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Koontz, Dean R. – Schattenfeuer

Rachael Leben steckt mitten in den Scheidungsverhandlungen, als ihr Noch-Ehemann Eric, ein Experte auf dem Gebiet der Genetik, nach einem Streit mit ihr direkt vor ein Auto läuft und ums Leben kommt.
Den Schock noch nicht ganz überwunden, erfährt sie, dass Erics Leiche aus dem Leichenschauhaus verschwunden ist – eine Tatsache, die angesichts der ausgezeichneten Sicherheitsvorkehrungen schlichtweg unmöglich ist.
Doch Rachael ahnt, was passiert ist und fürchtet nun um ihr Leben, denn sie kennt das geheime Projekt, an dem Eric und seine Mitarbeiter bei Geneplan arbeiteten: Die Verlängerung des Lebens durch Genmanipulation. Als die getöteten Versuchstiere wieder lebendig wurden, führte Eric die Genveränderung an sich selbst durch und ist nun wieder von den Toten auferstanden – aggressiver und hassvoller als je zuvor. Mit den Nebenwirkungen hat er allerdings nicht gerechnet: Sein Körper erholt sich innerhalb weniger Stunden von den Unfallfolgen, doch das Zellenwachstum hört nicht auf; die Zornesausbrüche und die Zerstörungswut werden immer animalischer. Hin- und hergerissen zwischen Menschsein und Tierwerden konzentriert sich sein Hass nur noch auf seine Frau.

Rachael und ihr Freund Ben Shadway nehmen die Jagd nach ihm auf, um ihn zurück ins Jenseits zu befördern, und werden dabei selbst verfolgt. Die Regierung weiß ebenfalls von dem Projekt und will es unter ihre Kontrolle bringen, denn wer Unsterblichkeit vergeben kann, hat die ganze Menschheit in seiner Gewalt.
Anson Sharp, der stellvertretende Direktor der Defense Security Agency, nimmt den Fall gerne in die Hand. Da er mit Ben noch eine Rechnung zu begleichen hat, plant er statt einer Verhaftung den Tod der Beiden.
Rachael und Ben bleibt nur die Chance Eric gefangen zu nehmen und mit ihm als „lebendem“ Beweis das Projekt an die Öffentlichkeit zu bringen, um ihr eigenes Leben zu retten.

Wer Dean R. Koontz kennt, weiß genau, dass eine unheimliche Story noch längst nicht alles ist, was der Autor zu bieten hat. Seine Charaktere wirken durch die exakt ausgearbeiteten Hintergründe und eine psychologisch angehauchte Analyse ihrer Taten und Gedanken wie aus dem Leben gegriffen. Der Leser wird stückchenweise in die tiefen Abgründe der Geschichte geführt, die immer wieder mit Überraschungen aufwartet und in einem sehr flüssigen und irgendwie auch ästhetischen Stil geschrieben ist.
Koontz versteht es, seinen Lesern unvermittelt eine Gänsehaut aufzudrücken, nur um sie dann wieder schmunzeln zu lassen. Und irgendwann während der Lektüre schaut jeder wohl mal in die dunklen Ecken seines Zuhauses – nur zur Sicherheit.
Auch „Schattenfeuer“ macht da keine Ausnahme und brilliert zusätzlich noch mit beängstigenden Zukunftsvisionen, die die Frage aufwerfen: Lohnt sich Unsterblichkeit wirklich?
Für alle Grusel- und Horror-Fans sowieso ein ultimatives Muss, allein schon wegen der Beschreibung von Erics Veränderungen! Für alle anderen: Spannung ist von der ersten bis zur letzten Seite garantiert, und erst beim Gruseln spürt man doch wirklich, dass man lebt…

Dean Ray Koontz wurde 1946 in Bedfort, Pennsylvania geboren und gewann mit 20 Jahren bereits den ersten Platz bei einem Schreibwettbewerb. Er besuchte das Shippensburg State Teachers College, heiratete 1966 und lebt heute mit seiner Frau in Orange County / Kalifornien. Seine Bücher erreichten eine Weltauflage von über 100 Millionen Exemplaren in 18 Ländern. Mehrere seiner Romane schafften es in die Bestsellerlisten.
Gerade neu erschienen ist „Der Geblendete“.

[Homepage des Autors]http://www.randomhouse.com/bantamdell/koontz/index.html

Doherty, Paul – gefallene Engel, Der

Der englische Historiker Paul Doherty, der auch unter den Pseudonymen Paul Harding, Michael Clynes, Celia L. Grace, P. C. Doherty, und Ann Dukthas Bücher verfasst, hat mit „Der gefallene Engel“ einen faszinierenden historischen Roman geschaffen, der intensiven Gebrauch von Mystik, Religion und Elementen des Vampirmythos‘ zu machen weiß. Angesiedelt ist die Geschichte des von dunklen Geheimnissen umgebenen Matthias Fitzosbert in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wobei sich der erzählerische Zeitbogen vom Fall Konstantinopels 1453 bis zu Kolumbus‘ Entdeckungsfahrt 1492 spannt. Hauptort der Handlung sind England und Schottland, die zu dieser Zeit von schweren Unruhen und Bürgerkriegen zerrissen sind.

Eigenartige Morde verunsichern die Einwohner im ländlichen Sutton Courteny in Gloucestershire, die zu diesem Zeitpunkt von den Wirren der Kriege verschont blieben und ein beschauliches Leben abseits der Machtkämpfe bestreiten. Die Umstände der Tötungen tun ihr Übriges, um für Verwirrung zu sorgen, denn den Opfern wurde offenkundig das Blut ausgesaugt, was uns natürlich direkt an Vampirgeschichten denken lässt. Aber die Konstruktion Dohertys hat hier mehr zu bieten als abgewetzte Blutsaugermythen, denn in diesem Falle steckt hinter dem unheimlichen Treiben ein Dämon, genauer gesagt der Rosendämon, einstiger Hüter der himmlischen Gärten, der gemeinsam mit Luzifer aus den Himmeln gestürzt wurde, als die Engel sich gegen Gottes Entscheidungen auflehnten. Dieser religiöse Hintergrund wird im Verlauf des Buches immer detaillierter offenbart und macht einen der Spannungspunkte der Geschichte aus. Der besagte Matthias, seines Zeichens Pfarrerssohn und damit ein gesellschaftlicher Außenseiter und Schandfleck, hegt eine geheime Freundschaft zu einem in der Nähe lebenden Eremiten, der ihn in so manches Wissen einweiht. Als der Eremit durch Intrigierung eines seltsamen Predigers mit den Morden in Verbindung gebracht und letztlich nach einem Schauprozess verbrannt wird, ist es mit der Ruhe im Dorf vorbei und ein wahres Blutbad tilgt Sutton Courteny förmlich von der Landkarte. Matthias jedoch bleibt verschont und für ihn beginnt nun eine lebenslange Odyssey auf der Suche nach sich selbst, seiner Vergangenheit, seiner Bestimmung und nach einer Lösung für all die Seltsamkeiten, die ihm beständige Begleiter sind und es ihm unmöglich machen, Ruhe zu finden.

Bis auf die drei Prologe, die sich immerhin über 40 Seiten erstrecken, begleitet der Leser während des gesamten Buches Matthias auf seiner Irrfahrt von einem Abenteuer ins nächste; es gibt keine Perspektivenwechsel oder parallele Handlungen, so dass wir bis auf diesen Prologvorsprung nicht viel mehr wissen als Matthias selbst. Das sorgt zwar für eine sehr dichte Identifizierung mit der tragischen Hauptfigur, die alles andere als heldenhaft ihr scheinbar unausweichliches Schicksal meistert, ist zugleich aber ein Stolperstein, was die Dramaturgie angeht, denn bereits nach dem ersten Drittel – bei 668 Seiten immerhin schon eine ordentliche Lesestrecke – hat man genug Hinweise, um sich die größeren Zusammenhänge und selbst den Ausgang der Geschichte denken zu können. Von da an wird das Interesse des Lesers aufrechterhalten von der Frage, in wessen Körper der Rosendämon gerade wieder steckt, um von dort aus Einfluss auf Matthias‘ Lebensgeschichte zu nehmen. Außerdem sind die Abenteuer seiner Odyssey wirklich spannend zu lesen, und nicht zuletzt faszinieren die historischen Details und bringen zugleich einen nicht zu verachtenden Bildungsfaktor in punkto Geschichte mit sich. Doherty geht als Historiker, der in Oxford promoviert hat, detailgetreu zu Werke und selbst die mystischen Begebenheiten sind zwar fiktiv in ihren Einzelheiten, bauen aber auf Überlieferungen der Chronisten auf. Die Erzählhandlung wird stets in den korrekten und sehr lebendig präsentierten historischen Rahmen eingebettet, und so begegnet der Leser gemeinsam mit Matthias den Großen jener Zeit, Königen, Feldherren, Kirchendienern, Inquisitoren, allerlei zwielichtigen und einflussreichen Gestalten und wird in ihre Intrigen und Machtränke involviert. Und da letztlich das Kernthema des Romans sich als Suche nach Zugehörigkeit, Geborgenheit und Zuneigung offenbart, kommt auch die emotionale – und nebenher erwähnte erotische – Seite beim Lesen nicht zu kurz.

Wenn man sich – wie dies auch bei so manch gelungenem Film der Fall ist – mit diesen Ansatzpunkten und der Art der Darstellung begnügen kann und nicht nur deshalb weiter liest, weil auf ein überraschendes Finale und die Enthüllung weiterer verborgener Geheimnisse gehofft wird, dann lohnen sich auch die letzten beiden Drittel von „Der gefallene Engel“ auf jeden Fall. Zusätzliche Erzählebenen und sparsamer gestreute Lösungshinweise hätten der Spannung zwar sicherlich gut getan, aber ich habe diesen Roman, der in der durchaus üblichen Tradition historischer Werke eine Mischung aus Reisebericht, Biographie und Abenteuerepos ist, dennoch sehr genossen und bin von der lebendigen und detailgetreuen Darstellung, den mystischen Verflechtungen und philosophischen Bezugspunkten beeindruckt genug, um eine Leseempfehlung für dieses gelungene Werk aussprechen zu können.

Anthony, Patricia – Gottes Feuer

Um eins gleich mal vorwegzunehmen: Auch wenn „Gottes Feuer“ bei der ‚Science Fiction & Fantasy‘-Reihe von Heyne erschienen ist, so handelt es dabei doch eher um einen historischen Roman, in den die Autorin geschickt einige SF-Elemente einfließen lässt.
Patricia Anthony, 1947 in den USA geboren, schrieb bereits „Kalte Verbündete“ und „Bruder Termite“. Sie ist vielseitig begabt, kann reiten und schießen, unterrichtete Englisch in Brasilien und seit 1991 lehrt sie Kreatives Schreiben an der Southern Methodist University in Dallas, Texas. Dort lebt sie heute auch.

Wenn Außerirdische im 17. Jahrhundert in Portugal abstürzen, stellt sich die Frage, sind es Engel, Dämonen, Menschen aus Borneo oder doch nur seltsame Tiere, die die Spanier per Katapulten ‚rübergeschossen haben?
Pater Manoel Pessoa ist Jesuit und Inquisitor. Im Auftrag des Heiligen Offizium reist er das Jahr über in seinem Gerichtsbezirk umher und hält nach Häresien Ausschau. In dem Dorf Quintas erfährt er bei einer Beichte, dass angeblich Engel mehreren Frauen beiwohnen, wobei ein Mädchen von ihnen sogar geschwängert worden sei. Ein anderes Mädchen berichtet ihm, es hätte die Jungfrau Maria gesehen und von ihr einen Auftrag bekommen, den sie aber niemandem sagen dürfe. Mehrere Bewohner des Dorfes erzählen von leuchtenden Kreuzen am Himmel, die sie nachts beobachtet hätten, und auf einem Feld befindet sich ein Kornkreis – gedeutet als die Spuren des Rades vom Propheten Ezechiel.
Pessoa, der mit einem doch sehr rationalen Verstand ausgestattet ist, hält diese Berichte zunächst für religiöse Wunschträume. Um eine von ihm verhasste Untersuchung und Meldung beim Offizium zu vermeiden und um seine Schäfchen zu retten, beschwört er die Bewohner, von ihren Aussagen abzulassen, ja er fordert sie sogar auf, zu fliehen, um einer Verurteilung zu entkommen.
Doch ein fallender Stern, der „Engel“ auf die Erde bringt, macht seine Bemühungen zunichte. Selbst der Dorfpater und Pessoas Freund Luis Soares sinkt vor den seltsamen Wesen auf die Knie und glaubt an ein Wunder.

Der geistig zurückgebliebene König Afonso, der auf seiner Gegen-Windmühlen-kämpfen-wie-Don-Quijote-Reise den Stern beobachtete, findet in der abgestürzten Kapsel Gott, der mit Farben zu ihm spricht und ihn in seiner, von der Inquisition als ketzerisch angesehenen Meinung bestärkt, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Mit seinem verkümmerten Verstand scheint er der einzige zu sein, der die Wahrheit erkennt, doch sein Bruder Pedro befindet sich schon auf dem Weg zur Thronbesteigung.
Als der Generalinquisitor Monsignor Gomes in Quintas eintrifft, werden Pessoas Hoffnungen vollends zerschlagen. Ohnmächtig muss er mit ansehen, wie die fremden Wesen und die Bewohner des Dorfes ins Gefängnis geworfen werden und ein Tribunal zusammengestellt wird, bei dem er natürlich selbst Mitglied ist. Ein Autodafé (port.: Ketzerverbrennung) wird vorbereitet, und unter den Verurteilten befindet sich die jüdische Kräuterfrau Berenice Pinheiro, die schon einmal gestorben war und dank eines Engels, der sie immer noch besucht, wieder ins Leben zurückkehrte – die Frau, die er liebt.

Patricia Anthony muss auf Kirchenmänner nicht gut zu sprechen sein. Mit bissigem Humor beschreibt sie die Laster ihrer Charaktere: Der eine kann das Essen, der zweite das Huren, der dritte von kleinen Jungs nicht lassen – für den Leser ist es allerdings ein Genuss, diesen Ausschweifungen zu folgen. Ein ständig furzender Generalinquisitor und sich häufig an ungezieme Stellen fassender König geben oft Anlass zum Schmunzeln, und mit prägnanten weiblichen Charakteren wie z.B. der Kräuterfrau wird’s niemals langweilig.
Locker (sehr locker), mit einer teilweisen drastischen Ausdrucksweise und dauerhaftem Augenzwinkern erzählt Anthony, wie das Chaos ausbricht, wenn die Inquisition Außerirdischen gegenübersteht. Ich für meinen Teil habe Hunger nach mehr bekommen, aber ich habe ja auch keine Magenleiden wie Monsignor Gomes.
Fazit: Ein überaus unterhaltsamer Roman, den ich eigentlich jedem empfehlen kann, der an Geschichte oder Science Fiction interessiert ist, oder der einfach mal ein etwas anderes Buch zur Hand nehmen möchte.

Daley, Robert – Aufruhr in Harlem

|Originaltitel: Tainted Evidence|

Der amerikanische Autor Robert Daley war lange Zeit Polizist des N.Y.P.D. und hat sich mittlerweile als Verfasser von Dutzenden Polizeiromanen in den USA einen Namen gemacht.

Die Detectives Dan Muldoon und Mike Barone sind im 32. Revier in New York tätig, das sich von der 127. bis zur 157. Straße erstreckt und in dem etwa 100.000 Menschen, vornehmlich Schwarze, leben. Große Erfolge haben beide nicht vorzuweisen, ihr Alltag besteht zumeist aus der Verfolgung von Kleinkriminellen und nächtlichen Streifen durch Harlem.

Als Muldoon von einem Spitzel Hinweise auf das Versteck von Lionel Epps erhält, einem Drogendealer, der in einem anderen Bezirk bereits wegen Mordes vor Gericht stand, organisiert er hastig und ohne entsprechende Kompetenzen ein Überfallkommando. Der Zugriff auf den schwer bewaffneten Epps endet in einem Fiasko, bei dem mehrere Beamte schwer verletzt werden, der Gesuchte jedoch verhaftet werden kann.

Der Fall wird der stellvertretenden Staatsanwältin Karen Henning übertragen, die in kürzester Zeit in üble politische Intrigen und Machenschaften um die Wiederwahl des Bezirksstaatsanwalts verstrickt wird und vor der Entscheidung steht, den Fall auf politisch opportune Weise zu verfolgen oder ihrer beruflichen Ethik zu folgen. Epps wird von dem schillernden Anwalt Justin McCarthy vertreten, der keine Gelegenheit auslässt, mit übelster Polemik und Lügen öffentlich den Rassenhass der weißen Polizisten gegen die schwarzen Ghettobewohner Harlems anzuprangern und diesen dadurch noch zu schüren. Die Entscheidung der Geschworenen führt letztlich zu Krawallen in Harlem.

Der reißerische (deutsche) Titel hält nicht, was er verspricht. Der „Aufruhr in Harlem“ nimmt einen nur geringen Teil des Buchs ein und ist ohne Leidenschaft oder Spannung geschildert. Vielmehr handelt es sich um eine wenig aufsehenerregende Mischung aus Cop- und Justizthriller, die sich zwar angenehm liest und einige interessant geschilderte Einblicke in das schwarze Harlem der frühen Neunzigerjahre bietet, aber in Stil wie Story nur Mittelmaß darstellt. Dazu bedienen die, durchaus lebendig geschilderten Protagonisten aus Polizei- und Politikkreisen jedes nur erdenkliche Klischee.

King, Stephen – Duddits – Dreamcatcher

Stephen King ist ein Phänomen – zum Autor und seiner Bedeutung für die moderne Belletristik muss an dieser Stelle wohl kaum noch ein Wort verloren werden. Phänomenal allerdings finde ich – neben seinen eindrucksvollen, packenden Werken an sich – seine schriftstellerische Entwicklung und die stilistische Experimentierfreudigkeit, die er gerade im letzten Jahrzehnt an den Tag legte. So versucht er sich auch gern in Bereichen, die jenseits dessen liegen, was ihn zum „King of Horror“ machte und verliert sich dadurch nicht in allmählich langweilender inhaltlicher wie formaler Beliebigkeit, so wie dies leider beispielsweise beim deutschen „Pendant“ Wolfgang Hohlbein zu bemängeln ist.

Doch nun zu „Duddits“. Ein zunächst irritierender Titel – zumal die deutsche Übersetzung des Originaltitels „Dreamcatcher“ eigentlich auch niemandem weh getan hätte –, wenn man nicht weiß, dass dies der Spitzname des zentralen Charakters in Kings Meisterwerk aus dem Jahre 2001 ist. Duddits ist ein vom Down-Syndrom benachteiligter Sonderling, so aufgeweckt wie ein Knäckebrot, aber äußerst liebenswert und menschlich. Im Großteil des Buches scheint er eher eine Nebenrolle zu spielen, entwickelt sich aber alsbald zum Zentrum der Geschichte und eines Geflechtes, das durch den die Handlung tragenden Freundeskreis gebildet wird. Diese Freunde sind – als Erwachsene: Der ziemlich abgerissene, vor sich hinvegetierende Biber; Pete, der Autoverkäufer mit einer hellsichtigen Begabung, deren Herkunft und Bedeutung sich im späteren Verlauf noch erklären wird; Henry, seines Zeichens Psychoanalytiker mit einer ähnlichen mentalen Fähigkeit, die ihm nicht immer nur nützlich in seinem Beruf ist; und schließlich ist da noch Jonesy, ein Geschichtsprofessor, mit dem es das Schicksal gar nicht gut zu meinen scheint. Und auch er teilt die jeweils etwas verschieden ausgeprägten speziellen Geistesgaben seiner Kindheitsfreunde. Als Erwachsene bleibt ihnen von ihren gemeinsam verbrachten Jahren und Verbundenheit nur noch ein alljährlicher, geradezu ritueller Jagd-Ausflug in die Berge, der sich diesmal als höchst schicksalsträchtig erweisen soll. Der Kontakt zu Duddits ist mit dem Älterwerden abgerissen, aber auch dies hat seine Gründe, die erst im späteren Verlauf klar werden sollen. Und als Duddits wieder ins Blickfeld des Geschehens rückt, erwachen längst vergessene Erinnerungen und Fähigkeiten bei den Freunden, die Vergangenheit fließt mit der Gegenwart zusammen und Freunde, ebenso wie einzelne, scheinbar unwichtige Details im Erzählverlauf bilden wieder eine Einheit. Im Zentrum des Traumfänger-Netzes sitzt – ein passiver Spielball der Mächte und dennoch der Schlüssel zu allem – der von der Restwelt bemitleidete und belächelte Duddits.

Über den weiteren Verlauf der Geschichte will ich nicht zu viele Worte verlieren, sondern nur als Stichwortgeber anreißen, dass der Trip in die Wälder nach der Begegnung mit dem seltsamen Jäger McCarthy, einer eigentümlichen Infektion und der Quarantäne des gesamten Landstriches durch das Militär – die Charakterzeichnung des Befehlshabers allein ist eine wahre Wonne und Genuss – zu einer stürmischen, atemberaubenden Achterbahnfahrt mutiert, die nicht nur für die Freunde alles verändern wird.

Wie von King gewohnt, widmet sich der Prolog – der auf ein paar neugierig machende und Themen weisende Nachrichtenauszüge von 1947 bis 2000 folgt – der Formgebung der Hauptfiguren; für King ist dieser einführende Part allerdings ungewöhnlich kurz geraten, denn sofort mit Teil 1 des eigentlichen Buches geht es direkt in die Vollen und der Spannungs- und Handlungsbogen setzt ohne weitere Vorwarnung ein, packt den zu diesem Zeitpunkt bereits reichlich neugierig gewordenen Leser und schleift ihn förmlich durch ein Nerven zerfetzendes Abenteuer, das eine Mischung aus Akte-X-Material, Science-Fiction, Actionfilm, Psychothriller und Horror ist, wobei Elemente einfließen, die King bereits bei Werken wie „The Stand“, „Tommyknockers“ und „The Green Mile“ einsetzte, die hier aber zu ganz neuen Höhen aufgefahren, erweitert und perfektioniert werden und keineswegs zu einer unnötigen Wiederaufwärmungskur geraten.

Besonderen Applaus hat sich King für die plastische Charakterformung der tragenden Figuren verdient; die psychologische Komponente des Romans ist erstaunlich und erschreckend zugleich. Der Spannungsbogen sowohl der Handlung als auch der stückweisen Informationsfreigabe reißt keinen Augenblick ab, verliert sich nie in nutzlosen Beschreibungen und selbstverliebter Schriftstellerei – obwohl das schreiberische Niveau des Romans in King-typischem Wälzerformat hoch angelegt ist – und weiß zu überraschen, zu packen und zu begeistern. Es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen, wenn die Geschichte den Leser einmal in sich aufgesogen hat; man sollte sich also auf schlaflos durchlesene Nächte einstellen und Beruhigungsmittel für die Nerven bereit halten – denn die wird man dringend benötigen. Das ungewöhnlicherweise gänzlich von Hand vorgeschriebene und vielleicht gerade deshalb so ungekünstelt-authentisch und schriftstellerisch überzeugende „Duddits – Dreamcatcher“ kann es als potenzieller Genre-Klassiker in jedem Fall mit dem Format von „Es“ aufnehmen und ist ein Meilenstein in Kings Schaffenswerk geworden.

Homepage des Autors: http://www.stephenking.com