Interview mit Norbert Sternmut (2018)

Norbert Sternmut
Norbert Sternmut

Herr Sternmut, seit 2009 betreuen und moderieren Sie die monatliche Veranstaltungsreihe „Sternmut-Literatur-Bunt“ (SMLB). Ist deren Einzugsbereich an AutorInnen nur auf die Region Ludwigsburg beschränkt?

Sternmut: „Sternmut-Literatur-Bunt“ (SMLB) ist nicht auf die Region Ludwigsburg beschränkt. Die Veranstaltungsreihe ist auch nicht auf AutorInnen beschränkt. Wir stellen in erster Linie AutorInnen, aber auch MalerInnen, MusikerInnen, ganze Musik- und Theatergruppen vor. In der Konzeption schrieb ich, dass Menschen mit einer „Vorstellung“ vorgestellt werden. Das bedeutet für mich, dass sie ihr Eigenes präsentieren, einmal von Vorträgen zu anderen KünstlerInnen abgesehen. Ich frage danach, ob der Autor, die Autorin, der Künstler, die Künstlerin etwas zu sagen hat und von dem überzeugt ist, was sie/er produziert. Eine andere Beschränkung gibt es nicht.

Der SMLB veröffentlicht Hefte, die aufwendig aufgemacht sind. Wie ist diese Reihe konzipiert – lose oder regelmäßig – und mit welchem Anspruch?

SMLB veröffentlichte in Zusammenarbeit mit dem Pop-Verlag in Ludwigsburg zuletzt eine Ausgabe der Literaturzeitschrift „Bawülon – Süddeutsche Matrix für Literatur und Kunst – 2/2017 (26)“ zum Thema SMLB. Dort werden die vergangenen Jahre seit Gründung 2009 nochmals kurz im Überblick vorgestellt. Es gibt ein Interview über die Entstehung, die Konzeption, die Kooperationen sowie Pressetexte und es gibt Gedichte und Prosatexte von AutorInnen, die bei SMLB lasen.

Praktisch jedes Jahr veröffentlichen Sie einen Lyrikband mit neuesten Gedichten. Der Band „Pfeilschrift“, der 2015 erschien, bildet eine gewisse Ausnahme. Der Untertitel lautet nämlich „Reflexionen über die Liebe“, und: Es handelt sich um eine Kooperation mit Birte Schumann. Wie kam es zu diesem interessanten Band? Weshalb sind darin mehrere klassische Märchen von den Gebrüdern Grimm, Perrault und Basile enthalten?

Der Band „Pfeilschrift“ kreist um das Thema „Liebe“ in Gedichten und Prosa. Wir wollten zusammen ein Buch über die großen Dichterthemen Liebe und Tod machen und haben uns schließlich in der gemeinsamen Arbeit auf das Thema Liebe verständigt. Birte Schumann schrieb die Prosa und stellte Märchen zum Thema vor. Ich schrieb die Gedichte zum Thema. Damit vereinigen sich in „Pfeilschrift“ unterschiedliche Zugänge und Schreibweisen zu einem Thema.

Im Herbst 2011 hatten Sie eine Ausstellung mit Radierungen, Ölbildern, Zeichnungen. Sie sind also auch bildkünstlerisch tätig. Das liegt nahe, wenn man an die zahlreichen Metaphern in Ihren Texten denkt. Die „Galerie“ Ihrer Homepage präsentiert eine Reihe von Arbeiten, wobei auffällt, wie stark sich die Farbgebung entwickelt hat.

Wie haben Sie sich anhand des malenden Ausdrucks weiterentwickelt?

Im malerischen Bereich entstanden in einer längeren Arbeitsphase großformatige Bilder unter dem Projekttitel „Die Wörter“. Dieses Projekt würde ich thematisch als Entwicklung der „Sprachschatten“ in den malerischen Bereich hinein sehen, hin zu einer übergreifenden Sprachform der Bilder, des Wortbildes, der Bildwörter, einer Überführung der Sprache auf eine erweiterte Sprachebene jenseits der Worte, die sich nicht mehr auf vereinbarte Grenzen und Verbindungen bezieht. Die Worte sind jeweils getrübt von den Vorstellungen, die mit ihnen verbunden sind. Die Sprache der Worte ist jeweils mit Kalkül, Erinnerung, Sozialisation usw. belastet. Da sie nicht anders kann, ist es nötig, dass sich das reine Bild in die Sprache fügt, die Sprache ins Bild, um sie von allem an ihr Haftenden möglichst zu befreien.

Das visuelle Bild oder das akustische Bild ist von den überkommenen Ketten befreit. Der Betrachtende bekommt keine stützende Anleitung zur Bestimmung oder Zuordnung, wird aufgefordert im Moment des bewussten Betrachtens sich selbst die dazugehörige Sprache zu entwerfen, aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen. Dieser Moment ist unhaltbar wie jeder „Augenblick“ – nicht zu beschreiben und haltbar zu machen.

Das Bild muss flüchtig bleiben, kann sich bestenfalls für einen kurzen Moment in der Vorstellung des Betrachters öffnen, um mit dem nächsten Wimpernschlag wieder zu verschwinden, wenn das betrachtende Bewusstsein sich schließt. Die Entwicklung geht dahin, die Umklammerung zu lösen, die Vorgabe durch Worte, Stimmen möglichst zu ersticken, sich vom gelernten Gedächtnis und der gelernten Zuordnung zu befreien. Im Projekt „Die Wörter“ geht es darum, Worte und Stimmen mit Bildern zu vereinigen, entsprechend einer besonderen Kombinatorik.

Wollen Sie mit Ihren Gemälden etc. in den öffentlichen Raum hineinwirken, oder sind Sie ein Anhänger der Idee des 19. Jahrhunderts, dass sich die Kunst selbst genug sei?

Durch zahlreiche Projekte versuchte ich durch meine Kunst im öffentlichen Raum zu wirken. Über die Jahre finden sich zahlreiche Projekte zu bestimmten gesellschaftlichen, gesellschaftspolitischen, soziokulturellen Themen. Es gab etwa Projekte zum Thema Arbeitslosigkeit, Rechtsradikalismus usw. im sozialen, öffentlichen Raum. Zahlreiche Projekte im Spannungsfeld zwischen Kunst und sozialer Arbeit entstanden. Ich sehe durchaus eine Aufgabe der Kunst und der Literatur darin, gesellschaftspolitisch, gesellschaftskritisch, soziokulturell zu arbeiten innerhalb eines poetologischen und philosophischen Ansatzes, auch wenn es nicht die Aufgabe meiner Kunst ist, jede tagespolitische Regung zu kommentieren.

Bekommen Sie auch mal negative Resonanz auf Ihre Gemälde?

Ich bekomme weitgehend positive Resonanz auf die Gemälde. Sehr oft wird die „Buntheit“ als „schön“ empfunden. Darüber hinaus findet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem „inneren Kern“ der Werke selten statt. Grundsätzlich stößt die bewusste Verwendung von Disharmonien, Brüchen, Auflösungen, Zerstückelungen usw., wie sie durchgehend auch als Inhalt und Form im malerischen Werk vorkommt, eher auf Ablehnung.

Könnten Sie sich eine weitere Kombination aus Wort und Kunst vorstellen, wie Sie es schon bei „88 Rätseln“ getan haben?

Die Kombination aus Wort und Kunst findet sicherlich eine Fortsetzung. Zuletzt sind mehrere Bücher etwa „Atemecho“ und „Totentango“ mit Gedichten und Bildern erschienen.

Ihr jüngster Lyrikband „Strahlensatz“ (2018) ist streng dreigeteilt und symmetrisch aufgebaut – werden Sie inzwischen doch noch zum Anhänger des Klassizismus?

„Strahlensatz“ arbeitet im Unterschied zu früheren Bänden weniger mit Brüchen, Synapsen, Metaphern, Disharmonien. Der Band zeigt sich formal durchgearbeitet, symmetrisch, findet nicht selten zur Reimform zurück. Dennoch fällt der Band nicht völlig aus dem Rahmen. „Liebe“ und „Tod“ erscheinen erneut als zentrale Themen. Im Gegensatz zum Band „Fadenwürde“ kann hier nicht von „geprügelter Sprache“ gesprochen werden, gleichfalls haben sich zentrale Inhalte und Aussagen nicht verändert.

Der Teil „Liebend“ eröffnet den Band – das ist schon mal ungewöhnlich für Sternmut; der Teil „Sterbend“ beschließt ihn – früher war es genau andersherum. Entwickelt sich Ihre persönliche Situation inzwischen überwiegend positiv?

Meine persönliche Situation entwickelt sich positiv, zumal es mir gelungen ist, über die Jahrzehnte in Projekten, in der Sprache, am Werk zu arbeiten. Noch habe ich nicht alles „erschöpft“, aber soweit wie möglich meine Arbeit getan. Weiterhin beherbergt mein Gehirn allerdings ausreichend Spannungspotential. Weiterhin besteht kein Mangel an Unruhe unter der Hirnrinde. Die Themen haben sich nicht erschöpft. Zur Zufriedenheit besteht im Ganzen beim Blick in die Welt kein Grund. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich zur Ruhe kommen werde, und dieser Gedanke hat immerhin eine beruhigende Wirkung.

Zwischen „Liebend“ und „Sterbend“ steht ein 25 Seiten langer „Zyklus“. Was ist dessen Hauptthema?

Das Hauptthema ist der „Zyklus“, das Kommen und Gehen; beginnend mit einem „Knall“, folgt der „Strahl“ den immer gleichen Gesetzmäßigkeiten in einem „Strahlensatz“.

Es ist von der Physik die Rede, die weithin bestätigt, dass die „Schöpfung“ ohne „Schöpfer“ ist, aus reinem Zufall entstanden, sozusagen aus dem Nichts heraus. Das trifft selbstverständlich meine philosophische Vorstellung in Bezug auf den Ausgangspunkt, Endpunkt und den „Zyklus“ dazwischen. (Allerdings wäre auch die Vorstellung eines „Schöpfers“ nicht zu unterscheiden von der Vorstellung des „Nichts“, von dem jedes „Ding“ eine Modifikation darstellt…)

Engagieren Sie sich neben SMLB, Malerei und Dichten noch bei anderen Projekten (von Lesungen mal abgesehen)?

Zuletzt gab es Projekte mit traumatisierten und autistischen Kindern und Jugendlichen. Auch hier wurden die Bereiche Kunst und soziale Arbeit wie bereits in früheren Projekten verknüpft. Aus dem Projekt mit den traumatisierten Kindern und Jugendlichen heraus entsteht momentan ein Buch zum Thema Traumatisierung.

Ist mal wieder mit einem Prosaband zu rechnen?

Es ist mal wieder mit Prosabänden zu rechnen. Nach dem Buch zum Thema „Traumatisierung“, an dem ich momentan arbeite und das zur Veröffentlich 2019 geplant ist, rechne ich mit zwei weiteren Romanen für die folgenden Jahre. Wenn die Rechnung stimmt, könnte es gerne auch eine weitere Romantrilogie werden.

Vielen Dank für das Interview, Herr Sternmut.

Der Autor

Norbert Sternmut (= Norbert Schmid), geboren 1958, lebt bei Stuttgart und arbeitet als Sozialpädagoge. Der Theaterautor, Rezensent, Maler, Lyriker und Romanschreiber erhielt Stipendien vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Gerlingen. Er veröffentlichte zwanzig Einzeltitel seit 1980 und ist in über 50 Anthologien vertreten. Als Maler trat er mit 75 Ausstellungen an die Öffentlichkeit.

Der gelernte Werkzeugmacher wurde nach einem Studium zwischen 1982 und 1987 Sozialpädagoge und ist seit 1993 in verschiedenen Bildungsinstitutionen tätig. Mehr Infos gibt’s auf seiner Website www.sternmut.de und in der Wikipedia ((https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Sternmut)) .

Seit 1980 hat Sternmut eine ganze Reihe von Lyrikbänden veröffentlicht, darunter die von mir vorgestellten Bücher „Photofinish“, „Triebwerk“ und „Absolut, du“. In dem Band „88 Rätsel zur Unendlichkeit“ arbeitete er mit dem Grafiker Volker Funke zusammen: Die Rebus-artigen Rätselgrafiken harmonierten mit den frei assoziierenden Gedichttexten Sternmuts. Eine Webseite ergänzte das multimediale Werk auf der Zeit angemessene Weise.

Auf der Prosaseite in eine Romantrilogie hervorzuheben, zu der „Der Tote im Park“ (1999), „Marlies“ (2003) und „Norman“ (2008) gehören. „Wildwechselzeit“, ein Tagebuch-Roman über die Beziehung zu Christof Schlingensief und dessen Tod, sorgte für lebhafte Debatten. Eine Reihe von z.T. phantastischen Erzählungen erschienen in dem Band „Das Zeitmesser“ (Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 1997).

(Das Interview führte Michael Matzer im August 2018.)

Norbert Sternmut bei Buchwurm.info:

„Triebwerk. Gedichte“
„Marlies“
„Der Tote im Park“
„Photofinish“
„Absolut, Du“
„88 Rätsel zur Unendlichkeit“
„Lichtpausen“
„Norm@n, Leseprobe“