
Dies ist meines Wissens die einzige Storysammlung von Lafferty, die in deutscher Sprache vorliegt. Sie ist nahezu identisch mit einer gleichnamigen Ausgabe des S. Fischer Verlags aus dem Jahr 1974, ergänzt um Übersetzungen der Titelgeschichte und der Story „Die sechs Finger der Zeit“, die im Lichtenberg-Verlag unter Herausgeber Wolfgang Jeschke erschienen.
Der Autor
Der amerikanische Schriftsteller Raphael Aloysius Lafferty „wurde 1914 in Neola, Iowa, geboren, zog 1920 nach Oklahoma City und arbeitete 35 Jahre lang als Elektroingenieur. 1960, also mit ca. 45 Jahren, begann er zu schreiben und hatte auf Anhieb Erfolg. Mit seinen herzerfrischend geistreichen Schnurrpfeifereien gewann er die Gunst der Leser und 1973 den Hugo Gernsback Award, den die amerikanischer Leser verleihen.“ (Verlagsinfo) Die damit ausgezeichnete Story ist „Eurema’s Dam“ aus dem Jahr 1972.
Lafferty schrieb nur wenige Romane, denn es sind seine über 150 Kurzgeschichten, in die er seine bisweilen bizarren Einfälle fließen ließ. Einer dieser Romane ist „Astrobe, der goldene Planet“ (Past Master), 1981 erschienen in der Reihe Knaur Science Fiction. Ein anderer erschien unter dem Titel „Die Odyssee des Captain Roadstrum“ (Space Chantey) 1980 im Moewig Verlag.
Seine Erzählungen sind in den Bänden „900 Grandmothers“ (1970), „Strange Doings“ (1972) und „Does anyone else have anything to add?“ (1974) gesammelt erschienen. Da nur der erste Band davon übersetzt worden, bedeutet dies, dass ein Großteil von Laffertys Schaffen immer noch der Entdeckung harrt.
DIE ERZÄHLUNGEN
1) Neunhundert Großmütter
Eine Expedition von Agenten für Spezialaspekte besucht den Planeten Proavitus. Die Proavitaner scheinen unsterblich zu sein, berichtet der Spezialaspektor Ceran Swicegood seinem Captain. Der nennt ihn einen Dussel: Nicht der Anfang zähle, sondern dass diese Unsterblichkeitssache immer noch andauere. Was könnte man da für tolle Pharamzeutika daraus gewinnen. Das gesamte Universum würde sich die Finger danach lecken!
Trotzdem. Ceran Swicegood kann nicht aufhören, daran zu denken, dass Proavitaner wie die junge „Frau“ Nokoma neunhundert Großmütter haben könnten. Ja, dass im Hügel, auf dem Nokomas Haus steht, Gewölbe für sämtliche proavitanischen Vorfahren existieren könnten – bis zur allerersten Großmutter. Das stelle man sich mal vor! Man würde wissen, wie alles Leben begann!
Obwohl ihn sein Captain nochmals zusammenstaucht, begibt sich Spezialaspektor Ceran Swicegood unangemeldet und ungebeten hinab in die Tiefen der proavitanischen Ahnengewölbe. Die Ahnen werden immer kleiner, als schrumpften sie mit der Zeit. Er findet schließlich und endlich doch noch die allererste Großmutter: Sie passt gerade noch zwischen seinen Daumen und den Zeigefinger, so winzig ist sie. Aber ihre Antwort ist nicht ganz das, was er erwartet hat…
Mein Eindruck
Vor dem Hintergrund einer satirisch dargestellten Handelsexpedition, die nur kapitalistische Interessen verfolgt, bildet Cerans eigene Forschung ganz klar das Unterfangen eines Außenseiters. Warum sollte er nach den Anfängen forschen wollen, fragt sich sein Captain konsterniert. Es muss wohl an dem dämlichen Namen des Mannes liegen, der sehr unmännlich klingt.
Dennoch ist Ceran ein unglaublicher Erfolg beschieden: Er findet den Anfang, das heißt die erste Großmutter. Sein Pech: Er kennt das Ritual nicht, bei dem die Proavitaner das Wissen, wie alles begann, übertragen. Und was noch schlimmer ist: Die Großmutter kichert über den Anfang so ansteckend, dass auch Ceran nicht umhin kann mitzulachen. Es ist alles ein großer Witz – wie diese Geschichte.
2) Das Land der Großen Pferde
Zwei Mineralogen fahren durch die westindische Wüste Thar, um Bodenschätze zu finden. Die Wüste ist topfeben, doch dann grollt Donner, wo es keinen geben dürfte. Smith beginnt in altindischer Sprache zu reden, und Rockwell beginnt sich zunehmend über seinen Kollegen zu wundern. Smith behauptet, es gehe einen Berg hoch, doch er kann höchstens eine Fata Morgana meinen. Und von einer akustischen Fata Morgana hat Rockwell noch nie gehört. Dann steigt Smith endgültig und verabschiedet sich – auf Nimmerwiedersehen…
In Europa und den USA spüren es die versprengten Angehörigen des VOLKES sofort: Ihr Land ist zurück. Ohne Umschweife machen sich angehörige der Tsigani, Romani und vieler ähnlicher Gruppen auf den Weg, um sich nach Karatschi einzuschiffen und von dort weiter in die Wüste Thar zu ziehen.
Prof. Gregor Fedorwitsch Smirnow hat es durch seine mineralogischen Analysen entdeckt: Alien-Raumschiffe schnappten sich einst das Land, das die Wüste Thar bedeckte, um es zu untersuchen – und das sie jetzt zurückgegeben haben. Prompt kehren die Romani und so weiter zurück. Was er aber vorhersagt, ist noch viel schockierender: „Die Aliens werden sich irgendwo anders eine Scheibe Land abschneiden, um es zu untersuchen.“
Kurz darauf beginnen Erdbebebn, drei Tage lang Los Angeles zu erschüttern, und das Gebiet wird evakuiert…
Mein Eindruck
Alt-Romani, die ursprüngliche Sprache der Sinti und Roma, stammt tatsächlich vom indischen Subkontinent. Es ist eine der „Sieben Schwestern“ unter den Sprachen des riesigen Subkontinents. Doch wie konnte es dazu kommen, dass die „Zigeuner“ in alle Winde zerstreut wurden? Diese Erzählung liefert eine bizarre Erklärung: „Sie kamen und nahmen unser Land.“ Diese Anklage, die von den nordamerikanischen Indianern stammen könnte, nimmt auf einmal eine sehr konkrete Bedeutung an: Das LAND ist tatsächlich physisch weg, nicht nur auf dem Papier gebrochener Verträge.
Dann dreht der Autor den Spieß um. Was würde passieren, wenn den Angelenos, den Bewohnern von Los Angeles, ihr LAND weggegnommen werden würde? Sie entwickeln sehr skurrile Bräuche. „Sie kamen und nahmen uns unser Dizz“, klagen sie. Gemeint ist Disney-Land…
3) Ginny in Sonne gewickelt
Zwei Evolutionsbiologen namens Dismas und Minden unterhalten sich darüber, wie die menschliche Evolution begonnen haben könnte. Sicherlich waren doch die Xauen-Menschen die Vorfahren von Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch, nicht wahr, meint der eine. Es könnten aber auch die Brüllaffen von Borneo gewesen sein, meint der andere.
Ihre Unterhaltung wird zweimal erheblich gestört von der vierjährigen Ginny. Diese gibt Gebrüll wie Nashörner und Wildsauen von sich, von den anderen Spezies ganz zu schweigen. Sie verlangt, dass Mutter Sally ihr über tausend Sandwiches mit Erdnussbutter drauf schmiert und in ihre Berghöhle bringt, wo sie derzeit zu meditieren und rechnen pflegt. Dismas und Minden erfahren, dass sie bereits die Kinder von Minden zu ihren Dienern gemacht und Dismas‘ Sohn Krios in den Tod getrieben hat.
Irgendetwas scheint mit Ginny nicht zu stimmen. Aber was?
Mein Eindruck
Eine köstliche Satire auf sämtliche ernsthaften wissenschaftlichen Erörterungen über die Abstammung des Menschen. Die versteckte Botschaft: Die verehrten Wissenschaftler sollten sich besser darum kümmern, in welche Richtung die Evolution jetzt, in diesem Moment, stattfindet. Ginny nämlich scheint etwas aus der Art zu schlagen: Wie der Titel abdeutet, läuft sie unbekleidet umher, nur in das Sonnenlicht gewickelt. Und sie beginnt, ihre Rivalen mit Hilfe der Telepathie aus dem Feld zu schlagen…
Nach „900 Großmütter“ ist dies der nächste Beitrag, der sich um das Thema Abstammung dreht.
4) Die sechs Finger der Zeit
Als Charles Vincent an diesem Morgen erwacht, wundert er sich verschlafen, warum sich die Dinge so langsam bewegen. Doch als er einen Blick auf die Uhr des Versicherungsgebäudes auf der anderen Straße wirft, wird ihm klar, wieso: Für etwa fünf Minuten Normalzeit vergehen auf dieser Uhr nur fünf Sekunden, also ein Sechzigstel. Mit anderen Worten: Er selbst bewegt sich um das Sechzigfache schneller als seine Umgebung. Deshalb erscheint er den Autofahrern und Passanten auf der Straße wie ein Gespenst, so etwa in dem Moment, als er in einem Taxi die Handbremse zieht.
Unbekümmert erledigt Charles im Büro erst einmal einen Rückstand von zwei Tagen in zwei Stunden auf, dann schläft er ein wenig. Als er erwacht, herrscht wieder Normalzeit, wie ihm seine Kollegin Jenny klarmacht. Charles geht zum Arzt. Dr. Mason hat schon von zwei anderen solchen Fällen gehört – beide starben binnen eines Monats. Er warnt Charles, es langsam angehen zu lassen.
Doch Charles hat in einer Bar eine schicksalhafte Begegnung: ein Mann ohne Gesicht. Der fragt ihn nach dem Zusammenhang zwischen Extradigitalis und Genie. Charlie findet die Frage nicht lustig, denn er hat selbst einen doppelten Daumen an der linken Hand, also einen überzähligen Finger – Extradigitalismus. Der Fremde ist um das Sechzigfache schneller als er selbst, zaubert gefüllte Gläser herbei, faselt etwas von einem Geheimnis und einem Klub der Schnellen wie er selbst, dem Charlie beitreten soll, wenn er soweit sei. Weil der Kerl so einen Schwefelgeruch an sich hat, will sich Charlie dieses Angebot lieber gut überlegen.
Zunächst hat er eine Menge Spaß mit seiner Schnelligkeit. Dann lernt er 50 Sprachen, liest die Weltliteratur und vertieft sich in die Geschichte. In den öffentlichen Bibliotheken – er zahlt nirgendwo Eintritt – verbreitet sich das Gerücht eines Gespenstes. In den Büchern über Kulturgeschichte stößt er auf den Ansatz des Geheimnisses und auf sumerischen Tontafeln auf die entscheidende Aussage: Vor der menschlichen Zeitrechnung mit fünf und zehn rechneten Wesen bereits mit sechs, zwölf und sechzig. Doch wo die Bezeichnung für diese Wesen stehen sollte, klafft nur eine Lücke.
Auch der Mann ohne Gesicht, der wieder auftaucht, verrät ihm den Namen nicht. Doch er erneuert sein Angebot. Und als Charles diesmal ablehnt, beginnen die Schmerzen, die ihm die Superschnellen zufügen. Soll er wirklich klein beigeben? Jenny und Dr. Mason machen sich wirklich Sorgen um Charlie: Mit 30 Jahren sieht er schon aus wie ein Neunzigjähriger…
Mein Eindruck
Obwohl der Zusammenhang zwischen einem sechsten Finger und der beschleunigten Bewegung nie plausibel erklärt wird, beeindruckt die Geschichte doch ein wenig. Sie erklärt nicht nur die Existenz von Geistern, sondern auch von Teufeln. Diese bewegen sich superschnell. Und außerdem dienen sie dazu, den Umstand zu erklären, warum die Stunde nur sechzig Minuten hat und nicht etwa hundert.
Dazu muss man wissen, dass die Zeitmathematik zusammen mit der Astronomie im Zweistromland erfunden wurde. Und der historische Garten Eden der Bibel lag ebenfalls dort – leider aber auch der Baum der Erkenntnis mit der Schlange darin. Die Geschichte deutet an, dass diese teuflische Schlange immer noch nach dem Schwefel und Schlamm jenes Landes riecht.
Soll sich also Charlie den Teufeln anschließen? Hoffentlich nicht! Schließlich gelingt es ihm, das Geheimnis der Beschleunigung zu lüften. Wir werden es jedoch nie erfahren, denn Charlie tritt endlich den wohlverdienten Langen Schlaf an…
5) Frosch auf dem Berg
Garamask ist ein reicher Mann, der sich auf der Welt Paravata einer dreifachen Aufgabe widmet: Erstens will er seinen Kameraden Allyn rächen, der hier umgebracht wurde; zweitens will er die drei höchstens Gipfel bzwingen, auf dessen höchstem Allyn starb; und drittens will er das Geheimnis der beiden Rassen der Rogha und Oganta lüften, die hier leben. Er gibt viel weniger intelligente Rogha als dumme, rüpelhafte Oganta. Er vermutet aufgrund eines Traumes, dass Allyn von seinem Bergführer, einem Oganta, getötet und sein Gehirn verspeist wurde. Aber zu welchem Zweck?
Um dies herauszufinden, begibt sich Garamask in die gleiche Lage wie Allyn und gibt vor, die vier heiligen Tiere des Dreigebirges erlegen zu wollen: den Panther, den Höhlenbären und den Adler-Kondor. Das letzte Wesen ist auch das rätselhafteste: Je nach Lesart bedeutet sein Name entweder Frosch auf dem Berg oder Kliff-Affe. Was könnte damit nur gemeint sein?
Garamask setzt sein Leben ein, um die ersten drei Bestien zu töten, und Eingebungen seitens Allyns erweisen sich als hilfreich. Waffen sind außer Klauen und Messern nicht erlaubt. Schon beim ersten Tier wird klar, dass sein Bergführer, ein Oganta, es darauf abgesehen hat, ihn ebenfalls zu töten. Doch es gelingt ihm, diesen Chavo zu überlisten.
Auf dem letzten Gipfel offenbart ihm Chavo den direkten Zusammenhang zwischen Rogha und Oganta: eine Transformation. Doch welche Rolle Garamask dabei spielen soll, muss erst ein Zweikampf auf Leben und Tod erweisen.
Mein Eindruck
Garamask ist ein moderner Prometheus. Er klettert auf die höchsten Berge, um dort dem größten aller Vögel entgegenzutreten und mit ihm zu kämpfen. Als Lohn für diesen Kampf erhält er das Geheimnis der Transformation zwischen den beiden Spezies. Auch diese Übertragung von Intelligenz durch Essen des Gehirns des Feindes ist rein mystischer Natur, ein Bild auf den Religionen der Naturvölker. Es wäre ein Fehler, diese Metapher wörtlich zu nehmen.
Garamask vollzieht den archetypischen Kampf des Menschenschöpfers Prometheus (er formte laut griechischer Sage die ersten Menschen aus Lehm) gegen die feindliche Natur, vertreten durch drei schier unüberwindliche Bestien. Der Panther beherrscht das Draußen, der Bär das Drinnen, die Höhle, und der Adler-Kondor das Droben, den Himmel. Doch als letzte Prüfung muss Garamask sich selbst gegenübertreten: Er ist zugleich der edle, intelligente Rogha als auch der tierhafte, bauernschlaue Oganta. Wer wird obsiegen?
6) Alle Menschen (All the People)
Anthony kennt alle drei Milliarden Menschen, die auf der Erde leben, und wundert sich darüber. Erst fragt er einen Politiker, wieviele Menschen der kennt, dann einen Philosophen, einen Priester und Psychologen. Keiner kennt alle Menschen. Was macht das aus ihm? Und wieso wissen die Kinder auf der Straße, dass sein Vater Schrotthändler war? Sie nennen ihn „Tony Blech-Mann“. Und warum nennt ihn der Kellner in der Bar „Zum Falschen Fuffziger“ ein „gesperrte Person“?
Anthony beschließt, seinen Vorgesetzten, den Oberst im Zentral-Filter, zu fragen. Der eröffnet Anthony, dass er kein Mensch sei und folglich kein biologisches Gehirn habe. Sein Gehirn besteht vielmehr aus einem Supercomputer, der im Keller steht und an den Anthony drahtlos angeschlossen ist. Und jetzt raus mit der Sprache, fordert der Oberst: Was hat Anthony herausgefunden?
Anthony weiß, dass er unter 3 Milliarden Menschen sieben gefunden hat, die nicht durch Geburt hierherkamen. Aber soll er das wirklich einem Menschen auf die Nase binden, der ihn entmündigt hat?
Mein Eindruck
Wie erkennt man, dass die Aliens gelandet sind, wenn sie keine Raumschiffe benutzt haben? Dieses knifflige Problem ist seit Edward Snowdens Enthüllungen anno 2013 aktueller denn je. Denn wie soll die US-Regierung in Gestalt der National Security Agency (NSA) herausfinden, a) wo sich die Terroristen aufhalten und b) wer überhaupt ein Terrorist ist?
Für Anthony, die Hauptfigur, ist sein Status als Wurmfortsatz eines Superrechners zunächst ein Erkenntnisproblem: Wer bin ich? Wo sind die Aliens? Dann jedoch stellt ihn der Oberst vor die finale Entscheidung: Wenn die Aliens da sind, soll ich sie dann enthüllen? Vielleicht sind sie ja nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung! Angewandt auf die Terroristenhatz ergeben sich so ein paar beängstigende Perspektiven.
7) Die Elementarerziehung der Camiroi
Eine irdische Abordnung des Erziehungsministeriums („Eltern-Lehrer-Apparat“, kurz ELA) von Iowa besucht die Zentral-Welt der Camiroi, um sich einen Eindruck von der Qualität der Schulausbildung zu verschaffen. Was die braven Erdlinge vom Camiroi-ELA zu hören und zu sehen bekommen, ist schockierend.
So gehört es etwa zu den gängigen Disziplinarmaßnahmen an Schulen, ungebärdige Schüler vor aller Augen aufzuhängen, bis der Tod eintritt. Das hat eine abschreckende und einschüchternde Wirkung, könnte man sagen. Die ELA-Vertreter werden blass und protestieren. Dass die Methode nötig ist und wirkt, wird sogleich demonstriert. Kleinere Kinder werden in eine Grube gesteckt, wo sie zu verhungern drohen. Schauder!
Viele Schulanfänger lesen viel zu schnell. Sie müssen gezwungen werden, ihr Tempo zu drosseln, so dass andere mithalten können. Und selbst Neunjährige sind schon bereit, an weiblichen Erdlingen medizinische Untersuchungen vorzunehmen – wogegen sich Mrs. Smith mit Händen und Füßen wehrt. Irgendwie sind alle Schüler viel weiter als die zu Hause. Schon zweitklässler entwerfen ihre Schulgebäude selbst.
Noch schlimmer ist die Entdeckung, dass es praktisch keine öffentlichen Schulen gibt, genauso wenig wie es Staatsbeamte oder gar einen Welt-Präsidenten gibt. Irgendwie scheint sich diese Welt von selbst zu regieren. (Den Grund dafür liefert vielleicht die Erzählung „Rechtswesen, Sitten und Gebräuche der Camiroi“ weiter unten.)
Den Rest des Textes bestreitet ein fünf Seiten langer Lehrplan für das erste bis zehnte Schuljahr. Darin ist von Weltenbau und der Konstruktion überlichtschneller (!) Raumschiffe die Rede. Schlussfolgerung: Man könnte sich vielleicht in Iowa die eine oder andere Scheibe von den Camiroi abschneiden.
Mein Eindruck
Diese Erzählung trägt den Charakter eines Reports, der aus einem Erlebnisbericht, einem Lehrplan und den Schlussfolgerungen des Berichterstatters besteht. Das die Befunde und die Conclusio absolut ernsthaft vorgetragen werden, wird auf den ersten Blick nicht klar, dass es sich um eine Satire auf irdische Ausbildungsideale und -methoden handelt.
Aber an einigen Stellen erkennt der Leser, dass die Erdlinge im Grunde ziemlich unterbelichtet und primitiv erscheinen, wenn man sie mit den Camiroi, ihrer Denkweise und ihren Bildungsergebnissen vergleicht. Was die Erdlinge bremst, sind „überholte“ Moralvorstellungen wie etwa die Privat- und Intimsphäre von Frauen, aber auch der Schutz des Lebens von Kindern. Wenn nur das Hängen hilft, dann werden eben auch Kinder gehängt.
Der Lehrplan lohnt einen zweiten Blick: Darin ist an keiner Stelle von „Mathematik“ die Rede, wohl aber von Logik, Rechnen und Arithmetik in den Grundschuljahren. Sie wird schon bald von „Religion“ und fortgeschrittenem Lügen und Fälschen abgelöst. Auch „Alkoholische Kenntnisse“ werden in drei Stufen gelehrt, ebenso wie Fortgeschrittene Obszönitäten und Rhetorik. Ob auch das nachahmenswert ist, sei dahingestellt.
8) Langsame Dienstag-Nacht
Von wegen „langsam“! Die Nacht vergeht mit affenartiger Geschwindigkeit, und jede fünf Minuten werden Vermögen gemacht und zunichtegemacht. Der Grund des subjektiven Empfindens einer rasenden Geschwindigkeit scheint die Entfernung der Abebaios-Barriere aus dem menschlichen Gehirn gewesen zu sein. Danach kann das Gehirn schneller denken und entscheiden. Die Operation erfolgt bereits standardmäßig im Kindesalter und danach spezialisiert sich der befreite Bürger auf eine Tageszeit: vormittags (Auroreer), nachts (Nyktalopen wie Ildefonsa und Bagelbaker) oder nachmittags (Hemerobier).
Deshalb kann von so etwas wie einer zusammenhängenden Handlung keine Rede sein: Es passiert einfach zuviel. Der Bettler Basil Bagelbaker leiht sich tausend Dollar und gründet damit binnen Minuten ein Vermögen, aus dem er seine Schulden schon nach einer Stunde zurückzahlt. Diese Gelegenheit, einen Reichen des Augenblicks zu heiraten, ergreift Signora Ildefonsa Impala sofort beim Schopf, bevor ihr eine gewisse Judy zuvorkommt! Die gebuchten Flitterwochen sind aber schon nach einer Stunde vorbei, und das Bagatellgericht scheidet die beiden in Nullkommanix. Schließlich warten noch andere Männer darauf, geheiratet und abgezockt zu werden. Die Nacht ist kurz.
Mein Eindruck
Die Story sprüht vor witzigen Einfällen, aber wer sie wörtlich nehmen würde, wäre natürlich schwer auf dem Holzweg. Alles ist metaphorisch gemeint. Würde man die Geschehnisse dieser speziellen Dienstagnacht auf unsere Zeit übertragen, so würden mehrere Dekaden vielleicht gerade noch ausreichen.
Der verblüffende Trick besteht also lediglich in enormer Komprimierung dessen, was in der Upper Class der US-Gesellschaft gang und gäbe ist. Nur entsteht durch die Kompression ein komischer Effekt, wie er im Stummfilm, als die Bilder schneller als heute abliefen, zu beobachten ist: Aus der Beschleunigung entsteht a) Komik und b) Lächerlichkeit.
Diese Darstellung sozialer Vorgänge wird dadurch zugänglich für Kritik: Wozu soll all diese Hektik gut sein, fragt sich der gesunde Menschenverstand. Die Kritik ist durchaus angebracht, denn die Geschichte wird durch diese „langsame Dienstagnacht“ keineswegs vorangebracht, der Mensch nicht weiser, sondern nur verbrauchter. Aber dann sollten Sie mal die Auroreer am Mittwochmorgen sehen – die machen vielleicht Action!
9) Schnoffel (Snuffles)
Eine Forschungsexpedition landet auf dem Planetoiden Bellota. Die sechs Mitglieder, vier Männer, zwei Männer, halten diese Welt für einen Witz: Die Schmetterlinge stechen, die Hornissen haben keinen Stachel, und das Gras schneidet. Nicht mal die Gravitation stimmt. Aber es gibt einen Bewohner dieser Welt, der vielleicht nicht so ein Witz ist: Schnoffel ist ein Bärenartiger, mit greifenden Händen, langen Klauen und riesigen Eckzähnen.
Hat sich Schnoffel – der einzige seiner Art – bislang friedlich verhalten, so ändert sich dies nach etwa 300 Erdstunden (die viel länger sind als Bellota-Stunden). Er wird ungehalten, ja, sogar aggressiv. Beim ersten Angriff tötet er den einzigen Krieger, John Hardy, und wird dabei verwundet. Drei weitere Opfer haben ebenfalls keine Chance: Phelan geht die Wände seiner Wohnhöhle hoch, Margie empfängt Schnoffel mit offenen Armen, und der letzte raucht ganz gemütlich ein Pfeifchen, denn er kann ja doch nichts an seinem Tod ändern.
Bleiben noch Georgina und Brian übrig. Als sie auf ihrer Flucht vor Schnoffel von narkotisierenden Früchten naschen, erleben sie Halluzinationen. Sie glauben, Schnoffel spräche zu ihnen. Dass er ihnen sage, er habe diese unvollkommene Welt erschaffen. Und da er keine Vorlage hatte, musste er erst einmal Fehler machen, bevor er sie verbessern konnte.
Das ist keine Telepathie, das ist Irrsinn, protestiert Brian, wohingegen sich Georgina nicht so sicher ist. Sie hat sich auf einmal in Brian verliebt, was ja an sich bereits Wahnsinn ist. Unaufhaltsam nähern sie sich auf ihrer Bellota-Umrundung wieder ihrem Waffenlager…
Mein Eindruck
Diese Erzählung ist eine Parabel auf die Schöpfungsgeschichte, allerdings weit entfernt von jeglicher Bibellegende. Vielmehr geht es um die Schöpfung an sich. Was macht einen Schöpfer aus, ganz besonders dann, wenn er noch ein Lehrling in Sachen Weltenbau ist? Nun, wie jeder Schöpfer möchte er für seine Kreation gelobt werden. Aber machen die Fremdlinge? Sie halten die Schöpfung für einen Witz und ihren Schöpfer für ein Hirngespinst. Das kann einen Weltenbauer schon in Rage versetzen.
Zudem geht es hier um das Erkennen einer Schöpfung und ihres Schöpfung. Wenn man den Couturier nur in halluzinatorischen Träumen verstehen und sprechen kann, zählt das dann als ernstzunehmende Kommunikation? Offenbar gibt es Tests, dies festzustellen, aber leider versagen sie allesamt. Dies ist das gleiche Thema, das Philip K. Dick so oft in seinen Erzählungen verarbeitet hat. Aber R.A. Lafferty macht eine philosophische Action-Komödie daraus.
10) So frustrieren wir Karl den Großen
An einem geheimnisvollen Institut verfügt ein Rat von neuen Personen über eine außerordentliche Zeitmaschine. Epiktistes, die drachenköpfige Künstliche Intelligenz, vermag Avatare zu erschaffen und in der Zeit zurückzuschicken. Auf diese Weise kann das Institut Fehlentwicklungen der Geschichte korrigieren. Insbesondere um beispielsweise das jämmerliche kulturelle Niveau der eigenen Stadt ein wenig zu heben.
Das erste Zeitziel ist ein entscheidender Vorfall, der im Jahr 778 im Tal von Roncesvalles zutrug. Karl der Große, so die Chronik des Geschichtsschreibers Hilarius, hatte einen Deal mit dem Kalifen von Saragossa abgeschlossen: Christen sollten am Rand der Pyrenäen in Ruhe siedeln und 33 Gelehrte sollten ins Frankenreich reisen dürfen. Leider wurde der Trek von Basken überfallen, woraufhin der erboste Charlemagne den Pass ebenso schloss wie jeden Zugang zum Araberreich. Das führte zu einer Verarmung des Frankenreiches für 400 Jahre.
Die Geschichtskorrektur wird ein voller Erfolg, die eigene Stadt blüht, die Institutsmitglieder sind jetzt 13 und die KIs haben sich um zwei vermehrt. Leider können die Mitglieder des Rates keinerlei Veränderung feststellen. Kein Wunder: Sie haben keine Erinnerung daran, dass jemals anders war als im Jetztzustand.
Und so machen sie ein verhängnisvolles zweites Experiment. Wilhelm von Ockhams ketzterische Thesen des Nihilismus sollen nicht vom Papst verdammt, sondern vielmehr anerkannt werden. Dazu muss lediglich Ockhams Widersacher, ein Oxfordprofessor, sterben, bevor er im 14. Jahrhundert den Papst in Avignon erreicht. Als Ergebnis dieser Korrektur sitzen anschließend vier Ratsmitglieder splitternackt in einer bemalten Höhle vor einem Götzenbild, das Epiktistes darstellen soll…
Mein Eindruck
Ein klassischer Fall von Übereifer, könnte man zunächst meinen. Aber die Aussage geht tiefer: Jede korrigierte Geschichtsversion ist von der vorhergehenden nicht zu unterscheiden, weil sie diese vollständig ersetzt – und somit auch die Erinnerung an jegliche vorher existierende Version: Es ist schon immer so gewesen. Die Ratsmitglieder wirken in ihrer Frustration darüber, dass sich nichts geändert hat, zugleich lächerlich wie bemitleidenswert. Dumm nur, dass sie all ihre Zeitgenossen mit ins Unglück reißen.
Die Story ist ein gutes Beispiel für die ironische Behandlung der altbekannten Zeitparadoxa. Sie besagt: Es nützt gar nichts, die Geschichte korrigieren zu wollen, denn es ist von vornherein ausgeschlosssen, dass irgendjemand den Unterschied zu früher bemerkt!
11) Der Name der Schlange
Der neue Papst hat die Missionierung aller Menschen und Menschenähnlichen befohlen. Auch Priester Barnabas macht sich auf die Socken, um die Analoi zu bekehren. Das erweist sich als schwieriger als erwartet, denn sie behaupten, sie seien von Sünden frei – folglich bräuchten sie auch keine Erlösung. Um Sünden zu haben, seien sie viel zu vernünftig und aufgeklärt.
Diese Erklärungen lassen Pater Barnabas zunächst ratlos zurück, doch dann macht er sich entschlossen auf die Suche nach der Sünde. Er wird in der Tat fündig. Doch die Sünde hat hier völlig andere, so etwa frühzeitige, eugenische Euthanasie und dergleichen. Als er seinen Ansprechpartner unter den Analoi damit konfrontiert, fällt die Reaktion erneut etwas anders als erwartet.
Barnabas hatte sich schon gewundert, was der riesige Kessel auf der Mitte des Dorfplatzes zu bedeuten habe, aber nur eine ausweichende Antwort erhalten. Jetzt jedoch bekommt er am eigenen Leib zu spüren, was ahnungslosen Missionaren widerfährt, die zuviel über die Sünden der Ureinwohner herausgefunden haben. Seine Protestschreie wegen des munteren Feuerchens unter dem Kessel, in dem er steckt, verhallen ungehört…
Mein Eindruck
Mit der titelgebenden „Schlange“ ist natürlich der Verführer und Urheber der Sünde gemeint. Aber die traditionsgewohnte römisch-katholische Kirche muss erst noch lernen, dass sich die Natur der Sünde und vor allem ihre Namen gewandelt haben. Genauso ergeht es übrigens gerade der aktuellen RK-Kirche, und das nicht erst seit 1970, als diese makaber-witzige Erzählung veröffentlicht wurde.
12) Das enge Tal (1970)
Anno 1896 gab die US-Bundesregierung den letzten überlebenden Pawnee-Indianern Land – es war wenig, und dafür sollten sie auch noch Steuern zahlen. In einem derart engen Tal leben zu müssen, sah Clarence Großer Sattel nicht ein und wirkte einen mehr oder weniger gelungenen Verschwindezauber. Dieser bewirkte, dass das Tal von außen wie ein schmaler Graben zwischen zwei anderen Grundstücken aussah, sich innen aber weit und breit ausbreitete.
Zwei Generationen klappte der Zauber wunderbar. Selbst als auf dem Katasteramt seine Land als frei eingetragen war, kamen keine Weißen, um es ihm wegzunehmen – sie konnten es einfach nicht finden. Bis zu jenem Tag, an dem der Schauspieler Robert Rampart fest entschlossen ist, dieses Freiland um jeden Preis für sich, seine Frau Nina und seine fünfköpfige Brut zu gewinnen.
Leichter gesagt als getan, denn auch er sieht nur einen Graben, wie alle vor ihm. Doch dann stürmen die Kinder einfach so in die Halluzination hinein, seine Frau Nora folgt mit dem Campingwagen – und vertreibt Clarence Kleiner Sattel aus seinem angestammten Heim. Doch dann machen Ramparts konsultierte Wissenschaftler, die das ungewöhnliche Phänomen erklären sollen, einen kapitalen Fehler: Sie wirken einen Gegenzauber…
Mein Eindruck
Magie funktioniert also, zumindest wenn sie von sogenannten Fachleuten praktiziert wird. Leider vergessen sie, da kein Mensch perfekt ist, stets das richtige magische Schlusswort. Das Prinzip der Unvollkommenheit dürfte wohl auch auf die US-Regierung zutreffen, die in ihrer unerforschlichen Weisheit die Pawnee erst massakrierte, dann umsiedelte, ihnen Land gab und sie dann für diese Güte Steuern zahlen ließ.
Es geht also um Landnahme, aber auch um Landübergabe. Land will, wie ein guter Ruf, erst erworben sein. Robert Rampart ist als Schauspieler sicherlich kein geeigneter Erbe für das alte Land der Indianer, mag es frei sein oder nicht. Weder er noch die ahnungslosen Flunkerer von Wissenschaftler können einen moralischen Anspruch auf das enge Tal erheben, nur Clarence Kleiner Sattel – der es seinem Sohn Clarence Ohne Sattel vererben wollte. Erneut wird er vertrieben.
Das ist eben das Prinzip der amerikanischen Geschichte. Es gibt Leute, die Land einfach wegnehmen und dann alle möglichen Finten aufbieten, um es behalten zu können; aber es gibt auch Leute, die es seit jeher weitervererbt haben. Man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie ihren Schatz, das enge Tal, per Magie verstecken. – Die Pointe besteht darin, dass die Weißen ebenfalls Magie anwenden. Dieser Schuss geht derartig nach hinten los, dass Nina Rampart froh sein kann, dem Tal noch entkommen zu kommen: Denn jetzt hat es nicht einmal mehr drei Dimensionen…
13) Rechtswesen, Sitten und Gebräuche der Camiroi
Eine Erddelegation mit einem Polit-Analytiker, einer Anthropologin und einem Gruppenleiter soll die weiteren Aspekte des camiroitischen Gemeinwesens untersuchen und Empfehlungen abgeben. Was sie vorfinden, ist besorgniserregend und wenig erbaulich, so dass sie vorzeitig wieder abreisen.
So ist es gewöhnungsbedürftig, dass eine gesetzgebende gruppierung schon aus mindestens drei Bürgern begildet werden kann. Sobald die drei Forscher eingebürgert sind, was nach einer Viertelstunde Camiroi-Zeit erfolgt, können sie ein Gesetz einbringen und veröffentlichen. Sie verlangen, dass alle andere gesetze auf ihre Masswentauglichkeit und Wirksamkeit geprüft werden.
Leider gibt es einen klitzekleinen Haken: Sobald ein anderer Camiroi-Bürger entscheidet, dass dieses Gesetz Blödsinn sei, haben sie einen Minuspunkt bekommen und können von gegnern des Gesetzes zu einem Ritualduell herausgefordert werden. Wer drei blödsinnige Gesetze eingebracht hat, verliert einen Körperteil und das Bürgerrecht. Wer neun blödsinnige Gesetze eingebracht hat, verliert sein Leben durch Hängen. Kein Wunder, dass die ad hoc einberufenen Körperschaften wie etwa der Senat höchstens 39 Bürger umfassen dürfen.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch die Forderung, dass jeder Camiroi-Bürger jedes Amt und jede Aufgabe erfüllen können muss, die ihm zugeteilt wird. So soll die Anthropologin einen Krieg führen, der Polit-Analytiker die Kanalisation inspizieren und der Gruppenleiter eine Troll-Revolte niederschlagen. Der Gruppenleiter ist nie sicher, ob nicht ein makabrer Scherz der Camiroi dahintersteckt: Er hat herausgefunden, dass sie ihre schlimmsten Scherze mit unveränderter Miene treiben.
Beim Abschied bleibt daher jedes Auge trocken.
Mein Eindruck
Dieser dreiteilige Text besteht aus den Berichten der drei Expeditionsteilnehmer. Er setzt den ersten Text über die seltsamen Humanoiden fort, die sich Camiroi nennen. Was soll das alles? Der Autor entwirft eine alternative Gesellschaftsform, die von den etablierten, die wir auf der Erde kennen, erheblich unterscheidet.
Auch in der Politik und Jurisdiktion gelten demnach jene Prinzipien, die wir schon in der ersten Camiroi-Geschichte kennengelernt haben: Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, der kleinen Zellen, der Haftung mit dem eigenen Körper, der Selbstverteidigung und der Allfähigkeit (jeder soll alles können).
An einer Stelle erörtert der Erdling, ob dies alles wohl „liberal“ genannt werden könnte. In der Tat ähnelt der Befund dem, was die Amerikaner „liberal“ nennen und verabscheuen. Allerdings lassen sie „libertarians“ gelten, die sich auf dem äußersten rechten Flügel der politischen Landschaft finden lassen, so etwa Robert Heinlein oder John Norman. Ist es Zufall, dass die „libertarians“ sich verhalten wie Gesetzesvertreter in frühen Wild-West-Filmen, bevor die Linke den Western auf den Kopf stellte? Wie die Sheriffs und Marshalls tragen auch die Bürger von Camiroi ihre privaten Fehden von Angesicht zu Angesicht sowie mit Ritualschwertern aus. Sie brauchen weder Richter, Geschworene noch henker, denn diese Handarbeit verrichten sie liebend gerne selbst.
Nicht von ungefähr decken sich viele Werte und Einrichtungen der Camiroi mit denen, die die Amerikaner (und wohl auch frühmittelalterliche Westeuropäer) sich an der Frontier gaben: jeder Mann und jede Frau sollte zahlreiche Fähigkeiten besitzen, um an der Grenze zur Wildnis (und den wilden Eingeborenen) überleben zu können. Das Gesetz war weit weg, also musste man es selbst in die Hand nehmen und schmieden. Der Rest ergibt sich daraus. In jüngerer Zeit hat Orson Scott Card dieses Phänomen in seinem Zyklus über ALVIN MAKER beschrieben und verarbeitet: in einem Amerika mit alternativem Geschichtsverlauf im 17., 18. und 19. Jahrhundert.
14) In unserer Straße
Art Slick und sein Freund Jim Broomer schlendern durch die kurze Straße, in deren Nähe sie aufgewachsen sind. Sie hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert. Weil Art ihm etwas Merkwürdiges zeigen will, führt ihn dorthin. Da ist etwa die kleine von zwei mal zwei Metern – Jim hat ein altes Metermaß mitgebracht und nachgemessen: Und aus dieser Mikrobude wurde gestern ein Dreißigtonner vollständig beladen! Ist das nicht sonderbar?
Die nächste Bude ist sogar noch kleiner: 180 auf 180 cm. Ein Mädchen sitzt drin und scheint zu tippen. Sie behauptet, sie könne jedes Diktat in einen perfekten brief inklusive Kuvert und Briefmarke verwandeln. Das tut sie auch – allerdings macht sie dabei kein Geräusch und erledigt alles binnen zehn Sekunden. Wie macht sie das bloß?
Das ist noch gar nichts gegen die Cool Man Bar nebenan. In den Regalen stehen zwar keine getränke, aber das gewünschte Bier ist im Handumdrehen auf dem Tisch. Cool? Nein, denn Art und Jim sind erheblich beunruhigt. Woher kommen diese Leute bloß? Doch nicht etwa von…?
Mein Eindruck
Vom Jupiter? Wie langweilig! Offenbar handelt es sich um Aliens, die sich hier bestens zu tarnen versuchen. Dass ihnen dabei das eine oder andere Missgeschick eines Anfängers unterläuft, kann man verstehen. Die Story greift das uralte amerikanische Thema der Einwanderer und ihrem Wunsch nach Anpassung auf, allerdings zur Parodie übertrieben. Trotz eines gewissen Unbehagens sind die Einwanderer willkommen.
15) Schweinebauch-Liebling (Hog-belly honey)
Joe Spade ist ein Neandertaler wie du und ich, was man schon an seinem umgangssprachlichen Mundwerk hören kann. Als ihm ein Hirnklempner den Rat gibt, dass es nicht gut sei, dass der Mensch alleine ist, kapiert er sofort, dass er einen Partner braucht, der mit ihm ein Projekt auf die Beine stellt.
Maurice, der Philosoph, kommt ihm vor wie der ideale Partner, denn Maurice, soweit er ihn richtig verstanden hat, weiß, wie man einen Nullifikator baut. Er lässt Dinge verschwinden, aber der Apparat tut dies nach ethischen Maßstäben. Beteuert Maurice den ersten Kunden. Unerwünschte Dinge bereiten keinerlei Schwierigkeiten, und der Roboter erwirbt sich den Beinamen eines Allesfressers. Aber als bei einer Evakuierung aus „Versehen“ ein paar Leutchen verschwinden, ist der Aufschrei groß.
Jetzt braucht Joe Spade einen neuen Partner. Er hat sich rechtzeitig nach Mexiko abgesetzt, während ihm Maurice kein Wort glauben wollte…
Mein Eindruck
Joe Spade ist der typische Yankee-Entrepreneur, der kein Gewissen, aber jede menge Einfälle hat. Maurice, der völlig abgehobene und von Idealen erfüllte Philosoph, glaubt, er habe den perfekten Umsetzer seiner Nullifikator-Idee gefunden. Erst läuft, wie immer in solchen Geschichten, alles gut, doch als die Erkenntnis durchsickert, dass es einen klitzekleinen Unfall gegeben hat, ist Joe bereits über alle Berge.
Die Story illustriert, dass der losgelassene Geschäftssinn des Kapitalisten manchmal nicht so ganz im Sinne der Kunden ist. Durch den satirischen Unterton, der von Joes umgangssprachlicher Ich-Erzählung perfekt verdeckt wird, kann der aufmerksame Leser die Botschaft entdecken: eine harsche Kritik an dem Laissez-faire-Kapitalismus, der keinerlei Kontrollen erhält oder anerkennt. Es ist eine Kritik am Kapitalismus-„Erfinder“ Adam Smith. Der Markt regelt sich eben NICHT selbst, sondern muss geregelt werden, soll es keine Opfer geben – siehe die großen Börsen-Crashs von 1929, 1987, um 2002 und in 2008.
16) Sieben Tage Terror
Clarence Willoughby baut aus einer Bierdose und zwei drangeklebten Pappdeckeln mit Löchern drin einen Verschwinder. Er muss nur durch die beiden Löcher blinzeln – und zack, ist Nachbars Katze weg. Zunächst fragt das neunjährige Genie seine Mom, was er verschwinden lassen darf. Nachbars Katze vermisst nur der Nachbar.
Aber beim Hydranten auf der Hauptstraße ist die Wirkung wesentlich größer: Beim vierten Hydranten kreuzen das FBI und die sowjetische Nachrichtenagentur TASS auf, vom Bürgermeister ganz schweigen. Und als der Metzger vor den Augen seiner Kunden verschwindet, hört der Spaß endgültig auf: Sieben Tage Terror sind zuviel!
Keines der sieben Willoughby-Kinder weiß, wo diese Dinge hin verschwinden. Doch die kleine Clarissa verspricht dem Bürgermeister, die Dinge zurückzuholen, wo immer sie jetzt auch sein mögen. Sie brauche dazu nur seine goldene Uhr und einen Hammer…
Mein Eindruck
Dies ist die dritte Story übers Verschwinden, wenn man „Das enge Tal“ hinzurechnet. Durch das Auftreten der drei seltsamen Wissenschaftler, die in „Das enge Tal“ auftraten, zeichnet diese Geschichte sozusagen einen durchgehenden Roten Faden: Magie ist Technik, die sich nicht erklären lässt.
Und es ist ganz gleich, ob sie von Indianern oder Kindern angewandt wird. Es kommt auf die Folgen und Auswirkungen an. Sind sie eher „gut“ für die menschliche Gemeinschaft oder eher negativ? Im Fall von Clarence Willoughby, der seinen Schabernack treibt, trifft eher das zweite zu – außer für den Betreiber der Bar, der das Geschäft seines Lebens macht, weil so viele Fremde seinen Alkohol bestellen.
Typisch ist auch, dass dieser ganze Zinnober in einer amerikanischen Vorstadt stattfindet, wo keiner etwas Böses erwartet. Das trifft für das Fbi natürlich nicht zu, das überal terroristen vermutet. Witzig ist in dieser Geschichte (noch), dass die „Terroristen“ kleine Kinder sind. Heute würde der Autor seine Story sicherlich anders schreiben, wenn überhaupt.
17) Das Loch an der Ecke
Als Homer Hoose am Abend nach Hause zu seiner Frau Regina und seinen fünf Kindern zurückkehrt, wird er nicht erkannt. Tatsächlich halten sie ihn für ein grünhäutiges Monstrum mit tentakeln. Nur seine Frau scheint es anzutörnen, wenn er sie unter sich liebevoll begräbt. Seine Kinder sind hingegen eher angewidert. Als ein zweiter Homer Hoose eintritt und dabei ein ziemlich menschliches Äußeres an den Tag legt, entsteht ein gewisses Maß an Verwirrung: Wer ist denn nun der echte Homer Hoose?
Homer beschließt, seinen Hirnklempner Dr. Corte aufzusuchen. Der Mann ist total genervt: Die gesamte Straße, in der Homer wohnt, ist bereits bei ihm gewesen – und zwar nicht bloß in einer Version. Er rät Homer, mit ihm zu Diogenes Pontifex zu gehen und ihn zu fragen, was los sei. Diogenes geht mit zu Homers Heim. Er ist eine Art Erfinder auf einem sehr obskuren Gebiet: Wie sich zeigt, verknüpft er die Jungschen Theorien über Archetypen mit einer theorie über ein Dimensionstor, über das sich ineinandergesteckte Egos realisieren lassen: das titelgebende „Loch an der Ecke“. Eine Demonstration gefällig?
Jeder Mensch, so Jung, verfügt auf der psychischen Tiefenebene über mehrere Egos. Diese realisiert Diogenes, indem er seine eigenen Egos als die Gestalten 2,3 und 4 zeigt. Den Übergang initiiert er mit einer Art Mantra, das entsprechend passende Erinnerungen aufruft. Die beiden Homers, Regina und Dr. Corte sind beeindruckt, die Kids jedoch nicht. Denn auf einmal spaziert ein dritter Homer zur Tür herein und macht Rabatz. Als wäre dies nicht genug, beginnt sich Mama Regina auf furchterregende Weise zu verwandeln…
Mein Eindruck
Eine total verrückte Geschichte! Drei Homers und zwei Reginas, von den Kids ganz zu schweigen. Wieder einmal nimmt der Autor die Wissenschaft aufs Korn, diesmal ist die Tiefenpsychologie nach Carl Gustav Jung dran. Die schon in der SF schon vielfach ausgeschlachtete Archetypentheorie wird hier hier ad absurdum geführt.
Das Witzigste daran: Die Kids finden nichts dabei, wenn Homer, das Monstrum, versucht, ihre Mutter zu verschlingen. Dieser Vorgang, der Regina ausnehmend gut gefällt, ist vielleicht die Umschreibung des Autors für außerehelichen Sex. Dies durfte er wohl selbst anno 1970 noch nicht im Klartext schreiben. Und ein grünhäutiges Monstrum mit Tentakeln ist als Lover natürlich viel lustiger zu beschreiben…
18) Wie heißt diese Stadt?
Prof. Gregor Fedorwitsch Smirnow (vgl. „Das Land der Großen Pferde“) hat einen neuartigen Computer konstruiert. Der 20 x 20 Meter große Rechner folgt einer neuartigen Logik, der Ktisthenik. Seine Aufgabe, so erklärt er der werten Kollegin Valerie Mok, besteht darin, Hinweise auf Leerstellen im Wissen zu suchen, also Beweise für etwas, das es gar nicht gibt. Epiktistes wird zu Smirnows Erstaunen und dem seiner Kollegen fündig.
Demnach soll bis vor 20 Jahren, also bis 1980, eine große Sieben-Millionen-Metropole im Mittleren Westen existiert haben, von deren Existenz heute niemand mehr weiß. Unglaublich, findet Valerie und Smirnow wundert sich. Wo ist sie denn hin, diese Großstadt, und wie war der Name dieser Stadt? „Chicago?“ Was führt ein närrischer Name, finden auch valerie und ihre Kollegen. Dieser Epiktistes ist wirklich ein großartiger Witzbold.
Noch lustiger ist seine Behauptung, dass es Smirnow selbst war, der dieses „Chicago“ mit seinem „tele-pantographischen Distorsionator“ von der Landkarte radiert habe. Und nicht nur von dort: Er vernichtete auch sämtlichen zugehörigen Dokumente zu Chicago sowie sämtliche Erinnerungen inklusive der Erinnerungen an die Erinnerungen in allen Menschen, die je etwas mit den Leuten in Chicago zu tun gehabt hatten.
Geht nicht?, fragt Epiktistes. Und warum kann sich dann der werte Professor nicht an den Namen jenes Apparats erinnern, über den er seit 20 Jahren täglich stolpert?
Mein Eindruck
Diese kuriose, an Stanislaw Lems GOLEM-Erzählungen erinnernde Story ist im Rückblick eine scharfe, bittere Kritik an Maos Kulturrevolution von 1966 – die kurioserweise erst zwei Jahre nach Veröffentlichung dieser Story stattfand. Mao radierte die Vergangenheit aus, indem er über 45 Millionen Menschen ermorden ließ – eine Zahl, die erst jetzt durch einen deutschen Journalisten ans Tageslicht kam.
Mao zeigte, dass es durchaus möglich ist, eine ganze Stadt auszuradieren – nicht physisch, sondern mnemonisch, also in der Erinnerung. Dass auch Hitler (Lidice, Oradour) und Stalin dazu imstande waren, dürfte mittlerweile bekannt sein. Umso kühner erscheint der in witzige Diskurse eingehüllte Angriff des Autors auf die US-Regierung bzw. deren Wissenschaft, der er es zutraut, Ähnliches zu „leisten“.
Wer mit den Methoden und Fähigkeiten der NSA vertraut ist (wie ich), der hält die Auslöschung von Chicago für durchaus machbar. Je mehr die Realität ins virtuelle Netz verlagert wird, desto leichter ist ihre Existenz zu manipulieren. Geheimprojekte der CIA wie die „Operation Rosenholz“ sorgte beispielsweise beim Mauerfall 1989 dafür, dass in Ostberlin zahllose Stasi-Akten spurlos verschwanden – eine Geschichtskorrektur unauslotbaren Ausmaßes.
19) Mit anderen Augen
Prof. Smirnow ist von seiner nagelneuen Zeitmaschine enttäuscht. Das Konstruieren und Bauen waren ja toll, aber das, was er und sein Kollege Cogsworth, mit dem er zusammensitzt, gefunden haben, war mehr als mickrig: Es war erbärmlich. Die Schlacht von Hastings dauerte nur 20 Minuten, und im Zeitpunkt hatten sie sich um vier Jahre verhauen. Tristan und Isolde? Schwamm drüber. Ritter Lancelot? Ein halber Invalide auf einer Schindmähre. Aristoteles? Ein Schöngeist, der eine Abhandlung über Bärte verfasste. Und Voltaire erst! Eine Farce.
Cogsworth versucht, seinen geknickten Kollegen wieder aufzumuntern. Er hat einen tollen Apparat erfunden, über den er sich wie ein kleiner Junge freut. Der COI – die Abkürzung für eine unaussprechliche Bezeichnung – zeichnet auf, was die Milliarden Augenpaare der Menschen sehen. Der Witz daran: Jedes Augenpaar sieht sein eigenes Universum und nicht etwa jenes, das angeblich alle sehen. Dadurch ist alles relativ und was man selbst sieht, muss in Zweifel gezogen werden.
Nacheinander sieht Cogsworth durch die Augen seiner Kollegen und von Versuchspersonen: Prof. Smirnow ist ein jupiterhafter Gigant, andere ein König, ein General, ein Kritiker, ein Selbstbetrachter und so weiter. Doch als er schließlich die Welt durch die Augen der geliebten Valerie Mok schaut, erlebt er den Schock seines Lebens. Denn Valerie ist keineswegs der Engel, für den er sie gehalten hat, sondern ein Schwein.
Smirnow hatte ihn gewarnt, schon klar. Und Smirnow, der Gigant, muss den am Boden zerstörten Cogsworth nun auch wieder aufrichten. Das hilft bis zu einem gewissen Grad. Aber es bedarf des Auftritts einer wütenden, entrüsteten Valerie Mok, um Cogsworth wieder zur Besinnung zu bringen. Denn sie hat die Welt und sich selbst durch seine Augen gesehen – und hät ihn nun für einen halbtoten Stockfisch!
Mein Eindruck
Wozu Philip K. Dick zehn Romane gebraucht hat, erklärt Lafferty hier auf rund 20 Seiten: Dass der ‚idiokosmos‘, den jeder Mensch von seiner Umgebung im Bewusstsein abbildet und für die Welt hält, nicht deckungsgleich ist mit den ‚idiokosmoi‘ anderer Menschen. Radikaler noch: Anders als bei Dick gibt es in Laffertys Story zunächst keinen ‚koinokosmos‘, also eine Schnittmenge solcher Einzel-Universen, die man als einen „gemeinsames Universum“ bezeichnen könnte.
Cogsworth muss erst in seiner dreistufigen, dialektischen Entwicklung viele Individualuniversen kennenlernen und sich selbst betrachten lernen, bevor er in der Lage ist, ein COI-Gerät zu zu bauen, das er auch der breiten masse der Kudnschaft anbieten kann. Dieser COI verfügt über einen leistungsfähigen Dämpfer der Wahrnehmung. Denn eines hat der Erfinder auf die harte Tour gelernt: „Missverständnisse können angenehm sein. Aber das plötzliche, vollkommene Verstehen hat etwas Niederschmetterndes.“
„Mit anderen Augen“ ist einer der besten Beiträge in dieser Sammlung. Zum gleichen Thema seien die Romane „Andere Tage, andere Augen“ von Bob Shaw (Goldmann, Heyne) und „Das Licht ferner Tage“ von Arthur C.Clarke/Stephen Baxter (Heyne) empfohlen. In beiden Romanen wird der Betrachtungsmechanismus mit dem Effekt einer Zeitmaschine kombiniert.
20) Immer nur einer (One at a time)
John Sourwine, genannt der Saure John, hat schon immer etwas für schräge Typen übriggehabt, denn mit denen, so weiß er aus Erfahrung kann man mitunter nicht nur was lernen, sondern auch eine Menge Spaß haben – vorzugsweise von der handfesten Sorte. Als McSkee in der Hafenstadt auftaucht, wo sich John gerade aufhält, hängt er sich an ihn dran.
McSkee futtert erst einmal eine Steakbude leer, dann schüttet er Unmengen leckere Spirituosen in sich hinein. Seltsamerweise wird er weder kugelrund noch besoffen. Allmählich beginnt John Fragen zu stellen, wird aber aus den Antworten einfach nicht schlau. Dann hat McSkee, ein stämmiger, lebensvoller Bursche, Lust auf Frauen. Er treibt es mit den leichten Mädchen die halbe Nacht hindurch und die zweite Hälfte prügelt er sich mit deren Zuhältern sowie den Polizisten, die alle miteinander hochnehmen.
Erst auf dem Strand, an dem sich McSkee und John von rauflustigen Feinden umzingelt sehen, redet der sonderbare Fremde endlich Klartext: „Es kommt darauf an, immer nur einen Tag und eine Nacht auf einmal zu leben – und einige Jahrzehnte dazwischen verstreichen zu lassen. Dann kann man diese Rückkehr ins Leben in vollen Zügen genießen.“ Fürs Sterben brauche man natürlich ein wenig Übung…
Mein Eindruck
Diese sehr actionreiche und farbige Erzählung in Umgangssprache greift das alte Motiv des Ewigen helden auf, wie mir scheint. Eine Figur, die in irland, woher McSkee, der „Sohn des Schlummers“, stammt, durchaus bekannt ist. Von dort stammen die Legenden von Finn MacCool und Cuchulainn, die alle mögliche Heldentaten vollbringen und es sich danach gutgehen lassen.
McSkee hat jedoch einen Kniff gefunden, die Jahrtausende zu überstehen: Immer nur einen Tag und eine Nacht zu leben, dazwischen aber tot zu sein. Das hat nichts mit den Eigenheiten der Vampire und anderer Untoter zu tun. Ich war auch an die englische Volkslegende von John Barleycorn erinnert, der Inkarnation des guten Gerstensaftes. Aber das trifft alles nicht das, was der Autor hier erzählt. Und wer’s nicht glaubt, soll es doch selbst mal ausprobieren, dieses „carpe diem“ – aber immer nur einen „diem“!
21) Besuchszeit (Guesting time)
Als die Skandianer kommen, sehen sie ganz friedlich aus. Sie kommen aus dem Nichts, ohne Raumschiff, und sehen ein wenig aus wie wir. Die gute Nachricht: Sie sind sehr freundlich. Die schlechte: Sie werden sehr rasch sehr viele. Nach wenigen Tagen sind es zehn Milliarden. Was wollen sie bloß auf der Erde?
Der ehrbare Familienvater Truman Trux in Winterfield fragt die fünftausend Skandianer, die es sich auf seinem Gründstück in der Provinz gemütlich gemacht haben. Es sei Besuchszeit, lautet die Antwortet. Sie seien aber nur die Vorhut. Die Kinder hätten sie erstmal daheim gelassen. Aber diese Welt fänden sie sehr schön.
Schon bald stapeln sich Menschen und Skandianer durcheinander und übereinander, so dass jeder Verkehr zum Erliegen kommt. Die Skandianer sind wahre Fruchtbarkeitsfetischisten und verteilen jede Menge Glücksbringer unter den ach so unfruchtbaren Terranern. Erst als sich Widerstand seitens des Präsidenten der Große-Staaten GmbH regt und er auf die gegen Kugeln immunen Skandianer feuern lässt, werden es weniger.
Aber sie versprechen wiederzukommen. Und dann würden sie ihre Kinder mitbringen…
Mein Eindruck
Keine leere Drohung, soviel ist sicher. Die Skandianer verhalten sich nämlich wie gewisse Völker der Erde – etwa in Vorderasien – wo die Fruchtbarkeit ein Fetisch ist und eine Frau nur soviel wert ist wie die Anzahl ihrer Kinder. Die Skandianer sind in dieser bitter-lustigen Satire nur die auf die Spitze getriebene Entwicklung, die aus dieser Einstellung folgt.
Die Übersetzung
Diese Texte wurden von Gisela Stege („Die sechs Finger der Zeit“ und die Titelgeschichte) und einem gewissen Karl H. Kosmehl übersetzt. Kosmehls Deutsch ist völlig veraltet und zudem norddeutsch. Seine Fassung gehört dringend neu übersetzt.
S. 109: „lebensversehrend“ = zerstörerisch
S. 121: „Schwingen klafterten vielleicht 20 Meter“ = sie hatten eine Spannweite von 20 m
S. 140: „inklinieren“ = dazu neigen
S. 156: „Aufbau viabler Planeten“; viabel bedeutet „lebensfähig“
S. 160: „zehnfältig“ statt „zehnfach“
S. 163: „ihre… Buhlen“: Liebhaber
S. 203: „sorgfäl[t]ig“: Das T fehlt.
S. 222: „Confi[t]eantur Domino Misericordia Ejus“: Fehlerhaftes Latein für „Der Herr sei ihm gnädig“.
S. 263: „experte Kenntnisse“ = Fachwissen
S. 287: „firmierte ich [als] >Der geniale Idiot<„. Das Wort „als“ fehlt
S. 289: „Schraps“ = nutzloses Zeug (von norddt. Schrapsel: das Abgekratzte)
S. 305: „Apfelgriebs“ = Apfelgehäuse, Butzen
S. 327: „sie verkutzte sich“: Sie verschluckte sich und musste husten.
S. 338: „fade Schrippe“ (auf einen König gemünzt): Brötchen (bes. Berlinerisch)
S. 339: „Kracke“ = Schindmähre, schlechtes Pferd
S. 341: „emphatisieren“: gemeint ist „empathisieren“, weil Empathie (Einfühlvermögen) gemeint ist, nicht etwa Emphase (Betonung)
S. 368: „nur wehr wenig auf dem Leibe“: Statt „wehr“ muss es „sehr“ heißen.
S. 378: „Engnis“: Platzmangel
Unterm Strich
Entgegen meiner ersten Erwartung sind diese Erzählungen keineswegs antquiert, sondern sehr frisch in ihrer skeptischen Geisteshaltung und sogar aktuell in den Themenstellungen. So wird beispielsweise das Problem aufgegriffen, wie man unter Milliarden Menschen einen Alien erkennen soll – das würde heute einen „Terroristen“ bzw. dessen „Sympathisanten“ betreffen.
Ebenso skeptisch zeigt sich der Autor gegenüber Konzepten wie der Zeitmaschine und ihrem mentalen Gegenstück, dem Psychoskop – das hier natürlich ganz anders heißt. Was wäre, wenn man die Welt wirklich durch die Augen eines anderen menschen sehen könnte? Wie sich herausstellt, bedeutet dies keineswegs immer ein positive Erfahrung, vor allem nicht für einen Mann, der die Welt einer Frau sieht.
Der wichtigste Beitrag des Autors zur Science Fiction ist meines Erachtens die Erfindung der Camiroi. In zwei längeren Erzählungen bzw. Reportfolgen plus Lehrplan stellt er die Welt Camiroi vor. Diese Welt kennt keinerlei Regierung wie wir, keine Gesetzgebung und keine Ausbildung wie wir. Das Rechtswesen und die Sitten haben große Ähnlichkeit mit denen an einer Grenze zur Wildnis, wo jeder Siedler auf sich gestellt ist und alles können muss, inklusive Gesetzgebung und Regierung (weitere Details siehe oben). Dass es dabei auch recht drastisch zugehen kann, liegt in der Natur der Bedingungen. Merke: Die Camiroi-Verhältnisse sind nichts für Weicheier!
Die Anordnung der Texte in dieser Sammlung lässt sich in zwei Hälften zerlegen. Die erste Hälfte, die bis „Der Name der Schlange“ reicht, enthält Figuren, die diszipliniertes Hochdeutsch sprechen. In der zweiten Hälfte, ab „Das enge Tal“, reden die meisten Leute Umgangssprache, also mit Dialektausdrücken, Kontraktionen und ähnlichem.
Dadurch wirkt der Autor einerseits vielseitig und leutselig, weil volksnah. Andererseits kann er in der „leutseligen“ Erzählweise viel ulkigere, vermenschlichte Probleme und Phänomene aufgreifen. Dazu zählt der seltsame Kerl, der alle paar Jahrzehnte aus seinem Totenschlag erwacht, um einen Tag und eine Nacht richtig auf den Putz zu hauen. Diese Art von Story ist wie aus dem Alltag (anno 1970) gegriffen und spricht den Leser direkt an. Ein Prometheus-Typ wie Garamask wäre auf der Straße, wo die Aliens auftauchen, schwer vorstellbar.
Für die paar Druckfehler und die zahlreichen überholten oder deplatzierten Ausdrücke ziehe ich einen Punkt ab. Dieses Buch gehört komplett neu übersetzt.
Fazit: vier von fünf Sternen.
Taschenbuch: 383 Seiten.
O-Titel: Nine hundred grandmothers, 1970;
Aus dem US-Englischen von Gisela Stege (2) und Karl H. Kosmehl
ISBN 9783453062436
www.heyne.de
Der Autor vergibt: 



