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Huston, Charlie – Prügelknabe, Der

Was dabei herauskommt, wenn Drehbuchautoren anfangen Romane zu schreiben, sieht man an „Der Prügelknabe“ von Charlie Huston: Ein Buch, das verständlicherweise wie geschaffen dafür ist, verfilmt zu werden. Kein Wunder also, dass die Filmrechte zu Hustons Debütroman schon verkauft sind. Doch funktioniert das Buch als eigenständiger Roman genauso gut wie als möglicher Film? Oder ist es als Vorlage für den Film eher Mittel zum Zweck?

„Der Prügelknabe“ erzählt die Geschichte des sympathischen Verlierers Hank. Nachdem er aufgrund einer schweren Sportverletzung seine hoffnungsvolle Baseballkarriere an den Nagel hängen musste, zog es Hank von Kalifornien nach New York. Dort führt er ein bescheidenes Leben als dem Alkohol arg zugeneigter Barkeeper. Alles in allem eine unspektakuläre Existenz – bis er eines Abends in der Bar von zwei Russen übel zugerichtet wird. Einige Tage später wird Hank aus dem Krankenhaus entlassen, um eine Niere ärmer und den (zugegebenermaßen vom Arzt aufgezwungenen) Vorsatz, sein Leben zu ändern, reicher.

Hank soll dem Alkohol entsagen (was ihm verständlicherweise nicht ganz leicht fällt) und sich von den Strapazen der Nieren-OP erholen, doch Ruhe ist ihm nicht vergönnt. Kaum ist er zu Hause angekommen, tauchen die beiden Russen wieder auf. Dass die Sache offenbar mit seinem Nachbarn Russ zu tun hat, dämmert ihm, als dessen Bude von einem Haufen Gangstertypen durchwühlt wird.

Russ ist derweil untergetaucht, während Hank brav dessen Katze hütet. Was Hank allerdings nicht ahnt, ist, dass in dem Käfig, mit dem Russ vor seiner Abreise vor Hanks Tür stand, nicht nur die Katze war, sondern auch ein ominöser Schlüssel. Und auf den sind plötzlich eine Menge Leute scharf. Für Hank ist dies der Beginn einer Odyssee kreuz und quer durch den New Yorker Großstadtdschungel. Skrupellose Gangster, korrupte Polizisten, die Russenmafia – alle sind sie hinter Hank her, und der lernt in den folgenden Tagen eine Menge einzustecken …

„Der Prügelknabe“ ist eine recht rasante Geschichte. Ohne viel Umschweife steigt Huston direkt ins Geschehen ein, keine Worte werden verschwendet, keine Zeile ist zu viel. Hustons Erzählstil ist ein Stil der schnellen Schnitte und der sprunghaften Überleitungen. Kurze, knappe Sätze, schnelle Wortwechsel und ein hohes Erzähltempo sind die markantesten Eigenschaften des Romans. Huston wechselt schnell von einer Szene zur nächsten, springt, ohne den Leser lang und breit darauf vorzubereiten, in der Handlung vor und zurück und dokumentiert die Dialoge als rasante Wortwechsel, bei denen man als Leser schon mal hier und da nachdenken muss, wer jetzt eigentlich was gesagt hat.

Das wirkt manchmal ein wenig abgehackt und hastig, zum Handlungsbogen passt dieser direkte Erzählstil aber dennoch sehr gut. Huston konzentriert sich auf Hanks Odyssee durch New York. Es gibt nur eine Handvoll Nebenfiguren, deren Charakterisierung aber stets oberflächlich bleibt. Umso detaillierter setzt Huston sich mit seinem Protagonisten auseinander. Hank, der auf den ersten Seiten noch einen etwas asozialen und unsympathischen Eindruck hinterlässt, wächst dem Leser schnell ans Herz. Hank wirkt natürlich und glaubwürdig. Eine gescheiterte Existenz, die irgendwie ihre Lebensziele aus den Augen verloren hat, so wie Menschen nun einmal Ziele aus den Augen verlieren. Er hatte Pech und hat sich zwischenzeitlich damit abgefunden. So wie Hank sind viele Menschen, und das macht ihn als Protagonisten so großartig. Man kann sich in ihn hineinversetzen, findet sich vielleicht sogar ein Stück weit in ihm wieder. Das lässt die Geschichte authentisch wirken und fesselt den Leser in Anbetracht der Dinge, die Hank erlebt, umso mehr.

Zugegeben, was Hank in „Der Prügelknabe“ so alles erlebt, das mag auf Ottonormalverbraucher doch recht unwahrscheinlich wirken. Es ist nun einmal eine actiongeladene Thrillergeschichte, authentische Hauptfigur hin oder her. Hank hat alle möglichen Leute an den Hacken, von denen der eine skrupelloser als der andere ist. Aber Hank bleibt in all diesem Trubel so erfrischend normal, dass die Geschichte auf ihre Art wirklich glaubwürdig erscheint. Er glaubt anfangs beharrlich an ein Missverständnis, glaubt, dass sich schon alles aufklären wird, wenn Russ erst einmal zurückkommt und er glaubt, dass er den Gangstern schon irgendwie begreiflich machen kann, dass er der Falsche ist, doch so einfach ist das natürlich nicht. Hank hat niemanden, den er um Hilfe bitten kann, und steht ziemlich allein vor dem ganzen Schlammassel.

Ein wenig naiv wirkt er, wie er, stets begleitet von Russ‘ Katze Bud (um deren Wohlergehen er sich permanent und geradezu rührend sorgt), durch die Geschichte stolpert. Dieser Umstand hat schon eine gewisse schwarzhumorige Seite, die auch an anderen Stellen des Romans gelegentlich wieder aufblitzt. So knallhart, wie die Geschichte verläuft, so komische Momente hat sie eben auch immer wieder mal, wenngleich der Humor dahinter eher ein unterschwelliger, indirekter ist.

Hank entwickelt sich innerhalb der Geschehnisse weiter, und auch das durchaus glaubwürdig. Zunehmend frustriert darüber, für alle nur der titelstiftende Prügelknabe zu sein und dementsprechend einstecken zu müssen, obwohl er sich das augenblicklich gesundheitlich gar nicht leisten kann, wird Hank mit der Zeit hart im Nehmen. Er beginnt das Spielchen mitzuspielen und entwickelt sich dabei zu einem durchaus ernst zu nehmenden Gegenspieler. Und dann wird das, was im Roman innerhalb weniger Tage passiert, richtig spannend und temporeich.

So rasant wie „Der Prügelknabe“ daherkommt, so blutig ist er teilweise auch. Das, was manche der Figuren an Kaltblütigkeit und Brutalität auffahren, ist nicht unbedingt für die zartesten Gemüter geeignet. Besonders im Gedächtnis bleiben da die Szenen, die mit Nähten und Wunden zu tun haben, denn einmal ist es Hank, der durch eher unsachgemäßes Fädenziehen an seiner OP-Wunde zum Reden gebracht werden soll, ein anderes Mal ist es Hank, der mit Nadel und Faden versucht, Russ‘ Schädel zusammenzuflicken. Alles nicht unbedingt appetitlich in all seiner Deutlichkeit und Detailliertheit. Sehr deutlich ist Huston auch sprachlich. Es wird viel geflucht, der Ton ist derbe, teils vulgär – wie man es von einer echten New Yorker Gangstergeschichte nun einmal erwartet.

Im Klappentext fällt übrigens das gefährliche Wort |Kultroman|. Kultromane lassen sich natürlich nicht durch Klappentexte zu eben solchen machen, insofern bin ich bei dieser Vokabel immer äußerst skeptisch. Es werden allerhand Vergleiche gezogen (Tarantino, Hitchcock, „The Big Lebowski“, „Der Marathon-Mann“, „American Psycho“). Nicht alles zwangsläufig nachvollziehbar, aber die Zielgruppe lässt sich damit immerhin recht ordentlich einkreisen. Meine These ist eigentlich immer die, dass Bücher, auf denen Dinge wie |“der perfekte Kultroman“| stehen, niemals genau das werden können. Schließlich wird Kultstatus nur durch die Resonanz des Publikums erzeugt und nicht durch den Willen des Verlags. Kult geht die merkwürdigsten und unvorhersehbarsten Wege. Ob „Der Prügelknabe“ also jemals in irgendeiner Weise „Kultstatus“ erreichen wird, kann einzig und allein die Zeit zeigen.

Woran der Verlag aber ruhig noch einmal arbeiten dürfte, ist das Lektorat. „Der Prügelknabe“ enthält eine ganze Reihe nervtötender und überflüssiger Fehler, die eigentlich vor der Veröffentlichung ausgemerzt gehören. Da gibt es nicht nur Tippfehler (über die man eventuell noch hinwegsehen könnte), sondern durchaus auch mal Wortdreher und vertauschte Namen und das sind dann Fehler, die wirklich stören.

Ansonsten gibt es abschließend kaum Negatives festzuhalten. Charlie Huston ist ein rasantes, spannendes und ernst zu nehmendes Romandebüt gelungen, mit einem Protagonisten, der dem Leser schnell ans Herz wächst. Er skizziert eine intensive, nervenaufreibende Odyssee durch New York, die zu verfolgen bis zur letzten Seite Freude bereitet. Der sprunghafte, teils etwas abgehackte Erzählstil mit den rasanten Wortwechseln erfordert zwar eine gewisse Konzentration und mag hier und da etwas stören, passt aber gut zum Inhalt.

Wem „Der Prügelknabe“ gefallen hat, der darf sich obendrein auf zwei weitere Bücher um den sympathischen Verlierertypen Hank freuen, denn Huston hat die Geschichte als Trilogie geschrieben, deren zweiter Teil („Der Gejagte“) in diesem Monat in die Buchläden kommt.

Eugenides, Jeffrey – Air Mail

Spätestens seit Jeffrey Eugenides 2003 für seinen erstklassigen Roman [„Middlesex“ 916 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, ist er einer der großen Stars der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Ein großartiges Erzähltalent, das fesselnd seine Geschichten spinnt und Figuren aus dem Hut zaubert, die erfrischend normal und alltäglich sind.

In Romanform hat Eugenides sein Können bereits zweimal eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zum einen mit seinem Romandebüt „Die Selbstmord-Schwestern“, der Geschichte des Selbstmords der fünf Schwestern der amerikanischen Vorstadtfamilie Lisbon, zum anderen durch die Familiengeschichte des Hermaphroditen Cal/Callie in „Middlesex“. Beide Romane drehen sich um ähnliche Dinge. Normalitäten und Absurditäten in den weißen Vorstädten der amerikanischen Mittelschicht und gleichzeitig um die Zeit des Erwachsenwerdens, die schwierige Phase der Pubertät, des Erwachens der Sexualität, mit all den Irritationen und Kuriositäten, die dazugehören. Beide Romane sind Familiengeschichten der etwas anderen Art.

„Air Mail“ ist nun ein Werk, das sich von den beiden bekannten Veröffentlichungen des Autor einerseits fundamental unterscheidet, andererseits aber durchaus das Bild vervollständigt. „Air Mail“ vereint drei Erzählungen, deren zeitlicher Ursprung genau zwischen den beiden genannten Romanen liegt, zwei stammen aus dem Jahr 1997, die dritte wurde 1999 verfasst.

Nun ist das immer so eine Sache, von einem überaus erfolgreichen und vielgelobten Autor zu einem späteren Zeitpunkt frühere Werk auszugraben und zu veröffentlichen. Im Fall von Jonathan Franzen fand ich mit [„Die 27ste Stadt“ 1207 das Ergebnis eher weniger befriedigend. Oft werden die frühen Werke der heute so großartigen Autoren den Erwartungen nicht ganz gerecht. Doch bei „Air Mail“ ist diese Gefahr schon aufgrund des gänzlich anderen Erzählformats geringer. Als „Kurzstrecken-Erzähler“ ist Eugenides schließlich dem deutschen Leser bislang noch weitestgehend unbekannt.

_Air Mail (1997)_

Die erste Erzählung dreht sich um Mitchell, der gerade auf einer kleinen Insel im Golf von Siam auf einer Strohmatte in einer kleinen Hütte gegen die Ruhr ankämpft. Inspiriert durch die fernöstliche Mentalität, durch den Glauben an die Kraft des Geistes, versucht Mitchell die Ruhr durch eisernes Fasten kleinzukriegen. Fernab von zu Hause, in der Abgeschiedenheit seiner Hütte, bringt Mitchell all seine Gedanken über sich und den Lauf der Welt zu Papier – auf Luftpostpapier, in Form von Briefen, die er seinen Eltern schicken will, in der Hoffnung, dass sie ihn besser verstehen. Während Mitchell seinen Durchfall „wegfastet“, stapeln sich Briefe, die Mitchell nie abschicken wird.

„Air Mail“ ist eine recht sonderbare, aber gleichsam faszinierende Erzählung. Ein exotischer Schauplatz, an dem der Protagonist Mitchell nach einem Inhalt für sein Leben sucht. Der Kontakt zu den Eltern beschränkt sich auf ein Minimum. Sie sind enttäuscht von ihm, dass er die eigentlich geplante Europareise zu einer ausgedehnten Asienreise erweitert hat, mittlerweile seit einem halben Jahr fort ist und ihnen keinerlei Hoffnung auf eine baldige Rückkehr macht. Karriere, Studium und Familie stehen hinten an, solange Mitchell ohnehin nicht weiß, was er einmal machen will.

Fernab der Zivilisation beginnt Mitchell sich selbst zu erforschen, nach einem Sinn zu suchen. Die Ruhr sieht er da fast als eine Art Weg zur Erkenntnis. Er beginnt, sich von der Welt abzukapseln, während er gleichzeitig in dem Glauben ist, er würde sich ihr öffnen, sie endlich verstehen. Innere Erkenntnis und äußere Kommunikation stellen dabei gegenläufige Entwicklungen dar. Verfasste Briefe werden nicht mehr abgeschickt, sein Kumpel Larry versteht nicht recht, warum Mitchell nicht endlich Medikamente nimmt, statt weiter zu fasten, und als Mitchell nach vielen Tagen der Abgeschiedenheit in die Gemeinschaft am Strand zurückkehrt, hat er sich längst meilenweit von ihr entfernt.

Besonders das Ende der Geschichte ist merkwürdig und man steht als Leser etwas ratlos da. Doch irgendwie bleibt auch der Eindruck zurück, dass das Ende gar nicht so sehr das Entscheidende ist. Kern der Erzählung ist vielmehr der Gegensatz zwischen Innen- und Außenleben des Protagonisten.

_Die Bratenspritze (1999)_

„Die Bratenspritze“ ist eine Erzählung, die eine gänzlich andere Richtung einschlägt. Weniger nachdenklich stimmend, weniger sonderbar und weniger verkopft als „Air Mail“. Tomasina ist vierzig, hat alles erreicht, was man sich wünschen kann und einen Job als Produzentin der CBS Evening News, auf den andere nur neidisch sein können. Tomasina ist Single, hatte viele Liebschaften mit nicht wenigen Pannen und daraus resultierend immerhin auch schon eine Handvoll Abtreibungen. Doch mit vierzig beginnt allmählich die biologische Uhr zu ticken, auch für Tomasina. Sie will ein Kind, aber möglichst ohne Mann. Samenspende heißt das Zauberwort, und so lädt sie zu einer Art Befruchtungsparty, inklusive Samenspende, am Tag ihres mittels Basalthermometer ermittelten Eisprungs.

Rein erzählerisch spielt „Die Bratenspritze“ schon in der Liga, in der etwas später auch „Middlesex“ spielt. Bildhafte Vergleiche, die den Leser schmunzeln lassen, und lebhaft gezeichnete Figuren. „Die Bratenspritze“ ist letztendlich eine satirische Momentaufnahme à la „Sex and the City“. Eine Party zwecks Befruchtung der Gastgeberin, das ist für sich schon schräg genug, aber Eugenides lässt diese Party durchaus ernsthaft organisiert erscheinen – so wie man sich eine Party in der feinen New Yorker Gesellschaft der Besserverdienenden halt vorstellt, mit passendem Nippes und feinstem Champagner.

Der eigentliche Protagonist stolpert erst im Verlauf der Erzählung in die Geschichte, ganz unvermittelt und unerwartet platzt er mit einem |“An diesem Punkt sollte ich mich vielleicht vorstellen. Ich heiße Wally Mars.“| in das Geschehen. Wally ist die heimliche Hauptfigur. Ein abgelegter Liebhaber von Tomasina, dem die Rolle des unauffälligen Beobachters zufällt. Mit einem feinen Blick für das Absurde der Situation erzählt Wally die Geschichte, in der er selbst später noch eine maßgebliche Rolle spielen wird.

Eugenides zeigt sich hier von seiner unterhaltsamsten und ironischsten Seite. Während die anderen beiden Erzählungen vielfältigere und weniger leicht zu entschlüsselnde Emotionen transportieren, ist „Die Bratenspritze“ recht einfach gestrickte Unterhaltung, mit einem Blick für die teilweise absurden Züge der modernen Gesellschaft.

_Timesharing (1997)_

In der dritten Erzählung geht es mitten hinein in den tristen amerikanischen Alltag. Eine Vater-Sohn-Geschichte, die in Florida angesiedelt ist. Der Ich-Erzähler besucht seine Eltern, die in Florida gerade ein heruntergekommenes Motel in eine Goldgrube umzuwandeln versuchen. Timesharing heißt das Zauberwort. Die Zimmer werden mit Kochnischen ausgestattet und sollen möglichst längerfristig an zahlungskräftige Gäste vermietet werden.

„Timesharing“ ist einfach eine Momentaufnahme. Anfang und Ende bleiben ein wenig diffus. Eine Pointe, auf die alles hinausläuft, oder einen Höhepunkt gibt es in dem Sinne nicht. Es ist lediglich eine Zustandsbeschreibung des Lebens der Protagonisten und ihres Verhältnisses zueinander. Der Zustand des alten Motels geht dabei mehr oder weniger konform mit dem Zustand des Vaters, der mit brüchiger Gesundheit und stetig schwindender Kraft versucht, sein Lebenswerk zu vollenden. Der Sohn wirkt dabei nicht weniger müde, als es die Eltern sind. Unmotiviert verbringt er seine Zeit als Beobachter auf der Baustelle der Eltern, zieht abends durch die Kneipen und sieht sich nicht einmal dazu in der Lage, ein neues Paar Schuhe zu kaufen.

„Timesharing“ lässt den Leser mit einem merkwürdigen Gefühl zurück. Die Geschichte wirkt irgendwie melancholisch und traurig und die Figuren in all ihrer Müdigkeit und Zerbrechlichkeit erschreckend menschlich. Dadurch, dass die Geschichte keinen klar definierten Handlungsrahmen aufweist, bleibt sie einerseits etwas distanziert und befremdlich, trifft einen andererseits aber auch ins Mark, weil sie authentisch und lebensecht wirkt.

Ergänzt werden die drei Erzählungen durch ein Nachwort des ARD-Literaturkritikers Dennis Scheck. Es wirkt teilweise etwas hochtrabend, wie Scheck sich von Fremdwort zu Fremdwort hangelt, unterstreicht inhaltlich aber die Bedeutung, die Eugenides in der modernen Literatur hat. Möglich auch, dass das Nachwort noch ein wenig als Füllwerk dienen soll, um das Büchlein auf immerhin knappe 120 Seiten zu bringen. In meinen Augen wäre es nicht unbedingt nötig gewesen.

Die drei Erzählungen in „Air Mail“ sind Lektüre für knapp etwas mehr als eine Stunde, dennoch fordern sie eine gewisse darüber hinausgehende Aufmerksamkeit. Ein wenig bedauerlich ist es schon, einen Eugenides so schnell aus der Hand legen zu müssen, und so bleibt ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit zurück. Aber die deutet weniger auf einen qualitativen Mangel hin, sondern mehr darauf, dass man als Leser einfach schon verwöhnt ist, wenn man vorher „Middlesex“ gelesen hat. Eugenides bleibt auch nach der Veröffentlichung von „Air Mail“ ein großartiges Erzähltalent, das man im Auge behalten sollte.

Gaiman, Neil – American Gods

Neil Gaiman wandelt mit einer gewissen Vielseitigkeit durch die literarische Welt. Bekannt wurde Gaiman zunächst einmal als Autor der vielgepriesenen Comicreihe „Sandman“ (immerhin die meistausgezeichnete Comicreihe der Welt), bevor er sich als Romanautor einen Namen machte. Sein Roman „Niemalsland“ wurde als TV-Serie von der BBC verfilmt, das Buch „Ein gutes Omen“ schrieb er in Zusammenarbeit mit Terry Pratchett und seinem guten Freund Douglas Adams widmete er die Biographie [„Keine Panik!“. 1363 Über Gaimans literarische Vorlieben sagt dieser grobe Überblick schon so einiges aus. Ein wenig fantastisch, ein wenig skurril und auf seine ganz eigene Art immer liebenswürdig erzählt.

In dieser Tradition steht auch „American Gods“. Keine blütenreine Fantasy, sondern ein Mix mit vielerlei Einflüssen. Eine Prise Thriller, ein Schuss Fantastik, abgeschmeckt mit einer großen Portion Roadmovie. Das ist die Mischung, die Neil Gaiman mit „American Gods“ auffährt.

Erzählt wird die Geschichte von Shadow, dem nach drei Jahren Gefängnis die Haftentlassung bevorsteht. Das Leben in Freiheit hatte er sich allerdings ein wenig anders vorgestellt, denn am Tag vor der Entlassung verunglückt Ehefrau Laura mit seinem besten Freund Robbie auf etwas pikante Art tödlich. Shadow steht damit vor dem Nichts. Mit Robbies Dahinscheiden ist auch Shadows Job als Fitnesstrainer in dessen Fitnessstudio weg und mit Lauras Tod scheint ihn ganz allgemein das Glück verlassen zu haben.

Unter recht merkwürdigen Umständen trifft er in dieser Situation einen älteren Herrn namens Wednesday, der ihm recht aufdringlich einen Job als Chauffeur anbietet. Mangels Alternativen und nach anfänglichem Widerwillen nimmt Shadow das Angebot an und stürzt sich damit in eine Reihe ereignisreicher Monate. Wednesday entpuppt sich als der mythische Allvater Odin, der zusammen mit Shadow kreuz und quer durch die USA zieht, um hinter sich die dort versammelten Gottheiten für eine letzte Schlacht zu gewinnen. Gegner sind die modernen Götter des Fernsehens, des Internets und der Technologie. Ein Sturm zieht herauf, der alles zu verändern droht und mittendrin in dieser Götterdämmerung steht Shadow …

In epischem Format breitet Gaiman die Geschichte vor dem Leser aus. Gemächlich baut er die Handlung auf, führt Götter und Hauptfiguren ein und webt einen kontinuierlich aufwärts strebenden Spannungsbogen. „American Gods“ ist schon ein recht dicker Brocken geworden, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat.

Besonders intensiv begleitet Gaiman seinen Protagonisten Shadow, angefangen von dessen letzten Stunden in Haft. Shadow ist eine durchweg sympathische Hauptfigur, die auf den ersten Blick manchmal ein wenig naiv wirken mag, sich aber bei näherer Betrachtung durch eine gewisse Bauernschläue auszeichnet. Shadow ist gerissener und cleverer, als man es ihm im ersten Moment zutraut, behält aber den ganzen Roman über ein recht hohes Maß an Bodenständigkeit, was in Anbetracht seiner Erlebnisse beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.

So kurios die Dinge auch sein mögen, die Shadow passieren, er nimmt das alles relativ gelassen. Und Shadow hat so einiges mehr an merkwürdige Dingen zu ertragen. Immer wieder wird er von sonderbaren Träumen geplagt, deren Bedeutung sich erst im Laufe des Buches herauskristallisiert. Seine verschiedene Ehefrau Laura stattet ihm, etwas blass um die Nase zwar, aber scheinbar lebend, bzw. zumindest nicht so richtig tot, immer wieder Besuche ab. Seine Arbeit für den Allvater Odin mag da schon fast als natürlich erscheinen.

Zusammen mit Wednesday begibt sich Shadow auf eine Reise kreuz und quer durch die USA, auf der er seltsame Erfahrungen sammelt und den sonderbarsten Gottheiten begegnet. Das Auftreten der unterschiedlichsten Gottheiten ist dabei eine unverkennbare Stärke des Romans. Gaiman zeigt, wie diese Gottheiten, die aus allen Teilen der Welt stammen, in der realen Welt leben. Von der Menschheit nicht mehr beachtet und nicht mehr geehrt, fristen sie teilweise ein recht trostloses, geradezu menschliches Dasein in den USA. So haust beispielsweise der slawische Gott Tschernobog als pensionierter Schlachthofangestellter in Chicago, während die hübsche Bilquis, ehemals die Königin von Saba, sich ihren Unterhalt als Prostituierte verdient. Gaiman skizziert allerlei skurrile Portraits, so dass die Zeichnung der Figuren in jedem Fall ihren Reiz hat. Gaiman wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy und bekannten Mythen und spinnt daraus eine ganz eigene, reizvolle Geschichte. Damit der Leser zwischen den vielen Figuren und Gottheiten nicht den Überblick verliert, gibt es obendrein am Ende ein Götter-Glossar.

Die Handlung selbst überzeugt dabei je nach Ausprägung unterschiedlich. Gaiman arbeitet sich durch einen recht komplexen Stoff, mit vielen Haupt- und Nebenfiguren, und manchmal erweckt der Roman ein wenig den Anschein, als würde er sich dabei verzetteln. Immer wieder schiebt er neue Handlungsstränge ein, setzt zu Zwischenspielen an und lässt seine Figuren auf unterschiedlichen Handlungsebenen agieren. Das hat zwar durchaus seinen Reiz, ist aber manchmal etwas viel des Guten, denn nicht immer wird dabei die Geschichte so konsequent weitergeführt, wie man es sich als Leser wünschen möchte.

So schleichen sich an manchen Stellen kleinere Längen ein, die Spannung sackt ein wenig ab und die Atmosphäre wirkt nicht mehr so dicht, wie sie noch an anderen Stellen erscheint. Auch die Auflösung überzeugt dabei nicht bis ins Detail. Ein wenig plötzlich kommt das Ende und in Teilen auch ein wenig aus dem Nichts. Dadurch bedingt, legt man das Buch am Ende zwar insgesamt zufrieden beiseite, aber dennoch auch mit einem leichten Stirnrunzeln. Die letzten Zweifel an der logischen Zusammenführung der Handlung kann das Ende leider nicht ausräumen, wenngleich es sich durchaus spannend liest.

Deutliche Stärken zeigt der Roman allerdings immer dann, wenn er sich auf Shadow als Hauptfigur konzentriert. Shadows Teil der Reise, den er alleine bestreitet, sein zeitweiliges Leben in der Abgeschiedenheit des eingeschneiten Ortes Lakeside, seine Zeit im Hause der Bestattungsunternehmer Ibis und Jacquel (ihrerseits ebenfalls in die Jahre gekommene Gottheiten) – das sind die Teile der Geschichte, die erzählerisch am meisten zu überzeugen vermögen.

Ansonsten ist „American Gods“ ein Roman, in den sich obendrein sehr viel hineininterpretieren lässt. Der Kontrast zwischen den Göttern der alten Welt und ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit und den neuen Göttern der Menschheit hat einen gewissen Reiz. Fortschritt trifft auf alte Mythen, Tradition trifft auf Moderne und das alles in einem Land, das für sich genommen noch recht jung ist und welches das Bewusstsein für die eigenen Wurzeln oft vermissen lässt. In diesem Aspekt steckt schon ein gewisser Symbolcharakter, der sich sicherlich auch als Kritik verstehen lässt. Gaimans Roman bekommt durch solche Denkansätze mehr Tiefe, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Doch darüber hinaus weiß Gaiman obendrein zu unterhalten. Es ist die Mischung, die den Reiz ausmacht. Einerseits die mythenbehafteten Figuren, in einer Welt´, der es zunehmend an Mythen mangelt, andererseits aber auch eine sehr ausgeprägte Ader für das Skurrile und mitunter Komische. „American Gods“ ist eine durchaus vielschichtige Mischung, die man mit Vergnügen lesen mag. Gaimans Stil liest sich ganz locker runter, seine Art zu erzählen ist für sich genommen schon recht unterhaltsam, auch wenn die Übersetzung in manchen Punkten ein wenig steif wirken mag.

Kurzum, „American Gods“ ist sicherlich Neil Gaimans bislang komplexester Roman. Schön zu lesen, unterhaltsam und mit zunehmender Seitenzahl obendrein spannend, ist „American Gods“ ein Roman, der ganz eigenwillig auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy, Mythologie, Roadmovie und Thriller wandelt. Gaiman fährt skurrile und liebenswerte Figuren auf, erzählt schräge und komische Geschichten und fasst das Ganze in einen größtenteils überzeugenden Rahmen. Dass die Handlung manchmal ruhig etwas straffer und logisch nachvollziehbarer verlaufen dürfte und die Geschichte nicht immer mit der letzten Konsequenz erzählt wird, sind zwar kleine Schönheitsfehler, aber mit denen lässt es sich durchaus leben.

http://www.neilgaiman.de/

Murakami, Haruki – Tony Takitani

„Tony Takitani“ ist ein Buch, das aus dem Rahmen fällt. Recht großformatig geschnitten, etwas minimalistisch gestaltet und für den Zyniker geradezu papierverschwenderisch gedruckt. Gerade mal 64 Seiten, gerade mal etwa eine Dreiviertelstunde Lesevergnügen, für die der geneigte Leser satte 16 €uro auf den Tisch zu legen hat. Ganz haarspalterisch betrachtet, sind das 25 Cent pro Buchseite oder gar 35 Cent pro Leseminute. Manch einer wird angesichts dieses Preis-/Lesezeitverhältnisses nicht nur schlucken, sondern gleich die Finger von dem Buch lassen. Das ist einerseits verständlich, andererseits ob der Inhalte aber auch bedauerlich, denn „Tony Takitani“ ist ein waschechter Murakami, mit all seinen Qualitäten – nur eben in Kleinstausgabe.

Dass Haruki Murakami ein Ausnahmeautor ist, haben viele Leser schon längst begriffen. Er hat ein außerordentlich vielfältiges Repertoire, hangelt sich von Genre zu Genre, erzählt Romantisches, Visionäres und Fantastische, versteht sich aber auch auf ernste Themen mit dokumentarischem Charakter. Alles auf gleichsam hohem Niveau. Schon mit „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ oder mit „Der Elefant verschwindet“ hat Murakami bewiesen, dass er auch über die kurze Distanz zu erzählen und den Leser gefangen zu nehmen weiß. Mit „Tony Takitani“ liefert er einen weiteren Beleg dafür.

Darüber hinaus ist „Tony Takitani“ der erste Murakami, der nicht nur als Buch Eindruck machen kann, sondern auch als Kinoverfilmung. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung des Buches läuft auch der gleichnamige Film in den deutschen Programmkinos an, wenngleich auch sicherlich eher vor kleinem Publikum. Das mag wieder den Zyniker auf den Plan rufen, der einwirft, dass er für einen Buchkauf auch zweimal ins Kino gehen könnte, so teuer wie das Buch ist. Das lässt sich alles nicht leugnen und ob ein so hoher Preis für lediglich eine Novelle gerechtfertigt ist, da darf man sicherlich so manchen Zweifel hegen.

Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen der eigentliche Inhalt des Buches. Murakami erzählt wieder einmal eine Geschichte über Zwischenmenschliches – über Nähe und Isolation, über Liebe, Einsamkeit und Verlust.

Tony Takitani, Hauptfigur und Namensgeber der Geschichte, hat keine leichte Kindheit. Die Mutter stirbt drei Tage nach seiner Geburt, das Verhältnis zum Vater bleibt stets ein wenig unterkühlt. Obendrein wird er aufgrund seines amerikanischen Vornamens gehänselt, teilweise gar als vermeintliches Mischlingskind verspottet. Dabei ist Tony Takitani ein waschechter Japaner.

Seine Kindheit verläuft ansonsten unspektakulär. Der Vater verdient seine Brötchen als Jazz-Posaunist, während Sohnemann seine Leidenschaft für das Zeichnen entdeckt. Ganz akkurat und geradezu detailbesessen führt Tony Takitani den Bleistift. Dass er später technischer Zeichner wird, verwundert niemanden. Ähnlich akkurat und leidenschaftslos wie seine Zeichnungen, verläuft auch Tony Takitanis Privatleben. Er ist allein und lebt recht unspektakulär vor sich hin. Tony Takitani hat sich mit seiner Einsamkeit abgefunden.

Das ändert sich, als er eines Tages eine junge Frau kennen lernt. Schnell erkennt er, dass diese Frau für ihn etwas Besonderes bedeutet. Er verliebt sich in sie – eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Die beiden heiraten und Tony Takitani findet in seinem Leben endlich das, was ihm immer gefehlt hat. Der einzige Schatten, der dieses Glück trübt, ist die Besessenheit, mit der Tony Takitanis Frau Kleider kauft. Als ihre Kleider irgendwann schon ein ganzes Zimmer in Tony Takitanis Haus füllen, bittet er seine Frau, sich doch vielleicht ein bisschen zu mäßigen. Sie zeigt sich einsichtig, weiß um das Krankhafte ihrer Leidenschaft und verspricht sich zu bessern.

Kurz darauf verunglückt die Frau tödlich mit dem Auto. Tony Takitani ist untröstlich. Der Anblick des Zimmers voller Kleider ist ihm unerträglich. Er versucht all die abgestreiften Hüllen, die seine Frau zurückgelassen hat, wieder mit Leben zu füllen und macht sich auf die Suche nach einer 1,61 m großen Frau mit Kleidergröße 34 …

„Tony Takitani“ ist eine Geschichte, die einem so schnell nicht aus dem Kopf geht und somit ein typischer Murakami. Murakami ist ein Meister im Erzählen von Geschichten, die einem nicht aus dem Kopf gehen und so steht „Tony Takitani“ in bester Murakami-Tradition.

Schon nach wenigen Zeilen nimmt uns die Geschichte gefangen. Haruki Murakamis Erzählstil wird von einer merkwürdigen Poesie getragen. Seine Geschichten haben etwas Magisches, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann. Er fesselt, durch seine Art zu erzählen, durch seinen bedachten Umgang mit Worten, durch die Bilder, die er im Kopf erzeugt. Seine Erzählweise, die auf den ersten Blick ein wenig kühl und distanziert wirken mag, ist bei näherer Betrachtung das genaue Gegenteil: eindringlich und emotionsgeladen – aber eben auf ihre ganz eigene Art und immer wieder auch ein wenig verstörend.

Auch „Tony Takitani“ zeigt deutlich diese Mischung. Auf der einen Seite Distanz und deutlich spürbare Kühle. Auf der anderen Seite ein tiefer Einblick in Emotionales. Tony Takitanis Frau bekommt nicht einmal einen Namen, man erfährt nichts über ihr Leben, weiß nur um ihre Kleiderbesessenheit. Ihr Tod kommt plötzlich und unerwartet, geradezu beiläufig und gerade darin liegt bei Murakami so viel Wucht: |“In diesem Moment raste ein Lastwagen, der noch bei Gelb über die Kreuzung fahren wollte, mit voller Geschwindigkeit in ihren Renault Cinque. Ihr blieb nicht einmal Zeit, etwas zu spüren.“|

Tony Takitani ist fortan wieder allein. Und trotz der Kürze der gesamten Geschichte kann man sehr gut mit ihm fühlen. Diesmal erwischt die Einsamkeit ihn eiskalt. Isoliert steht er da, während das Leben vor seiner Tür weiterzieht und er scheint unfähig, daran teilzuhaben. Einsamkeit war ihm von früherer Zeit so vertraut und doch ist sie ihm so neu. Murakami schafft es mit ganz einfachen Mitteln, mit so wenigen Worten, dies einfühlsam zu vermitteln.

Es sind Erzählelemente, die recht typisch für Murakami sind. Liebe und Einsamkeit, Verlust und Isolation spielen oft eine Rolle in seinen Erzählungen und dennoch zeigt „Tony Takitani“ noch eine eigene Spielart. Unstrichen wird diese auch durch die Aufmachung des Buches. „Tony Takitani“ ist in zweifacher Hinsicht ein Kunstwerk – literarisch und visuell.

Das Buch mit dem dicken, schlichten Pappeinband ist angereichert mit Bildern aus der Verfilmung von Jun Ichikawa. Bilder, die schon einen recht guten Eindruck vermitteln und Lust auf den Film machen. Bilder, die all die Emotionen widerspiegeln, die auch Murakami auf erzählerische Art vermittelt. Entfärbt und in schlichtem, kühlem Blaugrau gehalten, erzeugen die Bilder ein absolut stimmiges Bild. € 16,- für eine 64-seitige Novelle mögen schon sehr teuer sein, aber zweifelsohne bekommt man dafür auch ein ungewöhnliches Buch geboten.

Haruki Murakami beweist mit „Tony Takitani“ einmal mehr auf eindrucksvolle, nachhaltig beeindruckende Art, dass er ein Meister des Erzählens ist. Man denkt auch nach dem Ende der Erzählung immer wieder an Tony Takitani zurück. So leidenschaftslos sein Leben auch wirken mag, er ist dennoch eine Figur, die einem immer wieder in den Sinn springt, aber das haben Murakami-Figuren auch irgendwie so an sich. Ein Murakami zieht nicht spurlos an einem vorbei – auch dieser nicht. Ein Autor, der Eindruck macht und eine Erzählung, die im Gedächtnis haften bleibt.

Murakami-Fans werden so auch weiterhin daran festhalten, den Nobelpreis für ihren Star zu fordern. Oder, wie ich es einst in einer Kundenrezension des Online-Buch-Giganten |Amazon| las: „Sie haben noch nie einen Murakami gelesen? Sie Glücklicher. Dann haben Sie das Beste ja noch vor sich.“

DBC Pierre – Jesus von Texas

Eigentlich hätte DBC Pierre ein Buch wie „Jesus von Texas“ gar nicht nötig gehabt. Wozu sich Geschichten ausdenken, wenn man eine Vita wie dieser Mann hat? Angeschossen, hoch verschuldet, ehemals drogen- und spielsüchtig, nach einem Unfall mit chirurgisch wiederhergestelltem Gesicht und Stationen als Filmemacher, Schatzjäger, Schmuggler und Grafiker. Zweifelsohne hätte eine Autobiographie hier ihren Reiz. Doch auch „Jesus von Texas“ hat seinen Reiz und dafür hat der Autor nicht ohne Grund 2003 den Booker-Preis verliehen bekommen.

_Shit happened_

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Jungstedt, Mari – Näher als du denkst

Seit der schwedische Autor Henning Mankell seinen Erfolgskommissar Kurt Wallander außer Dienst gestellt hat, ist so mancher Freund des so genannten „Schwedenkrimis“ auf der Suche nach einem Ersatz(anti)helden. Wallander hinterlässt nun einmal eine ziemlich große Lücke. Eine recht hoffnungsvolle Vertreterin des gleichen Genres ist die Schwedin Mari Jungstedt. Doch auch ihr ermittelnder Kommissar Anders Knutas ist kein Wallander-Ersatz. Das ist trotzdem kein Grund zur völligen Resignation, denn Knutas, den sie in ihrem mittlerweile zweiten Krimi „Näher als du denkst“ an die Spitze ihres Ermittlerteams stellt, macht keine allzu schlechte Figur.

Handlungsort von Jungstedts Krimiromanen ist das beschauliche Gotland vor der Küste Schwedens. Es ist November, der trostloseste und düsterste Monat des Jahres, als die Leiche von Henry Dahlström gefunden wird. Dahlström war ein stadtbekannter Säufer, der sich früher einmal als erfolgreicher Fotograf verdingt hatte, bis er dem Alkohol verfiel. Nun wird er mit eingeschlagenem Schädel in seiner Dunkelkammer gefunden. Ein Streit unter Alkoholikern? Oder steckt mehr hinter dem Mord?

Wenig später verschwindet die 14-jährige Fanny spurlos. Nicht nur Kommissar Anders Knutas muss sich mit seinem Team nun die Frage nach einem Zusammenhang zwischen beiden Fällen stellen. Auch der Journalist Johan Berg, der als Lokalreporter für das Fernsehen nach Gotland reist, stellt sich diese Frage. Berg kann mit seiner Arbeit ein wenig zum Voranschreiten der Ermittlungen beitragen, doch in welche Richtung sich die Ermittlungen entwickeln, ahnt auch Anders Knutas erst zu spät. Und plötzlich wird die Situation für den Kommissar brenzlig …

Das vollmundige Lob der |Hörzu| im Klappentext stimmt hoffnungsvoll. „Ein echter Schwedenkrimi: spannend, hart und doch einfühlsam“, heißt es dort. Das kann man größtenteils durchaus so stehen lassen, auch wenn diese Art der Lobpreisung bei näherer Betrachtung ein wenig dick aufgetragen erscheint. Dennoch, es ist ein solider Krimi, den Mari Jungstedt abgeliefert hat. Spannung ist da garantiert.

Obwohl mir die Kenntnis ihres ersten Romans „Den du nicht siehst“ fehlt, ist es offensichtlich, dass Jungstedt ihre beiden Romane als sich fortsetzende Reihe aufbaut. Immer wieder nimmt sie Bezug auf Ereignisse, die vor den im Buch geschilderten liegen. Der Fall des ersten Romans findet hier und da immer mal wieder Erwähnung und auch die Figuren weisen eindeutig eine sich fortentwickelnde Geschichte auf. Da kann es durchaus ratsam sein, vor der Lektüre von „Näher als du denkst“ zum Erstlingswerk zu greifen, zumindest, wenn man sich die Spannung erhalten will. All denjenigen, die Mankells Wallander-Romane in der falschen Reihenfolge gelesen haben, dürfte diese Problematik bekannt vorkommen.

Der Romanaufbau hat es durchaus in sich. Jungstedt entwickelt viele Figuren und wechselt immer wieder die Perspektive. Das ergibt eine teils recht sprunghafte Erzählweise, bei der man zu Anfang erst einmal im Geiste die Figuren sortieren muss, zeigt aber auch sehr deutlich, dass Jungstedt ihre Charaktere sehr wichtig nimmt. Sie legt ein deutliches Gewicht auf zwischenmenschliche Dinge. Der eigentliche Fall wird dadurch immer mal wieder an den Rand gedrängt.

Besonders ausführlich wird der Journalist Johan Berg beleuchtet. Berg wird zwischendurch mehr oder weniger zur heimlichen Hauptfigur. Jungstedt legt zum Teil ein deutliches Gewicht auf die Arbeit der Presse in dem Fall, was kein Wunder ist, denn schließlich kann sie als Journalistin und Nachrichtensprecherin für das schwedische Fernsehen hier Erfahrungen aus erster Hand einfließen lassen. An der Authentizität des Geschilderten gibt es also gerade mit Blick auf die Pressearbeit keinen Zweifel, so dass der Roman eine durchweg glaubwürdige Note erhält.

Besonders intensiv betrachtet Jungstedt das Verhältnis zwischen Johan Berg und der Gotländerin Emma. Zwischen den beiden besteht eine schon im Vorgängerroman entstandene, reichlich verzwickte Liebesgeschichte, der sich Jungstedt sehr ausführlich widmet. Im Vergleich dazu kommt die eigentliche Hauptfigur Anders Knutas schon fast ein bisschen zu kurz. Knutas ist ein Mann mittleren Alters von ausgeglichenem Gemüt, pfeiferauchend und mit Familiensinn und somit ein ziemlicher Kontrast zum schwedischen Vorzeigekommissar Wallander.

Am Ende ist es dann allerdings der Spannungsaufbau, der unter der Sprunghaftigkeit der Erzählperspektiven ein wenig leidet. Man möchte als Leser am liebsten nur noch den weiteren Verlauf des Falls verfolgen, wird von Jungstedts Perspektivenwechseln aber immer wieder davon weggezerrt. Gerade in den Momenten, wo die Spannung drauf und dran ist, ihren Höhepunkt zu erreichen, sorgen die Perspektivenwechsel immer wieder für zwischenzeitliche radikale Spannungsabfälle.

Dabei baut Jungstedt den Roman ansonsten durchaus atmosphärisch auf. Sie erzeugt Stimmungen, macht die Gefühle der Protagonisten greifbar, baut ihre Figuren glaubwürdig auf und lässt vor dem Auge des Betrachters das kalte, ungemütliche Gotland im November aufleben. Die Atmosphäre ist dicht und mit steigender Seitenzahl wird auch die Spannung immer greifbarer. Jungstedts Erzählweise wirkt routiniert und gefällig, so dass sich das Buch recht flott und flüssig durchlesen lässt, sticht aus der Masse der Kriminalromane aber auch nicht sonderlich hervor.

Wenn man am Ende des Buches dann zurückblickt, fällt einem auf, dass der Fall an sich gar nicht so komplex ausfällt. Die eigentliche Kriminalgeschichte nimmt halt nur einen Teil des Buches ein, und so kann es logischerweise auch keine ganz so ausführlichen und komplexen Schilderungen der Ermittlungen geben. Die Spannung wird ganz gemächlich aufgebaut, was aber durchaus seinen Reiz hat. Auch die Auflösung des Falls ergibt sich fast aus dem Nichts, ohne von langer Hand herbeigeführt zu werden, und mag für den routinierten Krimileser nicht sonderlich überraschend sein.

Ob das nun positiv ist oder nicht, lässt sich schwer definieren und hängt gänzlich vom Blickwinkel des Lesers ab. Während dem einen der eigentliche Kriminalfall zu kurz kommen wird, wird der andere Jungstedts einfühlsame Erzählweise loben, ihren Blick für die Figuren und die Art, wie sie diese auch in ihrer weiteren Entwicklung verfolgt. Damit haben sicherlich beide Gruppen Recht. Betrachtet man „Näher als du denkst“ als Teil einer Krimireihe, so lässt sich dieser Balanceakt zwischen Figurenbetrachtung und Kriminalgeschichte durchaus positiv bewerten, denn so bekommen die Figuren eben mit jedem weiteren Roman mehr Tiefe. Das ist eben auch dann positiv zu sehen, wenn man bedenkt, dass charakterliche Entwicklungen in vielen Krimis oft zu kurz kommen. Und so gesehen, ist „Näher als du denkst“ dann sicherlich auch ein Roman, der nicht nur speziell Krimileser anspricht, sondern auch eine Leserschaft, die sonst eher auf allgemeine Belletristik festgelegt ist.

Kurzum: Mari Jungstedt hat mit „Näher als du denkst“ ein durchaus interessantes Stück Kriminalliteratur abgeliefert. Sie nimmt sich viel Zeit, um ihre Figuren zu entwickeln, Spannung aufzubauen und eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Sie wechselt stetig die Perspektive und gibt der Geschichte dadurch mehr Tiefe, während sie mit fortschreitender Seitenzahl dadurch allerdings auch den Spannungsbogen immer wieder unterbricht. Das trübt am Ende ein wenig die Freude, dennoch bleibt „Näher als du denkst“ als durchaus solide Krimikost im Gedächtnis.

Calvo Poyato, José – Geheimnis der Schwarzen Bibel, Das

Eine Geschichte, die einem alten Menschheitswunsch nachjagt. Ein Geheimnis, das über Jahrhunderte gehütet wurde. Ein rätselhaftes Buch, das ein mysteriöses Geheimnis trägt, das die Weltordnung bedroht. Das sind die vielversprechenden Zutaten des spanischen Bestsellers „Das Geheimnis der Schwarzen Bibel“.

Die Geschichte beginnt im 15. Jahrhundert in Toledo. Ein Fremder betritt den Laden des Amtschreibers und Buchhändlers Santiago Díaz und verkauft ihm ein Buch mit einem sonderbaren Messingeinband. Wenig später wird der Fremde ermordet aufgefunden. Santiago Díaz ahnt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Tod und dem Buch besteht und stellt zusammen mit Freunden Nachforschungen an. Wenig später ist auch der Buchhändler tot. Doch einem Freund gelingt es, das Buch zu verstecken und sein Geheimnis zu entschlüsseln: Es enthält eine hochkomplizierte Anleitung, die erklärt, wie sich aus einfachem Blei reinstes Gold herstellen lässt.

Das Geheimnis wird innerhalb der Familie weitergereicht, von einer Generation zur nächsten, bis im 17. Jahrhundert die Inquisition darauf aufmerksam wird. Die Familie wird zum Tode verurteilt, doch das Buch bleibt verschollen, bis es fünf Jahrhunderte später bei den Bauarbeiten zu einer Tiefgarage in Toledo wieder auftaucht. Ein spektakulärer Fund, auf den schon bald Geheimdienste und Mafia aufmerksam werden. Jeder jagt dem Buch hinterher und einige sind sogar bereit, dafür über Leichen zu gehen …

Die Rahmenhandlung klingt zunächst ausgesprochen vielversprechend und scheint alle Zutaten zu enthalten, die es für einen spannenden Roman braucht. Ein näherer Blick relativiert das Ganze dann allerdings schon wieder ein wenig. Ein Aspekt, der im ersten Moment noch recht reizvoll erscheint, nämlich das Ausdehnen der Handlung über mehrere Jahrhunderte, sorgt in der Praxis für einen etwas unangenehmen Nebeneffekt. Es gibt haufenweise Figuren, die sich über unterschiedliche Handlungsebenen verteilen.

Drei verschiedene Epochen mit jeweils unterschiedlichen Handelnden, da entsteht natürlich leider auch kaum eine Bindung zwischen Figuren und Leser, auch wenn sich mit Blick auf die Zeitebenen durchaus ein Schwerpunkt ausmachen lässt. Der größte Teil der Geschichte spielt in der Gegenwart, Handlungen aus der Vergangenheit werden eher in Form von ausgiebigen Rückblenden eingeschoben. Dennoch bleiben die unterschiedlichen Handlungsebenen auch eine leichte Schwäche. Bevor man die Figuren richtig kennen lernt, ist die Handlung auch schon eine Epoche weitergewandert, die vermeintliche Hauptfigur aus dem Blickfeld des Lesers verschwunden. Das geht ein wenig zu Lasten der Spannung, denn mit den Figuren mitfiebern kann man auf diese Art nicht so sehr, wie es bei einem richtigen Spannungsroman vielleicht sein sollte.

Der Reiz des Buches liegt sicherlich in seiner Thematik. Man kann sich durchaus lebhaft vorstellen, was passieren würde, wenn irgendwo auf der Welt eine Anleitung auftauchen würde, mit deren Hilfe sich (ohne teure und energiefressende Druck-Hitze-Apparaturen) aus Blei Gold herstellen ließe. Es geht letztendlich um einen der Kernpunkte der Alchimie und José Calvo Poyato spinnt daraus eine Geschichte, die (mal abgesehen von der Möglichkeit, Blei wirklich zu Gold werden zu lassen) gar nicht so unwahrscheinlich klingt.

Er setzt nicht auf übertriebene Action, sondern inszeniert seinen Plot so, dass man sich vorstellen kann, dass die Verhaltsweisen der Figuren und die Entwicklung der Geschichte durchaus im Rahmen des Möglichen liegen. Weder Handlung noch Figuren wirken überzeichnet. Dem entspricht auch die Auflösung der Geschichte. Der ganz große Knalleffekt bleibt aus, aber eben zugunsten eines durchaus zufriedenstellenden und glaubwürdigen Endes.

Dennoch gibt der Plot auch Anlass zur Kritik. Insgesamt wirkt die Geschichte, bzw. wirken die Verwicklungen zwischen den Figuren ein wenig zu einfach gestrickt. Dementsprechend gibt es nur wenige Überraschungen. Einiges lässt sich vorausahnen und man vermutet fast schon intuitiv, wer welche Rolle spielt. Das geht natürlich ebenfalls ein wenig zu Lasten der Spannung. Es ist durchaus interessant, den Verlauf der Geschichte weiterzuverfolgen, aber dennoch fehlt mit Blick auf den Spannungsbogen immer wieder das gewisse Etwas. Durch die vielen Figuren und die Einfachheit des Plots steckt man als Leser letztlich nicht so tief in der Geschichte drin. Man ist nicht so sehr gefesselt, auch wenn es gerade zum Ende hin natürlich schon recht spannend wird.

Sprachlich betrachtet, wird „Das Geheimnis der Schwarzen Bibel“ durchaus den Erwartungen gerecht. Es zählt eindeutig in die Kategorie leichter Unterhaltungsliteratur und lässt sich flott durchlesen. José Calvo Poyato hält es in sprachlichen Dingen recht einfach und nüchtern, zeigt aber eine Schwäche im Schildern von Emotionen. Manchmal neigt er zu einer etwas abgedroschenen Bildhaftigkeit und zu etwas übertriebenen Steigerungen, wenn seine Figuren emotional werden. Aber da der Roman ziemlich eindeutig zur Kost der leichten Sorte zu zählen ist, kann man das halbwegs verschmerzen.

Was ebenfalls hier und da negativ auffällt, ist die Übersetzung. Alchimie und Alchemie sind zwar zwei zulässige Schreibweisen für ein und dasselbe Wort, aber deswegen sollte man sie vielleicht trotzdem nicht abwechselnd benutzen. Auch Redewendungen wie „eilig herbeigeeilt“ klingen etwas ungeschickt. Glücklicherweise tauchen solche stilistischen Patzer nicht allzu oft auf.

Was bleibt, ist ein durchwachsener Eindruck. Einerseits eine interessante und vielversprechende Thematik, die Neugier weckt, andererseits ein Buch, das die Erwartungen nicht in jeder Hinsicht erfüllen kann. Der Spannungsbogen fällt stellenweise etwas flach aus und durch die zeitlichen Sprünge und die wechselnden Figuren fehlt es ein wenig an Potenzial zum Mitfiebern.

José Calvo Poyatos Geschichte liest sich zwar locker und das Weiterspinnen der Gedanken und Fragen, die das Buch aufwirft, hat durchaus seinen Reiz, dennoch fehlt aufgrund der Einfachheit des Plots irgendwie das gewisse Etwas. Alles in allem ein solider Unterhaltungsroman. Für Freunde historisch angehauchter Spannungsliteratur sicherlich nicht ohne Reiz, dennoch kein Buch, das man so ohne weiteres reinen Gewissens uneingeschränkt empfehlen mag. Ein Buch, das man gerne lesen kann, aber ganz bestimmt nicht unbedingt lesen muss.

Sharpe, Matthew – Eine amerikanische Familie

Die Geschichte, die hinter der Veröffentlichung von „Eine amerikanische Familie“ steckt, mutet schon ein wenig fantastisch an. Mehr als 20 Verlage ließen Matthew Sharpe mit seinem Roman abblitzen, bis der winzige New Yorker Verlag |Soft Skull Press| Sharpes Buch druckte. Ein paar Wochen später war der Roman ein absoluter Renner. Die Kritiker zeigten sich begeistert und mittlerweile sind sogar schon die Filmrechte verkauft. Die Pressestimmen auf dem Klappentext verheißen Gutes. Vollmundiges Lob und ein Vergleich mit Jonathan Franzens [„Die Korrekturen“ 1233 lassen Freunde moderner amerikanischer Literatur in jedem Fall aufhorchen.

Eine schrecklich nette Familie: Chris Schwartz ist 17, ein vorlauter Klugscheißer aus Bellwether, Connecticut, der zu allem und jedem einen blöden Spruch macht. Seine ein Jahr jüngere Schwester Cathy unternimmt trotz der jüdischen Wurzeln ihrer Familie gerade einen Ausflug zum Katholizismus, getreu ihrem Vorbild der jüdischen Märtyrerin Edith Stein folgend. Pubertät wäre mit Blick auf beide ein passendes Stichwort. Vater Bernard schafft es, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, kaum noch ohne seine tägliche Dosis Prozac aus dem Bett, während seine mittlerweile von ihm geschiedene Frau Lila nach Kalifornien durchgebrannt ist und dort Karriere macht. Alles ganz normal bei den Schwartzens.

Das ändert sich schon bald, als Bernard versehentlich seine Antidepressiva vertauscht. Er erleidet einen Schlaganfall und fällt ins Koma. Als Bernard aufwacht, ist die Welt nicht mehr dieselbe. Sohn und Tochter geleiten den Vater zurück in den Alltag, der sich für Bernard erschreckend befremdlich gestaltet. Er muss die einfachsten Handgriffe neu erlernen und tut sich mit so ziemlich allem schwer. Doch besonders Chris kümmert sich rührend, seine Schulbildung opfernd, um Bernards Training. Zusammen schlingert die Familie durch so manche kleinere und größere Katastrophe. Die Sprösslinge werden stetig, und ohne es recht zu merken, erwachsen und während sie ihre Unschuld verlieren, hat Vater Bernard sie wieder zurückgewonnen …

„Eine amerikanische Familie“ erzählt genau das, was der Titel vermuten lässt: Die Geschichte einer amerikanischen Familie. Etwas plump mag der deutsche Titel wirken (im Original heißt es: „The Sleeping Father“), aber er trifft’s halt. Sharpes Roman ist in erster Linie eine Familiengeschichte. Und die kommt so komisch und schräg daher, dass das Lesen von der ersten bis zur letzten Seite durchweg Spaß macht.

Den Reiz des Romans macht dabei seine Mischung aus. Auf der einen Seite irrsinnig witzig, auf der anderen Seite alles andere als eine Komödie. Sharpe gelingt der Drahtseilakt zwischen Dramatik und Witz, zwischen Humor und Melancholie. Verglichen wird „Eine amerikanische Familie“ im Verlagstext mit Sam Mendes‘ Film „American Beauty“, in dem Kevin Spacey als von Midlife-Crisis geplagter Vorstädter die Höhen und Tiefen eines sich wandelnden Familienlebens durchmacht. Ganz grob kann man den Vergleich im Grunde stehen lassen. Im Detail gibt es natürlich zu viele Unterschiede, um beides wirklich in einen Topf werfen zu können, aber die Stimmung ist in beiden Werken durchaus ähnlich. Diese Mischung aus Witz und Melancholie und dieser alles durchdringende Sarkasmus, der im Endeffekt dazu dient, den wahren Kern des heutigen Amerika zu entblößen, ist beiden Werken gemein.

Doch während die Figuren in „American Beauty“ so erschreckend normal wirken, präsentiert sich bei „Eine amerikanische Familie“ manches etwas überspitzt, was Sharpe aber andererseits durch seine feinfühlige Erzählweise kompensiert. Mag einiges, wie zum Beispiel die Entführung des Vaters zu Thanksgiving aus dem Krankenhaus oder Chris‘ „Make-up-Aktion“ am Krankenbett des schlafenden Vaters, noch so überzogen anmuten, so zeigt Sharpe dennoch, dass er ein Herz für seine Figuren hat. Wirken gerade Chris und sein Kumpel Frank auch noch so bitterböse und beleidigend auf andere Menschen, so erkennt man doch stets ihren guten Kern. Sharpe schafft es, trotz der scheinbar eher oberflächlich angelegten Erzählung, trotz des Humors, der zwischen den Zeilen funkelt, ein überraschend tiefes Bild seiner Figuren zu skizzieren. Er entblättert auf so lockere und unterhaltsame Art ihr Innerstes, dass es ein wahrer Genuss ist.

Sharpe wechselt immer wieder die Perspektive, verfolgt mal Bernard oder Lila, meistens aber Cathy und Chris. Und so ist „Eine amerikanische Familie“ eben auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, über die ersten sexuellen Erfahrungen und über die Tücken der Pubertät. Besonders Chris macht mit der Zeit einen Reifungsprozess durch und ist die heimliche Hauptfigur in Sharpes Roman. Seine bösartige Ironie trägt er wie eine Art Schutzschild vor sich her und wenn jemand auf die gleiche Art kontert, wie er zuvor ausgeteilt hat, ist er verunsichert. Er wandelt etwas haltlos durch seinen Alltag und weckt hier und da Erinnerungen an Holden Caulfield in J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“.

Was an der Lektüre so erfrischend ist, ist Sharpes Stil. Voller Wortwitz, raffiniert erzählt, bissig und gespickt mit Pointen, ist „Eine amerikanische Familie“ ein Roman, der Spaß macht. Sharpes Stil ist eine Stil der schnellen Schnitte. Er braucht keine großen Worte, um in der Handlung von einer Figur zur nächsten überzuleiten. Die Wechsel vollziehen sich wie von selbst. Temporeich treibt er die Geschichte voran, von der der Leser vielleicht manches vorausahnen mag, es dann aber in Sharpes Worten präsentiert zu bekommen, macht diese Transparenz wieder wett.

Was in meinen Augen ein wenig hinkt, ist der Vergleich mit Jonathan Franzens [„Die Korrekturen“. 1233 Beiden gemein ist zwar eine genaue Beobachtungsgabe mit einem Blick für kleine unscheinbare Details und beide haben sicherlich einen Sinn für Humor der eher trockenen Sorte, dennoch ist Sharpes Werk irgendwie lauter und frecher. Wenn Jonathan Franzen Pop ist, dann ist Matthew Sharpe Rock.

Thronend über all dem steht Sharpes Sinn für Sarkasmus und Ironie. |“Egal, ob einem die Ironie entging oder nicht, der Ironie entging man auf keinen Fall.“| (S. 150) Das scheint nicht nur Chris‘ Einstellung widerzuspiegeln, sondern lässt sich auch auf Matthew Sharpes Art des Erzählens übertragen. Daraus ergibt sich ein unnachahmlich heiterer Erzählstil, der richtig Lust darauf macht, mehr von Sharpe zu lesen. Doch da wird der deutsche Leser sich wohl noch gedulden müssen, bis mehr von Sharpe auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erscheint bzw. auf die amerikanischen Originalausgaben umsatteln müssen. Da gäbe es dann immerhin noch einen Band mit Kurzgeschichten („Stories from the Tube“, 1998) und den Roman „Nothing is Terrible“ (2000).

Bleibt unterm Strich der Eindruck eines wirklich lohnenswerten Buches für Freunde moderner und vor allem unterhaltsamer amerikanischer Literatur. Wer die Stimmung und die Art des Films „American Beauty“ mochte, der wird auch an Matthew Sharpes „Eine amerikanische Familie“ seine wahre Freude haben. Ein Buch, das gewitzt, schräg, herzerfrischend, herrlich ironisch und ganz nebenbei so feinfühlig und mit einem ausgeprägten Sinn für Melancholie daherkommt, dass man es mitsamt seiner Figuren einfach mögen muss. Für mich eines der bislang unterhaltsamsten Bücher dieses Jahres. Bitte mehr davon!

Franzen, Jonathan – 27ste Stadt, Die

Spätestens seit dem grandiosen Erfolg seines 2001 mit dem |National Book Award| prämierten Romans [„Die Korrekturen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1233 ist Jonathan Franzen in fast aller Munde. Wann immer es um moderne amerikanische Literatur geht, wird Franzen gerne als Vergleich bemüht, wirkt er doch gleichermaßen lesevergnügen- wie umsatzversprechend. Umsatzversprechend erschien es dem |Rowohlt|-Verlag offensichtlich auch, nach dem Verkaufsschlager „Die Korrekturen“ einmal ganz tief in der Schublade zu wühlen und die Druckmaschinen mit Franzens Erstling von 1988 zu füttern. Zwischen beiden Werken liegen schon allein zeitlich Welten und inwiefern den „Korrekturen“-begeisterten Leser eine sozusagen „Olle Kamelle“ wie „Die 27ste Stadt“ vom Hocker zu hauen vermag (oder vielleicht auch nicht), soll sich im Folgenden klären.

St. Louis, die ehemals so blühende Metropole im Mittleren Westen, ist zum Zeitpunkt der Geschichte Mitte der Achtziger eine stagnierende Stadt. Stand sie früher noch auf Rang 4 der wichtigsten US-Städte, so ist sie zwischenzeitlich auf einen mageren 27. Platz abgesackt. Der Glanz früherer Tage ist verschwunden und die Stadt erreicht aufgrund der begrenzten Fläche ihre Wachstumsgrenze. In dieser Zeit erhält St. Louis einen neuen Polizeichef: S. Jammu – eine Frau und obendrein eine Inderin. Wirkt sie zunächst jung, sympathisch und zerbrechlich, so entpuppt sie sich schon bald als harter Brocken. Gnadenlos räumt sie in den Problemstadtteilen auf und bewirkt eine Senkung der Kriminalitätsrate.

Doch sonderbarerweise taucht etwa gleichzeitig eine nicht minder sonderbare Terrorgruppe auf. Bomben explodieren, Schüsse fallen, die Gewalt greift um sich, doch Jammu, als strahlender Stern am Polizeihimmel von St. Louis, ist stets Herrin der Lage. Wer sich hinter dem Terror verbirgt, bleibt den Bürgern von St. Louis unklar.

Auch das Leben der Familie Probst macht in dieser Zeit eine Reihe merkwürdiger Veränderungen durch. Tochter Luisa geht plötzlich eigene Wege, für Familienvater Martin Probst brechen harte Zeiten an. Dabei hat er als Vorsitzender des Wachstumsvereins von St. Louis und großer Bauunternehmer stets großes Ansehen genossen. Schließlich hat Probst den „Arch“, das Wahrzeichen von St. Louis, erbaut. Mit der Zeit beginnt die heile Welt der Vorzeigefamilie Probst zu bröckeln.

Gibt es zwischen dem Terror und dem Zerfall der Familie einen Zusammenhang? Martin mag das nicht so recht glauben, während Sam Norris, sein sturköpfiger Freund aus dem Wachstumsverein, eine groß angelegte Verschwörung vermutet – genau genommen eine indische Verschwörung …

Die Erwartungen an „Die 27ste Stadt“ konnten eigentlich nur zu hoch sein, nachdem Franzen mit den „Korrekturen“ so zu begeistern wusste. Sein ausgefeiltes Portrait des Zerfalls einer amerikanischen Familie ist sicherlich ein Glanzpunkt am Buchmarkt der letzten Jahre. Die Euphorie ist damit also berechtigt. Wenn dann aber vom gleichen Autor ein Buch hervorgekramt wird, das bereits mehr als 15 Jahre auf den Buckel hat, sollte man mit hochgesteckten Erwartungen lieber vorsichtig sein, denn wer vorher „Die Korrekturen“ gelesen hat, der hat in gewissem Sinne schon die Sahne abgelöffelt.

Was bleibt, ist dennoch mehr als kalter Kaffee, aber eben ohne Sahne. „Die 27ste Stadt“ lässt Franzens großes Talent zwar immer wieder aufblitzen, hat aber dennoch nicht durchgängig Klasse genug, um auf ganzer Linie zu überzeugen. Die Ansätze dessen, was Franzen auch gerade mit Blick auf „Die Korrekturen“ so brillant gemacht hat, sind zwar erkennbar, das Buch damit sicherlich für Franzen-Fans interessanter Stoff, dennoch fehlt am Ende das gewisse Etwas, das man vielleicht auch deswegen vermisst, weil man aus der Rückschau eben weiß, dass er es Jahre später viel besser machen wird.

Ein wenig wirkt „Die 27ste Stadt“ wie ein Roman, der nicht so recht weiß, was er will. Die Komposition verheißt Großes, keine Frage, aber man wird dabei das Gefühl nicht los, dass Franzen sich damit etwas verschätzt. Ein ehrgeiziges Buch hat er geschaffen, das Kritik am Zerfall der amerikanischen Gesellschaft übt, im Großen, sprich auf sozialer Ebene, wie im Kleinen, anhand der Familie Probst geschildert. Während im Vordergrund der Handlung wirtschaftlicher Aufschwung den Beginn einer neuen Epoche für St. Louis verheißt, verfallen im Hintergrund die moralischen Werte. Aufstieg und Zerfall gehen Hand in Hand, was als Grundkomponente des Romans absolut überzeugend wirkt.

Auch der Mikrokosmos der Familie Probst, den Franzen sehr detailliert beobachtet, genau genommen nicht nur beobachtet, sondern richtig gehend seziert, bleibt als Stärke im Gedächtnis. Franzen zeigt damit, was er auch Jahre später in den „Korrekturen“ besonders überzeugend anzulegen weiß: Das mikroskopisch genaue Portrait einer Familie.

Der Kern also überzeugt auch schon in Franzens Erstlingswerk, was aber hier und da Kopfschmerzen verursacht, ist der Rahmen. Weiß die „indische Verschwörung“ als ironischer Seitenhieb anfangs noch zu überzeugen (schließlich heißen im Englischen sowohl Inder als auch Indianer |Indians|), so bleibt das ganze Verschwörungsgerüst über die kompletten 670 Seiten leider ziemlich wackelig.

Wer was warum macht, geht ein wenig unter. Die Motive bleiben genauso blass wie der Sinn und Zweck der Verschwörung, und man hat als Leser das Gefühl, man würde manchmal einen Schritt hinterherhängen. Die Verschwörungsgeschichte wirkt ein wenig so, als wäre sie einfach nur Mittel zum Zweck. Mit ihrer Hilfe vollzieht Franzen den moralischen Zerfall der Gesellschaft und im Speziellen das Zerbröckeln der heilen Strukturen der Familie Probst. Aber vielleicht wäre das anhand eines anderen Handlungsrahmens überzeugender gewesen.

Franzens Hang zum Darlegen sämtlicher Details lässt ihn manchmal über das Ziel hinausschießen. Es tauchen unheimlich viele Figuren auf, die Erzählung wird in unheimlich viele einzelne Erzählstränge aufgesplittet, dass es hier und da schon mal etwas undurchsichtig werden kann. Bei manchen Figuren weiß man auch am Ende nicht so ganz, warum sie eigentlich in die Handlung eingebracht wurden. Das Einordnen der Figuren in den Gesamtzusammenhang fällt etwas schwer, vor allem weil die Erzählebenen sehr unterschiedlich ausbalanciert sind. Es gibt Figuren, die tauchen nur in kurzen Zwischenblenden auf und es fällt nicht ganz leicht, dabei den Überblick nicht zu verlieren.

Auch der Spannungsbogen kommt nicht ohne Kritik davon. Sehr ausschweifend geht Franzen die Geschichte an, baut dabei zwar auch eine dichte Atmosphäre auf, kommt aber im Mittelteil des Buches manchmal nicht so recht von der Stelle. Die Geschichte stockt ein wenig, zieht dann aber zum Ende hin unheimlich das Tempo an. Im Finale überschlagen sich die Ereignisse derart, dass das Buch zu einem wahren „Pageturner“ wird, und erst in den letzten Kapiteln beginnt die Geschichte sich mit aller Macht so richtig zu entfalten. Die unterschwellige Thrillerthematik kommt erst hier vollständig zum Tragen. Über die ersten zwei Drittel des Buches wird sie mehr angedeutet, als dass sie wirklich durchbrechen kann.

Was Franzen auf erzählerischer Ebene an Punkten verliert, bügelt er sprachlich wieder aus. Auch Franzens Erstling zeichnet sich durch sprachliche Treffsicherheit aus. Wohlakzentuierte und stimmige Vergleiche erzeugen beim Lesen reichhaltige Bilder. Figuren und Handlungen wirken durch Franzens gekonntes Formulieren sehr lebendig. Der Roman hat vor allem auch auf sprachlicher Ebene eine faszinierende Tiefgründigkeit.

Unterm Strich stellt man das Buch nach der Lektüre mit eher gemischten Gefühlen zurück ins Bücherregal. Einerseits deutet sich schon in Franzens 88er Werk an, was er später in den „Korrekturen“ zur vollen Entfaltung bringt, andererseits wirkt „Die 27ste Stadt“ nicht immer ganz ausgereift. Franzen hat unverkennbare Stärken im sprachlichen Bereich, wie auch im mikroskopisch genauen Beobachten seiner Figuren und im Schildern der Mechanismen und Denkweisen innerhalb der Familie. Der Handlungsrahmen, in dem er sein Können entfaltet, wirkt allerdings etwas überzeichnet und unpassend. „Die 27ste Stadt“ ist somit sicherlich kein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte, aber Zeitverschwendung ist die Lektüre definitiv auch nicht.

Perry, Anne – Verschwörung von Whitechapel, Die

Herbst 1888, London – Whitechapel. Eine Stadt hält den Atem an. In den dunklen Gassen des |East End| werden innerhalb weniger Wochen fünf Frauen ermordet – alle auf brutale Weise verstümmelt. Die Polizei tappt im Dunkeln und streitet sich um Zuständigkeiten. Der Täter bleibt bis heute ein Phantom: Jack the Ripper.

Anne Perrys Roman reiht sich nicht in die lange Riege der Romane ein, die den Fall Jack the Ripper neu aufrollen und eine neue Tätertheorie bereit halten. Die Handlung ihres Romans „Die Verschwörung von Whitechapel“ setzt erst vier Jahre nach den grauenvollen Ereignissen im East End ein – und hat dennoch im Kern sehr viel mit Jack the Ripper zu tun.

Oberinspektor Pitt steht im Frühjahr 1892 als Zeuge im Fall Adinett vor Gericht. Bei näherer Betrachtung ein etwas sonderbarer Fall – ein Indizienprozess. John Adinett ist angeklagt, den angesehenen Hobby-Historiker Martin Fetters ermordet zu haben. Handfeste Beweise und ein Motiv gibt es nicht, aber die sehr stichhaltige und lückenlose Indizienkette, die Pitt vor Gericht darlegt, lässt keinen Zweifeln daran aufkommen, dass der nicht minder angesehene Ehrenmann Adinett des Mordes schuldig ist. Adinett wird folglich verurteilt und, nachdem auch das Berufungsverfahren scheitert, hingerichtet.

Für Oberinspektor Pitt fängt die Geschichte damit aber erst an. Es gibt offenbar einflussreiche, im Verborgenen agierende Persönlichkeiten, die diesen Prozessausgang gar nicht schätzen und auf Rache sinnen. Keine blutige Rache wohlgemerkt, aber Pitt bekommt die Folgen dennoch schmerzlich zu spüren. Er wird strafversetzt – nach Whitechapel, mitten in den brodelnden Krisenherd Londons. Anarchisten scheinen dort finstere Umsturzpläne zu schmieden, Gewalt und Elend stehen auf der Tagesordnung. Pitt soll dort undercover ermitteln, ist aber letztendlich eigentlich überflüssig, ganz offensichtlich elegant beiseite geschafft, und fristet ein einsames trostloses Dasein fernab seiner geliebten Familie.

Charlotte, Pitts Frau, kann und will sich mit dieser Ungerechtigkeit nicht so leicht abfinden. Da der Schlüssel zu Pitts Strafversetzung im Fall Adinett zu liegen scheint, macht sie sich auf die Suche nach den Gründen. Zusammen mit Fetters Witwe Juno versucht sie, Adinetts Tatmotiv zu ergründen. Auch Gracie, das resolute Hausmädchen der Pitts, bleibt nicht untätig und schaltet den befreundeten Wachtmeister Tellman ein, der zusammen mit Gracie Adinetts Aktivitäten kurz vor der Tat rekonstruiert. Ihre Wege kreuzen sich schon bald mit dem des Journalisten Remus, der offenbar in gleicher Sache ermittelt. Die Spur führt nach Whitechapel und was als Suche nach einem Mordmotiv Adinetts anfängt, gipfelt schon bald im Entblättern einer groß angelegten Verschwörung, die offenbar mit Jack the Ripper zu tun hat – mit kaum abschätzbaren Folgen …

Es gibt unzählige Theorien zum Thema Jack the Ripper, von denen die einen mehr, die anderen weniger plausibel erscheinen. 1976 erregte die Ripper-Theorie von Stephen Knight in England einiges Aufsehen. Er stellte die Taten als eine groß angelegte Verschwörung dar, deren Spur bis ins britische Königshaus reicht. Was auf den ersten Blick geradezu fantastisch erscheint, hat Knight so plausibel dargelegt und begründet, dass seine gut recherchierte Theorie immer noch als eine der stichhaltigsten gelten kann.

Unseriös wurde sie erst, als im Nachhinein plötzlich eine Hauptquelle von Knight ihre Aussagen dementierte (das Dementi wurde später übrigens noch einmal dementiert) und der Autor des Vorwortes einen wundersamen Gesinnungswandel durchmachte. Seine Worte, mit denen er Knights Arbeit zunächst vollmundig lobte, will er im Nachhinein auf einmal gar nicht mehr so gemeint haben. Die Sache stinkt zum Himmel und man bekommt das Gefühl, dass auch über hundert Jahre nach der Tat gewisse Kreise nicht an einer Aufklärung interessiert sind – was letztendlich wieder als Indiz für eine Bestätigung von Knights „königlicher“ Ripper-Theorie angesehen werden kann.

Doch was hat Anne Perrys Roman „Die Verschwörung von Whitechapel“ mit all dem zu tun? Eine ganze Menge. Perry stützt sich nämlich auf die von Knight aufgestellte Theorie. Auch bei ihr gibt es rund um Jack the Ripper eine weitläufige Verschwörung, mit den gleichen Drahtziehern. Diese Verschwörung entblättert sie in ihrem Roman schon fast beiläufig und längst nicht so detailliert und stichhaltig wie Knight. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der rein hypothetischen Frage danach, was wohl hätte passieren können, wenn Knights Theorie (angenommen natürlich, dass sie stimmt) schon damals in den gesellschaftlich und politisch unsicheren Jahren nach den Rippermorden bekannt geworden wäre. Eine Frage, die der Theorie eine weitere interessante Komponente hinzufügt und aus der Anne Perry einen durchweg spannenden Roman geschustert hat.

Der Zusammenhang zu den Ripper-Morden erschließt sich dem Leser, der nicht mit Knights Theorie vertraut ist, erst im späteren Verlauf des Romans. Am Beginn steht einfach nur die Suche nach dem Motiv, das Adinett dazu gebracht hat, Martin Fetters zu töten. Dass dabei vier Frauen die treibende Kraft hinter den Ermittlungen sind, mag in Anbetracht des viktorianischen Zeitalters zunächst etwas unglaubwürdig erscheinen, wird von Perry aber überzeugend gelöst. Alle beteiligten Frauen sind zwar durchaus selbstbewusst, aber bewegen sich dennoch im Rahmen dessen, was für Frauen ihrer Zeit realistisch erscheint. Sie suchen sich Unterstützung, beispielsweise durch den Gracie treu ergebenen Wachtmeister Tellman, und jeder nutzt zur Aufdeckung der Wahrheit die Mittel, die ihm standesgemäß zur Verfügung stehen.

Die Figuren bleiben dabei durchaus realistisch und Perry schafft es, jede einzelne von ihnen nachvollziehbar und mit einer gewissen Tiefe zu beleuchten. Ihre Verhaltensweisen bleiben durchweg glaubwürdig. Sie tun sich nicht als übermäßige Helden hervor und schaffen es dennoch, eine große Verschwörung aufzudecken, die so komplex ist, dass selbst der Leser sich schon konzentrieren muss, um im komplizierten Verschwörungsgewirr, das sich zum Ende hin auftut, nicht verloren zu gehen.

Das komplexe Gebilde der Zusammenhänge stellt auch im Grunde die einzige wirkliche Schwäche dar. Der Aufbau des Romans gelingt Anne Perry durchweg gut. Die Geschichte ist solide konstruiert und steigert in ihrem Verlauf beständig die Spannung. Zum Ende hin allerdings erscheint es so, als hätte sich dieses Konstrukt als fast schon zu komplex für den Romanumfang entpuppt. Die Auflösung erfolgt sehr schnell, nicht alles wird dabei vernünftig erklärt und nicht alle offenen Fragen werden beantwortet. Der Leser bleibt etwas unzufrieden zurück. Wie ich erst nach Beendigung des Buches festgestellt habe, wird die Geschichte im Nachfolgeroman weiterverfolgt („Feinde der Krone“; |Heyne| 2004, Taschenbuchausgabe August 2005). Insofern verwundert es nicht, dass das Ende in der Schwebe bleibt, dennoch wäre ein etwas vollständigerer Abschluss wünschenswert gewesen.

Insgesamt gibt es aus der Feder von Anne Perry mittlerweile 23 Romane um die Figur des Thomas Pitt und seine oftmals mitermittelnde Frau Charlotte. „Die Verschwörung von Whitechapel“ ist der 21. in dieser Reihe. Da er bislang auch der einzige ist, den ich gelesen habe, kann ich das Werk leider nicht in den Gesamtzusammenhang einordnen und vergleichend kritisieren. Offenbar bauen sie aber auch inhaltlich zum Teil aufeinander auf.

Schon allein sprachlich macht „Die Verschwörung von Whitechapel“ einen durchweg soliden und routinierten Eindruck. Perry weiß zu fesseln – und das bei einem Handlungsbogen, der fast ohne Action auskommt. Die Beschattungen des Journalisten Remus werden ebenso packend geschildert wie Pitts Leben im East End oder die Suche von Juno und Charlotte nach Hinweisen in der Bibliothek von Martin Fetters. Auch gesellschaftlich deckt der Roman ein sehr weit gefasstes Spektrum ab, denn im Verlauf des Buches startet auch Pitts angeheiratete Tante Vespasia einige Ermittlungen in der feinen Gesellschaft Londons.

Als eine der großen Stärken des Romans kann man die Beschreibungen festhalten. Perry schafft es nicht nur, ihre Figuren sehr lebendig zu zeichnen, sie skizziert auch einen teils recht tief schürfenden Einblick in das Leben im viktorianischen London. Die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den Soireen der feinen Gesellschaft und der Schufterei der Arbeiterschicht in den Zuckersiedereien in Spitalfields, die aufkeimende Unruhe im East End, die ärmlichen, erniedrigenden Zustände, unter denen die Bevölkerung dort zu leiden hat, das beschauliche Leben der Pitts in Bloomsbury – all das schildert Perry sehr eindringlich. Das London der Zeit wird vor dem Auge des Leser wieder belebt.

Alles in allem ist „Die Verschwörung von Whitechapel“ ein durchaus gelungener historischer Krimi mit einer komplexen, aber gut konstruierten Story, einem spannenden Handlungsverlauf, lebhaften Schilderungen des viktorianischen London, mitsamt der politischen und gesellschaftlichen Unruhe, die in der Luft liegt und Figuren, die größtenteils glaubwürdig erscheinen. Nur schade, dass das Ende ein wenig plötzlich und etwas schwammig daherkommt. So kommt man wohl nicht umhin, auch den nachfolgenden Roman noch zu lesen.

p.s.: Da Anne Perry auf die Tätertheorie zu Jack the Ripper nicht ganz so ausführlich eingeht, bietet es sich für den interessierten Leser an, einmal die Theorie bei Knight selbst nachzulesen. Es lohnt sich wirklich, man sollte aber des Englischen mächtig sein, weil es keine deutsche Ausgabe gibt: Stephen Knight: [„Jack the Ripper – The Final Solution“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/0586046526/powermetalde-21 Harper Collins, ISBN 0586046526.

Wer aufgeschlossen für Comics ist, findet diese Theorie auch noch einmal auf Deutsch als hervorragende und absolut empfehlenswerte s/w-Comic-Adaption, mit sehr ausführlichen Anhängen aufbereitet: Alan Moore, Eddie Campbell: [„From Hell“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3936068291/powermetalde-21 Speed Comics, ISBN 3936068291. Nach diesem Werk entstand auch die Verfilmung von Albert & Allen Hughes mit Johnny Depp und Heather Graham.

Herman Melville – Moby Dick

„Moby Dick“ ist ein Literaturklassiker. Und das, obwohl es bei der Erstveröffentlichung des Romans von Herman Melville 1851 nach einem Flop aussah. Als „trostloses Zeug, stumpfsinnig und öde“ und als eine „übel zusammengeschusterte Mischung aus Abenteuerroman und Tatsachenbericht“ wurde der Roman in Rezensionen gescholten. Und gilt dennoch heute als größtes Werk des Amerikaners. Melville selbst sah die damalige Kritik eher gelassen, war er sich doch von vorneherein darüber im Klaren, dass „Moby Dick“ eine literarische Gratwanderung darstellte. Und so verwundert der folgende Ausspruch von ihm wenig: „Es ist besser, auf der Suche nach Originalität zu scheitern, als mit bloßer Nachahmung Erfolg zu haben.“

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Dische, Irene – Ein Job

Ganz harmlos fängt sie an, die Geschichte, die Irene Dische um die Erlebnisse eines kurdischen Profikillers in New York spinnt, mit Schneeballwerfen in der kurdischen Heimat. Der kleine Junge, der damals türkische Soldaten mit Schneebällen beworfen hat, ist in der Gegenwart der gefürchtete Killer „Schwarzer Stein“. Nach der Flucht aus dem türkischen Gefängnis, in dem Alan Korkunç inhaftiert war, bringt ihn sein neuer Auftraggeber nach New York, um ihn dort einen Job erledigen zu lassen. Alan soll einem unbequemen Geschäftpartner seines Auftraggebers eine Lektion erteilen und zu diesem Zweck dessen Familie umbringen.

Alan versucht den Job mit der gleich Coolness anzugehen wie jeden anderen auch. Die Tatsache, dass er zum ersten Mal in New York ist und nicht ein Wort Englisch versteht, ist für einen Mann wie Alan schließlich kein Hindernis. Etwa eine Woche bleibt ihm für die Vorbereitungen, die er nach den ersten schweißtreibenden Erlebnissen beim Donutkauf und bei der Fortbewegung durch die Stadt angehen will. Doch irgendwie ist er hin- und hergerissen zwischen neuen Eindrücken und der Sehnsucht nach Vertrautem. Er sehnt sich nach seinen Joop-Socken und seinen teuren Anzügen, die daheim in Istanbul in seinem Schrank hängen, während er in New York nicht einmal eine Hose zum Wechseln hat. Seine Finger brauchen dringend eine Maniküre, denn mit nichtmanikürten Fingern den Abzug zu ziehen, kommt für Alan nicht in Frage, schließlich ist er Perfektionist.

Doch irgendwie geht mit Alan auch eine merkwürdige Veränderung vor sich, denn da wäre noch Mrs. Allen, die ältere Dame, die im Appartement nebenan wohnt und glücklicherweise Türkisch spricht. Alan trägt ihr nicht nur die Einkaufstaschen in die Wohnung, er isst auch mit ihr und sieht zusammen mit ihr fern. Die fremde Stadt, Mrs. Allen – irgendwie scheint Alan ein wenig aus dem Takt zu geraten. Aber er hat schließlich noch einen Job zu erledigen …

Einen Kriminalroman verspricht Irene Dische dem Leser und hält das Versprechen, während sie es gleichzeitig bricht. Sie provoziert eine gewisse Erwartungshaltung, die letztendlich eine kleine, aber geschickte Fallgrube ist, denn am Ende stößt sie den „Kriminalroman-Leser“ ein wenig vor den Kopf. Auch die Krimizutaten Profikiller und Mordauftrag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Ein Job“ eine Geschichte ist, die sich eigentlich auch noch auf einer gänzlich anderen Ebene abspielt. Seltsam schwarzhumorig angehaucht, entpuppt sich die gerade einmal 155 Seiten lange Erzählung zum Ende hin als eine Art Lebensmärchen. Eine Geschichte, die ein Vater seiner Tochter erzählt.

Für den Leser ist dies allemal unterhaltsam. Der Zusammenprall zweier gänzlich unterschiedlicher Kulturen, mit allen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, wird mit scharfem Blick und Witz geschildert. Die kurdische Problematik taucht dabei nur am Rande auf. Alan ist ein eher unpolitischer Mensch. |“Ein Kurde ist zu wenig. Zwei Kurden sind zu viel.“| So lautet Alans Einstellung. Alan, der in Istanbul stets um Coolness und korrektes, mitunter eiskaltes Auftreten bemüht war, der es verstand, Frauen mit einem gewissen Blick um den kleinen Finger zu wickeln, wirkt nach dem Ortswechsel seltsam deplatziert. Wie ein dummer Bauerntrottel stolpert er durch die Metropole. Seine Beschattungsversuche des Zielobjekts verlaufen derart unprofessionell und stümperhaft, dass man als Leser fast schon Mitleid bekommt, und so entwickelt sich eine etwas sonderbare Sympathie zwischen Leser und Hauptfigur.

Alan wirkt mitunter orientierungslos und fängt dabei, ohne dass er es selbst großartig merkt, an, sich anderen Menschen zu öffnen. Er verbringt viel Zeit mit Mrs. Allen, trinkt mit ihr Sherry und fährt mit ihr spazieren, und so entsteht daraus ein überraschend herzliches Verhältnis, das so gar nicht zu dem eiskalten Profikillerimage passen mag. Die Erzählung wird dadurch um eine weitere interessante und unterhaltsame Komponente erweitert – zumal der Leser schon recht schnell vermuten darf, dass es für den Job eines Killers nicht unbedingt förderlich ist, so eine enge persönliche Bindung zu einer älteren Dame einzugehen.

Je näher der Tag rückt, an dem Alan seinen Job auszuführen hat, desto mehr scheint er bereits aus dem Takt geraten zu sein. Auch in diesem Punkt hegt man als Leser im Laufe der Erzählung die dunkelsten Befürchtungen. Es scheint fast unausweichlich. Irgendetwas geht bestimmt schief. Man spürt es einfach. Und so baut Irene Dische einen kontinuierlichen Spannungsbogen auf, der eine ausgewogene und professionelle Gesamtkomposition erkennen lässt. Der Leser fiebert mit und sehnt den Tag des „Jobs“ richtiggehend herbei.

Zum Ende der Geschichte hin, aber führt Irene Dische den Leser noch einmal ein wenig an der Nase herum. Sie fährt ein etwas sonderbares Happy-End auf, bei dem man nicht so recht weiß, was man davon halten soll. Irgendwie absurd wirkt es, wie sie den Leser aus der Geschichte schickt.

Sprachlich wirkt die Erzählung jederzeit souverän. Irene Dische versteht mit Worten umzugehen, zaubert durch ihre Formulierungen immer wieder Witz und Charme in die Zeilen, zeichnet die Figuren sehr treffend und versteht mit wenigen Worten, die kulturellen Unterschiede spitzfindig herauszukehren. Selbst die eingestreuten kurdischen Wörter stören nicht, sondern tragen zur Atmosphäre bei, obwohl sie nicht übersetzt werden. Sie erschließen sich aus dem Zusammenhang. Einzig die Erzählperspektive wirkt hier und da verwirrend, denn es kommt vor (zwar nur an sehr wenigen Stellen der Geschichte), dass mit dem Erzählten eine Person direkt angesprochen wird, entweder der Leser oder irgendwer sonst, den der Leser nicht kennt. Diese merkwürdige Perspektive, die sich auch nicht aus dem Ende heraus so richtig erschließt, schafft wiederum eine gewisse Distanz zur Geschichte und bleibt etwas sonderbar.

Wer einen Roman mit Action erwartet, der ist schief gewickelt. Irene Dische konzentriert sich auf Alans Erlebnisse im New Yorker Alltag und schildert am Ende den Verlauf seines Auftrags. Aber Alans Zurechtfinden im Alltag, das Aufeinanderprallen zweier so unterschiedlicher Kulturen ist für sich genommen schon nervenaufreibend und teilweise rasant genug. Action ist da absolut überflüssig. Entstanden ist der Roman übrigens nach dem Drehbuch „The Assassin’s Last Killing“, das Irene Dische zusammen mit Nizamettin Ariç geschrieben hat.

Dische erzählt herrlich unterhaltsam, scharfsinnig beobachtend und manchmal urkomisch und schwarzhumorig. „Ein Job“ ist ein Krimi und ist es gleichzeitig nicht. Eine Geschichte, die mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und dabei absolut ausgewogen komponiert und für den Leser ein kurzweiliges Vergnügen ist.

Michael Peinkofer – Die Bruderschaft der Runen

Verschwörungsliteratur ist ein Wachstumsmarkt. Ein Trend, den vor allem Dan Brown mit „Illuminati“ maßgeblich ins Rollen gebracht hat. Kaum verwunderlich, dass andere Autoren auf den fahrenden Zug aufzuspringen versuchen, in der Hoffnung, dank des Booms ein Stückchen Erfolg abzusahnen. Doch nicht alles, was im Windschatten von Dan Brown auf den Buchmarkt geworfen wird, kann den Erwartungen standhalten. Auch Michael Peinkofer kommt mit seinem historischen Verschwörungsroman „Die Bruderschaft der Runen“ kaum umhin, sich den Vergleich mit dem Amerikaner gefallen lassen zu müssen. Ob er dem gewachsen ist, soll sich im Folgenden klären.

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Christoph Marzi – Lycidas (Die Uralten Metropolen 01)

Ein zeitloses Stück London hat Christoph Marzi mit seinem Roman „Lycidas“ auf Papier gebannt. Eine Geschichte, die zwischen den Zeiten zu spielen scheint – mal in unserer ganz normalen Gegenwart, mal in längst vergangenen Tagen. Es lässt sich viel herauslesen aus diesem Roman, mit seinen unzähligen Querverweisen auf alte Legenden und bekannte Autoren. Marzi hat sich reichlich in der Literaturgeschichte bedient, um aus den verschiedensten Versatzstücken eine ganz eigene Geschichte zu zaubern, die einerseits viel Licht enthält, aber auch einige Schatten wirft.

Handlung
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Kirino, Natsuo – Umarmung des Todes, Die

Japanische Literatur fristet in Europa in gewissem Sinne ein Schattendasein. Nur wenige Autoren bringen es auch hier zu Erfolg, und wer mehr als einen oder zwei japanische Autoren in seinem Bücherregal vorweisen kann, der darf schon fast als weltoffen gelten. Haruki Murakami kennt man hierzulande noch, Banana Yoshimoto eventuell auch noch, aber Natsuo Kirino? Nie gehört. Dabei gehört sie in ihrer Heimat zu den angesehensten zeitgenössischen Autoren. Bereits für ihren Debütroman wurde Kirino mit dem angesehensten japanischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Mit „Die Umarmung des Todes“ (Originaltitel „OUT“) gelang ihr endgültig der ganz große Durchbruch.

Dabei verspricht die japanische Literatur durchaus verlockende Abwechslung. Bücher, die in einem gänzlich anderen Kulturkreis als dem eigenen spielen, haben schon aufgrund dessen einen ganz eigenen Reiz. Sie verändern den Blickwinkel und erweitern nicht zuletzt den Horizont. So verhält es sich auch mit Natsuo Kirinos Erfolgsroman „Die Umarmung des Todes“.

Die Handlung ist am Rande von Tokio angesiedelt. Vier Frauen arbeiten dort in der Nachtschicht einer Lunchpaketfabrik. Tagsüber schmeißen sie den Haushalt und kümmern sich um die Familie, nachts schuften sie in der Fabrik, um den Lebensunterhalt aufbringen zu können. So geht es auch Yayoi Yamamoto. Während sie sich in der Fabrik abrackert, um endlich das Geld für eine eigene bescheidene Wohnung aufbringen zu können, hat ihr nichtsnutziger Gatte Kenji nichts besseres zu tun, als das Geld mit beiden Händen wieder zum Fenster rauszuschmeißen. Als er eines Abends vor Yayoi tritt und ihr offenbart, dass er die gesamten Ersparnisse der vierköpfigen Familie verspielt hat, sieht Yayoi plötzlich rot und bringt Kenji im Affekt um.

Doch was macht sie nun, mit einer Leiche am Hals? Yayoi hat Glück, dass sie sich auf ihre drei Freundinnen aus der Lunchpaketfabrik so gut verlassen kann. Kollegin Masako bietet Yayoi gleich an, bei der möglichst spurlosen Beseitigung der Leiche zu helfen. Auch die stets zupackende Yoshië ist mit von der Partie und die geldgierige Kuniko ebenso. Zusammen zerlegen sie Kenjis Leiche in Masakos Badezimmer, packen sie handlich portioniert in Müllsäcke und entsorgen sie ganz galant mit dem Hausmüll.

Doch als ganz so einfach stellt sich die Entsorgung einer Leiche eben doch nicht heraus. Glauben die vier Frauen anfangs noch, die Sache sei gut gelaufen, treten schon bald die ersten Komplikationen ein, die eine Kette von Ereignissen nach sich ziehen, die so niemand vermutet hätte. Immer tiefer geraten sie in den Sog des Verderbens, aus dem es kein Zurück mehr gibt …

Vier Frauen, die eine Leiche zerlegen und entsorgen. Das klingt zunächst einmal nach einer ziemlich krassen und blutigen Geschichte, die in Pulp-Fiction-Manier völlig überzogen sein muss. Stellenweise wirkt die Geschichte wirklich ein wenig so (insbesondere wenn es um das eigentliche, recht rational und in kühler Logik vollzogene Zerlegen des leblosen Kenji geht) und man fragt sich unweigerlich, was ein Quentin Tarantino wohl aus diesem Stoff machen würde. Den Roman aber auf diesen Aspekt zu reduzieren, würde einen gänzlich falschen Eindruck erwecken. Ich denke, Kirinos Intention ist auch eine ganz andere. Sie zeigt vielmehr vier Frauen, die aus ihrer ohnehin schon gesellschaftlich schwierigen Lage immer weiter an den Rand rücken. Sie lassen die Normalität hinter sich und überschreiten eine Grenze, ohne dass es für sie ein Zurück gäbe, und sie bereuen es nicht – zu keinem einzigen Zeitpunkt.

Um die Selbstverständlichkeit, mit der die vier Frauen die ausgetretenen Pfade ihres alten Lebens hinter sich lassen, verstehen zu können, setzt sich Kirino intensiv mit den Figuren und deren Psyche auseinander. Die Tat an sich ist nicht das eigentlich Schockierende, erschreckender sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben und die Art, wie die verschiedenen Personen damit umgehen.

Etwas hinterhältig ist dabei die Tatsache, dass man als Leser kaum umhin kommt, mit den Täterinnen mitzufiebern. Man drückt ihnen insgeheim die ganze Zeit über die Daumen, dass sie mit ihrer Tat davonkommen, was über kurz oder lang auch moralische Fragen aufwirft. Gut, Kenji war ein grauenvoller Ehemann und, um es ganz drastisch auszudrücken, er war ein richtiges Schwein. Aber sollte seine Frau deswegen mit einem Mord davonkommen dürfen?

Diese Fragen sind auch deswegen so interessant, weil Kirinos Täterinnen von Anfang bis Ende ziemlich naiv wirken. Besonders Yayoi neigt dazu, die Wirklichkeit auszuklammern, getreu dem Motto, dass Probleme schon verschwinden werden, wenn man sie nur lange genug ignoriert. Eine ähnlich verzerrte Wahrnehmung hat Kuniko. Sie lebt in einer Traumwelt und orientiert ihr Leben an den Fotos diverser Hochglanzmagazine. Sie ist oberflächlich und auf Äußerlichkeiten fixiert. Sobald sie auch nur ein paar Yen in der Tasche hat, gibt sie sie auch schon wieder für neue Klamotten aus. Wie sie ihre Rechnungen bezahlen soll, darüber macht sie sich erst Gedanken, wenn sie sie nicht mehr bezahlen kann.

Yoshië ist die Arbeitswütige der vier Frauen. Sie schleift die anderen bei der Arbeit mit durch, schuftet am Band für zwei und das, obwohl sie tagsüber noch die Pflege ihrer undankbaren, übel gelaunten Schwiegermutter am Hals hat. Masako ist von dem Quartett noch die Weltgewandteste. Als Yayoi sie anruft, weiß sie schnell, was zu tun ist und obwohl auch sie sich zunächst überwinden muss, steht sie zu ihrem Plan der Leichenbeseitigung. Logik und Rationalität siegen über den Ekel.

Jede der vier hat Probleme zu Hause, jede hat selbst schon genug Sorgen am Hals, auch ohne sich noch die möglichst spurlose Beseitigung einer Leiche aufzubürden. In gewisser Weise zeigen die Familien der vier Frauen einen recht bunten gesellschaftlichen Querschnitt. Als Teilzeitkräfte auf Nachtschicht nehmen sie alle eine gesellschaftliche Randstellung ein und haben es als Frauen und Mütter ohnehin schon schwerer als die Männer, wenn es um Anerkennung geht. Und so schlummert oft schon in den teils recht ausführlichen Beschreibungen der Figuren ein Ansatz von Kritik am spannungsreichen Kontrast Japans zwischen alten Traditionen und moderner, verwestlichter Konsumgesellschaft.

Vertieft wird Kirinos Sozialkritik durch weitere Nebenfiguren. Da wäre Kazuo, der Brasilianer japanischer Abstammung, der seinen Platz in der japanischen Gesellschaft nicht so recht findet und sie als Außenstehender betrachtet. Und dann wäre da noch die Figur des Kredithais Jumonji, der gleich zwei japanische Klischees gleichzeitig bestätigt. Er spielt sich gerne als Möchtegern-Yakuza auf und hat eine Schwäche für Oberschülerinnen. Kirino lässt ihren Figuren viel Raum zum Agieren, belebt die Handlung durch das Wechselspiel unterschiedlicher Charaktere und gibt der Geschichte trotz der Oberflächlichkeit und Naivität ihrer Hauptfiguren eine gewisse Tiefe.

Im Kern von Kirinos Geschichte steht nicht der Mord an sich und das Beseitigen der Leiche. Selbiges nimmt lediglich das erste Drittel des Buches ein. Interessanter und spannender sind die Verwicklungen und Folgen der Tat. Wie geht es danach weiter? Verraten sich die vier Frauen irgendwie, vielleicht sogar nur zufällig? Kirino zeigt, wie sich die Figuren unter dem Einfluss des Erlebten zu verändern beginnen und stellt damit die Psyche der Täterinnen und die Abgründe der menschlichen Seele in den Mittelpunkt. Die vier Frauen geraten durch die Tat in einen dunklen Sog, der sie immer weiter ins Verderben zieht. Die Geschichte nimmt dabei teils recht absurde und verrückte Züge an und wird mit jeder Wendung der Ereignisse schwärzer – „Nippon Noir“ eben.

Kirinos Erzählweise wirkt jederzeit souverän. Sie hält gekonnt alle Fäden zusammen, wechselt immer wieder die Perspektive, beleuchtet teilweise das gleiche Ereignis aus unterschiedlichen Blickwinkeln und baut einen kontinuierlich ansteigenden Spannungsbogen auf. Der Plot ist in sich stimmig und bis ins Detail ausgefeilt, die Sprache klar und gradlinig. Ohne, dass man es großartig merkt, fängt man beim Lesen mit der Zeit an, das Buch zu verschlingen. Man ist zunächst merkwürdig fasziniert und später mitgerissen von Handlungsverlauf und Figurenentwicklung. Kirino weiß den Leser um den Finger zu wickeln und verabschiedet sich am Ende mit einem furiosen Finale aus der Geschichte, über das man noch eine Weile nachsinnen kann.

Unterm Strich ist Natsuo Kirino mit „Die Umarmung des Todes“ ein wirklich gelungener Roman geglückt. Für den durchschnittlichen Europäer schon aufgrund des interessanten Einblicks in den japanischen Alltag interessant, aber darüber hinaus ein Roman, dem eine spannungsreiche Symbiose aus präziser, sozialkritischer Betrachtung und düsterer, psychologisch ausgefeilter Krimihandlung zugrunde liegt. Für Freunde düsterer, etwas ausgefallener Krimikost absolut zu empfehlen.

Evans, Jon – Tödlicher Pfad

Es ist schon ein beachtenswertes Debüt, das der Kanadier Jon Evans mit seinem Thriller „Tödlicher Pfad“ abgeliefert hat. Evans ist ein in San Fransisco lebender IT-Consultant mit Hang zum Globetrotter, genau wie Paul Wood, der Held seines Romans. Man kann Evans nur wünschen, dass dies dann auch schon alle Gemeinsamkeiten gewesen sind, denn was Paul Wood im Laufe der Geschichte so alles durchmachen darf, ist nicht gerade ohne.

Der Klappentext preist Evans‘ Roman als |brillanten Backpacker-Thriller in der Tradition von Alex Garlands „Der Strand“| an und legt damit in Sachen Erwartungshaltung die Latte sehr hoch. „Der Strand“ war schließlich ein atmosphärisch dicht inszenierter Roman, der mit dem knallharten Gegensatz einer paradiesischen Landschaft und den dunklen Abgründen der menschlichen Seele geschickt zu spielen wusste. Ein Pfad, dem auch Evans ein Stück weit folgt, aber ganz ohne dabei Gefahr zu laufen, als billiger Garland-Abklatsch zu enden.

Auch „Tödlicher Pfad“ ist also im Backpackermilieu angesiedelt. Paul Wood befindet sich auf einer Trekkingtour in Südasien, als er in einem verlassenen Dorf am Annapurna-Massiv die Leiche eines brutal ermordeten Trekkers entdeckt, dem, offenbar als makabere Dekoration gedacht, zwei Schweizer Taschenmesser in die Augen gesteckt wurden. Die nepalesische Polizei geht der Sache gar nicht erst großartig nach. Wirbelt man Staub auf, verschreckt das schließlich höchstens die Touristen.

Doch Paul Wood geht der Anblick der Leiche aus einem anderen Grund nicht mehr aus dem Kopf. Zwei Jahre zuvor wurde seine Freundin bei einer Trekkingtour in Kamerun auf genau die gleiche Art umgebracht. Ist er innerhalb von zwei Jahren an zwei weit voneinander entfernt liegenden Punkten auf dem Globus zweimal demselben Killer begegnet? Ein eigenartiger Zufall. Da die Polizei jedoch nichts weiter unternimmt, entscheidet sich Paul, wenigstens in einem Internetforum für Backpacker eine entsprechende Notiz über den Fall zu hinterlassen. Prompt erhält er Antwort von einem User, der sich „Der Stier“ nennt und sich zu den Taten bekennt. Durch sein „Geständnis“ scheint er ein Gerücht zu bestätigen, das unter Backpackern schon seit längerem kursiert: Ein Serienkiller, der es speziell auf Rucksacktouristen in der Dritten Welt abgesehen hat.

Paul als versierter Computerspezialist verfolgt zurück, von wo aus „Der Stier“ seine Nachricht im Forum abgeschickt hat und versucht ihm auf die Schliche zu kommen. Ein riskantes Unterfangen, denn plötzlich wird der Jäger zum Gejagten …

„Ein rasanter Thriller für das 21. Jahrhundert“, lautet die etwas nüchterne Kritik der |Times| im Klappentext und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Evans ist mit „Tödlicher Pfad“ ein moderner Thriller gelungen, der die in den letzten Jahren veränderten Rahmenbedingungen der modernen, technisierten Gesellschaft aufgreift. Das Internet spielt dabei eine wichtige Rolle.

Der Satz „Die Welt ist ein Dorf“ spiegelt sich in verschiedenen Facetten in Evans‘ Roman wider. Zum einen ist die Welt aus der Sicht des viel reisenden Backpackers natürlich eine kleinere. Auch Paul Wood, Evans‘ Hauptfigur, kann sich ein paar Begebenheiten in Erinnerung rufen, in denen er die gleichen Rucksacktouristen in unterschiedlichen Winkeln des Globus rein zufällig wiedergetroffen hat. Ist da die Vorstellung, dass er auch zweimal die Wege des gleichen Killers kreuzt, immer noch so abwegig?

Auch das Internet ist natürlich ein Medium, das den Globus gewissermaßen schrumpfen lässt. Evans‘ Geschichte beruht auf der modernen globalisierten Welt, in der räumliche Distanzen kaum noch ein Hindernis sind. Die Sehnsucht nach zivilisationsfernen Abenteuern und das hochtechnisierte Datennetz des Internets, das dafür sorgt, dass man, selbst wenn man im entferntesten Winkel der Welt hockt, noch mitten im Geschehen ist, ergänzen sich zu einem spannenden Kontrast, der ein Produkt der modernen Gesellschaft ist. Dies ist neben der ausgeklügelten Thrillerkomponente der zweite wichtige Aspekt, der „Tödlicher Pfad“ zu einer interessanten Lektüre macht.

Evans versetzt seine Handlung in ein Setting, das bislang noch unverbraucht und frisch erscheint und inszeniert vor diesem Hintergrund eine Geschichte, die er mit sehr vielen eigenen Erfahrungen zu würzen versteht. Die Gemeinsamkeiten zwischen Autor und Hauptfigur sind absolut offensichtlich und sie sorgen auch dafür, dass die ganze Geschichte einen realitätsnahen Anstrich bekommt. Wenn sich jemand in die Lage eines technisch versierten Backpackers hineinversetzen kann, dann ist das Jon Evans.

Beim Anblick der auf seiner Website dokumentierten Reisestationen kann einen schon das Fernweh packen. Evans ist selbst viel herumgekommen und kann somit Erfahrungen aus erster Hand in seine Beschreibungen des Backpackerlebens einfließen lassen. So verwundert es auch kaum, dass Evans die im Buch immer wieder aufgegriffene Trekkingtour mit dem Overland Truck durch Afrika selbst gemacht hat – ein Verdacht, der mir schon beim Lesen des Buches kam und der sich beim Blick auf Evans‘ Website bestätigt hat. Evans‘ Beschreibungen des Lebens auf Reisen wirken bis ins Mark glaubwürdig und realistisch. Kein Wunder. Der Leser lernt die verschiedensten Winkel der Welt aus Rucksacktouristensicht kennen. Eine Sache, die durchaus ihren Reiz hat.

Teilweise lebt der Roman von diesen lebhaften Beschreibungen des Backpackeralltags, teilweise auch von der Spannung, die mit den Ereignissen einhergeht, in die Paul Wood eher zufällig hineinstolpert. Er betrachtet den Mord an dem Backpacker im Himalaja zunächst eher mit Neugier und will die Parallelen zum Tod seiner Freundin in Kamerun als Zufälligkeit abtun. Doch so ganz kann er das Bedürfnis, die Wahrheit herauszufinden, nicht abschütteln.

Er wird bei seinen Nachforschungen nicht über Nacht zum mutigen Helden, vielmehr vollzieht Evans an seiner Hauptfigur eine sehr glaubwürdige, sich konsequent fortsetzende Entwicklung. Paul bleibt stets auf dem Sprung, scheut trotz aller Neugier und allen Durstes nach Gewissheit die Konfrontation mit dem Killer. Die Angst bleibt sein Begleiter und es ist kein heldenhaftes über sich Hinauswachsen, das Paul mit der Zeit packt, sondern ein schrittweises Herantasten an die Wahrheit, die nach und nach einen Sog entwickelt, der Paul nicht mehr loslässt. Für die Persönlichkeitszeichnung des Paul ist das ein Vorteil. Er bleibt dadurch über die gesamte Romanlänge glaubhaft und nachvollziehbar. Es hat eben doch gewisse Vorteile, wenn eine Romanfigur eng an die Persönlichkeit des Autors angelehnt ist.

Die Thrillerhandlung mutet auch vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehbar an. Der Plot wirkt nicht übermäßig konstruiert, aber genauso wenig abgedroschen. So wie die Rahmenhandlung noch frisch und unverbraucht erscheint, wirkt auch der Thrillerplot. Die einfallsreiche Idee, die Evans dem zugrunde legt, führt zu einem glaubwürdigen und nervenaufreibenden Katz-und-Maus-Spiel mit ungewissem Ausgang. Evans streift dabei Gedankengänge, die durchaus eine gewisse Brisanz enthalten – eine zusätzliche positive Facette des Romans.

Was „Tödlicher Pfad“ letztendlich zu einem wahren „Page-Turner“ macht, ist Evans‘ packender Stil. Er schreibt nüchtern und klar, trägt nicht dick auf und betreibt keine großartige verbale Effekthascherei. Dennoch ist der Roman absolut mitreißend. Evans hat einfach ein Gespür dafür, einen Draht zum Leser zu finden, spricht ihn an manchen Stellen sogar direkt an und zieht ihn damit tief ins Geschehen. Der Leser wird direkt und ganz unmittelbar in die Handlung gestoßen. Stimmung und Figuren entfalten sich schon nach wenigen Seiten, so dass man für „Tödlicher Pfad“ nur wenig Anlauf braucht, um mit dem Buch warm zu werden.

Ein Übriges tut der Spannungsbogen. Paul ist an vielen Punkten bereit, aus der Geschichte auszusteigen, sobald er etwas herausgefunden hat. Er will auch sich selbst nicht unnötig in Gefahr bringen und versucht sich auf diese Weise zu beruhigen. Der Leser fällt darauf natürlich nicht herein. Man ahnt, dass Paul bis zum bitteren Ende weitergehen muss, weil er in der ganzen Geschichte schon viel zu tief drin steckt. Die Spannung wird auf diese Weise angeheizt.

Ein wenig variiert der Spannungsbogen mit den Orten. Zu Hause, wo Paul sich vergleichsweise sicher fühlen kann, kann auch der Leser verschnaufen. In der Ferne exotischer Länder überschlagen sich aber teilweise die Ereignisse. Kurz vor dem Ende der Geschichte nimmt Evans noch einmal ein bisschen Tempo aus der Handlung, um zum Schlusspunkt erneut richtig Gas zu geben, und spätestens dann kann man das Buch garantiert nicht mehr aus der Hand legen. Evans inszeniert den Spannungsbogen abwechslungsreich und geschickt. Mal nimmt er etwas Tempo raus, blendet zurück auf Erlebnisse aus Pauls Backpackerleben, mal gibt er richtig Vollgas. Den Leser muss er mit diesem rasanten Katz-und-Maus-Spiel einfach mitreißen.

Jon Evans ist mit „Tödlicher Pfad“ ein spannender und temporeicher Thriller geglückt, der schlicht aber mitreißend erzählt wird. Die Figuren wirken glaubwürdig, der Plot ist einfallsreich und erfrischend, das Setting der internationalen Backpackerszene noch unverbraucht und reizvoll. Alles in allem ein absolut lohnenswerter, moderner Thriller, der zu fesseln weiß. Freunde spannender, moderner Lektüre sollten unbedingt zugreifen.

Im Sommer erscheint dann übrigens zumindest im englischsprachigen Raum Jon Evans‘ zweiter Roman namens „Blood Prize“. Die Hauptfigur ist wieder Evans‘ Alter-Ego Paul Wood. Handlungsort ist der Balkan. Dass Evans höchstpersönlich die Handlungsorte vorher ausgiebig mit dem Rucksack erkundet hat, versteht sich von selbst …

Autorenhomepage: http://www.rezendi.com

Izzo, Jean-Claude – Chourmo

„Izzo besingt die Stadt Marseille, ihre Schönheit im frühen Morgenlicht, ihre unverfälschte Lebensfreude, aber er zeigt auch das tödliche Gift, das in ihr steckt.“ Treffender als das Urteil der |Welt| könnte man die Magie der Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo kaum auf den Punkt bringen. Izzo hat einfach eine Magie, der man sich nicht entziehen kann, wenn man einmal angefangen hat, ihn zu lesen. Das trifft auf „Chourmo“, den zweiten Teil der Trilogie, genauso zu wie auf den Auftakt [„Total Cheops“. 901

Fabio Montale, in „Total Cheops“ noch Polizist mit Herz in den nördlichen Vierteln von Marseille, hat den Dienst quittiert. Seine Zeit widmet er ausgiebig dem Fischen, gutem Essen und dem Gespräch mit Freunden, während er versucht, die Vergangenheit zur Ruhe zu kommen lassen. Doch damit ist es zunächst einmal vorbei, als seine Cousine Gélou völlig aufgelöst vor der Tür steht. Sie sorgt sich um ihren Sohn Guitou, der mit seiner arabischen Freundin Naïma verschwunden ist. Und so macht Fabio sich auf die Suche nach dem Jungen, ohne zu ahnen, dass er schon wieder mittendrin steckt, im Sumpf des Schmelztiegels Marseille.

Noch bevor er herausfinden kann, wo Guitou nebst Freundin abgeblieben ist, wird sein alter Freund Serge ermordet, vor den Augen von Fabio durch Schüsse aus einem vorbeifahrenden BMW niedergestreckt. In was hat Serge, der Sozialarbeiter, da seine Nase hineingesteckt? War er irgendeiner Sache auf der Spur, die so brisant ist, dass er dafür sterben musste? Fabio versucht auf eigene Faust Anhaltspunkte zu finden.

Guitou bleibt unterdessen verschwunden und nach und nach wird für Fabio zur Gewissheit, was der Leser schon seit dem Prolog weiß. Guitou ist längst tot, erschossen, nachdem er die erste gemeinsame Nacht mit Naïma verbracht hat. Aber warum musste Guitou sterben? Und wo ist Naïma abgeblieben? Fabio macht sich auf die Suche nach Antworten …

Schon mit den ersten Sätze von „Chourmo“ schleudert Izzo den Leser wieder zurück in sein „antikes Theater“ Marseille. Izzos Erzählstil ist wie ein Sog, der uns sofort in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt, bis man das Buch am Ende wieder zuklappt. Selten habe ich einen Autor gelesen, der mich schon allein durch seine Art zu erzählen so gefangen genommen hat. Izzo schafft es auf einzigartige Weise Stimmungen einzufangen, Gefühle auszudrücken, ohne viele Worte machen zu müssen und eine Stadt zum Leben zu erwecken. Er sitzt direkt am Puls der nördlichen Viertel Marseilles und macht ihn für den Leser fühlbar.

|“Hier ist nichts schlimmer als woanders. Oder besser. Beton in einer verzerrten Landschaft aus Stein und Kalk. Und dort unten links die Stadt. Weit weg. Nur das Elend nicht. Sogar die Wäsche, die zum Trocknen vor den Fenstern hängt, ist ein Beweis dafür. Obgleich in Wind und Sonne flatternd, wirkt sie immer farblos. Arbeitslosenwäsche eben. Aber im Gegensatz zu ‚denen da unten‘ hat man hier eine gute Aussicht. Prachtvoll. Die schönste in Marseille. Man braucht nur das Fenster zu öffnen und hat das ganze Meer für sich. Umsonst. Wenn man nichts hat, ist es viel, das Meer zu besitzen. Wie ein Kanten Brot für die Hungrigen.“| ( S. 35)

Izzos Bestandsaufnahme der Stadt fällt wieder einmal sehr zwiespältig aus. Einerseits liebt er ihre Leidenschaft, andererseits treiben ihn ihre dunklen Seiten zur Verzweiflung. In einem Interview, das im (vergleichsweise umfangreichen) Anhang des Buches nachzulesen ist, sagt er dann auch selbst: „Was geschieht, was ich sehe, was ich höre, bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe keine Hoffnung mehr. Und das Schreckliche ist, dass ich umso verzweifelter bin, je mehr ich schreibe.“ Diese Verzweiflung spürt man „Chourmo“ an und sie lässt sich auch an Fabio Montale, der ebenso sympathischen wie tragischen Hauptfigur, ablesen.

Sucht er am Anfang noch die Ruhe und den Abstand von der Welt und versucht mit seiner Vergangenheit als Polizist und dem Tod seiner Freunde Ugo und Manu (Schlüsselhandlung aus „Total Cheops“) abzuschließen, wird er durch den Tod von Serge und die Suche nach Guitou wieder mitten hineinkatapultiert in den Meltingpot. Er wird wieder zum |chourmo|, zum verzweifelten Ruderer in der Galeere namens Marseille. Die Bestandsaufnahme von Montales Leben fällt dabei ähnlich düster aus wie Izzos Bestandsaufnahme Marseilles und der französischen Gesellschaft.

|“Heute war ich nichts mehr. Ich glaubte nicht an Räuber. Ich glaubte nicht an Gendarmen. Den Vertretern des Gesetzes war jegliche moralische Wertvorstellung abhanden gekommen, und die wahren Diebe hatten nie eine Handtasche klauen müssen, um abends etwas zu essen zu haben.“| (S. 65)

Montale scheint ein Lebender, umringt von Toten. Einfach zu viele liebe Menschen werden ihm im Laufe der ersten beiden Bände der Marseille-Trilogie genommen. Mehr als einem Menschen gut tut. Dass Montale alles immer mehr persönlich nimmt, ist insofern kaum verwunderlich. Oft wirkt er wie ein einsamer Cowboy (allerdings ohne Cowboy-Allüren) auf einem verzweifelten Rachefeldzug und oft sieht es dabei denkbar schlecht für ihn selbst aus. Korrupte, mit der Front National sympathisierende, gewaltbesessene Ex-Kollegen, die ihm nicht wohlgesonnen sind, islamistische Extremisten und Mafiosi. Montale macht sich im Laufe der Handlung viele Feinde, denn ähnlich wie schon in „Total Cheops“ scheint er auch hier wieder mit seinen Ermittlungen in ein Wespennest zu stechen. Die Marseiller Unterwelt spielt dabei wieder eine entscheidende Rolle, nur während es in „Total Cheops“ am Rande noch um die rechtsradikale Front National geht, sind hier islamistische Gruppierungen verstärkt ein Thema. Izzo zeichnet sich also auch durch eine gewisse politische Brisanz und Aktualität aus. Ein Aspekt, der das Buch noch facettenreicher macht.

Wie schon in „Total Cheops“ zeichnet Izzo nicht schwarz/weiß, sondern grau. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen zu einem diffusen Schleier, der ganz realitätsnah und unverfälscht wirkt. Montale kennt beide Seiten der Medaille, er stand in seinem Leben schon auf beiden Seiten des Gesetzes. So sehr man Montale auch mögen will, in „Chourmo“ überschreitet er eine unsichtbare Grenze, als er einem Menschen in einer Notlage nicht hilft und dabei in Kauf nimmt, dass derjenige stirbt. Da tröstet es auch nur wenig, dass das Opfer ein richtiges Schwein ist, dem man den Tod am liebsten wünschen möchte. Montale geht einen Schritt zu weit und wurde mir bei allem Verständnis dadurch etwas fremd.

Izzo hat, wie auch sein Held Montale, keine Hoffnung mehr. Ein verkitschtes Happyend kann man sich also in jedem Fall für die Marseille-Trilogie aus dem Kopf schlagen. Izzo dokumentiert, ohne zu schönen, den Zustand einer Stadt und die Lage einer Nation – wie könnte es da ein wirkliches Happyend geben? Vor allem, wo Montale quasi ein Brandungsfels in einem Meer von Toten zu sein scheint? Für den letzten Teil der Trilogie bleibt dem Leser da wenig Hoffnung.

Stilistisch versteht Izzo auch mit „Chourmo“ wieder gänzlich zu überzeugen. Da wäre zum einen seine Sprache, die für einen Krimi (wenn auch einen untypischen und wenig klischeebehafteten) überraschend poetisch und bildhaft erscheint, und zudem seine Art zu erzählen, die den Gedanken und Erinnerungen von Montale stets viel Raum gibt und den Figuren eine phantastische Tiefe verleiht. Das Geschehen und die Orte werden so plastisch durch Izzos Beschreibungen, dass man fast das Gefühl hat, man könne das Meer riechen, wenn Montale mit seinem kleinen Boot zum Fischen hinausfährt. „Chourmo“ versteht somit nicht nur durch die Handlung und die tief gezeichneten Figuren zu fesseln, sondern auch sprachlich.

„Chourmo“ ist die logische Fortführung von „Total Cheops“ – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Montale durch Marseille zu folgen, ist spannend und stimmt sowohl nachdenklich als auch melancholisch. Izzo vermittelt das Seelenleben seines Protagonisten eindringlich und mitreißend. Er erzählt eine Geschichte, die bei all dem gleißenden Sonnenschein unter dem strahlend blauen Himmel der Provence überraschend beklemmend und düster ist. Viel Sonne wirf eben auch immer viel Schatten. Izzos Marseille ist so dunkel und hart, dass es fast weh tut. Die gesamte Trilogie hat aber solch eine erzählerische Tiefe und Brillanz, dass man sich ihrer Magie dennoch nicht entziehen kann und es eigentlich auch gar nicht will.

„Chourmo“ wurde übrigens mit dem deutschen Krimipreis 2001 ausgezeichnet. Völlig zu Recht natürlich …

Kastner, Jörg – Farbe Blau, Die

Wer die deutschsprachige Spannungsliteratur unter die Lupe nimmt, kommt an einem Namen kaum vorbei: Jörg Kastner. Er strickt Verschwörungen, deckt spannende Geheimnisse auf und lässt die Geschichte wieder aufleben. Kastner lässt sich nicht so leicht auf ein Genre reduzieren, hat schon die vielfältigsten Bücher geschrieben, teils im Bereich Fantastik, teils in der Spannungsliteratur und ist auch dem historischen Roman, dem er seinen schriftstellerischen Durchbruch zu verdanken hat, stets treu geblieben. Mit „Die Farbe Blau“ liefert Kastner nun ein weiteres Buch aus der Rubrik historischer Spannungsroman ab.

Amsterdam im Jahr 1669 – das so genannte Goldene Zeitalter der Niederlande und die Epoche Rembrandts. Der junge Maler Cornelis Suythof arbeitet im Amsterdamer Zuchthaus als Aufseher, um seine brotlose Kunst zu finanzieren, als zwei aufsehenerregende Taten die Stadt erschüttern: Zwei angesehene Bürger Amsterdams haben bestialisch ihre Lieben ermordet. Beide Male war ein sonderbares Gemälde im Spiel, das, wie Suythof schnell feststellt, als er es zum ersten Mal sieht, verdächtig nach Rembrandt aussieht. Doch das „Todesbild“ ist in einem intensiven Blau gehalten – eine Farbe, die Rembrandt sein Leben lang vermied. Als Suythof weiter nachhakt, ist das Gemälde plötzlich verschwunden.

Suythofs Neugier ist geweckt – zumal einer der Mörder sein bester Freund war. Zum zweiten Mal in seinem Leben heuert er bei dem alten Rembrandt als Schüler an und knüpft dabei zarte Bande zu Rembrandts hübscher Tochter Cornelia. Doch mit Suythofs Nachforschungen beginnen die Ereignisse sich zu überschlagen. Es gibt einen weiteren Todesfall, diesmal durch Brandstiftung, und wieder ist ein bläuliches Gemälde im Spiel.

Plötzlich steht auch Cornelis im Visier der Ermittler um Amtsinspektor Kaeton und jemand scheint bestrebt, Cornelis von weiteren Nachforschungen fernzuhalten. Doch er sucht weiter nach der Wahrheit und lässt sich damit auf ein teuflisches Spiel ein, in das offenbar auch der alte Rembrandt verstrickt ist, denn der ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden …

Kastner ist mit seinem neuen Roman wieder einmal ein interessantes Stück historisch durchsetzter Spannungsliteratur geglückt. Er baut auf eine Symbiose aus Kunst, Geschichte und Spannung, die über weite Strecken des Romans sehr gut aufgeht und für gute Unterhaltung sorgt. Besonders positiv ist der Eindruck, den der Roman mit Blick auf die Beschreibungen Amsterdams zur Zeit Rembrandts hinterlässt. Kastner beschreibt recht detailgetreu, lässt gute Recherche erkennen und gibt dem Leser am Beginn des Romans einen Stadtplan zur besseren Orientierung an die Hand.

Mit dem jungen Maler Cornelis rückt er eine Figur ins Zentrum der Geschichte, die uns schnell sympathisch wird. Cornelis ist einerseits Künstler, aber andererseits realistisch genug, sich nicht der Illusion hinzugeben, von seiner Kunst leben zu können. Seine Tätigkeit im Rasphuis, dem Amsterdamer Zuchthaus, nimmt er ernst, auch wenn die Malerei neben der Arbeit oft etwas ins Hintertreffen gerät.

Die Entwicklung, die Cornelis vor dem Hintergrund der Geschichte durchmacht, trübt zwar nicht unbedingt die entstandenen Sympathien, lässt ihn aber hier und da leider etwas unrealistisch erscheinen. Cornelis wandelt sich im Laufe des Romans zu einem wahren Superhelden – teils durch die Unterstützung des Ringkampflehrers Robbert Cors, teils angespornt von dem Bedürfnis herauszufinden, warum sein Freund zum Mörder wurde. So oft, wie Cornelis nahezu ungeschoren und höchstens leicht verletzt aus den unterschiedlichsten brenzligen Situationen entkommt, lässt ihn das etwas zu unverwundbar erscheinen. Wenn dem Protagonisten auch aus der x-ten Einkerkerung ein Entkommen gelingt, dann leidet letztendlich ein wenig die Spannung darunter. Bei allem, was unser Held durchsteht, was soll ihn noch ernsthaft gefährden können?

Man hat ein wenig das Gefühl, dass Kastner das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Gut und Böse, zwischen Cornelis und seinen Widersachern überstrapaziert. So oft die Lage für Cornelis auch vollkommen aussichtslos erscheint, so leicht scheinen sich seine Schwierigkeiten etwas zu oft in Wohlgefallen aufzulösen. Das ging mir alles ein bisschen zu leicht. Dieser Aspekt wirft einen Schatten auf die ansonsten so ausgefeilte Atmosphäre des Romans und trübt ein wenig den Lesegenuss. Die beständige Rettung des Helden in letzter Sekunde, sein unbändiger Heldenmut, mit dem er sich zunächst trotz Fesseln und Bewacher aus seiner Gefangenschaft zu befreien vermag, um dann wenige Augenblicke später todesmutig in die Flammen eines lichterloh brennenden Hauses zu stürzen, um eine Frau zu retten – all das ist etwas viel des Guten und würde vielleicht eher zu Spiderman passen als zu einem minderbemittelten Maler. Suythof wird ein wenig zu sehr zum strahlenden Helden der Geschichte, wie er stets clever mitdenkend, mutig voranschreitend und flink mit den Fäusten seines Weges geht.

Dabei baut Kastner seine Figuren eigentlich ganz solide und stimmig auf. Sie wecken Sympathien, erscheinen größtenteils nachvollziehbar und realistisch – nur Cornelis häuft eben im Laufe des Zeit etwas viele positive Eigenschaften an und wirkt damit nicht mehr ganz so realistisch. Die Zeichnung der übrigen Figuren, z. B. des netten und schlagkräftigen Ringkampflehrers Robbert Cors, Cornelia, der geschäftstüchtigen Tochter Rembrandts, der beiden alten, stets durstigen Seemänner Henk Rovers und Jan Pool und eben auch des kauzigen alten Rembrandts höchstpersönlich wirkt überzeugend und glaubwürdig.

Stimmig ist der Roman vor allem auch auf sprachlicher Ebene. Historische Romane sind ein schwieriges Feld. Viele Autoren scheitern schon an den sprachlichen Anforderungen und lassen die Dialoge so klingen, als würden die Protagonisten heutzutage leben. Kastner umschifft diese Klippe recht souverän. Figuren und Sprache wirken in der Tat so, als wären sie der damaligen Zeit entliehen. Sie drücken sich nicht übertrieben schwülstig-antiquiert aus, sondern so, dass es einerseits glaubwürdig wirkt, andererseits die Geschichte aber flott und einfach zu lesen ist.

Was Kastner trotz der Superheldeneigenschaften seines Protagonisten sehr gut gelingt, ist der Spannungsbogen. Nachdem in Amsterdam nach den ersten beiden Mordfällen zunächst wieder Ruhe einkehrt, lässt Kastner auch den Leser erst einmal ein wenig verschnaufen. Cornelis bekommt Raum sich zu entwickeln und es werden Ereignisse geschildert, die für das große Ganze zunächst noch wenig Sinn ergeben und eher als Nebenstrang der Geschichte erscheinen. Aber Kastner hat in der Vergangenheit schon bewiesen, dass er ein Faible für Verschwörungen hat und spinnt er auch hier ein Komplott zusammen, dessen Ausmaß man als Leser zunächst gar nicht erahnen kann. Das birgt einen Großteil der Spannung des Buches in sich und auch wenn Cornelis zu perfekt wirkt, um an seinem Erfolg zweifeln zu können, bleibt das Buch bis zum Ende hin recht spannend.

Die Stimmung des Romans und alles, was sich in der Geschichte um die ominösen „Todesbilder“ und das rätselhafte Blau, in dem sie gemalt sind, dreht, entwickelt mit der Zeit etwas sonderbare, mystische Züge. Blau wird ganz allgemein als Farbe des Teufels ins Spiel gebracht, was den Roman um eine weitere interessante Komponente auf künstlerischer Ebene bereichert. Kastner belässt es hier teilweise bei Andeutung und läuft nicht Gefahr, die Geschichte durch die diabolische Komponente ins Lächerliche zu ziehen, auch wenn ich das einen Moment lang befürchtet hatte.

Im Anhang präsentiert Kastner eine Zeittafel, die die wahren geschichtlichen Hintergründe und die wichtigsten Eckdaten aufzeigt. Nicht nur Rembrandt, sondern auch einige andere Figuren haben demnach tatsächlich gelebt. Auch die Figur des Cornelis Suythof scheint nicht Kastners Phantasie entsprungen zu sein, was für mich etwas überraschend war. Nicht zuletzt auch die Zeittafel trägt dazu bei, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion ein wenig zu verwischen. Atmosphäre und Thematik sind also zweifellos ausgefeilt und auf spannende Art unterhaltsam, auch wenn es Schwächen in der Charakterzeichnung des Cornelis Suythof und letztendlich auch offene Fragen nach der Motivation bestimmter Figuren gibt.

Solide historische Thrillerunterhaltung liefert Kastner mit seinem Roman auf jeden Fall – spannend und atmosphärisch dicht erzählt. Die Schwächen trüben ein wenig die Freude an dem Buch, sind aber nicht so schwerwiegend, dass sie den positiven Eindruck zerstören könnten – sie schmälern ihn eher.

Lohnenswert ist das Buch übrigens teils auch schon aufgrund der Gestaltung des Hardcovers. Selbst die Schrift hat der |Knaur|-Verlag in einem dunklen Blau gehalten. So wird ein Romantitel auch mal bei Druck und Gestaltung überzeugend umgesetzt.

Narciso, Giancarlo – schöne Hand des Todes, Die

Singapur: Fernab der Heimat kreuzen sich hier die Wege zweier Italiener, die sich zu Hause wohl gegenseitig nie wahrgenommen hätten. Der eine ist der unkonventionelle Weltenbummler Rodolfo, der sich seinen Lebensunterhalt als selbstständiger Übersetzer verdient, der andere ist Marco, der Boss eines großen internationalen Bauunternehmens. Auf den ersten Blick haben beide gar nichts gemeinsam. Allein in der Fremde entdecken sie allerdings ein paar Gemeinsamkeiten. Rodolfo hat stets unabhängig gelebt, Marco hat sich durch seine frühe Heirat schon sehr bald unter die Fittiche seiner Frau begeben, träumt aber heimlich immer noch von der Freiheit und Unabhängigkeit, die Rodolfo auslebt.

Die beiden ziehen regelmäßig zusammen durch die Kneipen Singapurs, doch ihre Freundschaft ist nur von kurzer Dauer. Marco steht eines Tages verzweifelt vor Rodolfos Tür und vertraut ihm einen Schließfachschlüssel und eine große Summe Bargeld an – für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte. Außerdem trägt er Rodolfo auf, sich im Fall der Fälle darum zu kümmern, dass seine Geliebte Diana das Land verlassen kann. Rodolfo willigt ein und schon kurze Zeit später liegt es an ihm, zu seinem Versprechen zu stehen, denn Marcos verbrannte Leiche wird gefunden.

Rodolfo nimmt Diana zunächst einmal bei sich auf, bis er die nötigen Papiere besorgt hat und sie das Land verlassen kann. Doch so einfach kommt er aus der ganzen Geschichte nicht wieder heraus. Rodolfo steckt schon sehr bald in ernsthaften Schwierigkeiten und wird zu einer Figur in einem Spiel, dessen Regeln er nicht zu durchschauen vermag.

Reichlich Vorschusslorbeeren kann Giancarlo Narciso bei der deutschen Erstveröffentlichung seines zweiten Romans vorweisen. Lobeshymnen in der italienischen Presse und dann noch die Auszeichnung mit dem renommierten Preis „Premio Tedeschi“. Zusammen mit dem überaus poetisch anmutenden deutschen Titel „Die schöne Hand des Todes“ erscheint das sehr viel versprechend, wobei aber zumindest Letzterer völlig falsche Erwartungen weckt.

Wer vom Titel auf den Inhalt schließt, der könnte enttäuscht werden. Was der Titel an sprachlicher Finesse und Poesie verspricht, das sucht man im Roman leider vergeblich, so dass auf jeden Fall die Frage berechtigt ist, warum der Verlag zu dieser Irreführung greift. In meinen Augen könnte man als Leser eine wesentlich realistischere Erwartungshaltung entwickeln, wenn man auch für die deutsche Ausgabe beim Originaltitel „Singapore Sling“ (Marcos Lieblingscocktail) geblieben wäre. Dementsprechend brauchte ich zu Beginn des Romans überraschend lange, um damit warm zu werden. Es gilt eben erst einmal, die eigene Erwartungshaltung komplett umzustülpen und sich während des Lesens umzuorientieren.

Hatte ich mir aufgrund von Klappentext, Titel und Titelbild eine exotische, atmosphärisch dichte, spannende Geschichte mit ausgefeilter, poetischer Sprache erhofft, so entpuppte sich der Roman als wesentlich nüchterner, gradliniger und weniger exotisch – wenngleich dennoch sehr spannend. Narcisos Thriller ist mit gerade einmal 283 Seiten recht kompakt geraten. Man wird unvermittelt in die Geschichte hineingestoßen, Figuren und Atmosphäre werden nicht gerade ausschweifend skizziert, aber etwa ab der Mitte wird die Geschichte dann so spannend, dass man möglichst schnell erfahren will, wie sie endet.

Der Plot, den Narciso inszeniert, hat es wirklich in sich. Rodolfo wird in eine verzwickte Geschichte hineingezogen, in der es viele unterschiedliche Interessen gibt. Jeder verfolgt seine eigenen Ziele und wer auf welcher Seite steht, wer vertrauenswürdig ist und wer falsch spielt, ist schwer zu entschlüsseln. In dieser Hinsicht ist Narcisos Roman wirklich sehr gut gelungen. Auch sein Spannungsaufbau weiß zu überzeugen. Die Geschichte entwickelt sich mit steigender Seitenzahl zunehmend rasanter und undurchsichtiger, so dass man schon wirklich konzentriert folgen muss, um nicht den Faden zu verlieren. Im Angesicht der Achterbahnfahrt, auf die Narciso Leser und Figuren zum Ende hin schickt, kann einem schon mal schwindelig werden.

Raffiniert knüpft Narciso Verbindungen zwischen unterschiedlichen Figuren und inszeniert einen frühen Showdown, der noch längst nicht das Ende markiert. Nach dem Showdown folgt eine kleine Verschnaufpause, die Leser und Figuren kurz wieder Atem schöpfen lässt, um sie dann mit einem letzten Knall zum Ende der Geschichte zu schicken. Danach bleibt der Eindruck eines „runden“ Romans. Die Geschichte wirkt in sich stimmig, der Plot gut konstruiert, wenngleich der eine oder andere kleinere Schwachpunkt im Gedächtnis bleibt. Die Motive des Täters lassen sich zwar begründen, bleiben aber in meinen Augen auch etwas blass und können somit nicht die letzten Zweifel ausräumen.

Ähnlich blass bleiben teilweise die Figuren. Insbesondere Rodolfo lässt einige Fragen aufkommen. Seine Person wirkt sehr verschlossen und kalt. Obwohl er Frau und Kind hat, sitzt er einsam am anderen Ende der Welt und schafft es höchstens einmal im Jahr, sich bei seiner Familie zu melden. Er wirkt irgendwie leblos und innerlich leer. Diesen Eindruck kann Narciso zwar zum Ende des Romans etwas relativieren, dennoch bleibt Rodolfo uns etwas schwer begreiflich. Ähnlich sieht es mit seinem Verhalten aus. Für meinen Geschmack bewegt er sich fast schon zu souverän durch dieses verzwickte, undurchsichtige Spiel, um bis in den letzten Winkel glaubwürdig zu sein. Einerseits bringt er bestimmten Figuren (obwohl er keinen Grund dazu hätte) überraschend viel Vertrauen entgegen, andererseits kann man ihm kaum Leichtgläubigkeit vorwerfen, so souverän, wie er oftmals die Lage meistert. Das ist ein etwas sonderbarer Widerspruch.

Auch die übrigen Figuren strahlen eine gewisse Kühle aus, die in einem etwas merkwürdigen Kontrast zur schwülen Hitze Singapurs steht. Sonderlich nah geht uns keine der Figuren, was sicherlich auch in der Kompaktheit der Handlung begründet liegt. Narciso konzentriert sich eindeutig auf seinen ausgeklügelten, rasanten Plot, der wirklich überzeugend und durchgängig spannend ist. Figuren und Atmosphäre treten dabei etwas in den Hintergrund.

Ein weiterer Reiz des Romans ist der Handlungsort. Singapur als Ort einer Thrillerhandlung bekommt man nicht sehr oft serviert, so dass die Atmosphäre und das ganze Drumherum des Romans zwangsläufig etwas aus dem Rahmen gewohnter Klischees fallen müssen. Das tun sie letztendlich auch. Narciso hat selbst jahrelang in Singapur gelebt und pendelt heute zwischen Mailand und Indonesien. Er kennt das Land also aus eigenen Erfahrungen und hegt eine besondere Beziehung zu Südostasien allgemein.

Dass das Bild, das Narciso von Singapur zeichnet, also absolut realistisch ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Trotzdem dauert es sehr lange, bis er diesen Vorteil voll ausspielt. In dem Handlungsort steckt mit Blick auf die Atmosphäre des Romans ein großes Potenzial, das Narciso leider nicht hundertprozentig ausschöpft. Ein Punkt, in dem die Kompaktheit des Romans etwas bedauerlich ist. Es entsteht zwar ein interessantes Bild von Singapur, zumal der durchschnittliche Mitteleuropäer darüber sicherlich nicht viel weiß, aber man hätte daraus sicherlich auch noch eine etwas dichtere Atmosphäre zaubern können. Singapur als Schmelztiegel unterschiedlicher asiatischer Kulturen, als Land ohne wirkliche Wurzeln und als Ansammlung moderner Bauwerke, ohne tief greifende Geschichte wird sehr deutlich ausgeformt, könnte aber hier und da auch tiefer greifend sein.

Was Narcisos sprachlichen Stil angeht, so ist der, wie angesprochen, längst nicht so feinfühlig und poetisch wie der Titel des Romans vermuten lässt. Er formuliert schlicht und etwas schnörkellos, sehr klar und direkt. Er scheint ein Faible für Marken zu haben, das an manchen Stellen etwas sonderbar anmutet, denn ich für meinen Teil finde es nicht unbedingt erwähnenswert, wenn jemand ein Poloshirt mit einem eingestickten Krokodil auf der Brust trägt.
Narciso konzentriert sich sehr auf die Interaktion der Figuren, schildert seine Handlung häufig in Dialogen und lässt auch trotz der gewählten Form des Ich-Erzählers nicht tiefer in seinen Protagonisten Rodolfo blicken. Sprachlich und inhaltlich fügt sich der Roman dennoch sehr gut zusammen. Letztendlich passt Narcisos Art zu Formulieren ganz gut zur Kompaktheit der Erzählung und zu seiner Konzentration auf den Plot.

Insgesamt betrachtet, ist Giancarlo Narciso mit „Die schöne Hand des Todes“ ein solider Thriller geglückt. Die Geschichte wird durchgängig spannend erzählt, der Plot ist ziemlich pfiffig inszeniert und entwickelt sich mit der Zeit so rasant, dass dem Leser fast schwindelig wird. Dass vor diesem Hintergrund die Figuren nicht so tief gezeichnet werden und sich auch die Atmosphäre Singapurs nicht bis in den letzten Winkel entfaltet, ist zwar eine etwas bedauerliche Begleiterscheinung – besonders wenn man im Hinterkopf behält, dass man aufgrund des deutschen Titels vielleicht mit einer etwas falschen Erwartungshaltung an das Buch herangeht -, aber letztendlich in gewissem Maß verzeihlich.

Bastian Sick – Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod

Deutsche Sprache – schwere Sprache. Das weiß jeder Ausländer, der die Mühe auf sich nimmt, sie zu lernen. Aber im Grunde wissen wir Deutschen das auch selbst ganz gut. Wie oft ist schon über Spezialitäten der deutschen Grammatik diskutiert worden, wie oft fallen einem die regionalen sprachlichen Unterschiede auf und wie oft ist man schon selbst über so manche hinterlistige Gemeinheit des deutschen Sprachdschungels gestolpert.

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