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Matthew Pearl – Der Dante-Club (Lesung)

Eine Mordserie erschüttert das Boston des Kriegsjahres 1865: Der Mörder tötet mit jenen Methoden, wie Dante seiner Zeit im „Inferno“ die Sünder bestrafen ließ. Und einige dieser Methoden sind recht bizarr.

Doch wer kann die Gräueltaten aufklären? Offenbar weder die korrupte Polizei noch die bestechlichen Detektive des Bürgermeisters noch diejenigen der Detektei Pinkerton. Es sind vielmehr die gesetzten älteren Herrschaften, die sich im |Dante Club| einem ehrgeizigen literarischen Projekt verschrieben haben: der ersten US-amerikanischen Übersetzung von Dantes |Göttlicher Komödie|. Dabei geraten sie selbst in Lebensgefahr.

Der Autor
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Pearl, Matthew – Stunde des Raben, Die

_Fehlzündung: enttäuschende Ermittlung in Sachen Poe_

Baltimore, 1849: Der junge Anwalt Quentin Clark ist ein glühender Verehrer des für seine Schauergeschichten berühmten Edgar Allan Poe. An einem neblig-trüben Herbsttag des Jahres 1849 fährt eine schwarze Kutsche mit einem Sarg vorüber, als er morgens aus dem Haus tritt. Er folgt ihr wie in Trance und wird zufällig Zeuge der tristen Beerdigung seines Idols. Auf eigene Faust versucht er daraufhin, die mysteriösen Umstände von Poes Ableben aufzuklären, und setzt dabei seine ganze Existenz aufs Spiel. (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Matthew Pearl, geboren 1977, hat in Harvard, wo ein Großteil der Handlung spielt, Englische und Amerikanische Literatur studiert und 1997 seinen Abschluss |summa cum laude| gemacht. 1998 erhielt er für seine Forschungen den Dante-Preis der |Dante Society of America|. Die erste Fassung seines Thrillers „The Dante Club“ schrieb er, während er an der Yale Law School promovierte. Er wuchs in Fort Lauderdale auf und lebt in Cambridge, Massachusetts, wo er Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. [„Der Dante-Club“, 406 sein erster Roman, erschien in mehr als dreißig Ländern.

_Handlung_

Baltimore am 8. Oktober 1849. Quentin Clark ist ein junger, hoffnungsvoller Anwalt. Eines Morgens tritt er aus seinem Haus, als eine Kutsche mit einem Sarg vorüberfährt. Er folgt ihr, um zu sehen, wer begraben werden soll. Zu seinem Schrecken handelt es sich um sein literarisches Idol Edgar Allan Poe. Nicht nur, dass Clark seine Geschichten und Gedichte, die von der feinen Gesellschaft abgelehnt werden, mag, nein, er hat auch noch in Briefkontakt mit Poe gestanden und wollte ihm beim Projekt einer neuen Literaturzeitschrift unter die Arme greifen. Nach dem Tod seiner Frau Virginia Clemm war Poe von New York City wieder zurück nach Richmond gereist, hatte eine Dichterin kennengelernt und wollte sie heiraten. Doch nun wird Poe in einem Armengrab beigesetzt, und nur eine Handvoll Männer erweist ihm die letzte Ehre.

Doch was hat zum unzeitigen Tod des verehrten Mannes geführt? Clarks mit Misstrauen beäugte Nachforschungen in Baltimore ergeben nur, dass Poe in der Gosse vor einem bekannten Wahllokal gefunden ist und dann ins städtische Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er vier Tage später in geistiger Umnachtung verstarb. Was wollte Poe in diesem Wahllokal, wo doch bekannt war, dass Alkohol für ihn pures Gift war?!

Da Clark alleine nicht mehr weiterkommt, verfällt er auf die Idee, dass der berühmte Detektiv, den Poe in drei Erzählungen erwähnte, ihm helfen könnte, das Rätsel von Poes Tod zu lösen. Dieser Detektiv ist laut Poe ein gewisser Monsieur Auguste C. Dupin. In der französischen Hauptstadt kann Clark jedoch nur einen lethargischen Alten namens Auguste Duponte ausfindig machen, der zu Berühmtheit gelangt ist, weil er für die Polizei vor Jahren einige verzwickte Fälle gelöst hat. Der Mann reagiert kaum auf Clarks Bitten und Flehen.

Als Clark schon aufgeben will, taucht wie aus heiterem Himmel der zwielichtige Baron Claude Dupin auf und nimmt für sich in Anspruch, das reale Vorbild für Poes Detektiv zu sein. Clark weiß nicht mehr, was er davon halten soll, doch das politische Pflaster in Paris wird jeden Tag heißer, denn Präsident Napoleon bereitet seinen Umsturz vor, der nur zwei Jahre später zur Einrichtung des Zweiten Kaiserreichs führen soll, mit ihm als Kaiser Napoleon III. Clark verlässt Frankreich an Bord eines Schiffes, auf dem ihn Baron Dupin begleitet – und ein Spion der kaiserlichen Partei.

Aber auch Auguste Duponte hat sich auf den Weg nach Baltimore gemacht. In dem Wettlauf um das geistige Erbe von Poe versucht sich Baron Dupin als Volksheld zu profilieren und so etwas wie eine zweite Existenz aufzubauen. Er hat eine zwielichtige Frau (Mademoiselle Bonjour) und einen Schwarzen in seinen Diensten, die für ihn Clark überwachen und manipulieren. Ein Wettlauf entwickelt sich, in dessen Verlauf die Beteiligten Dupin, Duponte und Clark sowie diverse Nebenfiguren jegliche Skrupel verlieren.

Als der Baron endlich der Bevölkerung von Poes Heimatstadt Baltimore die Wahrheit über den Tod des Dichters verkünden will, kommt es zu einem Attentat. Offenbar gibt es Menschen in der Stadt, welche die Verkündung der Wahrheit zu verhindern versuchen …

_Mein Eindruck_

Mit der Wahrheit ist ja eine knifflige Sache. Erstens erscheint sie jedem anders und zweitens ist sie nicht jedem angenehm und drittens verlangt sie immer einen Preis. Die Bibel sagt zwar „Die Wahrheit wird euch frei machen“, doch an freien Menschen sind die wenigsten Machthaber interessiert. Deshalb ist die Wahrheit immer das erste Opfer eines Krieges.

Die Wahrheit über einen Mann wie Poe herausfinden zu wollen, sieht zunächst nach einem harmlosen Unterfangen aus, und unser Held Quentin Clark, der keine Eltern mehr hat, ist noch grün genug hinter den Ohren, um sich einen baldigen Erfolg vorzustellen. Hätte er sich doch nur einen anderen Mann ausgesucht! Aber nein, es muss ja Poe sein. Der Gespenster-Poe, der verstiegene Dichter, der Verderber der Jugend und Sitten, der schärfste Kritiker von angesehenen Autoren, die Sitte und Moral hochhalten und wunderschöne erbauliche Reime zu schmieden wissen. Poe, der Kranke, der dem Alkohol Verfallene, der seine eigene minderjährige Kusine Virginia Clemm zur Frau nahm! Muss es ausgerechnet Poe sein, Mister Clark?

Es muss, und zwar umso mehr, als alle ihm dabei in die Quere kommen und ihn von seinem Vorhaben abhalten wollen. Vergessen Sie Poe, Mr. Clark! Aber wozu ist er denn Anwalt, der Mr. Clark, und kennt sich mit den Schlichen des Gesetzes aus? Und so begibt sich Clark auf eine lange abschüssige Bahn, die ihn ins Gefängnis und darüber hinaus führen wird. Der Preis der Wahrheit ist mitunter sehr hoch, doch da Clark nicht nur Praxis, Freunde und Verlobte verloren hat, macht es ihm kaum noch etwas aus, unschuldig in den Bezirksknast geworfen, von Sklavenhändlern ausgepeitscht, von französischen Polizisten des Kaisers verfolgt und in einer Regenflut fast ersäuft zu werden.

Clark scheint im Verlaufe dreier Jahre in gewissem Sinn eine Reinkarnation seines Vorbildes zu werden: der Dropout, der Rebell, der Wahrheitskünder, der Spielball unsichtbarer Mächte. Zerrissen zwischen den beiden Polen Dupin, dem ehrgeizigen Schwindler, und Dupont, dem ehrlichen aber lethargischen Kombinierer, weiß Clark bald nicht mehr, ob es so etwas wie Wahrheit geben kann. Dann der Anschlag auf Dupin, gerade in dem Moment, als dieser die ach so heilige Wahrheit verkünden will. Weitere Wirrungen folgen, die erst enden, als sich Dupont endlich dazu bequemt, seine Version der Wahrheit vor Clarks erschöpftem Auge auszubreiten.

Dupont hat die Zeitungen gelesen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch weder Clark noch Dupin scheinen sich je die Mühe zu machen, die |richtigen| Zeitungen zu lesen. Dupont hat die letzten Lebenstage und -stunden Poes rekonstruieren können und breitet die Wahrheit – Clark glaubt es kaum – in einem fast stundenlangen Monolog vor dem staunenden Zuhörer aus. Mehr darf nicht verraten werden.

|Stärken und Schwächen|

Der Leser erfährt viel über Poe, den Menschen, aber fast nichts über Poe, den Dichter und dessen Werke. Sie werden einfach als bekannt vorausgesetzt, und nur ein- oder zweimal wird daraus zitiert, so etwa aus den Dupin-Geschichten und aus dem Gedicht, das in der Erzählung [„Der Untergang des Hauses Usher“ 2347 steht. Wer also noch nichts von Poe gelesen hat, ist hier auf der falschen Baustelle. Somit richtet sich das Buch an Poe-Experten und -Liebhaber. Sie müssen nichts über Poe, den Menschen, wissen, denn das eruiert ja Clark im Laufe seiner Nachforschungen.

Wir lernen, durch die Augen Clarks blickend, die Stadt Baltimore, ihre wirtschaftliche und geistige Kultur kennen. Im Jahre 1849 herrschen hier immer noch Sklavenhalter, und Sklaven müssen kuschen oder um ihr Leben bangen. Clark verfügt über eine andere Sensibilität und zeigt Verständnis für die Lage der Sklaven, begehrt sogar gegen einen besonders brutalen Sklavenhalter auf.

Der Autor versteht es durchaus, eine Actionszene herbeizuführen und so zu schildern, dass man sie gespannt verfolgt. Leider geschieht dies viel zu selten für meinen Geschmack. Wenn französische Geheimpolizisten, die Clark für einen Spießgesellen des gesuchten Barons Dupin halten, ihm fast den Schädel einschlagen, so wirft dies ein Schlaglicht auf die Verbindungen zwischen den jungen Vereinigten Staaten – der Unabhängigkeitskrieg ist gerade erst 65 Jahre her, der letzte Krieg gegen die Briten erst 37 Jahre – und der befreundeten Nation Frankreich. Dass die Franzosen einem Amerikaner ans Leder wollen, ist eine versteckte Kritik an diesen sogenannten „Freunden“ und an den Machenschaften von Agenten im Allgemeinen.

Die Nachforschungen Clarks ziehen sich hin – sie sollen ja romanfüllend sein. Die größte Enttäuschung in dieser Hinsicht sind nicht die beiden Detektive, die Clark an Land zieht und ins Land bringt, sondern das Fehlen einer großen klaren Einsicht im Sinne eines „Heureka – ich hab’s!“ Stattdessen präsentiert Duponte, wie oben erwähnt, eine ganze Wagenladung voller Hinweise, die zu diesem und jenem Schluss Anlass geben. Seltsamerweise interessierte es mich am Schluss dieser Ausführungen gar nicht mehr, woran denn Poe nun gestorben ist. Es war so, als wäre eine Zündschnur abgebrannt worden – und dann ging sie einfach aus, ohne eine Bombe zu zünden.

Die Strategie, die bei [„Dante-Club“ 406 ausgezeichnet klappte, schlägt hier fehl. Dort sehen sich die Helden der Literatur, die den „heidnischen“ Dante ins Englische übersetzen und damit allenthalben bei den Christen anecken, einer Mordserie gegenüber, die schlussendlich auch sie selbst bedroht. Das führt zu einem spannenden, dramatischen Finale, das mich voll überzeugen konnte. In „The Poe Shadow“ ist nichts eindeutig und alles vorläufig, leider auch die finalen Erkenntnisse des Monsieur Dupont. Actionszenen, Drama und Komik wechseln sich in rascher Folge ab, doch entbehren sie jeder Stringenz, so dass sie in den meisten Fällen etwas willkürlich eingestreut wirken. Dass der Anschlag auf Dupin erfolgt, war jedoch wegen der angekündigten Enthüllungen über Poe zu erwarten – eine weitere Fehlzündung.

_Unterm Strich_

Ich könnte nicht unbedingt sagen, dass „Die Stunde des Raben“ eine anstrengende oder zähe Lektüre sei. Es ist nur ein Buch, das man sich auch erarbeiten muss, um den Lohn der Mühe genießen zu können. Der wichtigste und längste Spannungsbogen wird ja durch die Frage aufgebaut: Wie starb Poe? Und diese Frage wird wohlweislich erst im Finale beantwortet, dem dann noch ein unbedeutender Epilog folgt.

Man muss also bis zum Finale bei der Stange bleiben, in der Hoffnung, bahnbrechende Erkenntnisse geliefert zu bekommen. Da dies nicht der Fall ist (sonst hätten es die Medien ja schon längst ausposaunt), kann man sich die Lektüre im Grunde sparen. Sie setzt sowieso die Kenntnis von Poes hauptsächlichem Werk voraus, sonst kann man gar nicht mitreden. Am besten liest man vorher den entsprechenden [Artikel]http://de.wikipedia.org/wiki/Edgar__Allan__Poe in der |Wikipedia|.

Fazit: lehrreich, unterhaltsam, aber letzten Endes unbefriedigend.

|Originaltitel: The Poe Shadow, 2006
576 Seiten
Aus dem US-Englischen von Karl-Heinz Ebnet|
http://www.droemer.de

Matthew Pearl – Die Stunde des Raben

Das geschieht:

Entsetzt muss Quentin Clark feststellen, dass in dem ärmlichen Sarg, der vor seinen Augen in ein Armengrab gesenkt wird, sein Idol ruht: Wir schreiben das Jahr 1849, und im ereignislosen Leben des jungen Anwalts aus Baltimore war seine Korrespondenz mit dem Schriftsteller und Dichter Edgar Allan Poe der Höhepunkt. Deshalb gibt sich Clark nicht mit den dürftigen Informationen über Poes elendes Ende zufrieden, die ihn misstrauisch werden und ein Verbrechen vermuten lassen. Wurde der lästige Künstler, der das behäbige Establishment durch seine düstere Lyrik und Poesie zu beunruhigen und zu ärgern pflegte, etwa durch Mord zum Schweigen gebracht?

Clarks Nachforschungen verlaufen im Sande. Ihm wird deutlich, dass er sich der Hilfe eines Fachmanns versichern muss. Wer wäre dazu besser geeignet als C. Auguste Dupin, der französische Meisterdetektiv, dem Poe ein literarisches Denkmal setzte und der sich zu Clarks Erstaunen als reale Person entpuppt? Der Amerikaner reist nach Paris, wo er Dupin alias Auguste Duponte tatsächlich aufspüren kann: einen teilnahmslosen, ausgebrannten Mann, der nichts als seine Ruhe wünscht.

Intensiv kümmert sich Clark um Duponte, und tatsächlich glimmt noch Feuer unter der depressiven Asche, das aufzuflackern beginnt, als sich ein zweiter Dupin in die Nachforschungen einschaltet: ‚Baron‘ Claude Dupin ist ein Glücksritter, der den potenziellen Mord an Poe zur medientauglichen Affäre aufbauscht, um mit der Aufklärung viel Geld zu verdienen. Den echten Dupin/Duponte versucht er durch Drohungen einzuschüchtern, doch dieser beginnt zur alten Form zurückzufinden, reist mit Clark nach Baltimore und beginnt dort mit eigenen Ermittlungen.

Auch der Baron wird in Baltimore tätig und scheut keinen bösen Trick, um Clark und Duponte auszuschalten. Schlimmer noch: Anonyme Männer mit großer Macht werden unruhig. Sie ziehen im Hintergrund Fäden, die sich in Stolperdrähte verwandeln. Clark wird bedroht, verfolgt, ruiniert. Er weigert sich trotzdem nachzugeben und gerät endgültig in den Sog einer fernen Verschwörung, die ihn unbarmherzig in den Abgrund zu reißen droht …

Ein Leben wie ein Roman?

Das Ende Edgar Allan Poes (1809-1849) beschäftigt (Literatur-) Historiker und Leser seit mehr als anderthalb Jahrhunderten. Zu mysteriös und gleichzeitig ‚romantisch‘ ist der Tod eines Mannes, der nicht nur zu den bedeutendsten Schriftstellers des 19. Jahrhunderts zählt, sondern auch Interesse und Mitgefühl durch sein tragisches Privatleben erweckt.

Poe gesellte sich zu jenen Genies, die angeblich von den Göttern so sehr geliebt werden, dass diese sie möglichst rasch zu sich holen. Dies ist ein unglaublich dämliches Sprichwort, das nur Zeitgenossen prägen konnten, die das Glück hatten, von einem Leben verschont zu bleiben, wie Poe es führte oder führen musste. Er gehörte zu den Unglücklichen, die über künstlerisches Talent verfügen, ohne gleichzeitig mit der Gabe der Selbstvermarktung oder – noch besser – mit den finanziellen Mitteln gesegnet zu sein, die es ihm gestatteten, seiner Kunst zu frönen. Stattdessen war Poe zu einem Leben in Armut und Unverständnis verdammt, während er gleichzeitig um sein Leben schrieb: Die Werke, für die er heute verehrt wird, wurden zu seinen Lebzeiten abgelehnt oder – für ihn ebenso bitter – miserabel honoriert.

So reihte sich Poe in die Reihen derjenigen Pechvögel ein, die in einer materialistisch ausgerichteten Welt ein Hofnarrendasein fristen – geduldet, wenn sich die Reichen & Mächtigen amüsieren wollen, aber ignoriert bzw. davongejagt, sobald sich diese den wirklich wichtigen Dingen des Lebens – Geldscheffeln, Kampf um Macht & Stellung – widmen möchten. Privates Unglück addierte sich zu den daraus resultierenden Enttäuschungen, was Poes Depressionen und seinen Hang zu diversen Drogen und zum Alkohol erklärt.

Spannender Start, dann Bruchlandung

Poes Leben, Wirken & Tod bieten reichlichen Stoff und gleichzeitig Lücken, was Matthew Pearl die Gelegenheit schafft, seine eigene Sicht der Vergangenheit zu entwickeln. Hier beginnt der Bereich, in dem wir die historische Realität verlassen und das Reich der (literarischen) Fiktion einsetzt. Pearl will die Wahrheit aufdecken. Da diese bekanntlich sehr banal sein kann, gibt er der Fantasie den Vorzug und denkt sich eine zweite, den Konventionen der Krimis folgende Handlungsebene aus, was sein Recht und seine Pflicht als Romanschriftsteller ist: Dies ist der Humus, auf dem ein fabelhafter Historienthriller keimen könnte. Dem ist leider nicht so. „Die Stunde des Raben“ ist stattdessen ein unfreiwilliges Paradebeispiel dafür, wie ein ehrgeiziges Projekt scheitern kann.

Unbestritten ist Pearls Fähigkeit, das Baltimore des Jahres 1850 zum Leben zu erwecken. Quentin Clark ist Bürger einer Stadt, die sich der Industriellen Revolution verschrieben hat und prächtig gedeiht. Die daraus resultierende Mischung aus Geschäftstüchtigkeit, Korruption und Fixierung auf den schnellen Dollar weiß Pearl deprimierend gut darzustellen. Bedrückend sind jene Szenen, die deutlich machen, dass in dieser ‚modernen‘ Metropole Sklavenhandel legitim und an der Tagesordnung ist. Die Polizei verfügt kaum über das Wissen oder das Instrumentarium zur Auswertung von Indizien. Armut und Einflusslosigkeit machen für die schlecht ausgebildeten, unterbezahlten und korrupten Beamten aus einem Verdächtigen rasch einen Schuldigen. Umgekehrt nutzen die Reichen und Mächtigen ihre angemaßten Vorrechte ohne Scham – sie betrachten diese als ihnen zustehend.

Immer wieder gelingen Pearl Szenen, die deutlich machen, wieso Außenseiter wie Poe und Clark in dieser Welt nicht gelitten sind und quasi scheitern müssen. Lokalkolorit ersetzt indes keine spannende Handlung; die vermisst der Leser schmerzlich. Auch ‚literarische‘ Qualitäten, die der kundige Kritiker in „Die Stunde des Raben“ entdecken mag, entschädigen nicht. Der Plot um Poes Ende überzeugt, während das Konspirationsgarn aufgesetzt wirkt.

Die Story, von Pearl sorgfältig entwickelt, ist vor allem im Mittelteil abschweifend, schrecklich lahm und öde. Hinzu kommen Fehler, die den Krimifreund aufstöhnen lassen. Wie wahrscheinlich ist es beispielsweise, dass Clark ständig gerade dort hinter einer Mauer oder unter einem Fenster steht, wo just Verschwörer oder Verfolger diverse Geheimnisse ausplaudern?

Das große Finale teilt Pearl: in Clarks Aufdeckung der Verschwörung und Dupontes Darstellung der letzten Tag des Edgar Allan Poe. Leider haben beide Handlungsstränge nichts miteinander zu tun. Die Auflösung verleiht dem Roman ein ‚gespaltenes‘ Ende. Zwar mag dies der Realität eher entsprechen, es lässt aber den Leser frustriert zurück, der sich von Pearl getäuscht fühlt: Poes Tod und Clarks Odyssee haben im Grunde nichts miteinander zu tun. Die Auflösung der Konspiration ist mau, die Rekonstruktion von Poes Schicksal wird dem eigentlichen Geschehen angeklebt. Am Ende sind alle ein wenig schlauer aber nicht wirklich zufrieden: die Protagonisten des Romans und dessen Leser.

Lebensplanung oder Zwangsjacke?

Pearl investiert viel Mühe in die Zeichnung seiner Figuren, die untereinander in einer komplizierten Dreiecksbeziehung stehen. Die Spitze nimmt Quentin Clark ein, der natürlich – „Die Stunde des Raben“ soll schließlich ein Historienkrimi der A-Kategorie sein – weit mehr ist (oder sein soll) als der Protagonist in einem rätselhaften Geschehen. Der in Ich-Form präsentierter Bericht ist gleichzeitig Beleg für einen entscheidenden Wendepunkt in Clarks Leben. Angesichts seines Alters – Clark ist 27 – möchte man eigentlich nicht von einer „Coming-of-Age“-Handlung sprechen, doch im Grunde erleben wir durchaus, wie sich ein Mann aus den Fesseln löst, die ihm die Gesellschaft anlegt, um ihn in ein geordnetes Leben zu zwingen.

Clark soll gefälligst ein guter Geschäftsmann, ein gesetzter Bürger und ein vorbildlicher Ehemann werden, so fordert es die High Society Baltimores, der er durch Geburt angehört. Das will er nicht, was wir gut verstehen; er will Freiheit und ein wenig Abenteuer. Dies zu verwirklichen bedeutet 1850 einen gewagten Schritt, möchte uns Pearl verdeutlichen, indem er Clark in immer neue Konflikte verwickelt.

Freilich macht ihn uns das keineswegs sympathisch. Der Prozess, der aus Clark einen ‚freien‘ Menschen werden lässt, langweilt, weil diese Figur als hoffnungsloser Naivling dargestellt wird. Clark verliert seine Anstellung? Pearl hat uns die Kanzlei, in welcher sein Held tätig war, als Hort der puren Langeweile geschildert. Clark geht seiner Braut verlustig? Er sollte froh sein, dieses Gänslein und ihre schreckliche Familie los zu sein! Welche ernsthaften gesellschaftlichen Konsequenzen diese Ereignisse haben, wird dem modernen Leser vermutlich unklar bleiben. Als Clark endlich ‚erwachsen‘ wird, erfolgt diese Reifung viel zu abrupt und unbegründet, um überzeugen zu können.

Ein Papier-Detektiv bleibt flach

Clark gibt außerdem den Dr. Watson für den Sherlock Holmes dieser Geschichte. C. Auguste Dupin oder Duponte gilt in der Tat als eines der Vorbilder für Arthur Conan Doyles berühmten Meisterdetektiv. Um der Dramatik willen charakterisiert Pearl Duponte zunächst als Mann mit einem düsteren Geheimnis, das ihn in Lethargie verfallen ließ. Die Rückkehr ins Leben und in seinen ‚Job‘ ergibt eine zweite Handlungsschiene, die keineswegs stärker interessiert als Quentin Clarks Ringen um Selbstständigkeit, da Duponte sich anders als Holmes (oder Poes Dupin) als Mensch niemals öffnet. Zwar meint Pearl dafür gute Gründe anführen zu können, doch da irrt er. Dupontes Schicksal interessiert uns bis zum Schluss herzlich wenig. Deshalb verpuffen auch die von Pearl eingeflochtenen deduktiven Zauberkunststücke, die stets nach Schema F ablaufen: Clark zerbricht sich den Kopf über einen ihm unklaren Sachverhalt, Duponte scheint seine Gedanken zu lesen und klärt ihn auf. Anschließend erzählt er dem aufgeregten Clark (und dem Leser) haarklein, wie er zu seinen Schlussfolgerungen kam.

Wenig aufregend verläuft der Kampf der beiden Dupins. Wer ist der ‚echte‘, d. h. Poes Dupin – Duponte oder der zwielichtige Baron? Dass der notorisch im Dunkeln tappende Clark in dieser Frage ständig schwankt, dürfte wenig verwundern. Auch die Bürgerschaft Baltimores scheint mit Blind- oder Blödheit geschlagen zu sein, will uns Pearl doch weismachen, der Baron könne sich so erfolgreich als Duponte maskieren, dass niemand dies erkennt. Immerhin ist der Baron noch die einzige halbwegs interessante Figur in dieser Geschichte – ein Marktschreier und Manipulator, der längst jene Freiheit erlangt hat, nach der Clark sich sehnt, und der die Konsequenzen eines freien Lebens kennt.

Fast 600 (allerdings großzügig bedruckte) Seiten schleppen sich die Ereignisse dahin. Im Vergleich mit Pears raffinierten Erstling „Der Dante-Club“ kann „Die Stunde des Raben“ nicht mithalten, sondern wirkt wie eine blasse Kopie, die nicht nur den mit hohen Erwartungen und Vorfreude zur Lektüre schreitenden, sondern auch den Pearl-unkundigen Leser bitter enttäuscht.

Autor

Matthew Pearl (geb. 1977) studierte an der Harvard University (1997) bzw. an der Yale Law School (2000) Englische und Amerikanische Literatur. Anschließend lehrte er diese Fächer und gab Kurse für Kreatives Schreiben in Harvard sowie am Emerson College. Seit 2007 arbeitet er als Gastdozent für die Harvard Law School. Pearl lebt in Cambridge, Massachusetts, Über sein Werk informiert er auf dieser Website.

Taschenbuch: 575 Seiten
Originaltitel: The Poe Shadow (New York : Random House 2006)
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
http://www.droemer-knaur.de

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