Michael Bennett – Tote Bucht. Der 2. Fall für Hana Westerman

Spannend: die Bucht der toten Mädchen

Hana Westerman hat ihren Dienst eigentlich quittiert, doch als sie in den Dünen von Tata Bay auf ein Skelett stößt, löst das etwas in ihr aus. Vor 21 Jahren wurde an derselben Stelle schon einmal die Leiche einer jungen Frau gefunden. Der Fall war einer der Gründe, weshalb Hana sich dazu entschied, Polizistin zu werden.

Ist es ein Nachahmer oder handelt es sich vielleicht sogar um denselben Täter? Je mehr sie über den Fall herausfindet, desto mehr Zweifel kommen Hana über die früheren Ermittlungen. Die Vergangenheit droht, Hana einzuholen – und sie kann niemandem mehr vertrauen. (Verlagsinfo)

Der Autor

Michael Bennett arbeitet in Neuseeland als preisgekrönter Regisseur, Produzent und Showrunner für Film und Fernsehen. In seinem Thrillerdebüt „6 Tote“ (O-Titel: „Better the Blood“) verknüpft Bennett seine Leidenschaft für spannende Geschichten mit Fragen von Identität und Herkunft, die eng mit dem kolonialen Erbe seiner Heimat verbunden sind. Mit seiner Partnerin und seinen drei Kindern lebt der Autor in Auckland. (gekürzte Verlagsinfo)

Handlung

Hana Westerman, die es in Auckland schon zum Detective Sergeant gebracht hatte, hat den Job als Cop hingeschmissen und ihren Mann und Chef Jaye verlassen. Nun lebt sie in ihrem Heimatdorf mit ihrem Großvater Eru und pflegt die Maoribräuche. Außerdem lehrt sie die aufmüpfige Jugend das gesetzeskonforme Fahren eines Vehikels. Morgens geht sie immer in die Tata Bay schwimmen. Dabei kommt sie immer an einem Betonkreuz vorbei, das in den Dünen steht. Seit 21 Jahren erinnert es alle Besucher daran, dass hier Paige Meadows gefunden wurde. Ermordet von einem Einheimischen, der sich am Tag nach der Entdeckung der Polizei stellte: Tama Hall, Ende fünfzig. Hanas Vater Eru hält ihn für unschuldig. Etwas stimmt an diesem Fall nicht.

Ein grausiger Fund

Hanas Tochter Addison, deren nonbinäre Freund/in PLUS 1 und ihr Hund Boca sind zu Besuch an diesem Strand. Es ist der Hund, der Laut gibt, weil er was gefunden hat, dann ruft Addison ihre Mum: Sie hat Knochen einer Frauenleiche entdeckt. Als ersten ruft Hana Jaye in Auckland an, denn das spart Weiterleitungen und Umwege. Nach einigen Tagen ist der neuen Ermittlungsleiterin Lorraine klar, um wen es sich handeln muss: Kiri Thomas, eine Drogensüchtige, die eigentlich in einem Reha-Programm für Drogenabhängige integriert war. Kiri war auf Crack und ging anschaffen, um ihre Sucht bezahlen zu können.

Private Suche

Ihre Pflegeeltern fallen aus allen Wolken, sie haben keine Erklärung. Kiris Freund war Dax, der inzwischen im Boxklub Kurse als Trainer leitet. Ein kluger junger Mann, doch weil er Kiri mit einer anderen betrogen hat, trennte sie sich von ihm. Da wurde sie zuletzt vor vier Jahren gesehen, erinnert sich Kiris beste Freundin Trish, die inzwischen ein Baby hat. Obwohl die Kripo in Auckland die Ermittlung leitet, kann Hana nicht umhin, selbst Nachforschungen anzustellen. Schließlich war es der Tod von Paige Meadows, der sie damals zur einzigen Maori-Polizistin werden ließ. Hat nun ein Trittbrettfahrer auch Kiri auf dem Gewissen oder ist es immer noch der gleiche?

Ein Hinweis

Lorraine und Jaye kommen aus Auckland, um im Rathaus den Kiri-Fall der versammelten Gemeinde vorzustellen und um Mithilfe zu bitten. Doch statt bei ihnen meldet sich Chloe, eine frühere Mitschülerin und inzwischen zweifache Mutter, bei Hana. Es geht um Paige Meadows, nicht Kiri. Sie, Chloe, sei vor 21 Jahren mit dem Rad an den Dünen entlanggefahren, als sie von einem jungen Weißen angegriffen wurde. Sie konnte ihn mit ihrem Hockeyschläger am Kopf treffen und fliehen. Seitdem lebt sie jedoch in einer christlichen Sekte, die den direkten Kontakt zu den Behörden verbietet; das ist den Ältesten vorbehalten. Um weiterhin Hockey spielen zu dürfen, hat sie den Vorfall nie gemeldet.

Zwei Verdächtige

Hana kann dank Chloe ein genaues Phantombild des jungen Weißen anfertigen und geht damit auf Suche. Zwei Betreiber eines Campingplatzes erkennen den Mann wieder und finden in den Unterlagen seinen Namen: Gordon Weeks. Schaute ständig Horrorfilme. Während er sechs Monate in einem Wohnwagen lebte, hatte er sich mit einem Bewohner der Apartments in der Nähe angefreundet, mit keinem anderen als Tama Hall. Warum deckte Hall, der seit 20 Jahren im Knast sitzt, einen anderen, noch dazu einen Weißen? Und geht auch Kiris Tod auf Weeks‘ Konto? Zwei Tage, nachdem sich Hall den Behörden „gestellt“ hatte, gab Weeks seine Schlüssel zurück und verschwand. Ist er nun zurück, fragt sich Hana.

Sie beschließt, bei Weeks einzubrechen…

Mein Eindruck

Nach dem rasanten Thriller „6 Tote“ schürft der Autor mit „Tote Bucht“ mehr in der psychologische Tiefe eines kleinen, sehr genau gezeichneten Personenkreises. Hana Westerman steht im Mittelpunkt, doch sie hat eine Tochter Addison, eine fiese Cousine und einen möglicherweise bereits von Demenz gezeichneten Vater. Außerdem muss sie mit ihrem Ex Jaye und dessen zweite Frau Marissa sowie deren zwei Töchter.

Damit wäre der Begriff des Whanau, der somit als Großfamilie definiert wäre, mit Figuren erfüllt. Dieses Geflecht von Beziehung ist für die Emotionen wichtig, die alle seine Mitglieder in diesem doppelten Fall hin- und herreißen. Immer wieder sehnen sie sich nach dem „Normalzustand“ zurück, wie nach Erlösung von einem Trauma. Die Traumata sind die zwei Mordfälle um Paige und Kiri.

Whanau lässt sich mühelos zum Begriff des Iwi, des Stamms, erweitern. Kiri ist hier die Hauptfigur, und die junge Dichterin, Crackraucherin und Prostituierte bekommt sogar ihre eigene Stimme: In diesen Einschüben erlebt der Leser quasi mit, was ihr durch den Kopf geht und welche Emotionen sie bestimmen. Wut auf Dax, dem sie die Nase und das Motorrad zertrümmert. Die Sehnsucht des Pflegekindes ohne leibliche Eltern nach einer Loslösung von der Welt und nach einer Art spiritueller Geborgenheit in den Armen der Götter ihrer Vorfahren, nicht in den Armen der christlichen Kirche.

Ziemlich deutlich zeigt sich immer wieder die soziale und kulturelle Kluft zwischen der Hauptstadt Auckland und der sehr ländlichen Tata Bay, wo fast ausschließlich Maori wie Hana Westerman leben. Hier spielt die Natur eine zentrale Rolle, ebenso die alte Kultur und die Art und Weise, wie die Maori in die Rhythmen der Natur eingebunden sind und dort ihre Identität finden. Die zwei Leichen von weißen Mädchen stellen Invasionen der spirituellen Art in einer Community dar, die eh schon in Gefahr ist, wirtschaftlich wie emotional. Ausgerechnet der Rettungsanker, das Boxstudio, erweist sich als von trügerischer Sicherheit.

Doch wie Kiri Erlösung sucht, so auch der Mörder Gordon Weeks. Er ist depressiv und generell seelisch instabil, so dass er ständig die richtigen Medikamente nehmen muss. Tama Hall hilft ihm dabei, doch sobald Hall im Knast ist, sieht sich Weeks erneut gefährdet. Er arbeitet als Imker und achtet auf strikte Ordnung in seiner Wohnung. Als Hana bei ihm einbricht, hinterlässt zwei kaum bemerkbare Spuren, darunter den Duft ihres Deos…

Ein loser Faden

Als Hana spätabends noch joggen geht, stößt sie auf Lichter auf einem Bauernhof. Es handelt sich um Einbrecher und Autodiebe. Sofort versteckt sie sich und dreht mit ihrem Handy ein Video. Die Gefahr ist groß, entdeckt und verprügelt zu werden. Unter den Einbrechern erkennt sie Tímoti, den Sohn ihrer verärgerten Cousine Eyes. Soll sie ihr das Handyvideo zeigen oder nicht?

Wie auch immer: Als das rauskommt, macht sich Hana in dem Bandenführer Renard einen Feind. Diese Entwicklung kommt allerdings nicht zum Tragen. Denn es würde sich wohl mit der Entwicklung um Weeks überschneiden, der nun zum Angriff auf Hana übergeht. Aber der Romanschluss spricht dafür, dass Hana im nächsten Roman ihre alte Stelle bei der Kripo von Auckland zurückbekommt. (Denn sie hat inzwischen selbst für einen Ausfall dort gesorgt: Sie hat Kiris Mörder gefunden.) Dann kann sie sich ja um Renard und seine Bande kümmern.

Die Übersetzung

Der Autor berücksichtigt die Maori-Sprache in jeder Hinsicht: überall, wo sie im Text verwendet wird. Das angehängte Glossar ist daher die folgerichtige und notwendige Ergänzung zum Text und sehr hilfreich bei der Lektüre. Allerdings gibt es keine Aussprachehilfe außer einem diakritischen Zeichen an diesen Ausdrücken. Letztere sind allerdings nicht jedem Leser geläufig. Als Faustregel gilt: Wo der Oberstrich über einem Vokal steht, wird dieser Vokal betont und gedehnt.

Der Übersetzer hat seinen Job sehr ordentlich gemacht. Aber es sind ihm drei Fehler unterlaufen.

S. 47: „fester Bestan[d]teil des sozialen Lebens…“: Das D fehlt.

S. 51: „Kira“ statt „Kiri“.

S. 111: „er ist jetzt Angang vierzig“ statt „Anfang vierzig“.

Unterm Strich

Der rote Faden, den ich oben skizziert habe, wird durchaus durchgehalten, doch der Autor schmuggelt immer wieder private Szenen seine Figurenkreise ein. Hanas Großfamilie bildet den ersten Kreis, ihre Community in Auckland und Tata Bay den zweiten. Dass Weeks als Mörder nicht hierher gehört, ist offensichtlich, doch er beteuert, an Kiris Tod unschuldig zu sein, er kenne sie nicht mal. Also bleibt die Handlung spannend bis zum Schluss, wenn Kommissar Zufall Hana zu Hilfe kommt.

Auf verschlungenen Pfaden wird der erste Showdown herbeigeführt und höchst zufriedenstellend zu Ende gebracht. Doch Fragen bleiben offen, auch wenn das die Kripo von Auckland nicht so sieht. Für Hana als Maori sind Träume nämlich sehr wichtig, auch prophetische, wie ihr Vater erzählt. Und in ihrem wiederkehrenden Traum hat Kiri die Straße ins Jenseits noch nicht überqueren können: Die Ampel steht noch auf Rot. Was kann Hana also noch tun, fragt sie sich selbst. Und so bleibt die Handlung spannend bis zum Schluss.

Auffällig ist an den Figuren, dass Kiri eine Dichterin ist und PLUS 1, die „Freundin“ von Addison Westerman, eine Songschreiberin, doch sie Probleme, gehört zu werden. Während Kiri auf Droge ist und anschaffen geht, braucht PLUS 1 „seine“ Freundin Addison, um seine Songs zu Gehör zu bringen. Aber kann „er“ ihr „seine“ Liebe auch gestehen?

Der Autor lässt durchblicken, dass in der Jugend Neuseelands nicht bloß Rugby-Spieler und Boxer heranwachsen, sondern auch Künstler beiderlei Geschlechts. Diese sind jedoch in Gefahr, durch fremde kulturelle Einflüsse und private Katastrophen, die nicht bewältigt werden. Doch indem sie sich ihrem Maori-Umfeld anvertrauen würden, könnte sie dies schaffen. Denn der Maori-Stamm bietet offenbar immer Nestwärme und guten Rat.

Der Autor führt den Leser in die Besonderheiten und Vorteile der Maori-Kultur ein, ohne dabei aufdringlich oder den belehrenden Finger zu heben. Dieser Krimi bereichert den Leser in mehrfacher Hinsicht, ist aber notwendig auch spannend bis zum Schluss.

Taschenbuch: 304 Seiten.
O-Titel: Return to Blood, 2024;
Aus dem Neuseeland-Englischen von Frank Dabrock
ISBN 9783453442719

www.heyne.de

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