Doppelter Showdown in Mississippi
In Gerrardsville, Colorado, stirbt eine Frau unter den Rädern eines rollenden Busses. Die Polizei stuft dies als Selbstmord ein, doch Reacher hat mehr gesehen: Ein Mann hatte die Frau vor den Bus gestoßen und sich ihre Handtasche geschnappt. Reacher jagt den Dieb und entdeckt den Inhalt der Tasche: Die Frau kam aus Winson, Mississippi, hatte ein Kind und wohl auch einen Mann der dort im Gefängnis sitzt… Als ein weiterer solcher „Selbstmord“ geschieht, weiß Reacher, dass dies kein Zufall ist, sondern ein Serienmörder unterwegs ist. (Verlagsinfo)
Die Autoren
Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller. Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationaler Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)
Sein Bruder Andrew Child schreibt inzwischen unter dem Namen „Andrew Grant“ und ist selbst ein ausgewiesener Thriller-Autor. Mehr Info HIER.
1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Stunden (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011, Kurzgeschichte)
16. The Affair (2010, dt. als „Der letzte Befehl“)
16.5. Deep Down (2012, Kurzgeschichte)
17. Der Anhalter (A Wanted Man, 2012)
17.5. High Heat (2013, Kurzgeschichte)
18. Never Go Back (2013, dt. als „Die Gejagten“)
18.5. Not a Drill (2014, Kurzgeschichte)
19. Personal (2014, dt. als „Im Visier“)
20. Make Me (2015, dt. Keine Kompromisse)
21. Night School (2016, dt. Der Ermittler)
22. Midnight Line (2017, dt. als “Der Bluthund“)
23. Past Tense (2018, dt. als “Der Spezialist“)
24. Blue Moon (2019, dt. als „Die Hyänen“)
2020 The Sentinel (dt. Der Sündenbock, 25. Reacher-Buch, in Zusammenarbeit mit Andrew Child)
2021 Better Off Dead, 26. Reacher-Buch, in Zusammenarbeit mit Andrew Child
2022 No Plan B, 27. Reacher-Buch, in Zusammenarbeit mit Andrew Child
2023 The Secret, 28. Reacher-Buch, in Zusammenarbeit mit Andrew Child
2024 In Too Deep, 29. Reacher-Buch, in Zusammenarbeit mit Andrew Child
Erzählungen
No Middle Name (2017)
Handlung
In Winson, Mississippi, steht die Justizvollzugsanstalt Minerva. Trakt S2 ist für die höchste Sicherheitsstufe reserviert. Hierhaben sich vier hochrangige Vertreter des Gefängnisses, der Chef der lokalen Polizei, Rod Moseley, sowie zwei weniger erlauchte Herrschaften eingefunden. Diese zwei sind in Jeans und T-Shirt aufgekreuzt, der eine hat einen gebrochenen Arm und der andere zahlreiche blaue Flecken. Sie haben sich die Läsionen nicht im Gefängnis zugezogen, sondern weit weg im westlichen Colorado. Was hatten sie dort zu erledigen?
Colorado
Ein Tag zuvor. In Gerrardsville, Colorado, stirbt eine Frau unter den Rädern eines rollenden Busses. Die Polizei stuft dies als Selbstmord ein, doch Reacher hat aus seiner Position mehr gesehen: Ein Mann in Jeans und Hoodie hatte die Frau vor den Bus gestoßen und sich ihre Handtasche geschnappt. Reacher jagt den Dieb, schlägt ihn bewusstlos und entdeckt den Inhalt der Tasche: Angela St. Vrain kam aus Winson, Mississippi, hatte ein Kind und wohl auch einen Mann, der wohl im Gefängnis sitzt. Ein Foto zeigt diesen Mann, und die Akten weisen ihn als Danny Peel aus.
Ein schwarzer BMW biegt in die Gasse ein, in der Reacher den Dieb gestellt hat. Obwohl er mehrfach mit der Pistole des Diebes auf den Wagen schießt, kann er ihn nicht stoppen. Nur eine Feuerleiter, die wackelig an einem Wohnhaus befestigt ist, gewährt ihm einen Ausweg vor dem angreifenden Wagen. Doch die Feuerleiter kracht aus ihrer Verankerung und Reacher wird unter ihrem Metall begraben. Aber einem Zwei-Meter-Mann wie ihm macht das nichts aus. Als er aufsteht, sind Dieb und BMW verschwunden.
Er schildert seine Beobachtungen dem einzigen Kriminalinspektor am Tatort und bekommt dessen Visitenkarte, dann wartet er auf die Verfolger. Sie überwachen ihn lediglich, greifen nicht an. Vielleicht warten sie Verstärkung, um ihn zu erledigen. Vorerst checkt er in ein billiges Hotel am Stadtrand ein. Prompt dringen in der Nacht zwei weitere Verbrecher ins Zimmer ein, um ihn zu „befragen“. Er setzt sie im Handumdrehen außer Gefecht. Durch den Lärm wurde die Polizei alarmiert. Sie findet Reacher nicht: Er hat sich auf dem Dach versteckt. Seelenruhig bucht er ein anderes Zimmer für eine weitere Nacht.
Der Kriminalinspektor findet ihn trotzdem, denn er ist ein schlauer Bursche – sein Vater war im Marine Corps. Und er hat herausgefunden, dass Reacher ein Militärpolizist in einer Eliteeinheit war, daher glaubt er ihm. Er ist gekommen, um ihm zu sagen, dass die Akte Angela St. Vrain von der lokalen Polizist geschlossen worden ist, weil es sich um einen Selbstmord handele.
Doch zuvor gab es in Angelas Umfeld einen weiteren Toten: ihren Ex Sam Roth, der einen Herzinfarkt hatte. Er sei von seiner anderen Ex Hannah Hampton sterbend aufgefunden worden, da sie nebenan wohnt. Roth arbeitete in einem Gefängnis in Gerrardsville, wo Angela sich für eine Stelle beworben hatte. Der IT-Leiter des Minerva-Gefängnisses in Winson will ihre E-Mail-Konversation gelesen und erkannt haben, dass Angela zu Roth zurückkehren wollte, aber abgewiesen wurde. Daher der Abschiedsbrief und der anschließende Selbst. Doch als Reacher mit Hannah spricht, entpuppt sich auch dieses Garn als Lügengespinst.
Nur eine Ungereimtheit stört Reacher: Was ist aus der echten Handtasche der Frau geworden, die der Dieb in jener Gasse verlor? Sie wurde gegen eine frische ausgetauscht, die keine Blutflecken aufweist. Und es gibt die Zeugenaussage eines „unbescholtenen Bürgers“, die den lokalen Polizeichef veranlasste, den Fall zu schließen und Reacher als Verdächtigen suchen zu lassen. Nun will sich Reacher selbst um Angelas Tod kümmern: Sie hatte ein Kind, und dieses Kind braucht sowohl Versorgung als auch Gerechtigkeit.
Sam Roth wurde aus Winson heraus erpresst, wie Hannah wohl merkte. Nun, nach seinem Tod „per Herzinfarkt“, findet sich in seiner Briefbox ein Drohbrief. Ein erster Hinweis auf die Hintermänner, den Reacher sofort ausnutzt. Die Spur führt nach Winson. Und Hannah, die den Tod von Sam Roth aufklären und rächen will, nimmt ihn in Sams Truck mit – den ganzen Weg nach Mississippi. Dort hat die Gefängnisleitung von Minerva schon Wachen aufgestellt, um diesen lästigen Störenfried namens Reacher abzufangen und zu beseitigen.
Lev Emerson
Lev Emerson ist ein gut verdienender und ausgelasteter Brandleger, doch heute, in Savannah, ist ein schwarzer Tag: Sein einziger Sohn ist den Drogen zum Opfer gefallen. Nach einer langen und teuren Rehabilitation, die Lev bezahlt hat. Kaum hat er den Job in Savannah erledigt, fährt er zurück nach Chicago, seinem Zuhause und schmiedet einen Racheplan. Er lässt von seinen Helfern den Dealer ausfindig machen, der seinem Sohn die Droge verkauft hat. Er hört von einem Hauptquartier, das sich auf einer großen Yacht, die vor der Küste von New Jersey ankert. Doch die Kette aus Menschen, die ihn dorthin führen soll, führt durch den Bundesstaat Mississippi. Und dort kommt er den Leuten des Minerva-Gefängnisses in die Quere.
Jed Starmer
Jed Starmer ist eine Vollwaise, die bei einer Pflegemutter aufgewachsen, doch nun hat er ein neues Ziel: Jackson in Mississippi. Er klaut 300 Dollar, bezahlt ein Busticket und fährt den ganzen Weg bis Dallas, Texas, nur um entsetzt festzustellen, dass er schon in L.A. beklaut worden ist. Ein scheinbar netter Typ gibt ihm 20 Mäuse, mit denen er bis Mississippi gelangt. Doch er ist bereits angekündigt worden, bei Menschenfänger, die auf Ausreißer und Streuner spezialisiert sind. Jed entkommt ihn nur, weil die Minerva-Wachen, die auf Reacher lauern, den Kidnappern dazwischenfunken. Jed entkommt in einem unbeobachteten Augenblick.
Doch er wird Reachers Weg erneut kreuzen…
Der Schlüssel
Dass so viele bewaffnete Typen auftauchen, die ihn ausschalten wollen, bestärkt Reacher nur in dem Verdacht, dass im Minerva-Gefängnis finstere Taten verübt werden. Allerdings ist der supermoderne Knast mit allen Schutzvorrichtungen ausgestattet, die man sich vorstellen kann. Es gibt nur eine Schwachstelle: den Direktor, denn der wohnt weit draußen in den netten Vororten von Winson, wo seine Spezis, die Cops, ständig vorbeischauen. Der Direktor hat einen Generalschlüssel, und den kann man sich besorgen, wenn man die Energie eines Jack Reacher aufbringt…
Mein Eindruck
Hier darf nicht verraten werden, welche fiesen Machenschaften im Minerva-Gefängnis getätigt werden. Aber wenn bezahlte Killer selbst noch in Colorado und anderen Bundesstaaten ihre Arbeit verrichten, um Geheimdokumente zu vernichten und Zeugen zu aus dem Weg zu räumen, dann müssen die Geheimnisse, die sie schützen sollen, ziemlich brisanter Natur sein. Das macht den braven Bürgern von Winson nichts aus, solange sie vom Gefängnisdirekter und seinen Partnern gut bezahlt werden, fürs Schweigen, Wegsehen und Helfen.
Das finstere Gesocks kann jedoch einen einfallsreichen Ex-Militärcop wie Reacher nicht aufhalten. Seine Sätze sind kurz und knackig, falls er mal sein Mundwerk einsetzt. Aber viel mehr als auf Worte legt Reacher Wert auf Taten. Mit entsprechenden Taten und Tricks manövriert er erst seine Verfolger aus, dann geht er zum Gegenangriff über. Die kniffligste Aufgabe ist nicht nur, in das Gefängnis einzubrechen, sondern es auch mit einem ganz speziellen Gefangenen wieder zu verlassen.
Dieser Abschnitt enthält eine Szene, die ich noch nie zuvor gelesen habe – und ich bin auf Thriller spezialisiert: Wie bringt man eine automatische Tür, die verriegelt ist, dazu, sich wieder zu öffnen? Muss man gelesen haben, um es zu glauben. Ähnliche Augenöffner bietet auch David Baldacci in seinen Thrillern um Travis Devine – sie seien nur als Lese-Tipp erwähnt.
Unterm Strich
Fiese Machenschaften unter dem Deckmantel eines Wohltäters – dieses Schema hat der Reacher-Fan schon mehrfach gelesen. Doch diesmal findet das organisierte Verbrechen nicht irgendwo in der Pampa statt, sondern mitten in Winon und unter den Augen seiner braven Bürger. Alle machen mit, weil der Knast wie eine Art Aktiengesellschaft funktioniert – alle können mitmachen und mit ihrem Anteil absahnen, gegen einen kleinen Obolus, versteht sich.
Andrew Lee, den ich hier zum ersten Mal kennengelernt habe, schreibt nicht schlechter als sein Bruder, aber er spannt den Leser besser auf die Folter. Da ist zum einen die mehrsträngige Handlung und das vielköpfige Personal, die die Gedächtnisleistung des Lesers zu Höchstleistungen anspornen. Ohne eine Liste und die ständigen Hinweise des handelnden Personals wäre so mancher Leser schon bald verloren. Die Mehrsträngigkeit ermöglicht es indes, dass die Handlung mehr als nur ein Finale aufweist. Das bedeutet: noch mehr Action und brisante Spannung.
Was aber noch mehr als dies alles herausfordert, ist der vollständige Mangel an jeder Art von Humor. Vielleicht muss man ja Texaner sein, um es witzig zu finden, mit welcher Raffinesse Reacher seinen Kontrahenten einen nach dem anderen austrickst. Dann steckt der Humor zwischen den Zeilen statt, wie gewohnt, in den Dialogen.
Hinweis
Meine Originalausgabe im Paperback-Format enthält eine Leseprobe des nächsten Reacher-Thrillers „The Secret“. Nach angemessener Zeit wird auch davon eine deutsche Übersetzung erscheinen. Momentan ist der Stand, dass jüngst die Übersetzung des Vorgängers von „No Plan B“ erschien, die den Titel „Der Kojote“ trägt.
Taschenbuch: 435 Seiten plus Leseprobe von „The Secret“ plus Backlist.
O-Titel: No Plan B, 2022;
ISBN-13: 978-0-55121-7755-9
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