Das Verhängnis des Rachezaubers
Krementschuk am Dnepr, Ukraine, 1854: Nach dem Tod des jungen Nikolay verschwindet nicht nur der Leichnam spurlos, sondern es scheint fortan ein Todesfluch auf dem Zimmer zu liegen, in dem er starb. Hat Nikolays Mutter, die alte Mataphka, einen geheimen Pakt mit Teufelsmächten geschlossen und das Schloss verflucht? Der Sohn des Hausherrn beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen und bringt sich selbst in tödliche Gefahr … (Verlagsinfo)
Die titelgebende Kreatur ist reine Erfindung.
Der Autor
Ludwig Bechstein (* 24. November 1801 in Weimar, Herzogtum Sachsen-Weimar; † 14. Mai 1860 in Meiningen, Herzogtum Sachsen-Meiningen) war ein deutscher Schriftsteller, Bibliothekar, Archivar und Apotheker. Er ist heute vor allem durch die von ihm herausgegebene Sammlung deutscher Volksmärchen bekannt (u. a. Deutsches Märchenbuch und Neues deutsches Märchenbuch).
Handlung
Auf seinem Anwesen in der südrussischen Steppe herrscht Polykarpow Simeonowitsch Kalugin als unumschränkter Gebieter. Der frischgebackene Witwer hat zwei Kinder: den kräftigen Sohn Basiliy und die anmutige Tochter Agaphonika, die sich als Taubenzüchterin hervortut. Doch der Ruf des Zaren ist schon lange erwartet worden, und Basiliy folgt dem Ruf zur Armee des Zaren nur zu gern. Sein Vater hofft, dass er bei seiner Rückkehr in ein paar Jahren in den Landadel aufsteigen, eine reiche Dame heiraten und die Familientradition fortführen werde. Doch es soll anders kommen.
Abschied
Zu den Leibeigenen des Gebieters gehören die alte Tatarin Mataphka und ihr Sohn Nikolay. Der ist der engste Spielgefährte von Basiliy und Agaphonika. Ihr Abschied voneinander ist tränenreich. Der Haushofmeister Paul Michaylow betrachtet die Szene mit Missgunst, denn er traut diesen heidnischen Tataren nicht, die den christlichen Glauben nicht angenommen haben. Zudem hat sich herumgesprochen, dass Mataphka ihn in jungen Jahren mal abgewiesen habe, seitdem nennt er sie Hexe und Dämon. Dass der Wolfsjäger Theophiliy Nikodemonow auf ihrer Seite steht, kann Michaylow nicht begreifen.
Der Taubendieb
Als wenig später zwei Tauben der „Prinzessin“ Agaphonika fehlen, ist die Bestürzung groß. Doch als zwei weitere der schönsten Tauben verschwinden, kennt der Zorn des Fürsten keine Grenzen. Michaylow kehrt das Unterste zuoberst und wird fündig: Er zeigt auf Nikolay – der habe die Tiere geraubt, um daraus eine Kraftbrühe für seine kranke Mutter Mataphka zu bereiten. Nikolay beteuert seine Unschuld vergebens, und seine Mutter ist bestürzt.
Der Fluch
Der Herr verlangt eine strenge Bestrafung, und Paul Michaylow ist das sehr willkommen. Doch die Auspeitschung sowohl durch Michaylow als auch durch den Wolfjäger Nikodemow lässt den jungen Burschen tot zusammenbrechen. Am nächsten Morgen fehlt die Leiche allerdings, sehr zu Michaylows Verbitterung. Der Junge war offenbar nur scheintot und befindet sich weiß Gott wo. Er ahnt nicht, dass sich Mataphka, die ihren Sohn für tot hält, nach alter Tatarentradition einen Rachezauber beschworen hat, indem sie dem Herrn der Unterwelt ihre Seele versprach: Sie beschwört die Furia Infernalis herbei, ein winziges Wesen, das einen heimtückischen Tod verursacht, und steckt sie in eine kleine Schachtel. Doch sie weiß nicht, dass Nikodemow zur gleichen Zeit Nikolay in Sicherheit bringt. Diese Geheimniskrämerei führt ins Unheil.
Schon bald gibt es auf dem Anwesen einen weiteren Toten zu beklagen: Michaylow. Nun hat Mataphka ihre geheime Rache vollendet. Doch auch Agaphonikas Verlobter, der Sohn des Nachbarn, findet einen unzeitigen Tod im „Todeszimmer“ Michaylows. Der verbitterte Gebieter lässt das Todeszimmer zunageln, renovieren und den Zutritt verbieten. Betrübt lässt Agaphonika alle ihre Tauben frei und beginnt eine lange Trauerphase. Sie schreibt ihrem Bruder weiterhin, und dieser beschließt, ihr neue Tauben zu schicken.
Die Rückkehr
Als zwei Jahre später der junge Erbe auf einer Mission in die Nähe kommt und zurückkehrt, hat er einen jungen Mann bei sich, der seine Gesichtszüge hinter einem gewaltigen Schnurrbart zu verbergen weiß. Es ist Nikolay. Beide ahnen nicht, welches Verhängnis auf dem Gut auf sie wartet. Denn Basily duldet nicht, dass es auf „seinem“ Anwesen ein verbotenes Zimmer gibt, zu dem er keinen Zutritt hat. Ganz Soldat und Verteidiger des Vaterlands entwirft er einen Schlachtplan, um der unsichtbaren Gefahr – sicherlich nur Gespenster – entgegenzutreten und ihr ein Ende zu bereiten.
Zu spät erfährt Mataphka von Agaphonika (die wiederum von Basily informiert wurde), dass ihr Sohn Nikolay noch am Leben ist und ihr Fluch somit ungerechtfertigt war. Nikodemow muss ihr auf Geheiß des Gutsherrn den Zutritt zum „Todeszimmer“ verwehren. So nimmt das Unheil seinen Lauf…
Mein Eindruck
Mataphka und Nikolay sind Leibeigene, also rechtlose Sklaven. Doch sie sind nicht wehrlos: Ihr heidnischer Glaube erlaubt es Mataphka, das Böse zu beschwören und Hilfe zu erhalten – die titelgebende Kreatur, eine Mischung aus Wurm, Krebs und Insekt, die angeblich von der Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) beschrieben hat. Ihr Racheplan geht auf, doch es kommt zu weiteren Opfern, so dass sich das Unglück, das auf dem Gut wie ein Bann liegt, ausbreitet. Schließlich wird davon die Zukunft des Gutes vernichtet: der Herr stirbt, der Erbe ist gemordet, die Tochter darf nicht erben, sondern muss ins Kloster. Dass die beiden Tataren überleben, freut sie nicht, denn sie haben ohne Besitzer ebenfalls keine Zukunft.
Der Autor stützt sich auf die alten russischen bzw. ukrainischen Märchen und Sagen. Hier hat er eine Tragödie nacherzählt, die an antike griechische Vorbilder erinnert. Der Haushofmeister hat den Zyklus aus Rache und Opfer in Gang gesetzt, indem er selbst die Tauben gestohlen und den Diebstahl den Tataren in die Schuhe geschoben hat. Sein Motiv: Vergeltung für die Zurückweisung durch eine rechtlose Sklavin, die zudem noch nicht mal eine Christin ist. Ständig nennt er sie Hexe, Dämon und unheilig. Nun, nach Nikolays scheinbarem Tod erhält er die Quittung und stirbt eines qualvollen Todes durch die titelgebende „Höllenfurie“.
Weil die Wahrheit ständig von irgendjemand unterdrückt wird, kommt es zu weiteren Opfern, deren letztes wohl der junge Erbe sein dürfte. Es mag erstaunen, dass auch die junge Herrin Agaphonika ihren Anteil an dieser Spirale des Unheils hat: Sie hat – auf Basilys Bitte hin – Mataphka verschwiegen, dass deren Sohn noch am leben sei. Binnen zweiter Jahre ist die alte Frau, die vermutlich einst ihre Amme war, geschrumpft und verkümmert. Geschenke an ihre Zofe Anjuschka und an Mataphka können sie von dieser Schuld nicht erlösen.
Es ist bemerkenswert an dieser Geschichte, dass Frauen eine so zentrale Rolle darin spielen. Dennoch vermögen sie nichts gegen die Willkür, die Rachsucht und die Gewalttätigkeit der Männer auszurichten, die über sie herrschen. Am ironischsten ihr der Schlachtplan des jungen Soldaten Basily, der den Feind unter Gespenstern und Feiglingen vermutet, aber auf den verborgenen Feind im Innern des Todeszimmers nicht gefasst ist. Sein deplatziertes Ehrgefühl und sein Dünkel kommen vor dem Fall. Etwas unklar wird das Verhalten Nikolays geschildet, der offenbar die ganze Sache verpennt.
Die Sprecher/Die Inszenierung
Die Sprecher
Absolut herausragend ist die Sprecherleistung von Regina Lemnitz. Als alte Mataphka stellt sie einerseits die Rachsucht einer ihres Sohnes beraubten Mutter dar, andererseits die vergeblich über das Unglück, das sie über alle gebracht hat, klagende „Hexe“. Sie wechselt innerhalb einer einzigen Szene von der einen Stimmungslage in die nächste. Bis zum Schluss spielt Mataphka eine Rolle, wenn auch als Opfer ihres eigenen Fluchs.
Schon frühzeitig wird deutlich, dass sie die graue Eminenz unter dem Jungvolk ist und auch Anjuschka, die Zofe, und der Wolfsjäger Nikodemow auf ihrer Seite sind. Nun Michaylow, der Haushofmeister, den sie zurückwies, ist ihr Erzfeind. Kurios ist der Zeitpunkt des fingierten Diebstahls: gleich nach der Abreise von Basily. Das deutet auf Nachfolgegelüste des Haushofmeisters hin. Michaylow wird von Bert Stevens mit grimmigem hass in der Stimme dargestellt, was ich passend fand.
Bodo Primus spricht Fürst Kalugin, den Gutsherrn, der leider keine Ahnung hat, was wirklich vor sich geht, und sich daher am Schluss wundert, wie all das Unheil zustandekommen konnte. Theophiliy Nikodemow, der Wolfsjäger, steht zwischen Sklaven und der Herrschaftsklasse; er versucht Gutes zu tun, kann sich aber nur durchlavieren. Indem er am Schluss einen Befehl ausführt, verhindert er Basilys Rettung durch Mataphka. Das Ergebnis ist die bekannte Katastrophe.
Auch Agaphonika, sehr schon unschuldig und lieb gesprochen von Uschi Hugo, entgeht nicht ihrem Schicksal. Selbst wenn sie nur einen geringen Anteil daran hat – siehe oben -, muss doch auch sie den Preis für ihr Schweigen zahlen: Als Frau wird ihr die Erbfolge per Gesetz verweigert und als ihr Verlobter stirbt, muss sie ins Kloster.
Eine relativ undankbare Rolle hat Tom Raczko. Als Nikolay drehen sich zwar viele Szenen um ihn, doch er hat kaum etwas von Substanz beizutragen, geschweige denn etwas zu sagen. Und im Finale darf er nicht einmal Basily retten, seinen Jugendfreund und Vorgesetzten.
Geräusche
Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln, Peitschenhiebe, Taubengurren, Kaminfeuer, grollender Donner – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen sowohl in Innen- als auch Außenräumen zu vermitteln.
Die Musik
Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die Spannung von Szene zu Szene, bis die Spannung in der Nacht im Todeszimmer kulminiert. Für einigen Lokalkolorit sorgt ein russischer, möglicherweise tatarischer Chor, der wie ein Leitmotiv immer wieder auftritt. Tiefe Bässe, so fand ich heraus, kommen am besten mithilfe einer Soundbar zur Geltung.
Das Booklet
Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der das titelgebende Insekt sein hässliches Haupt erhebt. Sehr deutlich sind seine Klauen und der gierige Schlund zu sehen. Kaum zu glauben, dass dieses Monster nur einen Finger lang sein soll, wie die zu Beginn zitierte Beschreibung durch Carl von Linné nahelegt.
Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS bis Herbst 2023 verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.
Folge 176: Crawford: Das Lächeln des Toten
177: Ludwig Bechstein: Furia Infernalis
178: Benson: Das unheimliche Turmzimmer
179: Heron: Der Fall Medhans Lea – Flaxman Low 3
180: Blackwood: Das unbewohnte Haus
181: R. Conner: Das gefährlichste Spiel der Welt
182: F.G. Loring: Sarahs Grabmal
183: Eric Stenbock: Die andere Seite
184: Bertha Werder: Das Haar der Sklavin
185: Lovecraft: Die Musik des Erich Zann
186: ETA Hoffmann: Der Ghoul
187: Blackwood: Die Weiden
188: Heinrich Seidel: Der Hexenmeister
189: Per McGraup: Heimlich
190: J. u. W. Grimm: Schauermärchen I
Unterm Strich
Von Anfang wird das Geschehen in eine einsame Gegend verlegt, die den Naturmächten ausgeliefert ist: ein kalter Frühling, über dem ein Gewitterdonner grollt. Diese Entrückheit verschiebt das Geschehen aus der Realität in eine Art Zwischenreich zwischen teuflischen Mächten, die immer noch wirkmächtig sind, und einer griechischen Tragödie antiken Zuschnitts: Es geht nicht um Gut und Böse, sondern um die schlimme Saat der Schuld, die aufgeht, um das gesamte Herrengut der Kalugins zu verschlingen. Am Schluss ist nichts mehr davon übrig, und der Staub der Steppe bedeckt die Ruinen.
Es ist sehr spannend, die Auseinandersetzung zwischen angeblich christlichen Russen und angeblich heidnischen Tatarensklaven zu verfolgen. Die Spannung schlägt allmählich in Entsetzen um, dem Beklemmung folgt, bis das ultimative Unheil geschehen ist. Die alte Mataphka mag den Fluch in Gang gesetzt haben, um Rache zu üben – was ja Christen untersagt wäre. Aber sie kann die Ausführung des Fluchs nicht mehr stoppen, als ihr eigener – wiederauferstandener – Sohn in Gefahr gerät. Der antike Begriff „Verhängnis“ (Ananke) trifft die Wucht des Sachverhalts nicht mal annähernd.
Das Hörspiel
Diese Geschichte weist viele Ebenen auf, wird aber sehr rasch erzählt. Das mehrmalige Anhören ist daher sehr ratsam. Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die vielen Details mitzubekommen, beispielsweise die Schuld der ach so unschuldigen Gutsherrntochter. Ihre Tauben sind das Dingsymbol für Liebe, Hoffnung und Frieden. Der russische Chorgesang sorgt für akustischen Lokalkolorit, der andeutet, dass all diese Symbole auch eine andere Bedeutung haben könnten.
Die Sprecherriege für diese Reihe ist höchst kompetent und renommiert zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars wie Kathy Bates und Whoopi Goldberg. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars das richtige Kino-Feeling – das diesmal allerdings stark mit der Stimmung in einem antiken Theater vermischt ist.
CD: über 61 Minuten
ISBN-13: 978-3785783870
Der Autor vergibt: