Bleiche Knochen in den Fjorden
Hildur Rúnarsdóttir dachte, in ihr Leben als Kriminalpolizistin in den Westfjorden von Island wäre endlich Ruhe eingekehrt. Da werden auf dem elterlichen Anwesen am Meer vier Menschenskelette entdeckt. Hildur forscht nach, obwohl sie gerade eigentlich in einem Misshandlungsfall auf einem Kreuzfahrtschiff ermittelt. Im Sommer strömen Scharen von Touristen auf die Insel im hohen Norden. Und je mehr Hildur herausfindet, desto mehr muss sie feststellen, dass die Gier mancher Menschen tödlich sein kann. Ein engmaschiges Netz aus skandalträchtigen Machenschaften, die tief in die Vergangenheit reichen, tut sich auf. (Verlagsinfo)
Die Autorin
Die Finnin Satu Rämö zog vor über zwanzig Jahren für ein Auslandssemester nach Island, um isländische Kultur und Literatur zu studieren. Heute lebt sie mit ihrem isländischen Mann und ihren zwei Kindern in der Kleinstadt Ísafjörður im Nordwesten Islands. Nach zahlreichen erfolgreichen Sachbüchern, in denen sie über ihre Wahlheimat schreibt, feierte sie mit der Reihe um die außergewöhnliche Ermittlerin Hildur Rúnarsdóttir ihr Debüt als Krimiautorin. Inzwischen hat sich die SPIEGEL-Bestsellerreihe über eine Million mal weltweit verkauft. Gerade wurden die Dreharbeiten zu einer Hildur-Miniserie im Rahmen einer internationalen Co-Produktion abgeschlossen. (Verlagsinfo)
Der Auftakt der Reihe um die außergewöhnliche Kommissarin Hildur Rúnarsdóttir begeisterte die Leser*innen in ihrer Heimat und stand wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste. (Verlagsinfo)
Die Hildur-Reihe
Die Spur im Fjord
Das Grab im Eis
Der Schatten des Nordlichts
Die Toten am Meer
Handlung
Prolog
Rakel ist die Mutter von Hildur, Rosa und Björk. Ihr Mann ist der impulsive Fischer Runar, der sich jedoch misshandelt, unter anderem weil sie mit ihren selbstgemachten Heilsalben mehr zu verdienen scheint als er. Er weiß nichts von ihrer Geliebten Helga. Ihr ist es jetzt gelungen, Rosa und Björk heimlich auf die Färöer-Inseln zu Verwandten zu bringen, Hildur bringt sie bei Helga unter.
Nun ist alles bereit. Runar hat durch unbedachte Handlungen wie dem Verkauf seines Bootes und den zugehörigen Fischereirechten, alles verloren. Seine Wut lässt er an ihr aus. Auf ihrer letzten Fahrt mit ihm durchbricht sie das Sicherheitsgeländer in einer Kurve und rast in den Abgrund…
Unwillkommen
Als Manuel Perez über die Gangway von seinem Kreuzfahrtschiff auf den Hafenkai von Isafjördur torkelt, schreit eine Frau auf: Sein Gesicht ist völlig zerschnitten und droht abzufallen. Er muss es mit beiden Händen festhalten. Sofort ruft sie einen Krankenwagen, der ihn ins nächste Krankenhaus fährt. Hildur Runarsdottir und der Finne Jakob müssen den Mann befragen. Sein Pass weist ihn als Venezolaner aus. Auf dem Schiff vermisst ihn jedoch niemand.
Tage später ergibt eine erste Befragung, dass er in der Küche arbeitete, doch 21 Stunden lang; er bekam nur drei Stunden Schlaf pro Tag, sagt er. Hildur kann es kaum glauben. Sie zieht Beta, die Revierleiterin, und einen Experten namens Smari hinzu, denn die Zuständigkeiten sind heikel: Island, Venezuela oder Bermuda – dort ist das Schiff registriert. Dieses macht jetzt erst einmal die übliche Umrundung der Insel und kommt erst in etwa einer Woche zurück.
Smari macht ihr deutlich, dass Hildurs Handlungsmöglichkeiten äußerst begrenzt seien. Manuel wollte offenbar zum Postamt von Isafjördur. Dort arbeitet sein Bekannter Andri, und es sieht so aus, als spielte Marihuana ein Rolle. Aber wer Manual das Gesicht zerschnitten, weiß auch Andri nicht. Smari warnt Hildur, dass so manches nicht ist, wonach es aussieht. Ist also Manuel gar nicht das Opfer?
Altlasten
Hildur hat als älteste Tochter das Elternhaus geerbt, aber ihre Schwester Rosa bewohnt es nun, hat es renoviert und will es als Gästehaus vermieten. Dafür will sie ausnahmsweise auch ökologisch nachhaltig investieren: in einen Tank für das Schmutzwasser. Alle anderen Anwohner leiten ihren Dreck einfach ins Meer. Doch kaum kommt der einzige Baggerführer in den Westfjorden mal nach Kotsdalur, da stößt er auch schon ein Hindernis: Knochen. Menschliche Knochen. Vier vollständige Skelette. Der Baggerfahrer zieht wieder ab, dafür rückt die Rechtsmedizin an. Aus welcher Zeit stammen die Skelette und zu wem gehören sie?
Helga
Helga war die beste Freundin ihrer Mutter, weiß Hildur, und deshalb besucht sie sie im Seniorenheim so häufig wie möglich. Helga liest immer noch die Zeitung von vor 30 Jahren, in der Rakels Tod gemeldet wurde. Sie sagt, sie habe Rakel in den letzten Tag wieder gesehen. Hat sie schon Demenz, fragt sich Hildur. Und Helga beginnt von Tunneln und verschwundenen Personen zu sprechen. Am nächsten Tag, nach einer Nacht voller Alpträume, erhält Hildur die Nachricht, Helga sei gestorben.
Schon beim zweiten Hinsehen merkt sie, dass dies kein natürlicher Tod war: Helga schlief nie mit einem Kissen doch nun liegt eines neben ihrem Bett. Niemand außer Hildur kommt das merkwürdig vor. Sie zieht Jakob und ihre Vorgesetzte Beta hinzu. Die genehmigt eine Obduktion, Jakob nimmt Fingerabdrücke vom Bettgestell. Er ist es auch, der bemerkt, dass die Tür des Haupteingangs aufgebrochen wurde. Vom Sicherheitschef der angeschlossenen Klinik erhalten sie einen USB-Stick mit Aufnahmen der Überwachungskameras. Als sie das Material durchforsten, trauen sie ihren Augen nicht: Da ist Manuel im Seniorenheim…
Mein Eindruck
Die Geschichte ist abwechslungsreich inszeniert, wie es der Hildur-Fan gewohnt ist. Krimifreunde werden sich die Details, die die drei oder vier Handlungsstränge liefern, gerne zusammensetzen, und sie werden nicht enttäuscht, aber auch überrascht werden, was die Lösung der Rätsel anbelangt. Das Schicksal Manuels aus Venezuela ist nur der Aufhänger, um die ausbeuterischen Arbeitszustände an Bord jener Kreuzfahrtschiffe anzuprangern, die Island jeden Tag umfahren. Drei oder vier Stunden Schlaf pro Nacht sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Und Manuel bekommt keinen Lohn, denn er muss seine Schulden beim Arbeitsvermittler abbezahlen. Kurzum: Auf den Dampfern herrscht Lohnsklaverei.
Auf einem der Dampfer wird Hildur gleich bei ihrem ersten Undercover-Einsatz an Bord erwischt: Allerdings nicht von dem nicht vorhandenen Borddetektiv, sondern von einem Kommissar des Bundeskriminalamts (BKA), der hier auch nicht auffliegen will. Deshalb verrät er Hildur nicht, sondern schildert ihr sein Anliegen: Vor Jahren verlor er seine Jugendliebe, die nach Island auswanderte, um hier zu arbeiten. Seitdem gilt sie als vermisst.
Max bittet Hildur um ihre Hilfe bei der Suche, im Gegenzug gibt ihr einen Eindruck davon, womit sie es hier mit den Dampfern zu tun hat: Sie sind eine rechtliche Grauzone und somit ideal geeignet für Verbrechen jeder Art: Drogenschmuggel, Menschenhandel und vieles mehr. Alles, was man dazu braucht, ist eine international aufgestellte Organisation. Und die gibt es mittlerweile weltweit. Aber seine Ruth verschwand auf keinem dieser dubiosen Schiffe, sondern wohl in einer Fischfabrik. Nachdem sie sich in Reykjavik bei den Ami-Soldaten prostituiert hatte.
Wie passt Helgas Ermordung in dieses riesige Puzzle, fragt sich Hildur immer wieder. Sie muss den Kopf freikriegen, deshalb geht sie laufen, schwimmen und surfen. Der Leser kann sich zurücklehnen und Hildurs Alltag miterleben, meist auf dem Lande in den Westfjorden. Die Zutaten für einen gemütlichen Cosy-Crime-Krimi sind vorhanden, doch Hildur – ihr Name bedeutet „Kampf“ – lässt sich selbst keine Zeit zum Entspannen.
Ganz im Gegenteil: Sie und ihr Team entdeckt eine Spur nach der anderen. Wo andere zurückzucken würden, packt Hildur zu – und stößt so auf Abgründe, die sie nicht vermutet hätte. Und ebenso unerwartet stößt sie auf eine Wahrheit, mit der ihre im Knast sitzende Schwester Björk entlastet wird.
Die Übersetzung
S. 39: „Auf einer Fläche von gut 22.000 Quadratmetern gab es einige Dörfer…“: Na, auf dieser Fläche könnte man vielleicht ein Dorf unterbringen, aber sicher nicht die gesamten Westfjorde, von denen hier die Rede ist. Ich habe die Westfjorde gegoogelt, und die Fläche stimmt: rund 22.000 Quadrat-KILO-meter.
S. 50: „Ein großer heller Raum am Flur diente des (!) Hausbewohnern…“ Statt des Genitivs muss hier der Dativ stehen: „den Hausbewohnern“.
Unterm Strich
Die Zutaten für einen gemütlichen Cosy-Crime-Krimi sind in der Tat vorhanden, denn was diesem vierten Abenteuer mit der isländischen Polizistin Hildur fehlt, ist das Drama. Wurde im dritten Band (siehe meine Besprechung) noch eine Fotografin noch um ein Haar erschlagen. Doch es ist die unermüdliche Ermittlungsarbeit, die Hildur vorantreibt, die den Leser schon bald gewiss sein lässt, dass auch diesmal einige Verbrechen und Geheimnisse aufgedeckt werden.
Das Generalthema ist Ausbeutung bis zur letzten Konsequenz. Sie findet auf Kreuzfahrtschiffen und in Fischfabriken statt. Wer nicht mehr malochen kann, wird entsorgt. So findet Hildur eine unerwartete Erklärung für Knochenfunde neben dem Haus ihrer Eltern. Und nicht genug damit: Ihre eigenen Eltern sind Opfer des gleichen skrupellosen Ausbeuters geworden. Er hat seinerzeit die geänderte Rechtslage für die Fischerei ausgenutzt. Fragt sich, ob er noch am Leben ist, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Sie braucht nicht lange zu suchen, denn das Seniorenheim liegt quasi direkt vor ihrer Nase…
Wer den Krimi gelesen hat, wird es sich dreimal überlegen, ob es eine gute Idee ist, Island mit einem Kreuzfahrtschiff zu umrunden. Man sollte sich dessen bewusst sein, dass so ein Kahn eine rechtliche Grauzone darstellt, in der sich internationale Verbrecherbande allerlei Freiheiten herausnehmen, um Lohnsklaverei und womöglich Menschenhandel zu betrieben, vom Schmuggel von Drogen und Juwelen ganz zu schweigen.
Einen ganz besonders netten Einfall der Autorin fand ich, dass sie einen Undercover-Ermittler des deutschen BKA auftreten lässt. Wer bis zu dieser Stelle Romantik vermisst hat, erhält hier endlich einen tragischen Abglanz davon. O ja, die Autorin weiß ganz genau, was ihre Leserinnen brauchen.
Und wie immer lohnt sich eine zweite Lektüre, denn dann werden die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Handlungssträngen in Gegenwart und Vergangenheit noch auffälliger und in ihrer Bedeutung noch erschütternder. Die eingeschobenen Briefe von Ruth, Max‘ verlorener Liebe, fügen dem Puzzle einen weiteren, bewegenden Aspekt hinzu.
Taschenbuch: 368 Seiten.
O-Titel: Rakel, 2024
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasar.
ISBN-13: 9783453442894
Der Autor vergibt: