Robert B. Parker & Reed Farrel Coleman – Colorblind. Ein Fall für Jesse Stone (17)

Jesse-Stone und die Nazi-Rassisten

Jesse Stone, der Polizeichef von Paradise, Massachusetts, kommt nach einer Abwesenheit von zwei Monaten zurück in sein Büro. Ein junger Mann namens Cole Layton sitzt in seiner Zelle wegen Randalierens. Und aus der Nachstadt kommt eine Bitte um Amtshilfe: eine junge schwarze Frau ist krankenhausreif geprügelt und vergewaltigt worden.

Der Autor Robert B. Parker

Der US-Autor Robert B. Parker, geboren 1932, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zu seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 50 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der Spenser-Reihe wohl seine neun Jesse-Stone-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird regelmäßig vom ZDF gezeigt. Der ehemalige Professor für Amerikanische Literatur, der 1971 über die Schwarze Serie promovierte, lebte mit seiner Frau Joan in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen viele seiner Krimis.

Der Autor Reed Farrel Coleman

Der US-Autor Coleman hat bereits 18 Romane und zwei Novellen veröffentlicht, ist also ein alter Hase. Er ist vor allem für seine Moe-Prager-Krimis bekannt und wurde bereits für den Edgar Award nominiert. Den Shamus Ward hat er bereits dreimal gewonnen. Er unterrichtet Schreiben an der Hofstra University und ist ein Gründungsmitglied der MWA (Mystery Writers of America) University. Er lebt mit seiner Familie auf Long Island.

Die Jesse-Stone-Krimis

1) Night Passage (1997, „Das dunkle Paradies“)
2) Trouble in Paradise (1998, „Terror auf Stiles Island“)
3) Death in Paradise (2001, „Die Tote in Paradise“)
4) Stone Cold (2003, „Eiskalt“)
5) Sea Change (2006, „Tod im Hafen“)
6) High Profile (2007, „Mord im Showbiz“)
7) Stranger in Paradise (2008, „Der Killer kehrt zurück“)
8) Night and Day (2009, „Verfolgt in Paradise“)
9) Split Image (2010; „Doppeltes Spiel“)
10) Killing the Blues (M. Brandman)
11) Fool Me Twice (M. Brandman)
12) Damned If You Do (M. Brandman)
13) Blind Spot (von Reed Farrel Coleman)
14) The Devil Wins (von Reed Farrel Coleman)
15) Debt to Pay (von Reed Farrel Coleman)
16) The Hangman’s Sonnet (von Reed Farrel Coleman)
17) Colorblind (von Reed Farrel Coleman)
18) The Bitterest Pill (von Reed Farrel Coleman)
19) Fool’s Paradise (von Mike Lupica)
20) Stone’s Throw (2021, von Mike Lupica) ISBN 9780525542117
21) Fallout (2022, von Mike Lupica) ISBN 9780593540275
22) Buried Secrets (February 4, 2025; von Christopher Farnsworth) ISBN 978-0593544778
23) Big Shot (2026, von Christopher Farnsworth)

Handlung

Jesse Stone, der Polizeichef von Paradise, Massachusetts, kommt nach einer Abwesenheit von zwei Monaten zurück in seine Polizeiwache. Seine Stellvertreterin Molly Crane ist echt froh, dass er nun sein Amt wieder aufnimmt, denn sie ist genervt von dem ständigen Zwang, irgendwas entscheiden zu müssen. Ein junger Mann namens Cole Layton sitzt in seiner Zelle wegen Randalierens. Er lässt ihn mit einer Ermahnung wieder auf freien Fuß, doch er dürfte ihn schon bald wiedersehen, denn es gibt eine enge Verbindung zwischen den beiden…

Aus der Nachstadt Swan Harbor kommt eine Bitte um Amtshilfe: Eine junge schwarze Studentin namens Felicity Wileford ist beim Joggen am Strand krankenhausreif geprügelt und vergewaltigt worden. Stecken die Neonazi-Biker dahinter, die in letzter Zeit die Gegend unsicher machen, oder kommen noch andere Täter infrage? Der Fall erinnert einen der lokalen Cops an Jesses allerersten Fall in Paradise, nachdem er vor Jahren in L.A. aus der Mordkommission wegen Alkoholismus ausgeschieden und nach Massachusetts umgesiedelt war. Auf dem Bauch der Joggerin wie auch damals steht ein Wort geschrieben: „Schlampe“. Felicity muss ins künstliche Koma versetzt werden, so schwer sind ihre Verletzungen.

Die SS kommt

Flugblätter tauchen in Briefkästen und an Autos auf. Sie stammen von einer rassistisch-faschistischen Bewegung, die sich „Saviors of Society“, abgekürzt „SS“, nennt. Der Text versetzt viele Bürger in Sorge und Angst. Als auch noch vor dem Haus, in dem früher Jesse gelebt hat, ein Kreuz verbrannt wird, lebt die Familie, die jetzt darin wohnt, in Angst und Schrecken. Diesmal kann Jesse eine Tatsache nicht mehr übersehen: Die Angriffe richten sich alle gegen Menschen, die in gemischtrassigen Beziehungen leben.

Jesse greift Cole Slayton erneut auf, als dieser scheinbar ziellos an der Küste wandert. In Wahrheit hat er dort am Fuß einer Klippe sein Nachtlager aufgeschlagen. Jesse verhilft ihm zu einem trockenen und warmen Nachtquartier in einem Hotel. Und er bittet Daisy, die lesbische Besitzerin des Gull-Restaurants, Cole einen Job zu geben, damit er seine Miete bezahlen kann.

Die Hierarchie der SS

Auch Jesses Mitarbeiter Luther „Suit“ Simpson ist wegen der Flugblätter besorgt, zusammen legen sie sich nachts auf die Lauer. Sie brauchen nicht lange zu warten, bis der Verteiler aufkreuzt. Es handelt sich um Miguel, der offensichtlich ein Wanderarbeiter aus Swan Harbor ist. Er bezeichnet seinen namenlosen Auftraggeber als „Soldaten“. Doch über dessen Vorgesetzten weiß er nichts. Diese Spur ergibt sich erst, als es der Rechtsmedizin gelingt, einen Fingerabdruck auf den Flugblättern zu identifizieren: Ein vielfach vorbestrafter Amerikaner namens Leon Oskar Vandercamp ist offenbar der Anführer der geheimnisvollen „SS“, die sich als „Retter der Gesellschaft“ ausgibt: der Oberst, der den „Soldaten“ geschickt hat.

Die Falle der SS

Jesse befürchtet, dass Vandercamp noch schlimmere Taten wird ausführen lassen. Tatsächlich ist es aber Jesses afroamerikanische Mitarbeiterin Alisha Davis, die in eine von Vandercamp gestellte Falle tappt: Am Ende einer wilden Verfolgungsjagd durch die Stadt stellt sie einen jungen Mann, den sie als Zeugen für die Kreuzverbrennung sucht. Als der junge Kerl eine Waffe zu ziehen scheint, feuert sie ihr gesamtes Magazin auf ihn ab und trifft ihn drei Mal tödlich. Die herbeigerufenen Kollegen sind jedoch nicht imstande, seine Waffe zu finden. Hat Alisha also einen wehrlosen Mann durchlöchert? Und der herbeigerufene Jesse erfährt alsbald die Identität des Getöteten: Er ist einer der Söhne von Vandercamp.

Schachfiguren

Die Ermittlung wird Jesse Stone wegen Befangenheit sofort von der Staatspolizei von Massachusetts aus den Händen genommen. Officer Mary Weld würde ihn am liebsten nach Hause schicken, aber Jesse kümmert sich um die Seinen: Er vermittelt Alisha den Bostoner Staranwalt Marty Bernstein, einen aalglatten, aber kompetenten Porsche-Besitzer. Als schließlich Vandercamp selbst auf Jesses Polizeirevier auftaucht, um seinen Sohn zu identifizieren, fordert er „Gerechtigkeit“, so als habe er diese Rede schon lange einstudiert.

Jesses Sorge, dass Paradise sich binnen weniger Tage in ein politisches Kriegsgebiet verwandeln könnte, ist nur zu berechtigt, und seine Bürgermeisterin macht sich ernste Sorgen: Sie hat ihm geholfen, Alisha Davis einzustellen. Es dauert nur wenige Tage, bis nach der Reportermeute auch ein einflussreicher Bürgerrechtler in Jesses Polizeirevier tritt: „Reverend“ Sam Mahorn stellt nicht nur unangenehme Fragen, sondern auch Jesse Aufrichtigkeit infrage.

Als Jesse von einem Mexikaner aus Swan Harbor einen Tipp bekommt, weil Roberto verschwunden ist, beginnt sich Jesse ernsthaft zu fragen, wer es auf Paradise abgesehen hat – oder auf ihn persönlich…

Mein Eindruck

Reed Farrel Coleman, selbst ein erfahrener Krimi-Autor setzt Robert B. Parkers Jesse-Stone-Reihe fort. Dies ist sein fünfter Jesse-Stone-Roman. Er schreibt in einem für die Serie neuen Erzählstil. Schluss mit dem Telegrammstil der Hardboiled-Ära nach dem Vorbild Chandlers und Hammetts, nun kommt ein sanfterer, menschenfreundlicherer Erzählstil zum Zuge.

Coleman gewährt uns tiefe Einblicke in die Psyche, Erinnerung und Vergangenheit des Serienhelden, aber auch in die Seelen anderer Figuren. Vor allem aber verleiht er diesmal Stones neuem Lebensbereich Paradise eine historische Tiefe, die bisher völlig fehlte. Stone hat nach elf Jahren in Paradise Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen. Sein neuer Standpunkt rückt so manchen treuen Bürger in ein völlig neues Licht, und der Effekt ist nicht immer schmeichelhaft, ja sogar entlarvend. Coleman schürft tiefer als der Originalautor, wagt aber wie dieser einige Tabubrüche.

Die Faschisten

Dies wollen die rechtsgerichteten Faschisten um Vandercamp das Paradies übernehmen, um eine „rassisch reine“ Gsellschaft zu schaffen. Es ist genau das Programm der American Heritage Society, das Donald Trump in seiner zweiten Präsidentschaft eins zu eins umsetzt. Nun soll sich im Fall Paradise erweisen, dass dieses Programm funktioniert.

Alternative Methoden

Während Jesse Stone mit seinem alten Dämon, dem Alkoholismus, kämpft, wendet sich für ihn einiges zum Guten. So erweist sich etwa Cole Slayton als der Sohn seiner Jugendliebe Celine aus L.A. Weitere Pluspunkte sammelt Jesse bei seiner eigenen Ermittlung. Die ist zwar rechtlich nicht erlaubt, doch erweist sich Jesse als viel einfallsreicher. So gelingt es ihm, aus den Zeugenaussagen der verhängnisvollen Nacht, in der Davis einen scheinbar unbewaffneten Mann erschoss, herauszufinden, dass es noch einen weiteren Täter gegeben haben muss.

Wozu die Faschisten bereit sind, zeigt der Todesfall von Vandercamps Sohn: Er wurde von den eigenen Leuten erschossen, um einen Märtyrer zu schaffen. Dies zu begreifen, fällt allen Seiten außer den Tätern sehr schwer. Auch der inzwischen zum Todesfall gewordene Überfall auf Felicity Wileford ist eine inszenierte Gewalttat. Zu Jesses Bestürzung richtet sich dieser Fall gegen Paradise, also gegen ihn persönlich. Der lokale Cop hat ihn eine falsche Spur geführt.

Bezeichnend ist auch das Auftreten des lokalen Unternehmers, bei dem die Wanderarbeiter zu einem Hungerlohn angestellt sind: Er erweist sich als Unterstützer der SS, der zu allen Schandtaten bereit ist. Weil der Mann so viel Geld hat, fällt es dem Sheriff von Swan Harbor schwer, gegen ihn vorzugehen. Er muss eine Seite wählen, doch Jesse Stone überredet ihn, auf die richtige Seite zu wechseln. Man sieht, dass Polizeiarbeit direkte politische Auswirkungen hat.

Zwei Finali

Die Handlung verfügt über zwei herausragende Finale-Szenen, die mich atemlos zurückgelassen haben. Zuerst gerät Jesse Stone in eine Auseinandersetzung, aus der er schwer verletzt hervorgeht. Dennoch fällt ihm auf, dass die im historischen Versammlungshaus zusammengekommenen Glaubens- und Politikvertreter in höchster Lebensgefahr schweben könnten. Er schickt Luther Simpson los, der das Schlimmste verhindern kann, indem er die Leute in die Tunnel unter dem alten Haus umdirigiert: gute alte Underground Railroad! Gleich darauf zerfetzt eine SS-Bombe das Haus und legt es in Schutt und Asche.

Unterm Strich

Die Krimis um Polizeichef Jesse Stone sind für Krimifans in Neuengland schon zu einer Familienroman oder Streaming-Serie geworden. Stone ist ihr Mann vor Ort und seine Helfer sind wie eine Familie: Molly Crane als weiblicher Gegenpart und Luther „Suit“ Simpson wie ein zweiter Jesse.

Der neuenglische Leser, der sich an Parkers Stil in den Jesse Stone-Krimis gewöhnt hatte, muss sich seit der Weiterführung „Blind Spot“(Jesse Stone 13) mit einer ganzen Reihe von Tabubrüchen abfinden. Der Autor Coleman, der sich schon in einem Essay mit Stone als Figur auseinandergesetzt hatte, führt hier nämlich seinen eigenen Erzählstil ein, und das aus mehreren Gründen, die zwar einleuchtend, aber nicht weniger gewöhnungsbedürftig sind. In „Hangman’s Sonnet“ verliebt sich Jesse Stone in eine junge Frau namens Diana, doch der psychopathische Kerl, den er verfolgt, tötet sie vor Jesses Augen. Coleman schont den Leser in keinster Weise.

Wendung zum Besseren

Nach der Lektüre des vorliegenden fünften Bandes muss ich sagen, dass ich mit dem neuen Stil recht zufrieden bin. Der Autor zeichnet seine Figuren mit historischer und psychologischer Tiefe, setzt aber zugleich nicht mehr übermenschliche Kombinationsfähigkeiten beim Leser voraus. Das läuft auf eine Erschließung breiterer Leserschichten hinaus. Dies wiederum ist nötig, um heiße Eisen wie etwa den rassistischen „Rechtspopulismus“ bzw. Faschismus oder auch die Opioid-Krise (in „Bitterest Pill“) zur Sprache bringen zu können.

Man sieht also, dass sich im Jesse-Stone-Universum viel getan hat, und das zum Besseren. Die beiden Vorgängerbände der Serie, geschrieben von Michael Brandman waren zwar OK, aber nur so lala. Coleman liefert ein wesentlich größeres Kaliber ab, und sobald ich mich daran gewöhnt hatte, hoffte ich, dass er künftig die Serie fortführen würde. Auf „The Devil Wins“ sind bereits „Debt to Pay“, Blind Spot” und „The Hangman’s Sonnet“ gefolgt.

Mich jedenfalls hat „Colorblind“ von Anfang bis Ende überzeugt – das ist solide Thriller-Arbeit. Schade, dass es dieses Buch noch nicht auf Deutsch gibt.

Taschenbuch: 285 Seiten
O-Titel: Colorblind, 2017
ISBN 9780857302861

No Exit Press, by Oldcastle Book

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