Michael Connelly – Dark Sacred Night. (Bosch & Ballard 01, Bosch 21)

Dynamisches Duo: Bosch trifft Ballard

Harry Bosch ist nach seiner Pensionierung teils Reservepolizist in San Fernando, teils Privatdetektiv. Aus aktuellem Grund bearbeitet er einen neun Jahre alten Fall: Die sechzehnjährige Daisy Clayton wurde damals ermordet und in einem Müllcontainer entsorgt. Nun sucht er in alten Daten nach ihrer Spur. Dabei stößt er auf Renee Ballard von der Nachtschicht des Raub- und Morddezernats der Kripo. Sie hat viel besseren Zugriff auf die alten Daten als er. Doch ihre Zusammenarbeit wird von Altlasten überschattet: Bosch ist auf einmal spurlos verschwunden…

Handlung

Renee Ballard, seit drei Jahren beim LAPD, arbeitet immer noch die Nachtschicht (siehe Band 1: „The Late Show“). Die Fälle sind Routine, so auch in dieser Nacht. Sieht nach einem Einbruch aus, aber es gab auch eine Frauenleiche. Bei der Eingabe des Reports bemerkt Ballard einen unbekannten Besucher in ihren heiligen Hallen, der sich gerade eine Akte krallt. Sie stellt ihn zur Rede, und er weist sich als Harry Bosch aus. Er habe selbst einmal im Dezernat Robbery & Homicide (RHD) gearbeitet, teils auch auch in der Hollywood Division. Seit seiner Pensionierung arbeite er an alten ungeklärten Fällen, wenn er nicht gerade bei der winzigen Polizeiabteilung von San Fernando aushelfe.

Ballard bohrt weiter. Die Akte, die er mitgehen lassen wollte, ist die der fünfzehnjährigen Daisy Clayton, einer vor neun Jahren (2009) ermordeten drogensüchtigen Prostituierten. Aber die Initiative an diesem Fall ging von Boschs früherer Partnerin Lucia Soto aus, die ihn irgendwie hineinzog.

Ein zweites Ziel Boschs sind die Dienstkarten, die die Nachtschicht-Cops bis vor wenigen Jahren routinemäßig für jeden Bürgerkontakt auszufüllen hatten. Diese Karten wurden in große Kartons gepackt und in ein Gebäude außerhalb der Präsidiums ausgelagert. In diesen nie digitalisierten Notizen hofft Bosch Hinweise auf den Fahrer eines Lieferwagens zu finden, in dem Daisy Clayton transportiert worden sein könnte: Alle Fingerabdrücke wurden mit Bleiche unkenntlich gemacht, doch auf ihrer Haut fand sich der Abdruck eines Herstellers namens ASP.

Ballard erkennt, dass Bosch eine reale Spur hat. Man muss ASP, Lieferwagen und Kontakte korrelieren, um den Verdächtigen zu finden. Als sie zusammenarbeiten, stoßen sie tatsächlich auf einen recht merkwürdigen Zeitgenossen namens John McMullen, der sich als Missionar der Obdachlosen ausgibt und in der Moonlight Mission arbeitet. Sein Lieferwagen indes ist sauber…

San Fernando PD

In San Fernando läuft es längst nicht so gut. Die unterbesetzte Polizei des eigenständigen Minibezirks hat es mit rivalisierenden Banden zu tun, die „SanFer“ zu erobern versuchen. Dieser Krieg brach aus, nachdem ein Killer den Paten des Bezirks morgens auf offener Straße erschossen hatte. Die Spur der Waffe (mit einem improvisierten Schalldämpfer) und des Täters für zu Tranquillo Cortez, der mittlerweile in SanFer das Sagen hat.

Bosch kann einen Informanten knacken. Als er mit großem Aufgebot vor einer Autowerkstatt aufkreuzt, um eine Seitenwand auf Kugeln zu untersuchen, kreuzt auch Cortez auf, breit grinsend. Was weiß er, was Bosch nicht weiß, fragt sich der Bulle, und wer hat ihn über diesen Einsatz informiert. Auf Einschüchterung reagiert Cortez nicht, bevor er abzieht, nicht ohne eine versteckte Drohung. Wenig später findet das LAPD Boschs Informanten hingerichtet in seiner Wohnung. In seinem Mund steckt Boschs Visitenkarte. Er wurde also getötet, weil er geredet hatte. Aber wer kann davon gewusst haben, fragt sich Bosch. Im SFPD muss ein Informationsleck sein.

Aber die Kugel hat als Querschläger auch den Schützen verletzt, also muss man nach diesem Ausschau halten. Boschs Kollegin Maria Lourdes findet das sehr ironisch: Während die gefundenen Kugeln wertlos sind, hat die Vertuschung des Attentats eine klare Spur hinterlassen, der es sich zu folgen lohnt…

Moonlight Mission

Am nächsten Morgen wird Ballard am Strand, wo sie zu surfen pflegt, von Geschrei und Jammern geweckt. Ein Surfer ist beinahe ertrunken, nachdem ihn eine heimtückische Unterströmung in die Tiefe gezogen hat. Seine Freundin ist untröstlich – daher das Jammern. Ballard macht kraft ihres Amtes Platz für den Notarzt, der mit einem Assi den Surfer wiederzubeleben versucht. Ballard und andere helfen beim Transport in die Ambulanz.

An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Auf dem Weg zum nächsten Einsatz schaut Ballard in der Moonlight Mission von John McMullen vorbei. Bis auf den einzigen Bewohner und Betreiber ist das Haus verlassen. Von den Obdachlosen, die er bekehrt, pflegt McMullen Fotos zu machen. So auch von Daisy Clayton, an die er sich vage erinnert. Sie hatte zwei männliche Begleiter, nämlich ihren Freund und Zuhälter sowie einen Unbekannten. Sonderbar, dass sich in McMullens Terminkalender ausgerechnet an diesem Tag vier Monate vor Daisys Tod keinerlei Eintrag findet…

Mein Eindruck

Die Erzählung wechselt von Ballard zu Bosch und wieder zurück. Der Perspektivwechsel sorgt für Abwechslung, aber nicht nur das. Zunehmend ergänzen sich die beiden Erzählstränge, bis sich eine Art Ping-Pong-Effekt einstellt: Ballard rettet Bosch das leben und Bosch revanchiert sich auf seine spezielle Art, als Ballard in der Patsche sitzt. Schließlich fasst Bosch die Vorzüge beider Ermittler zusammen: Ballard befindet sich innerhalb des Polizeiapparats, Bosch – nach seiner Suspendierung vom SFPD – außerhalb. Zusammen können sie Dinge erreichen, die sie getrennt nicht riskieren könnten. Ballard kann ihre Karriere nicht riskieren, Bosch nicht das Leben seiner Tochter.

Wie immer ist auch dieser Connelly-Roman transparent und durchorganisiert. Jeder Leser und vor allem jede Leserin – auch im fortgeschrittenen Alter – soll den Text und seine Schilderungen auf Anhieb verstehen können. Dieser Zweck wird stets erfüllt. Der Nachteil: Es bleibt keinerlei Rätsel mehr übrig, was der Spannung nicht gerade förderlich ist. In der Mitte löst Ballard einige Fälle, bei denen ich mich fragte, wie sie zum Hauptfall Daisy Clayton beitragen könnte. Dass sie das wirklich tun, erweist sich auf den letzten 50 Seiten. Dann kommt alles zusammen. Deshalb sollte der Leser nicht aufgeben, sondern alle Hinweise mitnehmen. Sie werden sich später noch als relevant erweisen.

Dass Connellys Romane immer auch Geschichten über die Ermittler sind, dürfte der Fan schon herausgefunden haben. In „The Late Show“ stellte uns der Autor eine neue Ermittlerin als Hauptfigur vor. Ballard besitzt etwas, das Bosch sofort auffällt: Sie hat Biss und bleibt an einer Sache dran. Die Ursache dafür ist vielleicht die Tatsache, dass sie ihren Vater verlor, als er beim Surfen vor Hawaii, von wo sie stammt, spurlos verschwand. Ist das etwa gerecht? Im Lauf der Ermittlungen wird klar, dass der Mörder darauf zählt, dass kein Hahn danach kräht, wenn ein Mensch verschwindet, Menschen wie Daisy Clayton.

Mittlerweise ist klar, dass Bosch ein Auslaufmodell ist: in Pension, vom Dienst suspendiert, als Privatdetektiv arbeitslos, folgt er nur noch seiner ewigen Mission: Wenn jeder zählt, muss er jedem Fall nachgehen und für eine wie auch immer geartete Form von Gerechtigkeit sorgen. So auch hier: Er gibt dem Lauf der Gerechtigkeit sogar zwei Chancen, den Mörder Daisy Claytons zu erledigen: eine illegale und eine legale. Ballard hat eine ganz klare Meinung dazu: Das Gesetz hat Vorrang. Auf diesem Niveau ergänzen die beiden Ermittler einander, um dafür zu sorgen, dass kein Mörder darauf zählen kann, dass ein Leben nichts wert sei. „Everybody counts or nobody counts“, pflegt Bosch zu sagen.

Unterm Strich

Connellys jüngster Krimi ist so weit entfernt von einem Jason-Bond-Thriller, wie man es sich nur vorstellen kann. So ziemlich alles an der Story ist kontrolliert, und es gibt nur zwei Situationen, in denen so etwas wie echte Spannung aufkommt. Bis dahin sollte man die beiden Ermittler, die einander ergänzen, über die Schulter schauen und Hinweise sammeln. Das Gleiche tun sie nämlich auch. Der Mörder wird uns gezeigt, ohne dass wir es merken. Tipp: Man achte auf Leute, die verdächtige Lieferwagen fahren. Dass der Autor einen damit auch auf falsche Fährten lockt, gehört einfach zu seinem Handwerk.

Mir war das ganze Garn, das doch recht kontrolliert abgespult wird, ein klein wenig zu tiefenentspannt. Sicher, die Materie von Serienmorden an junge Huren ist nicht gerade trivial, raubt einem aber auch nicht gerade den Schlaf. Wer einen Psychothriller sucht oder einen Actionreißer, wird sicher woanders fündig. Als Gutenachtgeschichte eignet sich „Dark Sacred Night“ vielleicht nicht unbedingt, aber andererseits halten sich der Adrenalinpegel und die Pulsfrequenz in homöopathischen Grenzen.

Der Autor

Michael Connelly, geboren 1956 in Philadelphia, studierte zunächst Journalismus und Kreatives Schreiben in Florida. Anschließend (ab 1980) arbeitete er für verschiedene Zeitungen in Fort Lauderdale und Daytona Beach, wo er sich auf Polizeireportagen spezialisierte. Nachdem 1986 eine seiner Reportagen für den Pulitzer Preis nominiert worden war, wechselte er als Polizeireporter zur „Los Angeles Times“.

Für sein Thrillerdebüt, „Schwarzes Echo“, den ersten Band der Harry-Bosch-Serie, erhielt er 1992 auf Anhieb den Edgar Award, den renommiertesten amerikanischen Krimipreis. Zahlreiche Bestseller folgten, die ihn zu einem der erfolgreichsten Thrillerautoren der USA machten. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Florida. (Verlagsinfo)

Bücher mit Harry Bosch

• 1992 The Black Echo
• Schwarzes Echo, dt. von Jörn Ingwersen; Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1994, ISBN 3-550-06713-5.
• 1993 The Black Ice
• Schwarzes Eis, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1996, ISBN 3-453-10819-1.
• 1994 The Concrete Blonde
• Die Frau im Beton, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1997, ISBN 3-453-12511-8.
• 1995 The Last Coyote
• Der letzte Coyote, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1998, ISBN 3-453-13094-4.
• 1997 Trunk Music
• Das Comeback, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1999, ISBN 3-453-14737-5.
• 1999 Angels Flight
• Schwarze Engel, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2000, ISBN 3-453-17858-0.
• 2001 A Darkness More Than Night
• Dunkler als die Nacht, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2002, ISBN 3-453-19611-2.
• 2002 City Of Bones
• Kein Engel so rein, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2003, ISBN 3-453-87417-X.
• 2003 Lost Light
• Letzte Warnung, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2005, ISBN 3-453-43153-7.
• 2004 The Narrows
• Die Rückkehr des Poeten, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2005, ISBN 3-453-01311-5.
• 2005 The Closers
• Vergessene Stimmen, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2006, ISBN 3-453-01431-6.
• 2006 Echo Park
• Echo Park, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2008, ISBN 978-3-453-26560-8.
• 2007 The Overlook
• Kalter Tod, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2008, ISBN 978-3-453-43342-7.
• 2008 The Brass Verdict
• So wahr uns Gott helfe, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2010, ISBN 978-3-453-26636-0.
• 2009 Nine Dragons
• Neun Drachen, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer Knaur 2011, ISBN 978-3-426-50789-6.
• 2010 The Reversal
• Spur der toten Mädchen, dt. von Sepp Leeb; München: Knaur 2011, ISBN 978-3-426-50790-2.
• 2011 The Drop
• Der Widersacher, dt. von Sepp Leeb; München: Knaur 2014, ISBN 978-3-426-51135-0.
• 2012 The Black Box
• Black Box, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC 2014, ISBN 978-3-426-19990-9.
• 2014 The Burning Room
• Scharfschuss, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC Dezember 2016, ISBN 978-3-426-28143-7.
• 2015 The Crossing
• Ehrensache, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC Januar 2018, ISBN 978-3-426-28159-8.
• 2016 The Wrong Side of Goodbye
• 2017: Two Kinds of Truth. (Noch keine deutsche Übersetzung vorhanden)

Infos zur kompletten Harry-Bosch-Reihe: https://en.wikipedia.org/wiki/Harry_Bosch

Weitere Bücher

• 1996 The Poet (Roman)
o Der Poet, dt. von Christel Wiemken; München: Heyne 1998, ISBN 3-453-13853-8.
• 1998 Blood Work (Roman)
o Das zweite Herz, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 1999, ISBN 3-453-15999-3.
• 2000 Void Moon (Roman)
o Im Schatten des Mondes, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2002, ISBN 3-453-86501-4.
• 2003 Chasing the Dime (Roman)
o Unbekannt verzogen, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2004, ISBN 3-453-00081-1.
• 2005 The Lincoln Lawyer (Roman)
o Der Mandant, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2007, ISBN 3-453-01434-0.
• 2007 Crime Beat: A Decade of Covering Cops and Killers (Sammlung von Zeitungsartikeln)
o L.A. Crime Report, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2007, ISBN 3-453-81095-3.
• 2009 The Scarecrow (Roman)
o Sein letzter Auftrag, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2011, ISBN 978-3-453-26645-2.
• 2011 The Fifth Witness (Roman)
o Der fünfte Zeuge, dt. von Sepp Leeb; München: Knaur 2013, ISBN 978-3-426-51122-0.
• 2013 The Gods of Guilt (Roman)
o Götter der Schuld, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer 2016, ISBN 978-3-426-28121-5.

Orion Books/Hachette UK, London,

Hardcover: 435 Seiten
Originaltitel: Dark Sacred Night, 2018
ISBN-13: 9781409182726

www.orionbooks.co.uk

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