigen. Dafür wurde eigens ein Schminkwettbewerb ausgeschrieben und acht Wormser Frauen wurden ausgewählt. Auch für Kostüme und Waffen sind Wormser zuständig. Waffenmeister ist dabei Thomas Haaß, der im Zuge der Nibelungenthematik und der daraus entstanden Gewandeten-Szene ständig in Worms mittelalterlich mitmischt.

_Das Rahmenprogramm:_

_Filme_

Jedes Jahr gibt es ein begleitendes Filmprogramm, aber man kann nicht jedes Jahr die Nibelungen von Fritz Lang oder die Filme aus den 60er Jahren aufführen, und so zeigt man bereits im zweiten Jahr aktuelle Filme aus dem Wirken der Festspielschauspieler. Das waren diesmal Maria Schrader, die zusammen mit Dani Levy in „Meschugge“ die Jüdin Lena Katz spielte, einem Thriller, für den sie für ihre Rolle 1999 den Bundesfilmpreis als beste Hauptdarstellerin erhielt. Joachim Król spielt in „Gloomy Sunday“ eine Dreiecksgeschichte im Budapest der 30er Jahre während der Besetzung durch die Nazis. Und Manfred Zapatka spielte in der Komödie „Erkan und Stefan“ den Verleger Eckenförde, dessen Tochter von den beiden Komikern beschützt werden soll. Die Filme laufen auf großer Leinwand im Open-Air-Kino im Herrnsheimer Schloss. Mit gewöhnlichem Popcorn-Kino hat das also nichts zu tun. Man wird von Festpiel-Hostessen empfangen und steht vor und nach der Aufführung an Stehtischen bei einem Glas Wein zusammen.

_Otto Sander, die Nibelungen-Musiker und die Trommler von Worms_

Otto Sander und Gerd Bessler, der musikalische Leiter der Wormser Hebbel-Inszenierung, gestalteten einen „Heldenabend“ mit Texten und Musik, gespielt vom gesamten musikalischen Ensemble der Festspiele und unterstützt von fünfundzwanzig Trommlern. In den Texten hörte man die Gegensätzlichkeit der Helden durch die Epochen und Länder, und vor allem die Musik war natürlich ein Hörgenuss, in welchem mittelalterliche Motive mit modernen Jazzelementen verschmolzen. Eine Hör- und Augenweide waren vor allem auch die Wormser Trommler, die auf Stahlfässern und Landknechtstrommeln archaische bombastische Rhythmen schlugen. Über neunhundert Besucher sahen sich das an.

_Werner Schneyder und das Ensemble der Nibelungen-Festspiele lesen Richard Wagner_

Der bekannte Kabarettist und Sportmoderator führte durch die Handlung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“, und die Schauspieler der Festspiele lasen die Texte. Wahrscheinlich wurde noch nie der ganze „Wagner-Ring“ in so kurzer Zeit in straffer Form dargeboten. Faszinierend waren tatsächlich auch die von Schneyder dargebotenen originalen und ausführlichen Regieanweisungen Wagners, die schmunzeln ließen, da diese selbst mit modernster Technik bis heute unrealisierbar geblieben sind. Auch diese Veranstaltung war ausverkauft, allerdings sicher weniger wegen des Wagner-Themas, sondern als Sympathie-Kundgebung der Wormser für „ihre“ Stars. Es kamen fast neunhundert Besucher.

_Theaterbegegnungen im Herrnsheimer Schloss_

Diese Veranstaltung hat bereits gute Tradition bei den Festspielen und stellt in der Vielseitigkeit des Programmablaufs einen der interessantesten Aspekte im Rahmenprogramm, den man nicht versäumen sollte. Das sehen sehr viele Besucher mittlerweile auch so. Zu den Morgenvorträgen kamen weit mehr als erwartet – man rechnet für solche wissenschaftlich-literarischen Vorträge normalerweise mit einem Interesse von 30 bis 40 Personen, aber die 150 Sitzplätze waren schnell besetzt und weitere etwa 50 standen noch draußen vor der Tür. Teils im schönen Saal des Schlosses, teils unter freiem Himmel, teils in der Remise, treffen sich Zuschauer und Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Vertreter aus Kirche und Wirtschaft, um miteinander zu diskutieren, zu lachen und zu streiten. Eine einzigartige intime Gelegenheit, richtig nahe an die VIPs herantreten zu können. In diesem Jahr war das Thema „Was ist deutsch?“.

In den Morgenvorträgen beleuchtete Kulturkoordinator Volker Gallé Literatur und Politik als deutsches Dilemma, Monika Carbe referierte über den Missbrauch von Schiller als Nationaldichter und Gunther Nickel sprach anhand einer Zuckmayer-Rezipation über das Deutschlandbild vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Bundesrepublik und wies dabei fast nebenbei die Zuordnung von Ernst Jünger als rechtsgerichteten Autor vom Tisch. Dabei stellte er auch fest, dass dies der Stand der aktuellen Jünger-Forschung sei.

Für die Programmpunkte danach reichte natürlich der Platz mit dem wunderschönen englischen Park dahinter für alle aus – aber auch hier war die Remise dennoch gefüllt bis auf den letzten Platz. Mittags folgten Texte über die Deutschen, gelesen von den Festspiel-Darstellern, von Tacitus bis Willy Brandt – ein sehr aufschlussreiches intensives Erlebnis zum Deutschsein. Höhepunkt war wie schon im letzten Jahr der Auftritt von Wiebke Puls (Brunhilde) mit umgeschnalltem Akkordeon (und meist Zigarette im Mundwinkel) und Itzhak Fintzi (König Etzel), die mit dem Festspiel-Ensemble für ihre eigenen musikalischen Interpretationen der Hebbel`schen Nibelungentexte faszinierten und begeistern konnten. Sehr intim und locker startete bereits der Auftritt: „Hallo, wir sind hier, um ein bisschen Musik zu machen“. Cello, Geige, Trompete und viele subtile Schlaginstrumente präsentierten eine experimentelle musikalische Avantgarde. Die Zuschauer lieben es, wenn Wiebke Puls ins Mikrophon erbärmlich schreit, faucht und haucht. In der Zugabe kam auch Maria Schrader (Kriemhild) auf die Bühne und beide sangen anstatt des bekannten Königinnenstreits die mitreißend zärtliche Version einer Liebeshommage der Königinnen („You are so beautiful“) zueinander und lagen sich danach unter stürmischen Applaus in den Armen. Abgeschlossen wurde mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was ist deutsch?“ mit Hark Bohm (Filmemacher), Dieter Wedel (TV- und Filmregisseur, Intendant der Festspiele) und Prof. Paul Nolte von der Universität Bremen.

_Jugendblasorchester Rheinland-Pfalz spielte zeitgenössische Kompositionen aus aller Welt und Joern Hinkel las dazu deutsche Reden und Aufsätze aus sechs Jahrhunderten_

Joern Hinkel ist Regieassistent von Dieter Wedel und las Texte von Deutschen über Deutsche, Thesen und Antithesen, Beschwerden, Aufrufe, Zornausbrüche, Gedichte und Gesetzestexte, lächelnd, tobend und analytisch. Dazu gab es zeitgenössische Musik, die von der Heimat erzählte.

_Peer Gynt_

Einer der weiteren Höhepunkte war die Darbietung des Festspielschauspielers André Eisermann, der mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz Edward Griegs Schauspielmusik zu „Peer Gynt“ darbot. Das war eine seltene Gelegenheit, die originale Bühnenmusik gelöst vom literarischen Ursprung zu erleben. Neben der Philharmonie waren auch der Wormser Bachchor und „Cantus Novus“ sowie die Sopranistin Caroline Melzer integriert, die zusätzlich das Lied der Solveig sang. Der rote Faden der Schauspielhandlung wurde durch Zwischentexte nachvollziehbar. Den Part der Titelfigur übernahm André Eisermann und machte wie gewohnt seine Lesung zum Erlebnis. Ob nun Goethes Werther oder das Hohelied der Liebe – mit denen er früher Lesungen gab –, schafft er es immer, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er rezitiert nämlich nicht, sondern verkörpert das, von dem er spricht. Seine jährlichen Vorstellungen im Begleitprogramm der Festspiele sind in Worms seit jeher stets ausverkauft. Aber auch Eva Bartdorff, die ebenfalls Texte las, war ihm ebenbürtig.

_Musikwettbewerb_

Für dieses Jahr hatten die Festspiel-Veranstalter eine ganz besondere Idee und riefen zu Beginn des Jahres zu einem Musikwettbewerb auf, wo jeder Nibelungensongs einreichen konnte. Aus über 50 Liedern wählte eine Jury, bestehend aus SWR, der Popakademie Mannheim und den Festspielen, zehn Bands aus. Diese spielten an zwei Abenden je 30 Minuten Programm und das Spektrum reichte dabei von Reggae, Rap, Pop und Rock über Volksmusik, Country und Dark Wave bis zur Klassik. So verschieden die Stilrichtungen waren, umso unterhaltsamer waren entsprechend auch die Beiträge zum Nibelungen-Thema.

Eine CD dazu ist auch erhältlich, auf der alle ausgewählten Bands „ihren“ Nibelungen-Song präsentieren. Ein Beiheft enthält alle Texte und die Anschaffung macht Freude und ist auch sehr günstig. Die „Musikwettbewerb – Nibelungen-Festspiele Worms“-CD kostet nur 5 Euro und ist erhältlich über info@nibelungen-museum.de.

Enthalten darauf ist auch der Song ‚Siegfried‘ von _Corpsepain_, welche auf der Schwesternseite von |Buchwurm.info|, |POWERMETAL.de|, mit ihrer dunklen Saga-Interpretation des Nibelungen-Themas rezensiert wurden: [„The Dark Saga of the Nibelungs“.]http://www.powermetal.de/cdreview/review-6242.html Sie schlugen sich auch recht gut im Vergleich zu anderen Bands, und wenn ich mich nicht ganz täusche, stieß ich mit meinen Freunden während ihres Auftritts auf „Friedrich“ an (Nietzsche versteht sich). Auch diese CD ist für 9,99 Euro zu beziehen unter info@nibelungen-museum.de.

Das Abschlusslied der CD, ‚Brunhilds Klage‘, stammt von _Weena_, die die besten Interpreten auf dem Festival waren und auch in der Publikumsgunst ganz oben stehen. Sie beschlossen, nachdem sie beim Wettbewerb ausgewählt wurden, eine ganze Rockoper zu den Nibelungen zu verfassen und spielten daher auch ein reines Nibelungen-Set. Thomas Lang ist Rockmusiker und Sylva Bouchard-Beier ausgebildete Opernsängerin. Wie sie zueinander fanden, ist auch eine besondere Geschichte. Thomas kam, um seine Stimme bei ihr ausbilden zu lassen und beide merkten schnell, dass der Crossover aus Rock und Klassik begeistert. Ihre Musik, die in melodischen Passagen in ihrer Heiterkeit an Elemente von |Goethes Erben| erinnert, im Zusammenklang des Beats mit opernartiger Klangfülle aber eher Bands wie |Therion| zuzurechnen ist – und damit natürlich auch an Wagner erinnert –, hat auch wegen der stimmlichen Leistung von Sylva etwas von |Rosenstolz|. Bislang wird die pompöse Zusatzmusik noch durch Synthesizer eingespielt, aber der Auftritt mit einem großen Orchester ist geplant und durch die Zusammenarbeit mit der Festspiel GmbH auch nicht mehr utopisch. Den ersten Teil der Rockoper, „Das Nibelungenlied – Von Betrug, Verrat und Mord“, gibt es bereits auf CD, nächstes Jahr wird der zweite Teil folgen. Auch diese CD ist relativ günstig über das Nibelungen-Museum für 13 Euro zu erwerben: info@nibelungen-museum.de.

Das Festival nannte sich „Coole Sounds für Kriemhild, Hagen & Co.“ und war den Besuch wert. Leider aber waren im Gegensatz zum anderen Rahmenprogramm der Festspiele die beiden Musikfestival-Tage sehr mager besucht, was darauf schließen lässt, dass im nächsten Jahr dieses neue Experiment gestrichen wird. Das wäre sehr schade, denn die Idee war gut und ein Musikfestival ist sicher ein wichtiger Baustein, der einfach noch eine Chance bräuchte, sich zu etablieren. Dass dagegen _Weena_ in einem eigenen Konzert ihre Oper aufführen dürfen, ist mehr als sicher, so umfeiert, wie sie in der lokalen Presse wurden.

_Kikeriki-Theater_

Im dritten Jahr ist dieser Programmpunkt bereits ein durchgehend ausverkaufter Renner während der Festspiele. Das Darmstädter Kikeriki-Theater bot mit „Siegfrieds Nibelungenentzündung“ ein sagenhaftes Blechspektakel um Siggi, Albi und den smarten Lindwurm im Hessen-Dialekt: deftig, heiter und krachig.

_Weiteres Programm_

Nicht nur Nibelungen waren Thema des Rahmenprogramms. Die neue städtische [Literaturinitiative,]http://www.worms.de/deutsch/leben__in__worms/kultur/literaturinitiative-worms__teilnehmer.php der auch |Buchwurm.info|-Schreiber Berthold Röth angehört, trug mit Lesungen bei: _Manfred Krug_ las Bertolt Brecht, _Christian Quadflieg_ las Friedrich Hebbel (immerhin hatte dieser auch das Nibelungen-Festspiel ursprünglich verfasst) und gerne möchte er in einer künftigen Inszenierung einmal den Hagen spielen; _Eva Menasse_ las aus ihrem Debüt-Roman „Vienna“.

Diese Lesungen kosten natürlich Eintritt, aber die_ [Nibelungenlied-Gesellschaft]http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/ _veranstaltete während der gesamten Festspiele morgens um elf Uhr im Historischen Museum kostenlose Vorträge zum Nibelungenthema, die in diesem Jahr den Stoff im Rahmen der europäischen Literaturgeschichte betrachteten. Das Heldenepos ist zweifelsfrei eingebettet in eine europäische Kulturtradition. Das Publikum dafür ist gemischt, es kommen sowohl Wormser als auch Festspielbesucher der Stadt, die sich mit dem Thema näher beschäftigen wollen. Die Vorträge haben wissenschaftlichen Anspruch, sind aber auch für den Laien verständlich gehalten. Im Einzelnen:

„Untergangsszenarien an der Wende zur neuen Zeit – das Nibelungenlied und Hamlet“
„Die Nibelungen in Hebbels Briefen“
„Höfische Heldendichtung im Umfeld des Nibelungenliedes“
„Fantasien von Germanen und Kelten – Fouqués „Held des Nordens“ und Macphersons „Ossian“
„Rüdiger und Dietrich im Nibelungenlied und bei Hebbel“
„Das Nibelungenlied und die Märchen“
„Die Nibelungen als Fantasy-Stoff“ und
„Die Geburt des Rechts aus der Rache – Orestie und Nibelungenlied im Vergleich“.

Normalerweise werden diese Vorträge auch auf die angegebene Website gestellt, jedenfalls findet man dort auch die Vorträge früherer Jahre.

Alles Weitere auch noch en detail aufzuzählen, sprengt den Rahmen dieses Überblicks. Es gab noch mehrere verschiedene Märchenabende mit Harfenbegleitung, Theater-Aktionstage für Kinder und Jugendliche, neben dem Kikeriki-Theater noch weitere neue Kindertheaterstücke um Drachen und Ritter. Da die Festspiele in die Ferienzeit-Programme fallen, gab es darüber hinaus von vielen kleineren Anbietern Thematisches zu Siegfried und den Nibelungen. An weiteren Musikveranstaltungen spielten „Il Cinquecento“ im Dominikanerkloster Musik der Renaissance und „Capella Antiqua Bambergensis“ mittelalterliche Musik. An Ausstellungen zum Nibelungen-Thema gab es gleich vier an verschiedenen Orten: „Siegfriede – Auf der Suche nach Helden unserer Zeit“ (sehr freie, moderne Interpretationen im Kunsthaus und im Historischen Museum), „Bilder zum Nibelungen-Buch im ARUN-Verlag von Linde Gerwin und Nibelungenskulpturen von Jens Nettlich“ (Nibelungen-Museum) – http://www.nibelungenkunst.de/ – und in der Sparkasse eine Bilderreise zu den Schauplätzen des Nibelungenliedes aus dem |dtv|-Buch „Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte“.

Für die Wormser Bevölkerung gibt es eineinhalbstündige Backstage-Vorführungen hinter den Kulissen, die einen Blick auf die Masken, das Anprobieren etc. erlauben und durch das tolle Ambiente mit dem Wormser Dom sowieso sehr außergewöhnlich sind. Die Sakristei des Gotteshauses ist abends sogar plötzlich zur Garderobe umfunktioniert, in welcher hektisch die Bekleidung gewechselt wird. Die kirchlichen Vertreter sind da auch ganz ambivalent, sie erlauben wohlwollend das ganze Spektakel, sind aber auch kritisch, dass ihre christliche Kulisse jährlich zur Todesbühne wird, wo ein Schrecken und Schauer auf den anderen folgt.

Neben den Schauspieler-Talkrunden gab es auch ähnliche kleine Gespräche vor Publikum mit sonstig im Rahmenprogramm Tätigen, wie Christian Quadflieg, der ja seinen persönlichen Hebbel in einer Veranstaltung präsentierte. Ebenso mit Otto Sander, auch einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler („Die Blechtrommel“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“), der über sich und sein Leben sprach, was der SWR live im Radio übertrug.

_Ausblick_

2006 noch nicht, aber 2007 werden die Festspiele eine Woche länger gehen. Das Rahmenprogramm wird noch weiter ausgebaut und qualitativ gesteigert werden. Dieter Wedel will auch während der Festspiele eine Art „Meisterschule“ mit Workshops für Theaternachwuchs aus der Region aufmachen. Dazu wird mit den umgebenden Theatern Kontakt aufgenommen und auch das jeweilige Festspiel-Ensemble eingebunden. 2006 hat auch ein Jugendtheaterprojekt seine Premiere.

An Inszenierungen gibt es in den nächsten beiden Jahren wieder das Stück von Moritz Rinke, das in den ersten beiden Festspieljahren aufgeführt wurde. Mit diesem hatten die Wormser Festspiele 2002 begonnen und es war erstmals wieder eine ganz neue Fassung der Nibelungen. Dies wird nun aber in der Länge stark erweitert, so dass 2006 der erste Teil zur Aufführung kommt und erst 2007 der zweite Teil folgt. Regie wird dann auch wieder Dieter Wedel selbst führen. Die Besetzung des Ensembles soll zur Auflockerung allerdings eine völlig andere sein. Otto Sander ist als Hagen im Gespräch, aber Manfred Zapatka ist gigantisch und schwer ersetzbar. Bleiben werden wohl Maria Schrader als Kriemhild und Götz Schubert als Siegfried. Ein Schauspieler-Team von der Güte des jetzigen Ensembles zusammenzustellen, ist ein großes Problem. Auch soll die Besetzung viel größer sein als dieses Jahr.

Für die Zeit danach denkt man an ein Nibelungen-Musical, die „Nibelungen“ zumindest mit großer Musikbegleitung, wenn nicht sogar an eine Rock-Oper. Selbstverständlich würde für die Rolle des Siegfried dann ein bekannter Rocksänger verpflichtet. Im Ideenspektrum Wedels für das Rahmenprogramm ist auch „Das Leben des Siegfried“ – eine Collage aus Pantomime, Liedern und Szenen, ausschließlich auf Siegfried bezogen, comicstripartig. Nicht umsonst erinnert der Arbeitstitel an Monty Python`s satirischen Filmklassiker „Das Leben des Brian“. Götz Schubert schlägt im Beiprogramm ein Kammerstück vor, in dem geschildert wird, was in den sieben Ehejahren zwischen Kriemhild und Siegfried passiert – „Szenen einer Nibelungenehe“. Oder auch, welche Verbindungen zwischen Siegfried und Brunhild bestehen, schon vor ihrem Zusammentreffen, bei dem sie von den Burgundern getäuscht wird. Die Möglichkeiten für zusätzliche Geschichten in der eigentlichen Sage sind endlos. Das Hebbel-Stück als Inszenierung ist für die nächsten Jahre jedenfalls zu den Akten gelegt.

Leben lieben

Ein Kapitel aus Max Köhlers neuem unveröffentlichtem Roman „Leben lieben“.

Max Köhler wurde 1942 in Pilsen als Sohn eines deutsch-böhmischen Kaufmanns und einer südfranzösischen Kaufmannstochter geboren. Er studierte Malerei und arbeitete als Fotoreporter und Textredakteur bei Tageszeitungen. Seit 1988 lebt er als freier Maler in Schutterwald bei Straßburg.

http://www.koehler-max.de/

_Gott steh uns bei: ein Heimatmaler_

Professor Subers jüngster Bruder Fritz (auch schon vierundfünfzig Jahre alt) war Maler, genauer gesagt „Heimatmaler“. So wurde er jedenfalls in der Schlossenhausener Lokalzeitung genannt. Überflüssig zu sagen, dass der Professor ihn aus ganzem Herzen verachtete, weil er nicht die Kraft hatte, in einem bürgerlichen Beruf zu arbeiten.

Fritz war anfangs nicht sehr glücklich über den Begriff Heimatmaler, den ihm die Lokalzeitung übergestülpt hatte, fand sich aber später damit ab. Gegen Ende seines Lebens trug er ihn gar als Ehrentitel. Da der Zeitgeist alles verächtlich machte, was mit dem Begriff „Heimat“ zusammenhing, fühlte er sich verpflichtet, für die Heimat einzutreten. Er tat das nicht etwa, weil er seine Heimat liebte, ganz im Gegenteil, sie war ihm oft genug zuwider, aber er musste sich aus irgendeinem verqueren Oppositionszwang für alles einsetzen, wogegen die anderen waren, ohne zu begreifen, weshalb sie dagegen waren und er dafür. Fritz war etwas wirr im Kopf und, gelinde gesagt, sehr verträumt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, am allerwenigsten auf seine Bilder. Merkwürdigerweise schadete das seinen Werken nicht. Sie wirkten pointilistisch. Vermutlich war jeder Point einer seiner Konzentrationshöhepunkte.

Er war groß und hatte eine merkwürdige Art zu gehen: Sein Oberkörper blieb dabei relativ ruhig, aber krumm wie ein Fragezeichen, während er die Beine nach vorne warf, fast von sich schleuderte und sein müder verbogener Oberkörper sie ganz behutsam wieder einholte, als ob er mit seinen Beinen eine Pflicht vorgab und sein Körper keine Lust hätte, sie zu erfüllen, es dann aber doch tat, provozierend langsam wie ein renitenter Internatsschüler. Wiegend und schaukelnd eierte unser Mann vorwärts: ein arrogantes Dromedar, das seine Beine losschickte und den höckrigen Oberkörper in die kulturelle Wüste einer mittelbadischen Kleinstadt nachschleifte.

Seine ganze Körpersprache sagte: Lasst mich bloß in Ruhe, ihr seht doch, dass ich schon genug Mühe habe, mich zu bewegen, warum sollte ich also noch etwas tun, wozu ich ganz gewiss nicht in der Lage bin, denn so ungeschickt, wie ich mich bewege, erledige ich auch alles andere, verschont mich mit euren Bitten um dieses und jenes, ich schaffe es nicht.

Und tatsächlich war ihm fast alles im Leben öde Pflicht. Er konnte nicht unterscheiden zwischen Freizeit, Sport, Arbeit oder Vergnügen, ihm war alles gleich zuwider, aber er sah ein, dass er nicht den ganzen Tag im Bett liegen und lesen konnte, obwohl er dies am liebsten tat, und er sich nur von Rückenschmerzen hinlänglich aufgefordert sah, seine Liegestatt zu verlassen. Lesen im Bett war seine einzige Leidenschaft. Anfangs waren es gute Bücher gewesen, denn er hatte keinen schlechten Geschmack, was man bei diesem trägen Mann eigentlich nicht vermutetet hätte, denn auch eine so scheinbare Kleinigkeit wie ein guter Geschmack verlangt eine gewisse Anstrengung, nämlich ihn zu erwerben, aber Fritz war hier ein Naturtalent, er las von Anfang an und ohne dass ihm das einer empfohlen hätte, nur gut geschriebene Bücher. War er einmal durch Unaufmerksamkeit, Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit an ein schlechtes geraten, war er in der Regel nicht über die erste Seite hinausgekommen.

Jawohl, Weltliteratur las er, wie er sich stolz immer wieder selbst vorsagte, denn es war ja niemand da, den er darüber hätte aufklären können, weil auch das weibliche Geschlecht ihn mied wie selbstverständlich die Männer, die mit einem Geschlechtsgenossen nichts anfangen konnten, der sein halbes Leben verschlief, verlag oder verlas.

Nur gute Bücher zu lesen, hat jedoch den Nachteil, dass einem irgendwann der Stoff ausgeht, weil es nicht unendlich viel davon gibt, und so sank Fritz nach einigen Jahren Weltliteratur eine Stufe tiefer und fing an, Tageszeitungen zu lesen, weil es davon jeden Tag Nachschub gab. Er las selbstverständlich nur die besten Zeitungen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Süddeutsche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Gerade die Zürcher Zeitung machte ihm viel Freude, weil die Schweizer Wörter verwendeten, die es im Deutschen nicht gab.

Fritz amüsierte sich eine Weile mit dem Spiel, die Tendenz eines objektiven Artikels zu erraten, aber eines Tages wurde ihm dies zu langweilig und er fing an, die Lokalzeitung von Schlossenhausen zu lesen. Spätestens hier hätte er sich eingestehen müssen, dass er süchtig nach Lesestoff war, denn las einer die Heimatzeitung, der bei klarem Verstand war? Einmal wurde die Lokalzeitung aus irgendeinem Grunde nicht geliefert und er machte sich mit schweren Entzugserscheinungen über die Gebrauchsanweisung seiner neuen Kaffeemaschine her. Er las sie von sieben Uhr morgens bis etwa zwei Uhr nachmittags und danach hätte er schwören können, dass er immer noch nichts verstanden hatte.

Von einer gewissen Unruhe getrieben, wachte er jede Nacht gegen zwei Uhr auf und wartete von da an auf das Lokalblatt, das gegen vier Uhr vierundzwanzig eintraf. Er las es dann langsam, damit er möglichst viel davon hatte, angefangen von der Nachricht, dass sich die dritte Riege des Turnvereins im „Grünen Baum“ traf, bis hin zu den Sprechstunden des Oberbürgermeisters am Donnerstagabend um acht. Er verglich das Gelesene von Zeit zu Zeit mit seiner Weltsicht, die er sich als Kind durch die Lektüre der „Micky-Maus“-Hefte erworben hatte, und fasste die Diskrepanz in unnachahmlichen Aphorismen zusammen, die ihm bei schlichteren Gemütern den Ruf einbrachten, „durchzublicken“, bei den Kassiererinnen in seinem Supermarkt dagegen Unwillen hervorriefen, weil er sie zu oft wiederholte, ohne sie zu aktualisieren.

Nachdem er alles gelesen hatte, was man in Entenhausen lesen konnte, und ihm der geringe Nutzen einer aus dem Chinesischen übersetzten Gebrauchsanweisung für Kaffeemaschinen klar geworden war, sah er sich nach neuen Gewohnheiten um und stieß dabei auf den Historischen Verein. Er besuchte eine Zusammenkunft des Ausschusses für Vorgeschichte. Hier dominierte ein älterer Herr, der keinen Satz grammatikalisch richtig zu Ende bringen konnte, was auf die Dauer doch ein wenig störte, weil man gezwungen war, zu erraten, was er meinte. Das brachte zwar eine gewisse Würze hinein, weil alle versuchten, zu erraten, was der Vorsitzende gesagt hatte, aber auf die Dauer war es doch ein wenig ermüdend.

So erriet der Ausschuss für Vorgeschichte eines Tages, dass der Vorsitzende meinte, steinzeitliche Opferstätten entdeckt zu haben, weil er Vertiefungen auf großen Felsblöcken im Schwarzwald gefunden hatte, die er für Blutrinnen hielt. Andere Historiker außerhalb des Ausschusses erklärten zwar, das seien Regenrinnen, aber der Ausschuss fand Blutrinnen einfach spannender und einigte sich mit seinem Vorsitzenden auf Blutschalen. Wer geopfert hatte, wurde nicht ganz klar, vielleicht die Kelten, aber wahrscheinlich waren es doch Steinzeitleute. Was sie geopfert hatten, wurde in langen Sitzungen beschlossen, man tendierte zu Tieropfern, ohne Menschenopfer ganz auszuschließen, aber Tieropfer waren deshalb besser, weil es sich möglicherweise bei den Opferpriestern um Vorfahren des Ausschusses für Vorgeschichte gehandelt hatte und keiner rituelle Mörder zu Verwandten haben wollte.

Manche Leute in Schlossenhausen fragten sich natürlich, womit Fritz seinen Lebensunterhalt verdiente. Solche Fragen waren ihm peinlich. Er wollte nicht zugeben, dass er die meiste Zeit des Tages nur im Bett lag und las und so erfand er die Mär vom Kunstmaler, der wenig malte, weil er viel nachdachte. Er wollte niemanden erzählen, dass er von einer sektenbesessenen Tante mit einem undurchsichtigen Vorleben einige hunderttausend Euro geerbt hatte und nicht die geringste Lust verspürte, etwas Vernünftiges zu arbeiten. Das hätte im sozialistischen Schlossenhausen böses Blut gemacht. Weil ihn aber die Leute immer unverschämter nach seiner Malerei fragten, krakelte er ein paar Bilder auf Leinwand und bastelte sich eine Theorie dazu, denn man musste als Maler eine Theorie haben, so etwas wie eine Sendung oder zumindest eine Botschaft, sonst wurde man bei den Verantwortlichen der städtischen Galerie nicht ernst genommen und hatte auch im Künstlerverein einen schweren Stand; ja, man bekam nicht einmal einen Ausweis als Künstler, mit dem man Pinsel zum halben Preis kaufen konnte.

Schlau wie Fritz nun einmal war – denn die Bequemen sind auch schlau, vermutlich, weil sie ständig darüber nachdenken müssen, wie man Beschäftigung vermeidet – erfand er die Theorie, dass man als Maler keine Theorie brauchte, sondern einfach nur das malen sollte, was einem auffiel und das dann möglichst so, dass man es wiedererkennen konnte.

Natürlich ging ein Aufschrei durch die lokale Malszene. Fritz wurde auf der Stelle geächtet und war fortan kein denkender Maler mehr, sondern ein geistig beschränkter Kunsthandwerker. Die Schwierigkeiten mit der städtischen Galerie nahmen zu, was ihn aber nicht weiter störte, denn so konnte er endgültig im Bett bleiben, weil sich keiner um ihn kümmerte, mögliche Kunden mit eingeschlossen.

Aus Langeweile brach er aber eines Tages dann doch eine heftige Auseinandersetzung mit der Leiterin der Galerie vom Zaun, einer promovierten Kunsthistorikerin, die auf der Höhe der Zeit war und Fritz deshalb als parasitäres Subjekt betrachtete. Nicht etwa, weil er im Bett lag und dort nichts tat, sondern weil er ein Mann war und malte. Es gab doch so viele unterdrückte Frauen, die auch malten. Und viel besser malten als Fritz, zeitgemäßer, minimalistischer oder gestischer. Fritz war nicht nur ein parasitärer Maler, sondern malte auch noch nach Ansicht seiner Kolleginnen (die meisten waren Hausfrauen oder Lehrerinnen) viel zu hausbacken und kundenfreundlich. Sein schlimmster Fehler aber war, dass er gut malte. Das war auf keinen Fall zu tolerieren. Musste man nicht als moderner Maler auf Konventionen pfeifen? Wer ließ sich heute noch in das Gefängnis einer guten Malerei einsperren? Mit dem Gegenteil mochte Fritz aber nicht dienen, und so versank er erleichtert, weil keine Nachfrage nach seinen Bildern herrschte, wieder in die Bettkissen, rechts die „Frankfurter Allgemeine“, links Musils „Drei Frauen“ und auf dem Nachttisch Sartres „Wörter“, wovon ihm besonders die ersten drei Seiten gefielen, auf denen der Philosoph seinen Verwandtschaftsgrad zu Albert Schweitzer beschrieb. Fritz Suber hatte das allerdings schon mindestens ein Dutzend mal gelesen, was die Brillanz dieser zweiundsiebzig Zeilen doch ein wenig milderte.

Die Kunsthistorikerin war vom Oberbürgermeister eingestellt worden, weil dieser von der Vision geplagt wurde, eine Stadt von der Bedeutung Schlossenhausens müsse ein Kunstleben haben, um leitende Angestellte und Fabrikanten herzulocken. Sein Plan sah so aus: Ist Kunst da, kommen auch leitende Angestellte. Fehlt Kunst, bleibt diese wichtige Oberschicht weg und die Stadt versinkt in Dumpfheit, ganz abgesehen davon, dass er dann zu wenig Gewerbesteuer einnahm und das Rathaus nicht umbauen konnte.

Nun mochten zwar die Dumpfen in der Stadt die leitenden Angestellten nicht, weil diese in der Regel aus Norddeutschland kamen, und Norddeutsche spätestens seit Luthers Sprachgewohnheiten und dem daraus resultierenden Dreißigjährigen Krieg in Süddeutschland etwa so gern gesehen waren wie Vegetarier in einer Metzgerei.

Aber der Oberbürgermeister verstand nichts von Kunst, weil sein Vater Bote bei der Ortskrankenkasse gewesen war und einen harten Kampf um seine Existenz hatte führen müssen. Deshalb hatte er seinen Sohn auch nicht an die Kunst heranführen können. Nur der Kalender der Krankenkasse hatte im Elternhaus des Oberbürgermeisters an Malerei erinnert. Deshalb wusste der Oberbürgermeister nicht, dass ein kunsthistorisches Studium zur Beurteilung von neuen Kunstentwicklungen wenig taugt, weil ein Kunsthistoriker nur rückwärts blicken kann, wie schon der Name sagt. Das löste natürlich das Dilemma nicht: denn wen sollte er sonst die lokale und internationale Kunstszene beobachten lassen? Er kam einfach nicht auf die Idee, jemanden zu beauftragen, der etwas Geschmack hatte, denn das Beamtengesetz verlangte für eine höhere Stelle ein abgeschlossenes Studium. Es war klar, dass man guten Geschmack nicht einfach studieren konnte, noch dazu, wenn die Professoren auch keinen guten Geschmack gehabt hatten. Außerdem: Wie hätte wohl der Oberbürgermeister jemanden mit gutem Geschmack erkennen können? Da er selbst keinen hatte, konnte er auch nicht sehen, wenn jemand ihn hatte. Und wieso einer Oberbürgermeister werden konnte, der keinen Geschmack und kein Urteil besaß, führte Suber zu tiefgreifenden Überlegungen, an deren Ende die entautorisierten Eliten nach dem verlorenen Kriege standen.

Fritz schien es, als ob eine sich fortpflanzende Fernwirkung des verlorenen Krieges unsere Nation zur Mittelmäßigkeit zwingen würde. Unsere neuen Eliten wollten, so sah es Fritz, nach dem Kriege um keinen Preis der Welt mehr auffallen; nach all den „Auffälligkeiten“ des von uns angezettelten und verlorenen Weltkrieges sicher kein ganz unverständlicher Wunsch. Da unsere neuen Eliten keine Philosophen gewesen seien und auch keine Zeit zum Nachdenken gehabt hätten, seien sie auf den Gedanken gekommen, einfach das Gegenteil von dem zu tun, was die Nationalsozialisten getan hätten. Das aber hätte in eine Sackgasse geführt, weil nicht alles falsch gewesen sei, was die Braunen gesagt oder getan hatten. Wenn beispielsweise ein Nationalsozialist gemeint habe, ein Reh sei braun, könne es nach dem Krieg nicht automatisch grün werden, weil wir den Krieg verloren haben.

Hans Thoma konnte nicht deswegen zum schlechten Maler werden, weil nach dem Krieg alles anders war. Wenn man Thoma verachtete, weil die Nazis ihn verehrt hatten, beging man doch, so schien es Fritz, genau denselben Fehler wie die Nazis, die seine Malerei zur Staatskunst erhoben hatten: Nach dem Krieg gehörte es zur politischen Korrektheit in Westdeutschland, über den Heimatmaler Thoma milde zu lächeln, als habe er es nicht besser gekonnt, weil er eben ein schlichter Junge aus dem Hotzenwald gewesen sei. Keinesfalls war es erlaubt, so zu malen wie er, sonst wurde man vom Kunstbetrieb geschnitten. Das sah dem Mal- und Ausstellungsverbot der Nazis ziemlich ähnlich. Eigentlich war es nur die andere Seite derselben Medaille: „Kunst wird von Staats wegen verordnet – wer anders denkt, wird ausgegrenzt“. Man musste dankbar sein, dass man nicht in ein Arbeitslager kam, wenn man wie Thoma malte. Doch eigentlich landete man ja im Arbeitslager. Da niemand die Bilder kaufte, die im Stil von Thoma gefertigt waren, weil sie politisch unkorrekt waren, musste man letztendlich arbeiten gehen und sich um eine Stelle als ungelernter Arbeiter bemühen, da man ja nichts anderes gelernt hatte als zu malen wie Thoma. Da auf den Akademien nicht gelehrt wurde, zu malen wie Thoma, hatte man es sich wie ein dissidierender Ostblockmaler selbst beibringen müssen. Wagte man sich mit diesen Bildern an die Öffentlichkeit, wurde man zwar nicht verhaftet, aber gnadenlos ausgepfiffen. Man geriet sozusagen in die Sippenhaft des Ausgepfiffen- und Verachtetwerdens. In einem Konzentrationslager hätte man wenigstens Gleichgesinnte neben sich gehabt. Als Thoma-Nachfolger hingegen blieb einem in Westdeutschland nach dem Krieg nur die Einzelhaft der Einsamkeit.

Angefangen hatte dieses geistige Zwangskorsett mit der Gesinnungs-Schnüffelei der Entnazifizierungsbehörden, die einfach die Gesinnungs-Schnüffelei der Nazis kopierten, nur anders herum. Wer blond und blauäugig war, tat fortan gut daran, sich umzufärben, wer den Heimatmaler Hans Thoma liebte, hielt am besten den Mund.

Fritz hätte es übrigens gerne gesehen, wenn sich Ministerialbeamte oder Feuilletonisten wie Enzensberger um diese Fragen gekümmert hätten. Dass sie dazu beharrlich schwiegen, das Problem nicht aufgriffen, ja es anscheinend gar nicht erkannten (sonst hätten sie sich ja dazu geäußert, und man hätte davon gehört), ärgerte ihn maßlos.

Man ist erstaunt, dass sich ein so träger Mann wie Fritz überhaupt ärgern konnte. Ärgern verlangt doch auch einen gewissen Einsatz. Aber er konnte sich über vieles ärgern. Das steigerte sich, weil er ja mit niemanden reden konnte, zu regelrechten Wutanfällen. Sprach er dennoch einmal mit einer Zufallsbekanntschaft, hörte er nicht zu, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. So konnte es passieren, dass er mitten in einem harmlosen Gespräch plötzlich einen Wutanfall bekam, der seine Gesprächspartner erschreckte, weil sie nicht begriffen, wie er zustande gekommen war, jedenfalls nur schwer auf die gegenwärtige Situation bezogen werden konnte.

Man könnte nun auch vollkommen berechtigterweise fragen, was Fritz die Eliten nach dem Kriege angingen, er war ja weder Ministerialbeamter noch Dichter. Aber wir müssen einfach feststellen, dass er sich diese Gedanken machte. Er hatte die Angewohnheit, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen und andererseits Themen zu vernachlässigen, die eindeutig seine Sache waren, wie etwa die, höflich zu sein und sich um seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das war ja gerade der Ärger, den er in Schlossenhausen verursachte. Er fühlte sich für Dinge zuständig, für die er nicht zuständig war.

Den Oberbürgermeister und den Kulturamtsleiter von Schlossenhausen fesselte zu der Zeit, als die Frage auftauchte, was eigentlich Kunst in Schlossenhausen sei, noch ein anderes Problem, nämlich die Frage, woher sie selbst kamen. Der Oberbürgermeister wollte seinen Vater vergessen machen, weswegen er immer viel zu elegante Kleidung trug, die er für vornehm hielt, aber natürlich gerade damit auf seine bescheidene Herkunft aufmerksam machte, und der andere prahlte ständig mit seinen Ahnen, weil er wusste, dass ihm etwas fehlte, er wusste nur nicht, was es war, aber er ahnte, dass es mit seiner Herkunft zusammenhing. Jedem zufälligen Gesprächspartner erläuterte er, dass er von Luthers Schwiegervater abstamme, was ihm zwar niemand so recht glauben wollte, aber bei Aufsteigern einen großen Eindruck hinterließ, weil es sich so schwer nachprüfen ließ. Wie um alles in der Welt prüfte man nach, ob man von Luthers Schwiegervater abstammte? Kein Wunder, dass Genealogen und Wappenmacher in Schlossenhausen unerwartet Aufträge bekamen, die sie selbstverständlich zur Zufriedenheit der Auftraggeber ausführten.

Irgendwie muss der Kulturamtsleiter aber doch Angst vor ernsthaften Recherchen bekommen haben, denn nach einigen Jahren wandelte er die Geschichte von seiner Herkunft etwas ab. Sie hörte sich dann so an: Meine Vorfahren waren ausnahmslos Pfarrer. Pause. Selbstverständlich nur bis zur Reformation. Hahahaha. Diesen Sketch führte er ungefähr dreimal am Tag auf und hielt sich dabei für zurückhaltend, weil er auf die ständige Erwähnung seines Onkels verzichtete, der Bischof gewesen war und angeblich Hitler dreimal energisch widersprochen hatte.

Die Leiterin der Städtischen Galerie lobte auf Wunsch des Oberbürgermeisters einen Kunstwettbewerb aus, bei dem sie von vorneherein wusste, wer ihn gewinnen würde, nämlich Gerda Breuer, die Freundin der Frau des Oberbürgermeisters, jene schüchtern-zurückhaltende Malerin, die so breiig ausufernd malte und dabei alle Konventionen, die vor 1945 gegolten hatten, missachtete. Um auch sicherzustellen, dass Gerda den Wettbewerb gewann, stellte Kocher-Meier eine Jury zusammen, die aus dem ehemaligen Professor und einer Studienkollegin von Gerda bestand, ganz abgesehen davon, dass der Oberbürgermeister selbstverständlich auch für Breuer war, weil er ein paar Bilder von ihr erworben hatte. Er hatte sie nicht etwa gekauft, weil seine Frau die Freundin von Gerda war, nein, so weit ging sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Frau nicht, begabte Persönlichkeiten an sich zu binden, sondern weil sein Freund, der Textilunternehmer Reser, es ihm geraten hatte.

Reser verstand zwar auch nichts von Bildern, aber er hatte als Unternehmer Glück gehabt und wollte dieses Glück nun irgendwie „weitergeben“, wie er sich ständig im „Schlossenhausener Tageblatt“ ausdrückte, und dabei von wechselnden, aber immer wohlmeinenden Reportern mit den entsprechenden Fragen versorgt wurde („Sie tun ja unheimlich viel für die Kunst. Weshalb tun Sie das? Das müssten Sie doch eigentlich als erfolgreicher Unternehmer gar nicht“). Gleichzeitig wollte Reser natürlich beweisen, dass er ein vornehmer Mensch war, was sich aus seiner Tätigkeit nicht ohne Weiteres ergab, denn er sammelte in großem Stil alte Lumpen ein und ließ sie in riesigen Werken zu neuen Textilien verarbeiten. Eigentlich hätte das den Grünen in der Stadt gefallen müssen, aber ein Grüner ist auch ein Querdenker, deshalb monierten sie, dass Reser bei diesem Recycling Chemikalien verwandte. Vermutlich hätte er sich abends in eine Spinnstube setzen müssen, um aus seinen alten Lumpen neue Fäden zu ziehen. Es war schwer in Schlossenhausen, den Grünen zu gefallen. Manche versuchten es deshalb erst gar nicht. Irgendwie hatte man bei den Grünen immer das Gefühl, dass sie etwas anderes meinten, als sie beklagten. Etwa so, wie man zum Friseur geht, wenn man Krach mit seinem Vorgesetzten hat.

Reser war entzückt von Gerda. War sie nicht im besten Alter und wunderhübsch? Und so scheu! Und sie malte! Gegen die Konventionen, wie es nach dem Krieg der Brauch war! Hatte er nicht zufällig eine Menge Bilder von ihr? War sie nicht die Kunstlehrerin seiner Kinder? Gab sie ihnen nicht wunderbare Noten? Konnte sie nicht einen Kunstpreis vertragen? Würde das nicht ihren Marktwert steigern? Hatte man als erfolgreicher Unternehmer nicht die Macht und die Freude, einen Preis zu vergeben? Wozu war man schließlich mit dem Oberbürgermeister befreundet und Präsident der Industriekammer? Was ergab das alles für einen Sinn, wenn man nicht Freude daraus zog, oder, wie es Reser ausdrückte, seine geschenkte Freude an andere weitergab?

Außerdem war Gerda in derselben Partei wie der Oberbürgermeister. Da es sich um eine sozialistische Partei handelte, war ein Kampfbund gegen die konservative Reaktion unvermeidlich. Man würde es den bürgerlichen Privilegierten schon zeigen, darin waren sich alle einig, die schlecht erzogene Eltern gehabt hatten. Hatte der Vater des Oberbürgermeisters nicht auch unter den Großkapitalisten oder zumindest unter deren bösen Strukturen gelitten? Hatten diese Kapitalisten ihn nicht unterdrückt und auf Botengänge geschickt, so dass er nie die Möglichkeit hatte, Leiter der AOK-Nebenstelle Rammersweier zu werden? Obwohl er weiß Gott das Zeug dazu hatte?

Aber er, der Oberbürgermeister, hatte sich mit eisernem Fleiß aus seiner Misere des Kunstunverständnisses und schlechten Benehmens herausgearbeitet. Eiserner Fleiß, das war das Zauberwort, mit dem er es diesen Typen wie Fritz Suber, dem Maler, schon zeigen würde. Was tat Suber eigentlich den lieben langen Tag außer spinnen? Wovon lebte er? Er hatte ihm noch keine Bilder abgekauft. Tat das überhaupt jemand? Verdammter Schnösel! Tat nichts, hatte nichts, aber riss das Maul auf! Er selbst hatte sich alles erarbeitet, zwar nicht mit seinen eigenen beiden Händen, aber mit seinen eigenen beiden Gehirnhälften! Und der? Tat nichts und legte sich mit einer promovierten, fleißigen und anstelligen Kunsthistorikerin an, die er, der Oberbürgermeister, eingestellt hatte! War das nicht so etwas ähnliches wie Beleidigung? Beleidigung eines Oberbürgermeisters? Er vertrat schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch die Bevölkerung, den Souverän.

Irgendwie musste man diesem Kerl beikommen. Man könnte einfach die Zeit für sich arbeiten lassen. Irgendwann würde ihm schon die Puste ausgehen. Und wenn er Geld hatte, konnte das ja auch nicht ewig reichen. Irgendwann ging auch das größte Vermögen zu Ende. Oh, genähtes Elend! Warum hatte sein Vater kein Vermögen zusammengerafft, dann hätte er es nicht jetzt tun müssen. Obwohl ihm als Oberbürgermeister die Hände gebunden waren. Vielleicht könnte Reser? Vielleicht könnte man …

Mit der gespielten Munterkeit, wie sie Leute zuweilen an sich haben, die ihren Beruf hassen, rief Oberbürgermeister Vetter in die Telefonmuschel: „Doris, Schätzchen, könntest du mir Hans geben?“ Er legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Reser war der Richtige: Mit ihm könnte er so eine Sache durchziehen.

„Hans, du alter Drecksack, was machst du heute Abend?“
„Keine Ahnung“, sagte Reser, „vermutlich muss ich zuhause bleiben, weil ich die letzten drei Tage Termine hatte.“
„Komm doch mit deiner Frau zu uns.“
„Kann ich machen, warte mal, ich schau nur eben in den Terminkalender.“
„Brauchst gar nicht zu schauen“, frotzelte der Bürgermeister, „du hast schon einen Termin bei mir.“
„Stehen nur die Lions drin.“
„Die kannst du schwänzen. Da müsste ich auch hin.“
„Okay.“
„So um acht.“
„Gut.“
„Bis dann.“

Vetter legte auf. Seine Sekretärin stürzte herein. „Sie müssen heute Abend zur Bürgervereinigung Nord-West!“
„Nee“, sagte der Oberbürgermeister.
„Sie haben es fest versprochen“, jammerte Doris, „und ich auch, mindestens dreimal hat Kindler angerufen, ob es auch klappt“.
„Kann nix dafür.“

Vetter hob in gespieltem Bedauern die sorgfältig manikürten Finger, spreizte sie geziert und fuhr sich mit ihnen betont theatralisch durchs gefärbte Haar, wobei er den Kopf affektiert zurückwarf. Er fand es ab und zu lustig, den Neurotiker zu geben, aber Doris war heute nicht nach Lachen zumute; sie hatte diese Szene auch schon zu oft gesehen, um beeindruckt zu sein. Sie gehörte zu seinem Standartrepertoire. Außerdem fand sie, dass sich Neurotiker anders benehmen, nämlich so, wie sich der Oberbürgermeister benahm, wenn er normal war.

„Reser kommt. Er hat nur heute Zeit.“ Vetter fragte sich, wie viel sie mitgehört hatte. Nur den Anfang oder alles? Eigentlich war es ihm egal. Politik ist Politik. Das musste sie langsam wissen, dass hier Notlügen benötigt wurden.
Doris hatte das ganze Gespräch mitgehört. Sie wusste schon seit langem, dass der Oberbürgermeister log. Es machte ihr nichts mehr aus. Am Anfang hatte es sie gestört, wenn er sie mit seinem jungenhaften Lächeln anschwindelte. Heute nahm sie das mit dem selben Gleichmut hin, wie sie das Wetter hinnahm. Sie wollte auch nicht ewig seine Sekretärin bleiben. Sie hatte eine schöne Stimme, die vielleicht eine Kleinigkeit zu dünn geraten war, und sie wollte mehr Zeit mit Singen verbringen, vielleicht sogar Berufssängerin werden. Sie hatte schon eine CD aufgenommen und tingelte an Wochenenden mit lokalen Kapellen über die Dörfer. Das machte ihr viel Freude. Eigentlich lebte sie nur dafür. Der Oberbürgermeister mit seinen Terminen konnte ihr gestohlen bleiben. Irgendwie spürte er das auch. Er hatte deshalb schon seine Fühler nach Ersatz ausgestreckt, damit Doris ihn nicht mit ihrer Kündigung überraschen konnte. Denn „The Games must go on“, wie er ständig witzelte.

Doris sammelte ein paar Notizen auf dem Schreibtisch ein, überhörte die beleidigende Bemerkung Vetters („Was macht das Gezirpe, Inge?“) und ging in das Vorzimmer. Aus diesen dürren Notizen musste sie formvollendete und höfliche Briefe machen. Vetter überließ ihr viel, sogar die Formulierungen. Doris rief den Vorsitzenden der Bürgergemeinschaft Nord-West an.

„Es tut mir leid, Herr Kindler, aber der OB kann heute leider nicht kommen. Das Ministerium hat angerufen. Er muss nach Stuttgart.“
„Er hat es doch so fest versprochen“, jammerte Kindler. „Viele werden nur wegen ihm kommen. Was soll ich denen sagen?“
„Sagen Sie die Wahrheit“, grinste Doris.

Kindler schwor sich, am Abend beim OB vorbeizufahren und in seine Garage zu schauen, ob der grüne Mercedes drinnen geparkt war. Aber gleich darauf wusste er, dass er es nicht tun würde. Aber einmal würde er den Bürgermeister beim Lügen erwischen und es weitererzählen, darauf konnte sich dieser Gockel verlassen. Kindler ahnte nicht, dass die meisten in Schlossenhausen schon wussten, dass der Oberbürgermeister log. Meistens waren es nur höfliche Notlügen gewesen, aber in letzter Zeit dehnte der OB diese Notlügen ein bisschen arg weit aus. Kindler dachte an seinen Onkel, den Friseur, der dem Bürgermeister die Haare färbte. Ein Mann, der sich die Haare färbt, ist irgendwo auch ein Gauner, brummelte Kindler in sein fliehendes Kinn und machte sich auf den Weg in den Festsaal, wo er seinen Mitgliedern erklären würde, dass der Oberbürgermeister ein Arschloch sei und deshalb nicht kommen könne. An ihm blieb immer alles hängen.

|Das verwendete Bild stammt von Max Köhler.|©