Alle Beiträge von Meike Schulte-Meyer

Goebel, Joey – Freaks

Bevor Joey Goebel für seinen Roman [„Vincent“ 1827 reichlich Applaus erntete, schrieb er bereits ein Drehbuch, das, umgeschrieben zum Roman „Freaks“, nun zu etwas verspäteter Ehre kommt. „Freaks“ ist ein Roman, der gleich mit dem ersten Satz bereits Punkte sammelt, steigt er doch mit einem der vermutlich besten Romananfänge der Literaturgeschichte in die Handlung ein: |“Leicht war es nicht, sechs Milliarden gebrochene Herzen auf einmal zu flicken, doch ich schaffte es.“| (S. 9)

Bei „Freaks“ ist der Name Programm. Die titelgebenden Freaks sind eine Band, zur der kaum ein Name besser passen dürfte als „The Freaks“. Eine bunter zusammengewürfelte Truppe dürfte man in noch keinem Probenraum der Welt gesehen haben.

Frontman und Sänger der Gruppe ist Luster, ein schwarzer Hobbyphilosoph und Möchtegern-Weltverbesserer. Aufgrund seiner schnellen Zunge und seines nie enden wollenden Redeschwalls sonderbaren Inhalts glauben die meisten Leute, er wäre durchgehend auf Drogen. Das mag auch schon deswegen naheliegen, weil seine Brüder stadtbekannte Dealer sind, hat mit der Realität aber nichts zu tun, denn Luster ist konsequent drogenfrei.

An den Drums sitzt die bildschöne, im Rollstuhl sitzende, 19jährige Aurora. Derzeit versucht sich die ehemalige Stripperin als Satanistin, was ihr permanentes Konfliktpotenzial in der ohnehin schon angekratzten Beziehung zu ihrem Vater, einem Pfarrer, liefert.

Gitarristin Opal zieht mit ihren 80 Jahren den Altersdurchschnitt der Band enorm nach oben. Sie will auf ihre alten Tage noch einmal richtig abrocken und fühlt sich eigentlich zu jung fürs Altersheim. Sie will noch mal richtig Spaß haben, ohne sich darum zu scheren, dass sie mit ihren Cowboystiefeln und dem Sex-Pistols-T-Shirt von den meisten Leuten ausgelacht wird.

Das krasse Gegenteil (zumindest dem Alter nach) ist Ember, die Bass spielt. Ember ist gerade einmal acht Jahre alt und damit kaum größer als ihre Bassgitarre. Auch Ember hat ein etwas gestörtes Verhältnis zu ihrer Umwelt, vor allem zu Eltern und Lehrern. Sie hasst alles und jeden, außer ihren Bandkollegen. Sie will alles sein, aber nicht süß.

Der fünfte im Bunde ist Ray, der Keyboarder. Ray ist ein irakischer Ex-Soldat, der sich nach Kentucky aufgemacht hat, um den amerikanischen Soldaten zu suchen, den er im ersten Golfkrieg verwundet hat. Ray will sich eigentlich nur entschuldigen, hat sich aber inzwischen so gut in Amerika eingelebt, dass er amerikanischer ist als so mancher Amerikaner.

Das Thema von „Freaks“ – eine kleine Band aus dem Mittleren Westen, die ihr Glück versucht – dürfte Joey Goebel aus persönlicher Erfahrung vertraut sein. Goebel, in Kentucky geboren, tourte früher mit seiner Punkrockband „The Mullets“ durch den Mittleren Westen.

Joey Goebel erzählt die Geschichte der Band aus ständig wechselnden Perspektiven. Jeder Absatz gibt in der Überschrift an, aus wessen Sicht er erzählt wird. Dabei werden auch vermeintliche Statisten zu Erzählern. Immer wieder lässt Goebel Außenstehende die Hauptfiguren beobachten – ein kleiner Kniff, um seine kuriosen Hauptfiguren auch immer wieder aus der Distanz betrachten zu können. Ihre Wirkung auf Außenstehende, ihr kurioser Eindruck, wenn sie zusammen einen Raum betreten, all das wird so besonders deutlich vermittelt.

Durch die ständigen perspektivischen Sprünge liegt dem Roman ein recht hohes Tempo zugrunde. Die Geschichte entwickelt sich mit einiger Dynamik und die perspektivischen Wechsel sorgen für eine gewisse Spannung. Teils bekommt man erst durch das Zusammensetzen der unterschiedlichen Beobachtungen und Gedanken ein vollständiges Bild der Geschehnisse, was den Reiz, der Geschichte weiter zu folgen, mit fortschreitender Seitenzahl erhöht.

Auf den ersten Blick mag „Freaks“ wie ein oberflächlicher Unterhaltungsroman erscheinen. Die Figuren wirken allesamt zu abgedreht, um realistisch zu erscheinen. Vielmehr polarisieren sie, stellen jeder für sich ein eigenes Extrem dar und erfordern auch beim Leser ein gewisses Maß an Toleranz. Wenn Goebel allerdings die Gedanken der unterschiedlichen Protagonisten schildert, dringt er tiefer in die Persönlichkeiten ein. Man kann zwar dennoch nicht gerade sagen, man würde in die Figuren eintauchen und mit ihnen fühlen können, dennoch macht Goebel ihre Motive und Gedanken größtenteils recht gut deutlich.

Das alles reicht verständlicherweise noch nicht für einen überragenden Roman, aber es gibt da noch die sprachliche Komponente, die Joey Goebel besonders auszeichnet. Auch sprachlich legt Goebel ein recht hohes Tempo vor. Er formuliert vor allem aber gewitzt und mit einer gewissen Ironie. Der Humor geht dabei gar nicht so sehr auf Kosten der Protagonisten, wie man mit Blick auf ihr Erscheinungsbild meinen möchte, sondern mehr auf Kosten ihrer Umwelt. Immer wieder kann man über komische Situationen und sonderbare Gespräche schmunzeln, die stets auch ein Stück weit den Geist der Zeit einfangen und die gesellschaftliche Situation portraitieren. Und darüber mag man den Protagonisten so manche Abgedrehtheit verzeihen.

Verglichen mit „Vincent“ wirkt „Freaks“ dennoch nicht ganz so ausgereift. Man merkt deutlich, dass „Freaks“ dem Ursprung nach ein etwas älteres Werk ist. Mit „Vincent“ hat Goebel sich schon erheblich weiterentwickelt. Mag manches an „Freaks“ noch etwas kindisch wirken, auch wenn Goebels Talent zwischendurch immer wieder zwischen den Zeilen hindurchfunkelt, so wirkt „Vincent“ eben schon ein ganzes Stück ausgegorener und zeigt wesentlich deutlicher als „Freaks“, dass Goebel ein ernstzunehmender und talentierter Autor ist, der großartige Ideen hat und diese sprachlich gelungen umsetzen kann.

Bleibt unterm Strich der Eindruck, dass „Freaks“ gegenüber „Vincent“ etwas schwächer daherkommt. Man merkt bei der Lektüre sehr schnell, dass es sich um ein früheres, nicht ganz so ausgereiftes Werk des Autors handelt. Dennoch weiß der Roman zu unterhalten. Die Figuren sind interessant, wenngleich ziemlich abgedreht, Goebels Sprache ist gewitzt und sein Erzählstil temporeich und voller spannungssteigernder Perspektivenwechsel. Alles in allem also durchaus gute Unterhaltung, obwohl man weiß, dass Goebel es eigentlich noch besser kann.

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Stanišic, Saša – Wie der Soldat das Grammofon repariert

Saša Stanišics bisherige literarische Karriere mutet ein wenig so an, als wäre sie selbst einem Roman entsprungen. Es war 1992, als der 1978 in Bosnien geborene Autor mit seiner Familie im deutschen Exil Zuflucht suchte. Seit 2001 schreibt und publiziert er deutschsprachige Texte und erreichte 2005 etwas, das für jemandem, für den Deutsch im Grunde immer noch eine Fremdsprache ist, umso beeindruckender erscheint: Er gewann den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. In diesem Jahr setzt er mit seinem Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ noch eins drauf, indem er es bis auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2006 gebracht hat. Ist schon faszinierend, wie der junge Bosnier den Deutschen zeigt, was man mit deutschen Worten so Feines zaubern kann.

Um das Zaubern geht es gewissermaßen auch in besagtem Debütroman. Es ist sein Opa Slavko, der den jungen Aleksandar mit Zauberhut und Zauberstab ausstaffiert und ihm mit auf den Weg gibt, dass Erfindung und Fantasie die wichtigsten Gaben sind, die der Mensch hat. Aleksandar soll sich die Welt schöner denken, als sie ist – ein Ratschlag, den Aleksandar schon bald zu beherzigen weiß.

Opa Slavko segnet kurz darauf das Zeitliche und auf Aleksandars Heimat kommen große Veränderungen zu. In Jugoslawien bricht der Krieg aus. Die Schrecken des Krieges, Ängste und Verluste dominieren das Leben und Aleksandar ist in der Tat gut damit beraten, sich die Welt schöner zu denken, als sie ist. Aleksandars Heimatstadt Višegrad fällt, seine Familie flieht und Aleksandar verliert in der Hektik des Aufbruchs das Mädchen Asija aus den Augen, mit dem er erst vor kurzem Freundschaft geschlossen hatte.

Aleksandar wird mit seiner Familie in Deutschland heimisch, doch stets hält Aleksandar die Erinnerungen an die Heimat und die große Familie wach. Er schreibt von Begebenheiten in der Familie und Kuriositäten seiner Heimat. Zehn Jahre nach der Flucht bucht der mittlerweile erwachsene Aleksandar endlich einen Flug nach Sarajevo, um zu sehen, was aus Familie und Heimat geworden ist und ob er Asija endlich wieder findet …

„Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist unterm Strich im Grunde eine literarische Bewältigung des Balkankrieges. Es gibt schon auf den ersten Blick auffällig viele Parallelen zwischen Autor und Protagonist; so gesehen kann man die Geschichte sicherlich auch als persönliche und autobiographische Aufarbeitung des Themas sehen. Genau wie seine Hauptfigur Aleksandar ist auch Saša Stanišic im bosnischen Višegrad geboren und beiden gemein ist sicherlich auch die Vorliebe, Erinnerungen und kuriose Geschichten schriftlich festzuhalten.

Obwohl Stanišic kein Muttersprachler ist, geht er mit der deutschen Sprache absolut souverän um. Er hat eine verschmitzte Art, seine Geschichte zu erzählen, legt eine gewisse Poesie in seine Worte und unterstreicht seine Geschichte mit Ironie und Wortwitz. Dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist, merkt man ihm beileibe nicht an, und das ist schon durchaus beachtlich und zeigt, wie intensiv Stanišic sich mit der deutschen Sprache auseinander gesetzt haben muss.

Stanišic schafft es mit seinen Worten, die Geschichte und die Figuren wirklich lebendig werden zu lassen und gerade auch die Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks unterstreicht diese Lebhaftigkeit ganz wunderbar. Die Stimmen passen ganz fantastisch zu den Figuren. Man sieht sie förmlich vor sich – Opa Slavko, wie er Maß nimmt für Aleksandars Zauberhut, Tante Taifun, die beim Familiefest in hektischer Aufregung umherwirbelt, und selbst als Aleksandar beim Angeln Zwiesprache mit der Drina hält, die durch Višegrad fließt, wirkt das Ganze so wunderbar plastisch, dass es einem nicht eine Sekunde lang komisch vorkommt, dass sich ein Junge mit einem Fluss unterhält.

„Wie der Soldat das Grammofon repariert“ vereint enorm viele menschliche Gefühle in sich und wirkt wie ein Stück Leben auf CD gebannt. Die Unbeschwertheit der Kindheit, die Geborgenheit der Familie, die mit der sich verändernden Stimmung im Land erste Risse bekommt. Die Unbegreiflichkeit und Unbeschreiblichkeit der Kriegsgräuel, die Sehnsucht nach Frieden und Heimat, die Ängste von Flucht und Zerstörung, die Tragik wie auch die Komik, die all den kleinen alltäglichen Dingen innewohnt – „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist ein schillerndes Kaleidoskop menschlicher Gefühle.

Ganz nebenbei sensibilisiert Stanišic den Leser bzw. Hörer für das, was Anfang der 90er im ehemaligen Jugoslawien geschah – ein unbeschreiblich brutaler Krieg mitten in Europa. Und so stimmt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ in jedem Fall auch nachdenklich. Die Hörspielproduktion, die unter der Regie von Leonhard Koppelmann entstand, fängt (nicht zuletzt dank der gelungenen musikalischen Untermalung) diese Stimmungen und Gefühle ein, macht sie dem Leser zugänglich und das Buch damit zu einem echten Erlebnis.

Unterm Strich ist Saša Stanišic mit „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ein in jeder Hinsicht lobenswerter Debütroman geglückt. Sprachlich fantastisch, wunderbar bildhaft und voller großer Gefühle, weckt auch die gleichnamige Hörspielproduktion vielfältige Gefühle. Tragisch und komisch zugleich präsentiert sich Stanišics Geschichte als ein Stück manifestierte Zeitgeschichte um Familie, Krieg und alltägliche Kuriositäten.

Man kann das Werk eigentlich nur jedem ans Herz legen. Als Buch dürfte „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ schon für sich genommen ein wunderbar melancholischer Genuss sein. Das 78-minütige Hörspiel füllt die Geschichte obendrein auf wunderbare Weise mit Leben.

Der gleichnamige Roman erschien im |Luchterhand Literaturverlag|:
[luchterhand-literaturverlag.de]http://www.randomhouse.de/luchterhand/
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Jones, Gail – Traum vom Sprechen, Der

Australische Literatur kommt einem in Europa bekanntermaßen eher selten zwischen die Finger. Nachdem aber nun vor kurzem schon Steven Carroll mit seinem Roman [„Die Kunst des Lokomotivführens“ 2853 Eindruck schinden konnte und dafür auch von Elke Heidenreich in ihrer Sendung „Lesen!“ gelobt wurde, steht mit Gail Jones eine weitere literarische Hoffnung Australiens in den Startlöchern.

Ihr Roman „Der Traum vom Sprechen“ stand zusammen mit Autoren wie Curtis Sittenfeld [(„Eine Klasse für sich“) 2772 und Zadie Smith (die letztendlich auch gewann) auf der Longlist des |Orange Prize| 2006. Ausreichend Vorschusslorbeeren, um mal einen näheren Blick auf die Autorin und ihr Werk zu riskieren.

„Der Traum vom Sprechen“ erzählt die Geschichte von Alice Black. Schon seit Kindheitstagen hegt Alice eine Faszination für Maschinen und Technik. Während ihre Schwester Norah das allseits beliebte Mädchen mit der künstlerischen Ader ist, verbringt Alice ihre Tage mit ihrem Vater – guckt mit ihm zusammen Football und lebt ihre Technikbegeisterung aus.

Die erwachsene Alice ist es aber, der Jones im weiteren Verlauf des Buches den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit schenkt. Alice hält sich im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Paris auf. Sie schreibt ein Buch über die Poetik der Moderne. Von ihrem Freund Stephen hat sie sich gerade getrennt, als sie auf einer Bahnfahrt einen älteren Herrn kennen lernt – Mr. Sakamoto.

Wie sich schon bald herausstellt, teilt Mr. Sakamoto die Begeisterung für moderne Technik, Erfindungen und Erfinder. Mr. Sakamoto ist ein Überlebender des Atombombenabwurfs auf Nagasaki, und obwohl beide Personen einen so unterschiedlichen Horizont haben, knüpfen sie schon bald die zarten Bande einer Freundschaft. Mr. Sakamoto lockt Alice aus ihrer selbstgewählten Isolation und füttert sie mit Anekdoten über diverse Erfinder, die ihr bei ihrer „Poetik der Moderne“ helfen.

„Der Traum vom Sprechen“ skizziert in erster Linie die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Alice und Mr. Sakamoto. Beide Lebenswege könnten unterschiedlicher kaum sein, und wie Jones diese zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten auf so behutsame Art zusammenschweißt, macht inhaltlich das Besondere an der Geschichte aus. Mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto öffnen sich für Alice ganz ungeahnte Möglichkeiten. Sie beginnt langsam, sich einem anderen Menschen zu öffnen, lernt endlich jemanden kennen, der ihr wirklich viel bedeutet und der ihr fernab der Heimat ein Gefühl von Zuhause gibt.

Vor dem ersten Aufeinandertreffen mit Mr. Sakamoto wirkt Alices Leben irgendwie zerstreut, fast so, wie sie selbst das Aufkeimen ihrer Technikbegeisterung schildert: |“Es gab keinen Anfang. Nur Fragmente. Nur Geschichten“| (S. 47). Dementsprechend wirkt auch Jones‘ Erzählweise sprunghaft und unstet und man tut sich etwas schwer damit, richtig mit der Handlung warm zu werden.

Mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto strömt erstmals auch mehr Ruhe in die Erzählweise und damit auch in Alices Leben ein. War die Geschichte im ersten Romandrittel auch eher weniger fesselnd, so gewinnt sie zunehmend an Fahrt, entwickelt einen gewissen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Ähnlich wie Alice erliegt auch der Leser der Faszination, die von einer Figur wie Mr. Sakamato ausgeht. Trotz all der traumatischen Erfahrungen aus Kindertagen, trotz all der schmerzhaften Verluste durch den Atombombenabwurf, wirkt Mr. Sakamoto ruhig und in sich gekehrt. Dazu beigetragen hat vor allem die Erfindung, die Mr. Sakamoto am meisten fasziniert und der er nun sein Leben gewidmet hat: Das Telefon.

Mr. Sakamoto schreibt eine Biographie über Alexander Graham Bell, den Erfinder des Telefons – der Erfindung, die es ihm ermöglicht hat, mit seinem eigenen Kummer fertig zu werden. Es war in den langen Telefonaten mit seinem Onkel Tadeo, dass er seinen Kummer erstmals einem Menschen anvertraut hat. Einfühlsam und geradezu diskret geht Jones mit Mr. Sakamotos unbeschreiblich traumatischen Erlebnissen um. Vieles lässt sie den Leser selbst erfühlen, ohne zu viele Worte machen zu müssen.

Überhaupt liegt ein großer Teil der Faszination des Romans auf sprachlicher Ebene. Jones‘ Sprache ist zwar durchaus eigenwillig, aber auch stets sehr akkurat und wohlakzentuiert. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, erzeugt lebhafte Bilder und greifbare Emotionen. Obwohl sie zu den Figuren eine gewisse Distanz bestehen lässt, sie leise beobachtend aus der Ferne betrachtet, schafft sie es, dem Leser ihre Figuren näher zu bringen. Ein Stück weit bleiben sie dabei rätselhaft, einen Teil ihrer Persönlichkeiten kann man auch nach vollendeter Lektüre noch nicht ausloten, dennoch schafft Jones es, dem Leser bestimmte Gefühle und persönliche Eindrücke plastisch zu vermitteln.

Sprachlich ist das Ganze auf teils durchaus etwas gehobenem Niveau verpackt. Manche Sätze sind von faszinierender Bildhaftigkeit, so dass man bewusst langsam lesen möchte, um sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen. So übt das Buch insgesamt betrachtet eine stille Faszination aus. „Der Traum vom Sprechen“ ist ein leisetretender Roman – intelligent geschrieben und mit Figuren (vor allem Mr. Sakamoto), die eine gewisse Faszination ausüben. Auch wenn die Geschichte weitestgehend eher handlungsarm ist (nacherzählbare Handlung gibt es eher wenig), so zeichnet Jones dennoch intensive Stimmungen, die in scheinbarem Widerspruch zur dennoch offensichtlichen Distanz zu den Figuren steht.

Bleibt unterm Strich ein Buch im Gedächtnis, das sich am ehesten als literarischen Kleinod titulieren lässt. „Der Traum vom Sprechen“ ist ein Roman, der sicherlich nicht gerade große Wellen schlagen wird, aber dennoch mit einer faszinierenden Sprache und einer deutlich wahrnehmbaren Kraft erzählt ist – einfühlsam und diskret zurückhaltend zugleich.

Mag Jones‘ sprunghafter Erzählstil anfangs noch etwas unsortiert wirken, so wird die Geschichte mit dem Auftauchen von Mr. Sakamoto zunehmend faszinierender. Wer die Muße hat, Figuren für sich wirken und sich bei der Lektüre von der feinakzentuierten Sprache tragen zu lassen, der wird den Figuren sicherlich einige Sympathien entgegenbringen und auch aus der Lektüre an sich einiges Positives mitnehmen.

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Carroll, Steven – Kunst des Lokomotivführens, Die

Was hier dem Titel nach eher wie Fachlektüre für angehende Lokomotivführer klingt, ist in Wirklichkeit ein Roman, der sich um Dinge wie Liebe, Lebensträume und enttäuschte Hoffnungen dreht. Natürlich spielt auch die Kunst des Lokomotivführens eine Rolle – anders wäre der gleichnamige Titel schließlich kaum zu rechtfertigen – Lektüre für „Trainspotter“ und Modeleisenbahnfetischisten ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ aber dennoch nicht.

Die Geschichte spielt Anfang der fünfziger Jahre in einem Vorort von Melbourne. Es ist ein warmer Sommerabend, an dem George Bedser Nachbarn und Freunde in sein Haus einlädt. Anlass ist die Verlobung seiner Tochter Patsy. Auch Vic, Rita und ihr Sohn Michael machen sich auf zum Haus der Bedsers. Vic ist Lokomotivführer. Noch fährt er nur Güterzüge, aber er träumt vom „Big Wheel“, den großen Personenzügen, die nur die besten Lokführer fahren dürfen. Eine der Ikonen des „Big Wheel“ ist Paddy Ryan, Vics Lehrmeister, der zum Zeitpunkt, als Vic mit Frau und Sohn zur Party im Haus der Bedsers geht, gerade einen vollbesetzten Personenzug nach Sydney fährt.

Während Paddy den Zug geschmeidig über die Schienen nach Sydney gleiten lässt, taucht am Ende der Straße, ganz in der Nähe des Hauses der Bedsers, ein dunkler Wagen auf. Der Fahrer ist Patsys heimlicher Geliebter Jimmy, der Patsy ein letztes Mal sehen will, bevor er das Land verlässt. Als er endlich seinen Mut zusammenrafft und das Haus betritt, ist die Party bereits in vollem Gange. Etwa zeitgleich überfährt Lokomotivführer Paddy gerade zum zweiten Mal ein Haltesignal und steuert auf eine unausweichlich erscheinende Katastrophe zu. Doch Paddy ist nicht der Einzige, dessen Leben sich in dieser Nacht auf entscheidende Weise verändert …

Der Australier Steven Carroll legt mit „Die Kunst des Lokomotivführens“ bereits seinen vierten Roman vor, mit dem ihm in seiner Heimat der Durchbruch gelang. Das Buch bekam jede Menge guter Kritik und wurde für die wichtigsten Literaturpreise des Landes nominiert.

„Die Kunst des Lokomotivführens“ ist im Grunde eine Momentaufnahme. Die reine Handlung beschränkt sich im Wesentlichen auf einen einzigen Abend. Vic geht mit Frau und Sohn zur Party der Bedsers und der Großteil der Geschichte passiert auf dem Weg dorthin und während bzw. nach der Party. Carroll skizziert also keine weit gefasste Handlung, die die Entwicklung der Charaktere widerspiegelt, sondern zeigt im Augenblick einer Momentaufnahmen einen markanten Lebensausschnitt, der für alle Beteiligten auf die eine oder andere Art einen Einschnitt darstellt.

Immer wieder schlüpft Carroll dabei in die Köpfe seiner Protagonisten, skizziert ihre Gedanken, lässt auf Vergangenes zurückblicken und schaut hier und da auch mal in die Zukunft. Die Figuren sind damit der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Carroll stellt Verknüpfungen zwischen den Figuren dar, demonstriert, wie sich Schicksale überkreuzen und eine unbewusste Handlung eine Kette von Ereignissen hinter sich herziehen kann.

Carroll zeigt, wie die Ereignisse zusammenhängen, wie eine Sache eine andere bedingt und wie kleine Aktionen des einen das Leben des anderen verändern können. Was die Lektüre dabei faszinierend macht, sind die Portraits der Figuren, die Carroll abliefert. Obwohl der Leser die Figuren nur einen Augenblick lang begleitet, erfährt er dennoch sehr viel über sie. Carroll lässt den Leser tief in die Abgründe der unterschiedlichen Persönlichkeiten blicken. Er skizziert die entscheidenden Momente der verschiedenen Lebensläufe nach und lässt die Figuren damit sehr plastisch vor dem Auge des Lesers zum Leben erwachen.

Die Figuren machen den Roman aus, und es ist schon faszinierend, wie ein Roman, der augenscheinlich so wenig Handlung aufweist, dennoch auf eine gewisse Art auch zu fesseln weiß. Der Leser ahnt (bzw. weiß durch die Lektüre des Klappentextes), dass für die Figuren einschneidende Veränderungen ins Haus stehen. Man wartet gespannt ab, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt.

Was Carroll mit seinem Roman sehr menschlich und lebensecht inszeniert, wirkt wie ein Ausschnitt Lebensalltag. Er packt all die Emotionen und Gedanken, welche die Menschen tagein, tagaus beschäftigen, in seinen Roman. Was Carrolls Protagonisten beschäftigt, sind Liebe und Verlust, die großen Lebensträume und Hoffnungen, die irgendwann enttäuscht werden. Carroll zeigt, wie zerbrechlich Glück sein kann und wie sehr der Verlauf des Lebensweges von einem einzigen Augenblick abhängen kann. Auf diese Weise entwickelt der Roman mit zunehmender Seitenzahl eine beachtliche Tiefe.

Carroll packt einerseits sehr viel Leben in seinen Roman, hat aber andererseits ein sehr stilles und leisetretendes Werk abgeliefert. Die schicksalhaften Wendungen der Nacht kommen auf leisen Sohlen herangeschlichen, ohne mit einem Paukenschlag alles auf den Kopf zu stellen. Auch sprachlich ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ eher ein Buch der leisen Töne. Carroll formuliert einfach und ohne viel Effekthascherei – schlicht, aber nichtsdestotrotz mit einem gewissen Einfühlungsvermögen.

Wer Charakterstudien und Momentaufnahmen allerdings wenig abgewinnen kann, dem wird auch das Buch wenig Freunde machen. Auf der Handlungsebene passiert halt ausgesprochen wenig, Carroll bringt den Leser dazu, mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen zu achten, auf Persönlichkeiten und die Schicksalhaftigkeit des Augenblicks. Wer dafür kein Auge hat, der wird sich vermutlich langweilen.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Die Kunst des Lokomotivführens“ ein leiser Roman ist, der zunächst ganz unspektakulär daherkommt, aber in seinen Beobachtungen tief in die Charaktere eintaucht. Wem tiefgründig skizzierte Figuren wichtig sind, der wird dem Buch mit Sicherheit viel abgewinnen können. „Die Kunst des Lokomotivführens“ ist ein Roman, der zunächst ganz gemächlich in Fahrt kommt, sich mit zunehmender Seitenzahl aber stetig gewaltiger entfaltet und erst zum Ende hin die Kraft entblößt, die in ihm schlummert.

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Domínguez, Carlos María – Papierhaus, Das

Die Liebe zu Büchern hat schon so manche Buchseite gefüllt. Immer wieder manifestieren Autoren ihre eigene Leseleidenschaft in einem Roman, der quasi als Huldigung an die Literatur zu verstehen ist. Manchmal werden richtige Schmöker daraus, wie [„Der Schatten des Windes“ 2184 von Carlos Ruiz Zafón.

Andere Autoren packen das Thema wiederum gänzlich anders an und erschaffen humoristische Fantasy, wie es Walter Moers mit [„Die Stadt der träumenden Bücher“ 2486 gelungen ist. Und wieder andere erschaffen auf weniger als hundert Seiten eine so schöne Hommage an das Lesen, dass man es bedauert, dass die Lektüre nicht länger als für einen verregneten Sonntagnachmittag reicht – so geschehen im Fall von Carlos María Domínguez und seiner Novelle „Das Papierhaus“.

Schon der Einstieg in die Geschichte ist gleichermaßen skurril wie liebenswürdig. Die Literaturdozentin Bluma Lennon kauft in einem Buchladen in London eine Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und ist an der ersten Straßenecke bereits so vertieft in die neue Lektüre, dass sie prompt von einem Auto überfahren wird und stirbt. Ihren Platz an der Uni nimmt fortan ihr Kollege ein. Der staunt nicht schlecht, als ihn nach einigen Tagen ein Päckchen erreicht, das an Bluma adressiert ist und eine von Zementstaub verunstaltete Ausgabe von Joseph Conrads Roman „Schattenlinie“ enthält.

Auf der ersten Seite des Romans offenbart eine Widmung von Bluma, dass sie das Buch einem gewissen Carlos geschenkt hat. Das weckt die Neugier des namenlosen Ich-Erzählers. Er macht sich auf die Suche nach Carlos und will herausfinden, welche Geschichte hinter dem Buch steckt.

Eine Spur führt ihn nach Buenos Aires, wo er den Buchliebhaber Delgado trifft, der Carlos früher kannte. Der erzählt ihm die Geschichte eines geradezu fanatischen Bücherfreundes. Carlos‘ Haus ist ein grandioses Bücherrefugium – immens in seinem Umfang und verzwickt in seiner Katalogisierung. Als der Katalog bei einem Brand in Flammen aufgeht, fasst Carlos einen merkwürdigen Entschluss …

„Das Papierhaus“ ist eine wunderschöne, geradezu poetische Huldigung an das Lesen. Alle Figuren in Domínguez‘ Geschichte haben eines gemeinsam – sie lieben Bücher, teils auf eine gar besessene, fanatische Art. Für alle Figuren ist diese Leidenschaft lebensbestimmend. Sie durchdringt alles und ist der eine Punkt, um den in der Lebensausrichtung alles kreist – bei den einen mehr, bei den anderen weniger.

Blumas kurzer Auftritt wird so schnell beendet, wie er begonnen hat. Aber auch für die übrigen Figuren dreht sich alles um Bücher. Für den Ich-Erzähler, weil es sein Beruf ist, für Delgado, weil es seine ganz private Leidenschaft ist. Delgado hat sich eine separate Bücherwohnung eingerichtet, in der er sich verkriecht, um sich ganz dem Schmökern hinzugeben.

Doch verglichen mit Carlos‘ Buchleidenschaft wirk Delgados Verhältnis zu Büchern fast noch gesund und normal. Carlos ist ein richtiger Bücherjunkie. Er geht keinem Beruf nach, hat sein ganzes Leben dem Lesen gewidmet, um tagein, tagaus nichts anderes zu tun als Bücher zu kaufen, zu katalogisieren und zu lesen. Als bekennender Bücherwurm mag man bei der Lektüre ein wenig neidisch auf Carlos‘ bibliophil so ausschweifenden Lebensstil sein, aber mit dem Neid ist es schnell vorbei, wenn man sieht, zu welch einem Menschen Carlos seine Leidenschaft gemacht hat – mysteriös, einsam und wunderlich.

Jemand, der wie ich Bücher auch stets schneller kauft, als er sie gelesen bekommt, kann sich Carlos‘ ausufernde Leidenschaft sehr schön als mahnendes Beispiel vor Augen führen, um seine ungezügelte Buchleidenschaft ein wenig zu bremsen und in vernünftigen Bahnen zu halten. Als mahnender Zeigefinger wird „Das Papierhaus“ somit definitiv einen besonderen Platz in meinem Bücherregal finden und mich hoffentlich vor den Folgen maßlosen Bücherkonsums behüten.

„Das Papierhaus“ ist |das| Buch für alle, die gerade wieder einmal über die Anschaffung eines neuen Bücherregals nachdenken oder wiederholt die Buchrücken absuchen, nach Titeln, die in die zweite Regalreihe verbannt werden können, um Platz für die letzten Neuanschaffungen zu machen. Wer gerne liest und Bücher liebt, der wird sich in irgendeiner der Figuren dieser Novelle ganz bestimmt wiederfinden.

Was die Lektüre obendrein liebenswert macht, ist Domínguez‘ Erzählstil. Leichtfüßig, aber auch mit einer gewissen Poesie in den Worten, erzählt er seine Geschichte, die sich mal tragisch entwickelt, mal ironisch. Schnell wickelt er den Leser um den kleinen Finger, zieht ihn tief in seine kleine Geschichte hinein und lässt ihn erst wieder los, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Domínguez weiß auf eine ganz unscheinbare Art zu fesseln, und spätestens wenn der Ich-Erzähler sich in Buenos Aires auf Spurensuche begibt und von einem Buchhändler allerhand sonderbare Auskünfte erhält, mag man das Buch nicht mehr beiseite legen.

Kurzum, mit „Das Papierhaus“ ist Carlos María Domínguez ein liebenswerter kleiner Schmöker geglückt, der die Liebe zu Büchern in eine schöne Geschichte kleidet. Hinreißend erzählt und mit einem Sinn fürs Skurrile, ist „Das Papierhaus“ fantastische Lektüre für jeden, der eine Leidenschaft fürs Lesen hegt.

|Ergänzend dazu: Unsere [Rezension 1555 der Hörbuchfassung.|

Dexter, Pete – Train

Pete Dexter ist ein Autor, der sich schon zu mehreren Gelegenheiten einen Namen gemacht hat, hierzulande aber dennoch nur einen eher geringen Bekanntheitsgrad verweisen kann. 1988 gewann er mit seinem Roman „Paris Trout“ (zu deutsch „Tollwütig“) den National Book Award. Unter anderem schrieb er die Drehbücher für die Filme „Rush“ und „Nach eigenen Regeln“. Nun geht Dexter mit seinem aktuellen Roman „Train“ in Deutschland erneut an den Start.

Wir schreiben das Jahr 1953. In den USA wird die Rassentrennung weitestgehend immer noch praktiziert, so auch in dem renommierten Golfclub |Brookline| in Los Angeles. Die weißen Mitglieder spazieren über die schmucken, frischgrünen Fairways, während die schwarzen Caddies ihnen die Taschen hinterhertragen. Einer der Caddies ist der siebzehnjährige Lionel Walk, mit Spitznamen ‚Train‘ genannt.

Auch Detective Miller Packard vom LAPD spielt in Brookline Golf, und er ist der Erste, der entdeckt, dass Train nicht nur ein brauchbarer Caddie ist, sondern vor allem auch selbst ein talentierter Golfer. Doch dann trennt das Schicksal die beiden wieder, bevor es sie richtig zusammengeführt hat. Zwei Caddies des Clubs werden in ein Verbrechen verwickelt, worauf alle schwarzen Caddies entlassen werden, aus Angst um den guten Ruf des Clubs.

Die beiden Caddies haben einen reichen Mann erschossen und dessen Frau Norah vergewaltigt. Packard übernimmt den Fall und verliebt sich dabei in Norah. Schon kurze Zeit später zieht Packard bei ihr ein und er spürt auch Train im Laufe der Zeit wieder auf. Packard nimmt den talentierten Golfer unter seine Fittiche und lässt ihn zusammen mit seinem Kumpel Plural in Norahs Gästehaus wohnen. Doch dann nimmt das Schicksal wieder seinen verhängnisvollen Lauf …

„Train“ ist ein insgesamt faszinierendes Buch. Dexter versteht es, mit dem Leser zu spielen. Er fordert ihn, lenkt ihn und stößt ihn dann wieder vor den Kopf. „Train“ zu lesen, ist in gewisser Weise ein wenig verstörend und überraschend. Der Autor baut seinen Roman zunächst wie einen Thriller auf. Er stellt die Figuren vor, zeigt ihre positiven Züge, verschweigt aber auch ihre Schattenseiten nicht. Jede Figur hat eine gewisse Ambivalenz, und so tut sich der Leser schwer, seine Sympathien zu verteilen.

Besonders zwiespältige Figuren sind Train und Miller Packard. Train ist als Hauptfigur und Titelheld der erste Sympathieträger der Geschichte. Dabei hat auch er eine sehr düstere Seite, fürchtet sich nicht zu Unrecht vor der Polizei, hat er sich doch eines Mordes schuldig gemacht. Dennoch schafft man es nicht, Train seine Sympathien zu entziehen.

Ähnlich ergeht es einem mit Miller Packard. Packard ist jemand, der den Menschen hinter die Fassade schaut. Für ihn ist augenscheinlich unwichtig, dass Train schwarz ist. Er sieht nur den talentierten Golfer, den er fördern möchte. Das verschafft ihm beim Leser erst einmal ein ungemeinen Sympathiebonus. Als Packard dann aber im Fall der beiden Caddies ermittelt, muss der Leser schnell seine Meinung revidieren, und das fällt nach Packards sympathischem Auftakt sehr schwer. Packards Verhalten ist durch nichts zu entschuldigen, und doch mag man als Leser nicht so recht glauben, dass der Mann so skrupellos und knallhart agieren kann, wie er es tut.

Packard ist so gesehen die interessanteste Figur. Er steht jenseits von Gut und Böse. Obwohl er eigentlich auf der Seite von Recht und Ordnung stehen sollte, geht er mehr als nur einen Schritt zu weit. Das verleiht ihm eine unheimliche Aura, die in gewisser Weise faszinierend wirkt. Und genau das ist letztendlich das Hinterhältige an Dexters Figurenzeichnung: Er verwischt die Übergänge zwischen Gut und Böse, lässt den Leser Sympathien verteilen, die er später zurücknehmen möchte, und stellt damit dessen Wertvorstellungen auf die Probe.

„Train“ ist der Art nach ein Krimi Noir, ähnlich wie James Ellroys [„L.A. Confidential“. 1187 Aber so wie der Leser sich mit Blick auf die Figuren keine allzu feste Meinung bilden sollte, muss er auch mit Blick auf das Genre offen bleiben. „Train“ wird wie ein Krimi aufgebaut, entwickelt eine düstere und unheilvolle Atmosphäre, läuft aber letztendlich auf etwas ganz anderes hinaus. Dexter webt einen dichten Spannungsbogen. Man hegt als Leser so manche böse Vorahnung, wird aber auch darin erneut von Dexter herausgefordert.

Er gibt dem Leser nicht genau das, was er erwartet und was das Genre ihm vorgibt. Er bricht aus der vorgefassten Form aus und konzentriert sich am Ende voll und ganz auf seine Figuren. Der Spannung tut das keinen Abbruch. Man spürt, dass Konfliktpotenzial in der Luft ist. Die Spannung zwischen den Figuren knistert geradezu, auch wenn sie irgendwie diffus bleibt, und man weiß ganz genau, dass diese Personenkonstellation auf etwas Unheilvolles hinauslaufen wird. Und doch verläuft das Ganze dann anders, als man zunächst vorausahnen mag.

Dexters Stärke ist vor allem seine eindringliche Figurenzeichnung. Besonders Train als Hauptfigur des Romans wirkt sehr plastisch. Man fühlt mit ihm und scheint ihm trotz seiner unergründlichen dunklen Seite stets sehr nah zu sein. Die übrigen Figuren sind da schon eine größere Herausforderung. Packard bleibt von allen Figuren am rätselhaftesten. Er lässt sich nur schwer begreifen, wirkt unberechenbar und kompensiert seine sympathischen, menschlichen Züge durch eine düstere, unheilvolle und skrupellose Seite, deren Ausmaß sich schwer erfassen lässt. Der Roman wirkt vor allem durch den Gegensatz dieser beiden Figuren, die der Autor getrennt voneinander beobachtet, besonders spannungsreich.

Auf diesem Spannungsfeld begründet sich die gesamte Atmosphäre des Romans. Dexter pflegt einen sehr klaren und schnörkellosen Stil, erzählt sehr prägnant und kommt ohne viel schmückendes Beiwerk aus. Fast schon nüchtern wirkt seine Erzählweise, die in ihrer Klarheit die atmosphärische Dichte des Romans unterstreicht. Doch diese Einfachheit ist wirklich nur oberflächlich. „Train“ fordert den Leser stets aufs Neue heraus, führt ihn an der Nase herum und fordert ihn immer wieder heraus, seine Position zu überdenken, und übt ganz nebenbei noch unterschwellig Kritik an gesellschaftlichen Konventionen.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass Pete Dexter mit „Train“ einen Roman abgeliefert hat, der vielschichtiger ist, als er auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Lektüre ist gewissermaßen eine Herausforderung, der zu stellen sich aber durchaus lohnt. Man kommt in den Genuss außerordentlich präzise gezeichneter Figuren (besonders im Fall der Hauptfigur Train) und einer atmosphärisch dichten, geradezu unheilvoll knisternden Spannung, die Dexter in einer klaren und prägnanten Sprache verpackt.

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Sittenfeld, Curtis – Eine Klasse für sich

Mit reichlich Vorschusslorbeeren geht derzeit der Debütroman von Curtis Sittenfeld in Deutschland an den Start. Die |New York Times| kürte „Eine Klasse für sich“ als einen der fünf besten Romane des Jahres 2005. Dass Curtis Sittenfeld bei der |New York Times| aber einen Sympathiebonus haben dürfte, sollte man im gleichen Atemzug vielleicht auch erwähnen, denn Sittenfeld schreibt schon seit ihrem 16. Lebensjahr für diverse Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eben auch für die |New York Times|. Was bleibt also übrig von Curtis Sittenfelds Debüt, wenn man die rosarote Brille der |New York Times| einmal beiseite legt? Ist all der Rummel um die 29-jährige Autorin nur Hype oder steckt mehr dahinter?

Doch worum geht es bei „Eine Klasse für sich“ überhaupt? Der Roman erzählt die Geschichte der harten Highschool-Jahre der vierzehnjährigen Lee Fiora. Lee Fiora, durchschnittliche, amerikanische Mittelschicht, ist in ihrer Kleinstadt in Indiana eines der herausragenden Mädchen ihrer Klasse. Um so härter fällt ihre Ernüchterung aus, als sie mittels Stipendium an ein Ostküsten-Internat wechselt. Eine Welt wie in einer Hochglanzbroschüre: ehrwürdige Backsteingebäude, akkurat geschnittener Rasen, ordentliche, gut gekleidete Schüler, allesamt intelligent, privilegiert und größtenteils gut aussehend – alle außer Lee, wie es scheint.

Schon bald muss Lee begreifen, dass in Ault, dem Ziel ihrer Träume, die Uhren etwas anders ticken. Lee wird schnell zur Außenseiterin, die das Geschehen am Campus beobachtet, ohne sich als Teil davon fühlen zu können. Sie wird sich dessen bewusst, dass ihre Mitschüler so anders sind als sie, dass sie sich schwer tut, sich mit ihrer neuen Umgebung zu arrangieren. Sie schließt nur wenige Freundschaften, und jene, die sich mit Lee anfreunden, sind selbst Außenseiter. Lees Verhältnis zu Mitschülern wie zu Lehrern bleibt kompliziert und auch als Lee eine heimliche Affäre mit dem Schulschwarm Cross Sugarman beginnt, kommt Lee nicht aus ihrem schattenhaften Dasein heraus. Das geschieht erst, als sie einen folgenschweren Fehler begeht …

Sittenfeld beschreibt das bunte Treiben an der Highschool plastisch und lebhaft. Im Fokus all dieser Betrachtungen steht Lee mitsamt ihrem äußerst komplizierten Verhältnis zu ihren Mitschülern und letztlich auch zu sich selbst. Lee war als Vierzehnjährige von der Hochglanzbroschüre beeindruckt, die sie sich vor ihrer Bewerbung in Ault hat zuschicken lassen, und wollte Teil dieser schicken Hochglanzwelt werden.

Dass man seine Wurzeln nicht so einfach abstreifen kann, muss Lee schon bald begreifen. Aus dieser Erkenntnis zwischen versuchtem Anpassen und bewusstem Untertauchen in der Masse entwickelt Lee schon bald eine Strategie der absoluten Unauffälligkeit. Wie gut getarnt sie über den Campus schleicht, ist für den Leser in gewisser Weise schon erheiternd.

Dabei schmunzelt man eben nicht nur über Lees Verhalten, sondern besonders auch über die Beobachtungen, die sie in ihrer selbstgewählten Isolation macht. Lee hat das Treiben auf dem Campus stets genau im Blick. Sie studiert die ungeschriebenen Gesetze der zwischenmenschlichen Dynamik der Privatschule und sucht nebenbei nach ihrem eigenen Platz in dieser Welt – und letztlich auch im Leben.

„Eine Klasse für sich“ ist letztendlich eben auch ein Roman über das Erwachsenwerden. Sittenfeld beschreibt die Tücken der Pubertät und der ersten Liebe, beschreibt den schwierigen Weg vom Jugendlichen zum Erwachsenen und trifft dabei genau den passenden Ton. Der Roman wirkt auf gewisse Weise authentisch und glaubwürdig.

Lee wirkt als Figur außerordentlich plastisch und der Leser fühlt sich nah am Geschehen. Sie ist dabei ungleich sympathischer und wirkt wesentlich unverfälschter als Tom Wolfes Charlotte Simmons in dessen Roman [„Ich bin Charlotte Simmons“. 1883 Sittenfeld versetzt sich so gut in die Highschool-Jahre von Lee hinein, dass man schon fast automatisch nach biographischen Parallelen suchen mag. Wie Sittenfeld die Gedankenwelt ihrer Figuren beschreibt, das fühlt sich eben echt und ungekünstelt an, und genau das macht die Qualität des Romans aus.

Insgesamt betrachtet ist „Eine Klasse für sich“ wirklich unterhaltsame Lektüre. Sie beschreibt das Auf und Ab im Leben, wie es jeder kennt, sie ist mal erheiternd und mal nachdenklich oder gar traurig stimmend und so, wie die Geschichte und die Figuren sich entwickeln, ist es spannend, den weiteren Prozess zu verfolgen. Geschrieben ist der Roman auf eine herzerfrischende und lockere Art. Er lässt sich schnell runterlesen und ist dabei durchgängig unterhaltsam.

Bleibt unterm Strich die Erinnerung an ein Buch, das sich als durchaus lesenswerte Kost entpuppt. Sittenfeld beschreibt mit Herz und einem Augenzwinkern den Entwicklungsprozess ihrer Hauptfigur und weiß damit über die gesamte Romanlänge zu unterhalten. Sie zeigt auf plastische Art, wie es sich anfühlt, langsam erwachsen zu werden, und demonstriert dies anhand einer interessanten, lebensechten Hauptfigur.

Es ist also letztlich nicht alles Hype, was einem so an Lob über dieses Buch zu Ohren kommt, sondern entspricht in gewisser Weise durchaus den Tatsachen, und man kann „Eine Klasse für sich“ dem potenziell interessierten Leser durchaus ans Herz legen. „Eine Klasse für sich“ ist in der aktuellen Literatur zur Thematik dabei eine wesentlich bessere Wahl als Tom Wolfes vergleichbarer Roman „Ich bin Charlotte Simmons“, bei dem gerade auch die Hauptfigur eine gewisse Authentizität vermissen lässt.

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Ellis, Bret Easton – Glamorama

An Bret Easton Ellis scheiden sich gemeinhin die Geister. Für die einen ist er ein brillanter Satiriker, der ungeschönt und auf seine berühmt-berüchtigte knallharte Art die heutige Gesellschaft karikiert, während andere sein Werk abstoßend finden und die explizite Darstellung von Gewalt und Sex rügen. [„American Psycho“, 764 von vielen als Kultroman verehrt, stellt den unumstößlichen bisherigen Höhepunkt im Schaffen des Bret Easton Ellis dar. An diesem Werk wird alles gemessen, was Ellis davor und danach zu Papier brachte – und kann dem Vergleich meist nicht ganz standhalten.

„American Psycho“ ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Buch, das seinesgleichen sucht. Hat Ellis es erst einmal geschafft, den Leser mit seiner Erzählart in den Bann seiner höchst eigenwilligen Figuren zu ziehen, reißt er ihn mit, auf eine geradezu halsbrecherische Achterbahnfahrt, die man so schnell nicht wieder vergisst. Eine Leseerfahrung der besonderen Art, die man nicht so oft macht. Ganz besonders ans Herz gelegt sei dem potenziell interessierten Leser an dieser Stelle auch ausdrücklich die hervorragende Hörbuchfassung mit Moritz Bleibtreu. Aber genug von „American Psycho“. Das ist eine andere Geschichte.

„Glamorama“ ist Ellis‘ 1998er Werk, das das schwere Erbe von „American Psycho“ (erschienen 1991) anzutreten versucht. Im Zentrum von „Glamorama“ steht Victor Ward, „semi-prominentes Model, Nightlife-Profi und angehender Nachtclub-Besitzer“ in New York. Victor lebt mitten in der mode(über)bewussten, selbstverliebten und prominenzbesessenen Szene Manhattans und begründet seine eigene Prominenz und mediale Existenz eher darauf, dass er mit dem bekannten Supermodel Chloe Byrnes zusammenlebt.

Victor führt ein Leben wie jeder andere C-Prominente auch: Er kämpft jeden Tag um Geld und Aufmerksamkeit, versucht sich möglichst gut selbst zu inszenieren. Victor versucht, so gut es geht, mit der Hochglanzwelt Manhattans zu verschmelzen. Er mischt sich unter reale Celebrities (von denen es im Buch an jeder Ecke nur so wimmelt), verstrickt sich in Lügengeschichten und Affären und lebt ein Leben zwischen Gras und Xanax, zwischen Armani und Ralph Lauren.

Als sich mit dem Abend von Victors glamouröser Cluberöffnung die Ereignisse zu überschlagen beginnen, gibt es für ihn nur noch eine Chance: Er nimmt einen mysteriösen Auftrag an, der ihn nach London führt. Ehe Victor sich versieht, steckt er auch schon mittendrin in einem düsteren Sumpf aus Verbrechen und Gewalt – Victor scheint an eine Terrorgruppe geraten zu sein, deren Mitglieder unter dem Deckmantel ihrer Modeltätigkeit ihre Terrorakte verüben. Hotels werden gesprengt, Cafés fliegen in die Luft und schon bald muss Victor erkennen, dass er in der Falle sitzt und um sein eigenes Leben fürchten muss …

Mit „Glamorama“ dürfte Bret Easton Ellis, wie schon mit seinen vorangegangen Romanen, wieder seinen Ruf als Enfant terrible der amerikanischen Literaturszene bestätigen. „Glamorama“ ist ein Werk der krassen Gegensätze. Die hochglanzpolierte Welt Manhattans, die Oberflächlichkeit der Menschen und ihr Hang zur Selbstinszenierung bilden den krassen Gegenpol zu der terroristischen Gewalt, mit welcher der Leser vor allem im zweiten Buchteil konfrontiert wird.

Ellis‘ Roman macht eine krasse Kehrtwende. Präsentiert sich der Roman anfangs noch als Gesellschaftssatire, in der das realitätsfremde Leben der High Society aufs Korn genommen wird, so entwickelt sich der Roman mit Victors Übersetzen nach Europa im zweiten Buchteil zu einem knallharten Thriller. Als Leser muss man offen bleiben, darf sich Ellis‘ drastischen atmosphärischen Wechseln nicht verschließen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.

Die Gegensätzlichkeit der beiden unterschiedlichen Welten, durch die Victor Ward wandelt, ist dabei im Grunde nur ein scheinbarer Bruch. Ellis spielt mit literarischen Bildern und Puzzlestückchen, die sich durch den ganzen Roman ziehen und das Gefüge der unterschiedlichen Genreschichten zusammenhalten. Bestimmte Motive und Situationen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman.

Doch einen gewissen Bruch kann Ellis trotz dieser kleinen literarischen Spielereien dennoch nicht verschleiern. Der spielt sich allerdings auf einer etwas anderen Ebene ab. Ist der erste Teil des Romans im Grunde eine Geschichte ohne vorangetriebene Handlung, so weist der zweite Teil doch einen deutlich wahrnehmbaren Plot auf. Die erste Romanhälfte ist mehr eine Schilderung des Lebens des Ich-Erzählers Victor Ward, die in ihrer detailgetreuen Wiedergabe sämtlicher Details seines Tagesablaufs einen gewissen tagebuchartigen Charakter aufweist. Genau in diesem Stil hat Ellis schon mit „American Psycho“ brilliert. Dem zweiten Teil des Romans stülpt Ellis dann aber einen deutlich vernehmbaren Plot über. Er entwickelt eine komplexe Thrillerhandlung, die für den Leser eine echte Herausforderung ist.

Die gesamte zweite Romanhälfte entwickelt sich zunehmend sonderbarer und obskurer. Ellis treibt ein perfides Spiel mit dem Leser um Schein und Realität. Er bringt Elemente in die Handlung ein, die immer wieder die Sichtweise in Frage stellen. Was ist Realität, was ist Inszenierung? – Diese Frage durchzieht den zweiten Romanteil auf jeder Seite und auch zum Ende hin werden nicht alle sich ergebenden Fragen wirklich zufrieden stellend geklärt. Vor diesem Hintergrund wirkt die eingearbeitete Thrillerhandlung irgendwie sonderbar konstruiert und sie will sich nicht so ganz stimmig in das Gesamtbild einfügen.

Auch das Ende der Geschichte bleibt merkwürdig diffus. Es kommt einerseits unerwartet und bleibt dabei gleichermaßen rätselhaft. Rein intuitiv schlägt man glatt noch mal eine Seite weiter, um festzustellen, ob die Geschichte nicht vielleicht doch noch weitergeht, nur um dann mit einem Fragezeichen auf der Stirn festzustellen, das die Geschichte nicht so recht zu Ende geht, sondern mehr oder weniger einfach aufhört. Das ist nach über 800 Seiten dann doch etwas unbefriedigend.

Doch trotz dieser Schwächen kann auch „Glamorama“ wieder zeigen, womit Ellis am meisten glänzt: Es sind die Beschreibungen der illustren Welt der New Yorker High Society. Ellis würzt seine Detailtreue in den Schilderungen des Alltags der Promis und Semi-Promis mit einer großen Portion Ironie, die die Leere hinter den schicken Fassaden der Reichen und Schönen entlarvt. Ellis rechnet auf diese Weise mit den Auswüchsen der modernen Gesellschaft ab, hinterfragt ihr Streben nach Geld, Macht und Ruhm und ist dabei schonungslos direkt und ehrlich.

Der Leser hat in dieser Konsequenz einiges zu schlucken. Ellis‘ Schilderungen sind drastisch und teils durchaus schwerverdaulich. Sex und Gewalt werden bis ins letzte winzige Detail dargestellt, ohne etwas zu beschönigen, auszulassen oder zu verstellen. Jede neue Bombenexplosion lässt Ellis den Leser genauso in Zeitlupe mitverfolgen wie das Sterben der Opfer, und das erfordert mitunter schon mal starke Nerven und einen unempfindlichem Magen. Ellis ist eben nichts für allzu zart besaitete Gemüter.

Schon bei „American Psycho“ hat Ellis sich weitestgehend auf seine Hauptfigur konzentriert. Alles, was passiert, steht in direktem Bezug zu Pat Bateman, bei ihm läuft alles zusammen und von ihm geht alles aus. „Glamorama“ weist eine ähnliche Konzentration auf die Hauptfigur auf, dennoch hat man diesmal das Gefühl, dass andere Figuren etwas zu oberflächlich und diffus skizziert bleiben. Dadurch, dass Ellis die Handlungsebene im zweiten Romanteil ausbaut, müssten eigentlich gleichzeitig auch die übrigen agierenden Figuren etwas mehr Tiefe und Profil bekommen, aber genau diese Profilierung fehlt am Ende irgendwie.

Erstaunlich lieblos wirkt übrigens die 2006er Taschenbuchausgabe des |Heyne|-Verlags. Besonders im ersten Romandrittel stolpert man dermaßen oft über Satz- und Schreibfehler, dass die persönliche Fehlertoleranz auf eine harte Probe gestellt wird. Doch fast, als wäre der Lektor zwischendurch zum Optiker gegangen, bessert sich dies im Laufe des Buches. Zum Optiker gehen sollte vielleicht auch mal der Grafiker, der das Coverartwork entworfen hat, denn das sieht mit seiner quietschigen 3D-Schrift so aus, also hätte sich der Praktikant in der Kaffeepause heimlich am PC seines Chefs zu schaffen gemacht. Aber genug gelästert für heute …

Bleibt abschließend festzuhalten, dass „Glamorama“ nicht an die Wucht und Größe eines Romans wie „American Psycho“ heranreicht. Ellis‘ Skandalwerk bleibt eben immer noch unerreicht. „Glamorama“ ist vielschichtig, wirkt aber dennoch teilweise nicht ganz ausgewogen. Die Auflösung der Geschichte ist in gewissen Teilen unbefriedigend und der Roman bleibt somit am Ende auch ein Stück weit rätselhaft und undurchdringlich.

Fazit: „Glamorama“ kann Ellis‘ Ruf als erstklassigem Satiriker nichts anhaben, aber es ist dennoch absolut kein Meisterwerk und wird wohl niemals so richtig aus dem Schatten von „American Psycho“ heraustreten können. Es bleibt die Erinnerung an ein Werk, das mit der Bürde eines vorangegangenen „Kultromans“ deutlich spürbar zu kämpfen hat.

Ruff, Matt – Ich und die anderen

Matt Ruff ist im Prinzip in sehr unberechenbarer Autor. Seine Bücher sind kurios und phantasievoll und zuweilen überraschend. Für den Leser ist ein neuer Matt-Ruff-Roman stets gleichermaßen ein neues Lesevergnügen wie eine Herausforderung. Ruff lässt sich ganz einfach nicht auf ein Schema festlegen. Seine Romane sind ein Wechselbad der Gefühle. Er vermischt verschiedene Genres wie kein anderer und komponiert aus Belletristik, Fantasy und Science-Fiction seine ganz individuellen Romankreationen.

Mochte man ihn auf das Einbinden von Elementen aus Sci-Fi und Fantasy nach seinen ersten beiden Werken „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ schon festlegen (obwohl beide Werke dennoch sehr unterschiedlich sind), so dürfte er seine Leserschaft mit seinem aktuellen Werk „Ich und die anderen“ aufs Neue überraschen. Auf den ersten Blick ein untypischer Ruff, entpuppt er sich erst bei genauerer Lektüre als randvoll mit typisch Ruffschen Romanelementen, allen voran seine herausragende und souveräne Erzählweise.

„Ich und die anderen“ hat ein für sich gesehen eher ungewöhnliches Thema. Es geht um Menschen, die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leiden. Andrew Gage hat sich mit seinen diversen Persönlichkeiten mittlerweile sehr gut arrangiert. Mit Hilfe einer engagierten Psychologin hat er es geschafft, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zu diesem Zweck hat er sich kraft seiner Gedanken ein imaginäres Haus erbaut, das nun alle Seelen seiner Persönlichkeit beherbergt. Sein Leben verläuft erstaunlich geregelt ab. Die Ordnung im Haus folgt festen Regeln, nach denen jeder Seele ein wohldosiertes Maß an „Körperzeit“ zugestanden wird.

Auf diese Weise kann Andrew das Leben ohne größere Probleme meistern. Glück für ihn, dass er einen Job in der Virtual-Reality-Firma von Julie Sivik gefunden hat. Sie weiß um seine Persönlichkeitsstörung und hat ihn genau deswegen eingestellt. Wer sonst sollte wohl besser etwas von Virtual Reality verstehen als ein Multipler, dessen ganzes Leben einem Außenstehenden wie Virtual Reality vorkommen muss?

Julie und Andrew werden darüber hinaus Freunde und genau deswegen kann Andrew Julies Bitte kaum abschlagen, sich um seine neue Kollegin Penny Driver zu kümmern. Penny ist ebenfalls multipel – nur, dass sie es selbst noch nicht weiß. Und so wird Penny regelmäßig von Blackouts geplagt, die immer dann eintreten, wenn eine ihrer anderen Seelen die Kontrolle über den Körper übernimmt. Andrew soll sich des Problems annehmen und Penny helfen, ihre Persönlichkeitsstörung in den Griff zu bekommen.

Andrew sträubt sich zunächst, weiß er doch aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, eine multiple Persönlichkeitsstörung zu meistern, nimmt sich schließlich aber doch der Angelegenheit an. Doch schon bald droht die Sache aus dem Ruder zu laufen. Andrews seelisches Gleichgewicht ist fragiler, als er selbst glaubt, und so bringt Pennys Persönlichkeitsstörung nicht nur ihr eigenes Leben gehörig durcheinander, sondern auch das von Andrew …

Man mag das Thema der multiplen Persönlichkeitsstörung auf den ersten Blick für ein eher schwieriges halten, und so erstaunt es auch, mit welcher Leichtigkeit Matt Ruff das Ganze anpackt. Er schafft es auf sehr plastische und nachvollziehbare Weise, die Problematik zu verdeutlichen. Er entblättert bis ins Detail, was sich in Andrews Kopf abspielt, und macht es dem Leser begreiflich. Man kann sich das Haus in Andrews Kopf und das Nebeneinander der unterschiedlichen Seelen, die stets um Aufmerksamkeit und Körperzeit buhlen, wunderbar vorstellen. Auch das Durcheinander unterschiedlicher Persönlichkeiten in Pennys Kopf wird gut deutlich, wenngleich es dort verständlicherweise wesentlich chaotischer zugeht.

Multiple Persönlichkeitsstörungen sind eine komplexe Angelegenheit. Matt Ruff verdeutlicht neben den Konsequenzen auch die Art und Weise, wie sie im Falle von Andrew und Penny entstanden sind. Sie funktionieren als eine Art Schutzmechanismus. Beide Protagonisten blicken auf traumatische Kindheitserinnerungen zurück, die als Ursache ihrer Störung anzusehen sind. Beide müssen sich im Laufe des Romans zu den Wurzeln ihrer eigentlichen Persönlichkeit vorarbeiten und sich damit auch den früheren traumatischen Ereignissen stellen.

Die Komplexität dieser Kernproblematik überträgt sich dabei auch auf den Roman selbst. Er ist enorm vielschichtig und bietet ein Wechselbad der Gefühle. Ruff bringt Kurioses und Dramatisches, Tragisches und Komisches gekonnt unter einen Hut. Sensibel fühlt er sich in seine Protagonisten hinein, macht die drückende Last ihrer Erfahrungen genauso fühlbar wie die irritierende Art der Persönlichkeitswechsel im Körper der Figuren. Das wirkt alles zugleich urkomisch und irrsinnig tragisch. Er verpackt einen ernsten und zutiefst tragischen Hintergrund in einer leichtfüßig erzählten Geschichte, die dadurch umso eindringlicher auf den Leser wirkt.

Was weiterhin eine enorme Leistung des Autors ist, ist der Erzählstil. „Ich und die anderen“ ist eine auf den ersten Blick eher unspektakuläre Geschichte. Zwei verstörte junge Menschen auf der Suche nach sich selbst – so könnte man das Romangeschehen kurz und knapp auf den Punkt bringen. An nacherzählbarer Handlung oder gar ganz konkret greifbarer Spannung hat der Roman nicht viel vorzuweisen. Bei einem 715-seitigen Werk mag man da glatt einen langweiligen Schinken erwarten, der sich wie Kaugummi schier endlos in die Länge zieht.

Doch wer das glaubt, der hat eben die Rechnung ohne Matt Ruff gemacht. Hat man sich erst einmal gedanklich auf die Welt von „Ich und die anderen“ eingelassen, lässt sie einen nicht mehr los. Ruff fesselt auf eine ganz eigentümliche und unterschwellige, geradezu kuriose Art. Eine ähnliche Erfahrung ist mir aus der mittlerweile schon einige Jahre zurückliegenden Lektüre von „Fool on the Hill“ im Gedächtnis. Auch da galt es erst einmal, sich in das Buch hineinzufinden. Ist man erst einmal drin, ist man aber derart gefesselt, dass man am liebsten alles andere stehen und liegen lassen möchte.

Ruff fesselt eben auf eine ganz besondere Art, die sich schwer erklären lässt. Auch bei „Ich und die anderen“ fällt es schwer, den Grund für den fesselnden Charakter der Lektüre auf den Punkt zu bringen. Fakt ist einfach, dass Ruff eine enorm plastische Art zu erzählen hat. Man sieht die Figuren förmlich vor sich und erlebt das reinste Kopfkino. So wird dann eben auch Lektüre unterhaltsam, die ganz nüchtern betrachtet nur wenig Spannung zu enthalten scheint.

Die Figuren sind eine weitere Stärke des Romans. Auf den ersten Blick wirken sie allesamt ein wenig entrückt – unrealistisch, möchte man schimpfen – aber Matt Ruff stellt sie mit so viel Liebe und Warmherzigkeit dar, dass man sie mit der Zeit ins Herz zu schließen beginnt. Jeder ist auf seine ganz individuelle Art sonderbar, jeder hat seine verrückten Seiten, und so mag man manches Mal auch den Realismus bezweifeln (auf welcher wirtschaftlichen Basis eine Firma wie die von Julie Sivik überhaupt existieren kann, bleibt beispielsweise etwas diffus), aber das sind alles Dinge, die im Laufe des Romans zunehmend unwichtiger werden und die man zunehmend unwichtiger nimmt.

Am Ende glänzt Ruff eben ganz durch seine brillante Erzählweise, die er mit so mancher Überraschung garniert, und die Interaktion seiner Protagonisten. Hinter seinem lockeren Erzählstil und seinem Sinn für Kurioses verbirgt sich eine Tiefe, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Man blickt zurück auf ein Buch, bei dem man auch am Ende noch nicht so ganz begreifen kann, warum es einen so gefesselt hat. Matt Ruff bleibt eben auch mit seinem dritten Buch immer noch etwas rätselhaft und sonderbar, aber das ist nur ein Grund mehr, ihn zu lieben …

http://www.dtv.de

Stucke, Angelika – Gute Gründe

Dass sie lange fackeln würden, kann man von keiner der Heldinnen in Angelika Stuckes zweitem Erzählband „Gute Gründe“ behaupten. Ganz im Gegenteil, hier wird kurzer Prozess gemacht und am Ende der meisten Erzählungen bevölkert ein Mann weniger diesen Planeten. Was Angelika Stucke in ihrem [Erstlingswerk 2143 angefangen hat, setzt sie im zweiten Teil ihrer als Trilogie geplanten Erzählreihe fort: Sie lässt Frauen morden – und das mitunter ziemlich zielstrebig, konsequent und ohne zu zögern.

Dreizehn Erzählungen umfasst „Gute Gründe“. Dreizehn Morde, in denen vernachlässigte Hausmütterchen, hintergangene Ehefrauen und pummelige Mauerblümchen Rache nehmen und sich gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens im Allgemeinen und der Männerwelt im Speziellen zur Wehr setzen. Dabei findet jede Täterin ihren ganz individuellen Stil. Mal wird der Golfschläger zur Mordwaffe, mal wird ein Unfall vorgetäuscht, mal wird Gift ins Essen gemischt – bei der Wahl der Waffen lassen sich die Damen durchaus etwas einfallen.

Noch kreativer werden die Mörderinnen gar, wenn es darum geht, ihre Taten zu verschleiern. Da werden Leichen beseitigt und Spuren verwischt. Und auch darin, ihre Taten anderen in die Schuhe zu schieben, beweisen die Täterinnen Einfallsreichtum. Angelika Stuckes Erzählungen fallen allesamt recht kurz, aber teils auch pointiert aus.

Stucke spielt offensichtlich gerne mit Klischees. Das zeigt sich schon an der biederen Namensgebung, die in einem herrlichen Kontrast zur Mordlüsternheit der Frauen steht: Gundula, die Giftmischerin, Grete, die „Schmiergelpapier-Mörderin“, Hertha, die zur Schrotflinte greift, oder Edeltraut, die beherzte „Golfschläger-Schwingerin“. Sie alle wirken, als wären sie dem plattesten Klischee entnommen – bieder, mittelschichtig, langweilig, nur um den Leser dann mit ihrer konsequenten und rabiaten Art zu überraschen.

Insgesamt sind die kurzen Geschichten in „Gute Gründe“ außerordentlich „klolektürengeeignet“. Kurze, knappe Erzählungen, die als kleines Krimihäppchen zwischendurch wunderbar tauglich sind. Teils mit einem Augenzwinkern erzählt, erweisen sich viele Geschichten als recht unterhaltsame Lektüre. Stucke nimmt ihre Figuren und deren Taten nicht allzu bierernst, und so mag sich manch einer vielleicht über den fehlenden Realismus der Figuren beklagen.

Tatsächlich haben sämtliche der versammelten Damen eine äußerst niedrige Hemmschwelle, wenn es darum geht, sich unliebsame Mitmenschen nicht nur längerfristig, sondern vor allem möglichst endgültig vom Hals zu schaffen. Das setzt dann allerdings hier und da auch schon mal die Grenzen der Logik außer Kraft. Manche Tat scheint zu unnötig und unüberlegt, als dass die Erzählung wirklich überzeugend unterhalten könnte. Da runzelt man dann eher die Stirn, als dass man über die Skrupellosigkeit der Täterinnen schmunzeln mag.

Dass bei dreizehn Erzählungen nicht jede ein absoluter Kracher sein kann, leuchtet allerdings auch ein. Zwangsläufig gibt des da qualitative Schwankungen, die nicht nur bei Publikationen weniger bekannter Verlage an der Tagesordnung sind, sondern auch bei Werken sog. großer Autoren häufig vorkommen. Fakt ist, „Gute Gründe“ enthält auch ein paar gut konzipierte Erzählungen, deren Pointe zu überzeugen weiß. Besonders dann, wenn bei den Taten etwas schief geht, wenn es Missverständnisse gibt, die sich erst später aufklären, kann Stucke besonders überzeugen.

Lediglich eine Erzählung bleibt wirklich negativ im Gedächtnis haften und zwar jene, in der Stucke von ihrem Schema der mordenden Frauen abweicht. Die Mordphantasien des Außenseiterkindes mit der Vorliebe für Ballerspiele am PC hat doch ein sehr faden Beigeschmack. Wer denkt da nicht an das Schulmassaker von Erfurt vor ein paar Jahren?

Alles in allem ist „Gute Gründe“ nicht unbedingt herausragende, aber dennoch durchaus solide Unterhaltung für zwischendurch. Ein Buch, das sich schnell lesen lässt und auch gerade als leichte Kost zur Urlaubszeit durchaus brauchbar ist. Zielgruppe von „Gute Gründe“ dürften, wen wundert’s, in erster Linie Frauen sein, vorzugsweise mit einem etwas schwarzen Sinn für Humor.

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Miller, Frank / Varley, Lynn – 300

„Wanderer, kommst du nach Sparta, so verkündige dorten,
du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.“
|Epigramm von Simonides am Thermopylen-Denkmal,
Übersetzung von Friedrich Schiller|

Ist sie Wahrheit oder Legende, die Geschichte um die [Schlacht bei den Thermopylen?]http://de.wikipedia.org/wiki/Erste__Schlacht__bei__den__Thermopylen Eine 300 Mann starke Armee von Spartanern leistet mutig bis zum letzten Mann dem zahlenmäßig weit überlegenen Heer von 120.000 Persern erbitterten Widerstand.

Der historische Hintergrund lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei klären. Welche Teile der Geschichte wahr und welche als Legenden einzustufen sind, ist umstritten. Strittig dürften die Überlieferungen auch aufgrund des unter Forschern immer wieder hinterfragten Rufes des Autors sein: [Herodot.]http://de.wikipedia.org/wiki/Herodot Schon Cicero bescheinigte dem Mann nicht nur, der „Vater der Geschichtsschreibung“ zu sein, sondern auch der „Erzähler zahlloser Märchen“. Und so wurde Herodot stets eine mangelnde Differenzierung zwischen Legenden und Wirklichkeit vorgeworfen.

Mythos oder historische Wahrheit – die Schlacht bei den Thermopylen dient so oder so als Kulisse einer Graphic Novel, die nicht ganz zu Unrecht im Laufe der Jahre einen gewissen Kultstatus erlangt hat. Autor dieses Comics ist kein Geringerer als Frank Miller, dessen Werk nicht zuletzt durch die Kinoverfilmung von „Sin City“ wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt.

Auch „300“ wird derzeit verfilmt und soll Anfang 2007 in die Kinos kommen. Die Regie führt Zack Snyder. Grund genug, dass auch der längst vergriffene Comic noch einmal neu aufgelegt wird. Eine Sache, der man sich im Hause |Cross Cult| mit der Herausgabe einer edlen Hardcover-Edition von „300“ würdevoll gewidmet hat.

480 v. Chr. stehen die Perser unter der Herrschaft von König Xerxes I. vor den Thermopylen, einem Engpass des Kallidromos-Gebirges, bereit, Griechenland einzunehmen und zu unterwerfen. 120.000 Perser stehen etwa 7.000 teils zerstrittenen und uneinigen Griechen gegenüber – eine Übermacht gigantischen Ausmaßes. Auf griechischer Seite befehligt der spartanische König Leonidas die Truppen. Im unwegsamen und schwer zugänglichen Gelände der Thermopylen gelingt es Leonidas‘ Truppen, tagelang die Stellung zu halten und den Persern hohe Verluste zuzufügen. Die Spartaner werden zum Symbol für Heldenmut und Kampfstärke.

Als ein gewisser Ephialtes aus den Truppen Leonidas‘ Verrat begeht und zu den Perser überläuft, schlägt die letzte Stunde des Leonidas. Die Perser können dank der Informationen des Ephialtes von zwei Seiten angreifen. Leonidas kämpft mit seiner 300 Mann starken Armee aus Spartanern bis zum letzten Augenblick, kann das gigantische Heer der Perser aber letztendlich nicht aufhalten.

Die Schlacht bei den Thermopylen wurde im Folgenden immer wieder als herausragendes Beispiel für den großartigen Heldenmut und den unbändigen Kampfgeist der Spartaner herangezogen – vorzugsweise von den Spartanern selbst, versteht sich. Aus dieser Geschichte zwischen Legende und Historie hat Frank Miller ein bildgewaltiges Historienepos geschaffen.

Schon beim ersten Durchblättern wird klar, warum es irgendwann so weit kommen musste, dass „300“ verfilmt wird. Miller setzt viel Gewicht auf die Bilder und man sieht beim Lesen den fertigen Film schon fast vor sich. Miller hat ein Faible für besondere Perspektiven, versteht es, einzelne Augenblicke zu einem beeindruckenden Bild einzufrieren. „300“ wirkt wie reinstes Kopfkino.

Miller kreiert eine düstere Stimmung mit intensiven Bildern und würzt das Ganze mit knackigen Dialogen, die kein Drehbuchautor mehr zu verbessern braucht („Einhundert Völker werden über euch kommen. Unsere Pfeile werden die Sonne verdunkeln.“) Oft formuliert Miller kurz und knapp – geradezu spartanisch. Doch stets trifft er den Nagel auf den Kopf, nie werden Worte verschwendet.

Diese knappen, wohlakzentuierten Formulierungen ergeben zusammen mit den teils sehr intensiven Bildern eine nicht zu leugnende atmosphärische Dichte. „300“ ist ein Spiel aus Licht und Schatten, das sehr direkt auf den Leser einwirkt. Heldenmut und brutale Kriegswirklichkeit prallen hart aufeinander. Miller erzählt seine Geschichte mit viel Pathos, aber gleichzeitig mit einer Härte, welche die Brutalität historischer Schlachten ungeschönt darstellt.

Wie schon in „Sin City“, wird auch in „300“ viel Blut vergossen und Miller versucht gar nicht erst, den Leser vor der knallharten Brutalität der Bilder zu schützen. Allzu zart besaiteten Gemütern sei also zur Vorsicht geraten. Der potenzielle Kinogänger kann sich jedenfalls schon mal auf ein buntes Schlachtengetümmel à la „Herr der Ringe“ einstellen.

Gerade bei der erstmaligen Lektüre empfindet man die Figuren (in erster Linie die Spartaner) als geradezu unmenschlich. Scheinbar emotionslos wandeln sie durch die Handlung, mit verhärteten Gesichtszügen, unerschütterlicher Stärke und ohne den Hauch einer Schwäche. Dabei wirft Miller durchaus auch einen kleinen Blick hinter die kampferprobten Krieger Spartas. Ein wenig spartanisches Alltagsleben wird vermittelt, ein Einblick in spartanische Kriegstaktik und Lebensphilosophie vermittelt. Trotzdem tut man sich teils recht schwer, die menschliche Seite der Spartaner zu sehen. Sie leben und kämpfen, als kämen sie von einem anderen Stern.

Alles in allem ist „300“ eine sehr intensive Leseerfahrung. Zeichnungen, die vor Intensität strotzen, und wohlakzentuierte Texte, die es in sich haben. „300“ ist sicherlich ein Comic besonderer Güte, zu dem es wenig Vergleichbares am Markt gibt. Miller hat ein drastisches und intensives Historienepos kreiert, das wie geschaffen für eine [Verfilmung]http://www.powermetal.de/video/review-1048.html ist. Man darf also gespannt sein, was Zack Snyder aus dem Stoff macht. In „300“ steckt in jedem Fall ein großes Potenzial.

Cross Cult:
[www.cross-cult.de]http://www.cross-cult.de

[Offizielle Website zum Film]http://300themovie.warnerbros.com/

Jonathan Coe – Das Haus des Schlafes

Ein Buch über den Schlaf – für so manch einen klingt das sicherlich nach Lektüre zum Einschlafen. Doch wer glaubt, „Das Haus des Schlafes“ vom britischen Autor Jonathan Coe sei lediglich ein Mittel, welches das Herabsenken der Augenlider beschleunigt, der liegt falsch. Coes Roman ist kein Schlafmittel, ganz im Gegenteil, seine raffinierte Figurenverknüpfung und seine ausgeklügelte Erzählweise wirken hellwach …

„Das Haus des Schlafes“ ist eine vielschichtige Geschichte, die auf zwei unterschiedlichen Handlungsebenen abläuft. Beide Ebenen spielen am gleichen Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten im Abstand von ca. zwölf Jahren. Ort der Geschehnisse ist Ashdown, ein altes viktorianische Schloss an der englischen Küste. Früher war das pittoreske Gebäude ein Studentenwohnheim, wurde inzwischen aber zu einer Klinik für Patienten mit Schlafstörungen umfunktioniert.

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Didier van Cauwelaert – Das Evangelium nach Jimmy

Man stelle sich vor, jemand würde heutzutage auf die Idee kommen, einen Menschen zu klonen. Nicht einfach irgendeinen Menschen, sondern eine Schlüsselfigur der Geschichte, die auch heute noch polarisiert. Nicht Napoleon oder Stalin, Hitler schon gar nicht – nein, Jesus! Nicht nur nach wissenschaftlichen Kriterien für uns absolut unvorstellbar, sondern auch ethisch höchst zweifelhaft. In Didier van Cauwelaerts Roman „Das Evangelium nach Jimmy“ wird dieses geradezu gruselige Szenario Realität und liefert die Kulisse für eine unterhaltsame, bitterböse Satire.

Jimmy Wood ist 32 Jahre alt und repariert die Swimmingpools der Gutbetuchten von Connecticut. Er glaubte stets, ein Waise zu sein, bis ihn drei Abgesandte des Weißen Hauses eines Besseren belehren. Eines Tages stehen ein Arzt, ein Priester und ein Jurist bei ihm auf der Matte und überbringen ihm eine Nachricht, die Jimmys Leben Kopf stehen lässt: Jimmy ist ein Klon von Jesus, der mit Hilfe von Blutproben aus dem Turiner Grabtuch hergestellt wurde.

Jimmy braucht eine Weile, bis er diese Neuigkeit verdaut hat, denn das ist wahrlich ein schwerer Brocken. Doch zur Muße bleibt ihm wenig Zeit, denn das Weiße Haus hat Großes vor. Eine ganze Heerschar von Stylisten, Psychologen, Geistlichen und Ernährungsberatern steht bereit, um Jimmy auf seine zukünftige Rolle als Messias vorzubereiten. Jimmy lässt sich schließlich darauf ein und beginnt langsam an sich zu glauben.

Jimmy vollbringt seine ersten Wunder und legt damit seine letzten Zweifel am messianischen Blut in seinen Adern ab. Er sorgt für eine wundersame Donutvermehrung, gibt einem Blinden das Augenlicht zurück und lässt gar einen Toten auferstehen. Doch je mehr Jimmy in seine Rolle als Reinkarnation des Messias hineinwächst, desto mehr gerät die Sache auch außer Kontrolle. Sein Auftritt im Vatikan wird zum Fiasko, seine Wunderheilung in Lourdes endet hochdramatisch und sein Auftritt in der Show eines Fernsehpfarrers sorgt für den medialen Höhepunkt, an dessen Ende alle nur noch eins wollen: Jimmy ans Kreuz schlagen.

Mein Eindruck

Schon der Inhalt offenbart, dass Didier van Cauwelaert einen absolut respektlosen und bitterbösen Roman abgeliefert hat – eine Satire, von der Menschen mit allzu empfindlichen religiösen Gefühlen wohl besser die Finger lassen sollten, um nicht ganz aus ihrem religiösen Gleichgewicht gebracht zu werden.

Doch „Das Evangelium nach Jimmy“ ist nicht einfach eine Religionssatire. Vielmehr liefert van Cauwelaert eine hervorragende Gesellschaftssatire ab. Es geht viel mehr um das, was die moderne Gesellschaft aus dem neuen Messias macht, als um seine Figur an sich. Natürlich bleibt Jimmy als Reinkarnation des Messias Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, doch geht es van Cauwelaert eben offensichtlich besonders auch um die Reaktionen, die sein Auftreten hervorruft. Und dabei scheint sich am Ende die Geschichte zu wiederholen – nur eben diesmal mit Internetabstimmung und Liveübertragung im TV.

Welche Auswüchse dieses Höllenspektakel hat, ist fantastisch anzusehen. So manches Grinsen huscht einem bei der Lektüre über das Gesicht, und so manches mal möchte man lauthals loslachen. Van Cauwelaert beginnt seine Geschichte in der Gegenwart, in der Ära Bush, der ganz nebenbei auf diese Weise auch noch sein Fett wegbekommt. Der zukünftige Präsident (ein schwuler Republikaner, man mag es kaum für möglich halten) setzt aber selbst auf eine Figur wie Bush noch einen drauf.

Van Cauwelaerts Buch dürfte so manchen stockkonservativen Amerikaner an den Rand des Herzinfarkts treiben, aber die gehören wohl ohnehin nicht zur Zielgruppe. Inszenierte schon DBC Pierre in [„Jesus von Texas“ 1336 ein haarsträubendes, abgedrehtes Medienspektakel, so setzt van Cauwelaert dem noch die Krone auf, indem er das Ganze in einen religiösen Kontext einbindet. Er wandelt dabei sicherlich an der Schmerzgrenze, aber ich denke, darüber ist sich der Autor im Klaren. Im Prinzip löst er die Sache zum Ende hin aber so gut auf, dass der Plot in sich stimmig ist und der anstößige, religiöse Kern der Geschichte in einem etwas anderen Licht erscheint.

Was man kaum für möglich halten mag, ist, dass die Kirche bei van Cauwelaert eigentlich gar nicht so schlecht davonkommt, wie man in Anbetracht der Thematik meinen möchte. Das Hauptaugenmerk der Kritik liegt eher auf skrupellosen Wissenschaftlern und der medialen Ausschlachtung, die mit Jimmy als zentraler Figur inszeniert wird. Jimmy wird eigentlich nicht gefragt, sondern einfach zu einer Rolle gedrängt, der er sich zu fügen hat.

Und so fällt auch der Blick auf die Figur des Jimmy wesentlich menschlicher aus als der Rest des Romans. Van Cauwelaert gibt Jimmy Raum für seine Selbstzweifel, lässt ihn an seiner Berufung zweifeln und verzweifeln. Jimmy bleibt trotz all der Inszenierung rund um seine Person ein Mensch, und diese Differenzierung zwischen knallharter Satire und einem persönlichen, menschlichen Blick auf die Hauptfigur gelingt van Cauwelaert ganz gut.

Van Cauwelaerts Stil liest sich dabei gleichermaßen locker wie unterhaltsam. Er formuliert gewitzt, mit einem Blick für skurrile Details und einem humorvoll-ironischen Unterton. Er schafft es, die Geschichte mit einer Prise Spannung auszustatten und bleibt bei allem Spaß und aller Satire auch immer noch menschlich.

Fazit: Wer Lust auf eine herrlich respektlose Satire hat und auch schon Spaß an Romanen wie „Jesus von Texas“ hatte, auf dessen Wellenlänge dürfte auch der Franzose Didier van Cauwelaert mit seinem Roman „Das Evangelium nach Jimmy“ liegen – respektlos, bitterböse, absolut fantastisch und schön zu lesen.

Gebunden: 406 Seiten
ISBN-13: 9783352007330

https://www.aufbau-verlage.de/ruetten-loening

Tufts, Gayle – Miss Amerika

Wer in Berlin aufmerksam Radio hört, aber auch wer das deutsche TV-Showgeschäft im Auge behält, dem dürfte Gayle Tufts schon mal begegnet sein. Die schnell sprechende Frau mit dem breiten amerikanischen Akzent wundert sich dort schon seit etwa drei Jahren öffentlich über die Eigenarten von Amerikanern und Deutschen. Das scheint bei ihr so eine Art Bestimmung zu sein, denn schon der Titel ihres ersten Buches von 1998 „Absolutely unterwegs – Eine Amerikanerin in Berlin“ zeigt sehr deutlich, was bei Gayle Tufts Programm ist.

Tufts ist gelernte Schauspielerin, die sich in Deutschland mittlerweile als Entertainerin und Schauspielerin einen Namen gemacht hat. Sie stand für Disneys „Glöckner von Notre Dame“ zusammen mit Dirk Bach auf der Bühne und wirkte bei den „Vagina Monologen“ mit. Die Amerikanerin lebt seit 1991 in Berlin und hat Deutschland ganz offensichtlich so sehr ins Herz geschlossen, dass sie sich gar nicht mehr losreißen kann. Im Laufe der Jahre ist sie mit mittlerweile zwölf Bühnenprogrammen durch die Lande getourt, bei denen jeweils das Comedy- und Grand-Prix-Urgestein Thomas Hermanns als Regisseur beteiligt war.

In „Miss Amerika“, Gayle Tufts‘ aktuellem Buch, widmet sie sich wieder einmal dem ganz normalen Alltagswahnsinn, wie sie ihn als Amerikanerin in Deutschland erlebt. Dabei wundert sie sich über so manche Eigenart der Deutschen, denn streng jahreszeitliche Ernährungsgewohnheiten wie die Spargelzeit sind ihr nicht minder fremd als die allgemein so klar und gut durchstrukturierte Lebensweise, die sie mit den Deutschen verbindet.

Nun könnte man meinen, dass es nicht unbedingt neu ist, die Deutschen mitsamt ihren klischeebeladenen Eigenarten humoristisch aufs Korn zu nehmen, doch Gayle Tufts geht die Sache auf ihre ganz eigene und obendrein sehr erfrischende Art an. Ihr Markenzeichen ist das „Dinglish“. Sie plaudert in atemberaubendem Tempo einfach wild drauf los und mixt dabei ohne Rücksicht auf Verluste Deutsch und Englisch. Beispiel gefällig?

|“In Deutschland gibt es dagegen feste Regelungen. Winterschlussverkauf wird zu Winterschlussverkaufszeiten gefeiert. Jawoll! Ende Januar, alles ist dunkel und trübe, das Wetter ist scheiße – let’s go give unser Geld aus!“| (S. 39)

Tufts Art, einfach wild drauflos zu plaudern hat etwas wunderbar Offenes. Sie wirkt absolut unverfälscht und ehrlich und lebt ihren Humor im Wesentlichen in Alltagsgeschehnissen aus. Da findet man herrlich treffsichere Beobachtungen, die Tufts mit einem Humor verknüpft, der gleichermaßen abgründig wie feinfühlig ist. Mal mag man vor Lachen laut losprusten, mal schmunzelt man leise in sich hinein. Tufts beherrscht wunderbar treffsichere Vergleiche und krönt ihre Beobachtungen auf diese Weise stets mit einem humoristischen Sahnehäubchen.

Gayle Tufts ist eine lebhafte und temperamentvolle Frau mit einem ebenso charmanten wie knallhartem Humor, den man binnen kürzester Zeit lieb gewinnt. Sie ist gnadenlos ehrlich, lässt aber immer wieder auch einen gewissen Respekt durchblicken, beispielsweise, wenn sie das wohlorganisierte Alltagsleben der deutschen „Wirtschaftswunder-Hausfrauen“ mit ihrem eigenen alltäglichen Chaos vergleicht.

„Miss Amerika“ vereint unterschiedliche Aspekte auf seinen knapp 250 Seiten. Zum einen Gayle Tufts‘ Beobachtungen in ihrem deutschen Lebensalltag, zum anderen Tufts‘ Erlebnisse mit dem „Reverse-Cultureshock“, wie sie ihn erlebt, wenn sie zurück in ihre Ex-Heimat kommt. Gerade auch das Thema Bush und Tufts‘ Unglauben darüber, dass so ein Mann wiedergewählt werden konnte, kommen mit einem humoristischen Unterton immer wieder zum Ausdruck. Auch die Tücken des Alterns, die im Leben einer Mittvierzigerin logischerweise immer wieder durchschimmern, sind ein Thema.

Tufts „Dinglish“ ist dabei anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, wirkt aber weniger lächerlich, als man auf den ersten Blick meinen mag. Gerade wenn man sich einmal die Autorenlesung zum Buch aus dem |DAV| vornimmt, offenbart sich die liebenwürdige Schrulligkeit dieses Sprachmixes so richtig. Tufts erweckt eben den Eindruck, als wäre sie auch in ihrer Art zu Reden ganz sie selbst, ohne sich zu verstellen.

Zumindest ist sie für mich die Einzige, der ich „Dinglish“ zugestehen mag. Bei ihr ist es einfach nett und sympathisch. Wenn sonst im alltäglichen Sprachgebrauch Deutsch und Englisch gnadenlos verquirlt werden und teilweise unsinnige Sprachgebilde entstehen, wirkt es meistens albern, obwohl es doch stets so wahnsinnig cool sein soll. Nicht so bei Gayle Tufts. Ihr kauft man ihr Dinglish ab. Bei ihr wirkt es einfach echt und goldrichtig.

„Miss Amerika“ kann man dabei durchaus in den unterschiedlichen Darreichungsformen empfehlen. Das Buch enthält logischerweise die vollständigen Texte, die CD dafür eine wesentlich besser erlebbare Portion Gayle Tufts. Wenn man die Texte von ihr selbst vorgelesen bekommt, hat das noch einmal einen besonderen Reiz, wenn die Gags und Pointen auch noch mit Tufts individueller Betonung und ihrem Sprachwitz garniert werden.

Unterm Strich kann man Gayle Tufts‘ „Miss Amerika“ getrost weiterempfehlen, sowohl zum Lesen, als auch zum Hören. Tufts Humor weiß zu überzeugen, ist weder zu derb noch zu lahm. Die Amerikanerin versteht sich auf eine genaue Beobachtungsgabe und wohlakzentuierte Pointen. Sie trifft den Nagel stets auf den Kopf und lässt dabei immer wieder einen liebenswerten und lebensfrohen Charakter erkennen. Fazit: Ein absolut liebens- und empfehlenswerter Beitrag zur Völkerverständigung. Oder noch kürzer auf den Punkt gebracht: Awesome!

Buch:
Gustav Kiepenheuer Verlag
ISBN [3-378-01080-0]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3378010800/powermetalde-21
http://www.aufbau-verlag.de

CD:
Der Audio Verlag
ISBN [3-89813-520-9]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3898135209/powermetalde-21

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Püstow, Hendrik / Schachner, Thomas – Jack the Ripper – Anatomie einer Legende

Wohl kaum ein Kriminalfall der Geschichte beschäftigt die Menschen auch heute noch so sehr wie die Morde von „Jack the Ripper“. Im Spätsommer und Herbst 1888 versetzte ein unbekannter Täter die Menschen des Londoner East Ends in Angst und Schrecken. Innerhalb weniger Wochen ermordete er mindestens fünf Frauen, allesamt Prostituierte, die sich auf den Straßen von Whitechapel ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.

Über kaum einen Täter in der Kriminalgeschichte dürfte so sehr spekuliert worden sein wie über „Jack the Ripper“. An Theorien zu den Morden mangelt es nicht – höchstens an stichhaltigen Theorien. Im Laufe der Geschichte machten diverse Verdächtige die Runde. Mal soll die Spur der Morde bis ins britische Königshaus hinaufreichen, mal will jemand angeblich die Tagebücher von „Jack the Ripper“ gefunden haben, und mal macht sich eine renommierte Krimiautorin auf, im Namen der Aufklärung für viel Geld den Nachlass eines wichtigen Künstlers der damaligen Epoche unwiederbringbar zu zerstören. Gerade vor dem Hintergrund der Whitechapel-Morde von 1888 gibt es immer wieder skurrile Theorien und sonderbare Ereignisse, die zur Mythenbildung ihren Teil beisteuern.

Einen neuen Täter präsentieren auch Henrik Püstow und Thomas Schachner in ihrem im |Militzke|-Verlag erschienenen Buch „Jack the Ripper – Anatomie einer Legende“ nicht. Auch ansonsten kommt ihr Buch eher unspektakulär daher. Püstow und Schachner haben sich aber auch ein gänzlich anderes Ziel auf die Fahnen geschrieben, eines, das gerade unter Ripperologen wohl eher selten ist: Ganz nüchtern widmen sie sich lediglich den Fakten. Sie rekonstruieren die Fälle anhand der damaligen Presse und der Polizeiakten. Sie skizzieren den Ablauf der Verbrechen neu, lassen die damaligen Zeugen zu Wort kommen und versuchen möglichst genau die letzten Schritte der Opfer nachzuvollziehen.

Die Verdächtigen, die nach den unterschiedlichen Ripper-Theorien für die Taten verantwortlich sein könnten, stellen sie jeweils kurz vor und erläutern in einer Pro-und-contra-Liste, was für und was gegen die Tätertheorie spricht. Nun sollte man meinen, eine solche objektive, lediglich auf Fakten basierende Betrachtungsweise wäre nichts Neues, in Sachen „Jack the Ripper“ ist sie allerdings ein Novum.

Allein die Tatsache, dass Püstow und Schachner selbst keiner Tätertheorie anhängen, ist schon eher ungewöhnlich, war es doch unter Ripperologen sonst meist üblich, die Whitechapel-Morde so darzustellen, dass sie zur individuell gehegten Tätertheorie passen. Die beiden Autoren bleiben in ihrer Betrachtungsweise bis zum Schluss objektiv, und genau das macht dieses Buch nicht nur einmalig, sondern auch zu einem wichtigen Werk zum Thema „Jack the Ripper“. Püstow und Schachner zeigen auf, was wirklich zu den Fällen bekannt ist, sie rekonstruieren die Fälle minutiös und prüfen bekannte Tätertheorien auf ihre Stichhaltigkeit.

Das, was dieses Buch so wertvoll macht, ist auch die Tatsache, dass man sich einen wunderbaren Überblick zu dem Thema verschaffen kann. Sind die meisten Ripper-Publikationen stets sehr subjektiv gefärbt, so erfährt man bei Püstow und Schachner, was man als gesichert ansehen kann und was nicht. Hinzu kommt, dass die beiden Autoren Material gesichtet haben, das bislang kaum Eingang in die Literatur zum Thema gefunden hat. Laut Verlagsangaben lagen den beiden die kompletten Polizeiakten vor, teilweise gar bislang ungesehenes Material. Ergänzt haben sie das mit den damaligen Meldungen der Presse, teils auch der deutschsprachigen.

Püstow und Schachner schildern den Fall aus der damaligen Sicht und skizzieren damit auch sehr plastisch die Verhältnisse und Lebensumstände der Menschen im Londoner East End nach. Die Fakten werden nachvollziehbar dargelegt und der Stil der beiden Autoren liest sich so locker und fesselnd, dass die Lektüre sich recht angenehm gestaltet. Allzu zart besaitete Gemüter werden das in Anbetracht der teils sehr unappetitlichen Bilder und Schilderungen von den Autopsien sicherlich anders sehen, aber das trifft wohl auf so ziemlich jedes Buch zum Thema „Jack the Ripper“ zu. Die Morde an sich sind halt eine unappetitliche Angelegenheit, bei der es nichts zu beschönigen gibt.

Auch Püstow und Schachner können zur Aufklärung der Morde am Ende keine allzu neuen Erkenntnisse beitragen, die wesentlich größere Klarheit bringen. Was neu ist, ist die Entlarvung der Urheberschaft des so genannten „Dear Boss“-Briefes, der damals überhaupt erst den Namen „Jack the Ripper“ ins Spiel gebracht hat. Laut Püstow und Schachner ist der Absender nicht der Mörder selbst, wie sonst immer gemutmaßt wurde, sondern ein findiger Journalist.

Zum Thema „Jack the Ripper“ hat Püstows und Schachners Werk eine unabstreitbare Eignung zur Basisliteratur: Objektiv in der Betrachtungsweise, fundiert in der Vielzahl an Quellen und stets kritisch in der Beurteilung gängiger Theorien. Die beiden Autoren beleuchten den Themenkomplex auf erfrischende und bei der Thematik durchaus ungewohnte Art und Weise, klammern sie sich schließlich nicht an die verkaufsfördernde Wirkung spektakulärer Tätertheorien. Ihre nüchterne und klare Herangehensweise hat einen geradezu wissenschaftlichen Charakter, der dem Buch eine Glaubwürdigkeit verleiht, die man sonst bei Büchern zum Thema „Jack the Ripper“ oft mit der Lupe suchen muss.

Die beiden Autoren haben sich schon jahrelang mit dem Thema „Jack the Ripper“ beschäftigt. Henrik Püstow hat schon viele Aufsätze zum Thema veröffentlicht. Thomas Schachner stellte das größte deutsche Webportal zum Thema „Jack the Ripper“ auf die Beine und ist zusätzlich aktiv an der weltweit größten „Ripper“-Website www.casebook.org beteiligt. Zudem hat er die „Jack the Ripper“-Konferenz in Baltimore 2003 mitorganisiert.

Fazit: Was Püstow und Schachner in „Jack the Ripper – Anatomie einer Legende“ zusammengetragen haben, ist absolut lobenswert – sachlich, kritisch und glaubwürdig. Den Täter können auch sie nicht präsentieren, aber welcher seriöse Forscher mag heutzutage damit noch aufwarten? Was sie aber schaffen, ist ein objektiver Überblick, der gerade im Bereich der deutschsprachigen „Jack the Ripper“-Literatur stets gefehlt hat.

Und so kann man Püstow und Schachner auf jeden Fall schon mal attestieren, dass sie ein lesenswertes Grundlagenbuch zum Thema abgeliefert haben, das ungleich wertvoller ist als so manche abstruse oder spektakuläre Theorie, egal ob sie von Stephen Knight stammt oder von Patricia Cornwell. Püstow und Schachner geben der Thematik den nüchternen und sachlichen Blick auf die Tatsachen zurück, der in der versuchten Aufklärung der Verbrechen in den letzten Jahrzehnten viel zu oft gefehlt hat.

Das deutschsprachige Informationsportal zum Thema „Jack the Ripper“:
[www.jacktheripper.de.]http://www.jacktheripper.de
http://www.militzke.de/

Goldberg, Myla – Buchstabenprinzessin, Die

Eliza Naumann ist eine mittelmäßige Schülerin. Unscheinbar schwimmt sie im Mittelfeld, bringt mittelmäßige Noten mit nach Hause und ist mittelmäßig interessiert, so dass selbst ihr Vater Saul kaum mehr darauf hoffen möchte, dass Eliza vielleicht etwas Besonderes sein könnte. Sie scheint so ganz anders als ihr älterer Bruder Aaron zu sein, dem schon von Anbeginn seiner Schullaufbahn die Begabtenförderung zuteil wurde. Für Saul ist Eliza damit eine Enttäuschung. Das ändert sich, als Eliza den Buchstabierwettbewerb an ihrer Schule gewinnt und zur Regionalausscheidung fahren darf.

Als sie auch den Regionalwettbewerb für sich entscheiden kann, steigt sie in der Gunst des Vaters, sieht der Rabbi und Kabbala-Forscher in dem jungen Buchstabiertalent doch seine Hoffnungen genährt, dass er endlich eine Gemeinsamkeit gefunden hat, die er mit seiner Tochter teilen kann. Beide teilen schließlich ihre Buchstaben-Faszination und so vertiefen Vater und Tochter sich fortan in die Geheimnisse des Buchstabierens und rücken dabei auch den Geheimnissen der Kabbala immer näher – sehr zum Leidwesen von Aaron, der sich in der Gunst des Vaters zurückgesetzt fühlt.

Das gemeinschaftliche Gitarrengeklimper von Vater und Sohn verschwindet im Ehrgeiz der Vorbereitungen auf den Nationalen Buchstabierwettbewerb völlig aus Sauls Zeitplan und damit auch Aaron fast unmerklich aus dem Leben seines Vaters. Galt er sonst in der Synagoge als Vorzeige-Jude, orientiert Aaron sich fortan an anderen religiösen Weltbildern, auf der Suche nach einem tieferen Sinn für sein Leben. Ehe Saul überhaupt etwas von der Veränderung bemerkt, hat Aaron sich auch schon einer Sekte zugewandt.

Doch Aaron ist nicht der Einzige, der sich unmerklich aus dem Familienleben der Naumanns herauszulösen beginnt. Auch Sauls Ehefrau Miriam, die als Rechtsanwältin arbeitet, entgleitet immer mehr in ihr verborgenes Dasein fernab der Familie, bis sie schließlich an ihrem geheimen Doppelleben zu zerbrechen droht. Ohne dass Saul es hätte kommen sehen, steht er eines Tages vor den Trümmern dessen, was einmal eine vorbildliche Familie war …

Myla Goldberg spinnt in ihrem Debütroman „Die Buchstabenprinzessin“ ein Familiendrama, welches das kaum spürbare, stetige Auseinanderbrechen familiärer Strukturen thematisiert. Die Naumanns sind eine Familie, in der jeder freizügig seinen eigenen Interessen nachgeht. Der Vater verrammelt sich stundenlang im Arbeitszimmer über seinen Schriften und will auf keinen Fall gestört werden, so dass er kaum mitbekommt, dass seine Tochter einen Buchstabierwettbewerb gewonnen hat, während die Mutter sich in ihrem Job verkriecht und selten pünktlichen zum Abendessen zu Hause ist.

In gewisser Hinsicht sind die Naumanns eine moderne Familie. Saul kümmert sich um Abendessen und Schulsorgen, während Miriam den Großteil des Unterhalts bestreitet. Souverän, weltgewandt und in gewisser Weise lässig wirkt das Familienleben der Naumanns. Die Eltern gehen selbstbewusst ihre Wege, nur die Kinder hadern noch mit den Tücken von Kindheit und Pubertät.

Doch wie labil das auf den ersten Blick noch so robuste familiäre Gefüge ist, zeigt Myla Goldberg innerhalb recht weniger Romanseiten. Elizas Triumph bei den Buchstabierwettbewerben bringt das empfindliche, eingespielte Gleichgeweicht zwischen den Familienmitgliedern aus der Balance. Saul widmet seine volle Aufmerksamkeit nur noch seiner Tochter und die Konsequenzen sind fatal. Goldberg zeigt, wie leicht zwischenmenschliche Beziehungen vor die Hunde gehen können, sobald sie einmal aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Die Art, wie Goldberg dem Leser ihre familiäre Beziehungsstudie serviert, ist im Großen und Ganzen wirklich gelungen. Sie macht die Charaktere greifbar und begreifbar. Wie ein Puzzle fügt sich im Laufe der Zeit das Bild einer Familie zusammen, in der die Erwachsenen immer mehr mit sich selbst als mit den anderen beschäftigt sind. Skizzenhaft entwickelt die Autorin ihre Figuren, streut Rückblenden in das Geschehen ein und springt zwischen den einzelnen Familienmitgliedern hin und her. Die Erzählung bekommt auf die Art einen erfrischenden episodenhaften Charakter.

Verhaltensweisen und Gedanken der Protagonisten werden dabei größtenteils durchaus begreiflich. Lediglich Miriam bleibt dem Leser irgendwie fremd. Sie ist eine ausgesprochen sonderbare Personen und der Plot rund um ihre Geschichte wirkt etwas überzogen und unglaubwürdig. Man wird nicht so recht warm mit ihr und auch wenn Goldberg am Ende sämtliche Facetten ihres Familiengemäldes freilegt, bleibt Miriam ein verschwommener Punkt des Bildes, der den Gesamteindruck etwas trübt.

Sprachlich macht Goldberg dagegen wieder einiges an Boden gut. Sie formuliert treffsicher und immer wieder auch mit einer gewissen Prise Witz. Sie versteht sich auf bildhafte Beschreibungen und skizziert vor dem Auge des Lesers ein recht lebhaftes Bild von Protagonisten und Handlung. So entpuppt sich „Die Buchstabenprinzessin“ als durchaus unterhaltsame Lektüre, mit einem nicht zu leugnenden sprachlichen Pepp.

Als zusätzliche Würze enthält der Roman obendrein einen kleinen Einblick in das Leben jüdischer Familien in Amerika. Goldberg schildert den Familienalltag auch unter dem Augenmerk des jüdischen Glaubens, was einen durchaus interessanten Nebenaspekt des Romans ausmacht.

Für Cineasten ist übrigens interessant zu wissen, dass „Bee Season“, wie das Buch im amerikanischen Original heißt, im letzten Jahr in Hollywood verfilmt wurde und in den US-Kinos auch schon lief. Dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein, wann auch der deutsche Kinogänger Richard Gere in der Rolle des Saul dabei beobachten darf, wie um ihn herum seine Familie zerfällt, während er mit seiner Tochter |Aquädukt| buchstabiert.

Bleibt als Fazit festzuhalten, dass Myla Goldberg mit „Die Buchstabenprinzessin“ ein durchaus interessantes Debüt geglückt ist. Sie skizziert ein Familiendrama mit lebhaften Figuren, von denen lediglich Miriam einen faden Beigeschmack zurücklässt. Ansonsten überzeugt Goldberg durch ihre lockere Art zu erzählen und ihre fein geschliffene Sprache, die das Buch zu durchaus unterhaltsamer Lektüre macht.

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Moers, Walter – Stadt der Träumenden Bücher, Die

Zugegeben, der Aufmacher des Klappentextes zu Walter Moers‘ Roman „Die Stadt der Träumenden Bücher“ wirkt etwas reißerisch: |“Bücher können alles – sogar töten!“| Dabei ist das in Anbetracht des Inhalts gar nicht mal übertrieben. Wer zuvor schon „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ gelesen hat, der weiß natürlich, dass man bei Walter Moers mit allem rechnen muss. Moers‘ Zamonien-Romane haben nicht von ungefähr einen gewissen Kultstatus. Dafür ist auch „Die Stadt der Träumenden Bücher“ ein erstklassiger Beleg – und ein schöner Trost, nachdem mich „Ensel und Krete“ ein wenig am Moers’schen Genie hat zweifeln lassen.

Zamonien also wieder einmal. Hat man davon nicht eigentlich schon genug? Ich würde sagen, solange Walter Moers seine Leserschaft weiterhin mit so absurd-genialen Einfällen belustigt, ist zumindest mein persönlicher Bedarf noch lange nicht gedeckt. Wie schon „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“, ist auch „Die Stadt der Träumenden Bücher“ ein grandioses Feuerwerk an Ideen. Ein Roman, der unterstreicht, dass Moers ein absoluter Ausnahmeautor ist.

„Die Stadt der Träumenden Bücher“ ist ein astreiner Abenteuerroman, dessen Hauptfigur den Zamonien-erprobten Leser zunächst einmal die Stirn runzeln lässt: Hildegunst von Mythenmetz, war das nicht dieser sonderbare Dichter? Der soll sich als Held eines Abenteuerromans eignen? So viel sei vorweggenommen: Hildegunst von Mythenmetz ist eine hervorragende Hauptfigur, die unverhofft von einem haarsträubenden Abenteuer ins nächste schlittert.

Die Geschichte beginnt auf der Lindwurmfeste, auf der Hildegunst zu Hause ist und zu einem großen Schriftsteller heranreifen soll. Als Dichtpate hat ihn Danzelot von Silbendrechsler unter seine Fittiche genommen, der allerdings gleich im ersten Kapitel das Zeitliche segnet. Im Nachlass seines Dichtpaten findet Hildegunst ein Manuskript, das einst ein junger Dichter an Danzelot geschickt hatte, um seinen Rat einzuholen. Dieses Manuskript ist so makellos und von so überragender schriftstellerischer Qualität, dass es Hildegunst nicht mehr loslässt. Er will das Geheimnis des Textes ergründen und seinen Verfasser ausfindig machen.

Eine erste Spur führt Hildegunst nach Buchhaim, in die Stadt der Träumenden Bücher. In Buchhaim dreht sich erwartungsgemäß alles nur um Bücher. Hier tummeln sich Verleger, Autoren und Antiquare. Ganz Buchhaim mutete wie ein überdimensionaler Buchladen an. Hildegunst ist gleich hin und weg von der Stadt, die auch seine ganz eigenen Hoffnungen auf ein Leben als großer Schriftsteller nährt.

Doch die Stadt birgt auch viele Geheimnisse, die in den dunklen Katakomben unterhalb der Straßen Buchhaims verborgen liegen. Ehe Hildegunst sich versieht, steckt er selbst auch schon mittendrin, in der labyrinthischen Welt Buchhaims, mit all ihren Merkwürdigkeiten und Gefahren. Er trifft Bücherjäger, die längst verschollen geglaubten Büchern nachjagen, die merkwürdigen Buchlinge, die ihren eigenwilligen Schabernack treiben, und er kommt dem Geheimnis um den mysteriösen Schattenkönig auf die Spur, der tief in den Katakomben Buchhaims regieren soll. Hildegunst stolpert von einem Abenteuer in das andere und riskiert dabei mehr als nur einmal sein Leben …

Wie vielgestaltig die Welt Zamoniens ist, weiß man seit „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“. „Die Stadt der Träumenden Bücher“ greift sich aus diesem Universum einen Ort heraus, der dem Leser bislang noch unbekannt ist: Buchhaim. Eine Stadt in der sich alles nur um Bücher dreht, dürfte der Traum einer jeden Leseratte sein. In jeder Gasse reiht sich Buchhandlung an Buchhandlung, überall werden Lesungen abgehalten, an jeder Ecke warten Verleger darauf, den nächsten großen Autor zu entdecken.

Moers stattet diese Welt mit so ziemlich allem aus, was das Leserattenherz begehrt. Es gibt den Friedhof der vergessenen Dichter, auf dem abgehalfterte Dichter auf Zuruf Verse reimen. Es gibt die „Giftige Gasse“, die berüchtigte Straße der gedungenen Kritiker, wo selbsternannte Literaturkritiker gegen Geld vernichtende Verrisse schreiben. Kurzum, jede Facette der literarischen Welt findet in Moers‘ Buchhaim ihre Entsprechung und genau deswegen werden wohl alle, die Bücher lieben, auch „Die Stadt der Träumenden Bücher“ lieben.

Doch es ist nicht nur die Grundidee Buchhaims, die zu überzeugen weiß. Moers glänzt wie schon in vorangegangen Werken auch hier wieder mit einer unbeschreiblichen Liebe zum Detail und mit einer schier unerschöpflichen Phantasie in der Namensgebung. Absurde Romantitel, ulkige Autorennamen – für Moers alles kein Problem. Und so schmunzelt man immer wieder über Namen wie Dölerich Hirnfidler, Sanotthe von Rhüffel-Ostend oder T.T. Kreischwurst.

Auch der Einfallsreichtum, mit dem Moers die verschiedenen Epochen der zamonischen Literaturgeschichte entwirft, ist äußerst faszinierend und hochgradig unterhaltsam. Da gibt es beispielsweise den so genannten Gagaismus, eine Bewegung der zamonischen Literatur, in der man Sprachfehler als besonderes Stilmittel verwendete. Für Moers ist keine Idee zu absurd. Alles fügt sich zu einem liebenswert-ulkigen Gesamtbild zusammen und man möchte am liebsten noch Dutzende von Seiten damit füllen, indem man seine Lieblingseinfälle des Buches zum Besten gibt. Aber wir wollen hier ja nicht alles vorwegnehmen.

Auch im Erschaffen neuer Lebensformen beweist Moers Einfallsreichtum. Der Schattenkönig ist ein wahrhaft beeindruckende Gestalt, aber besonders die Schrecklichen Buchlinge bleiben im Gedächtnis haften. Sie sind buchbesessene Gestalten der Unterwelt Buchhaims, die eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit Mike Glotzkowski von Pixars „Monster AG“ haben. Sie mauserten sich im Verlauf des Romans zu meinen absoluten Lieblingsfiguren.

Positiv bleibt auch wieder einmal Walter Moers‘ Erzählstil im Gedächtnis, der aber eigentlich gar nicht sein Erzählstil ist, da er laut eigenem Bekunden nicht der Autor des Romans ist, sondern nur derjenige, der dieses Werk der Mythenmetzschen Biographie aus dem Zamonischen ins Deutsche übersetzt hat. Wir wollen aber nicht verschweigen, dass auch die Übersetzung des Textes absolut herausragend ist. Walter Moers dürfte damit als der bedeutendste Übersetzer des Zamonischen in die Geschichte der deutschsprachigen Literatur eingehen. Erst er hat die herausragenden Werke der zamonischen Literatur schließlich überhaupt einem größeren Publikum zugänglich gemacht, und dafür sei ihm an dieser Stelle ausdrücklich und von ganzem Herzen gedankt.

Mythenmetz (der mir bis zur Lektüre dieses Buches immer eher als etwas steifer und gekünstelter Kerl im Gedächtnis war) erzählt locker und packend zu gleich. Er spricht den Leser immer wieder direkt an und sorgt so für eine enge Bindung zwischen Leser und Autor. Die Geschichte bekommt dadurch etwas Unmittelbares und der Leser hat das Gefühl, ganz dicht am Geschehen dabei zu sein.

Immer wieder gerät Mythenmetz in brenzlige Situationen, die Leib und Leben des dichtenden Lindwurms in höchstem Maße gefährden. Das erhöht die Spannung und lässt den Leser von der Lektüre kaum noch loskommen, wenngleich der Faktor Zufall oft eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Über eventuell dadurch bedingte Spannungsabfälle kann Mythenmetz aber dank seiner augenzwinkernden und absolut lässigen Erzählweise hinwegtrösten.

Moers leistet über die Übersetzung hinaus noch einen weiteren Beitrag zum positiven Gesamteindruck des Romans. Immer wieder streut er Illustrationen ein, die die Geschehnisse begleiten und einen plastischeren Eindruck von den Figuren vermitteln. Das ist nicht nur anschaulich, sondern teils gar in höchstem Maße erheiternd und unterstreicht damit den Lesegenuss.

Kurzum: „Die Stadt der Träumenden Bücher“ ist wieder einmal ein Prachtexemplar eines Walter-Moers-Romans und Zamonienfreunden ohnehin schon ausdrücklich ans Herz zu legen, aber auch für Quereinsteiger in die zamonische Literatur durchaus geeignet. Nachdem „Ensel und Krete“ mich nicht so sehr vom Hocker gehauen hat, kann Moers mit diesem Werk wieder an die Hochform, die er mit „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ erreicht hat, anknüpfen. Hochgradig phantasievoll, hochgradig unterhaltsam, trotz seines Umfang nicht eine Sekunde langatmig und ganz nebenbei auch noch eine liebenswerte Huldigung an das Lesen. Fazit: Dringend zur Lektüre empfohlen!

http://www.piper.de

King, Owen – wahre Präsident von Amerika, Der

Mit dem Namen |King| lassen sich Bücher gut verkaufen. Das belegt auch die aktuelle Platzierung von Stephen Kings neuem Roman [„Puls“ 2383 in den Bestsellerlisten. Doch im Schatten des |“großen King“| geht derzeit noch ein |“kleiner King“| auf dem deutschen Buchmarkt an den Start: Owen King. Und dieser kleine King ist tatsächlich ein Ableger des großen King – weniger literarisch, dafür umso mehr biologisch. Der Spruch „ganz der Vater“ lässt sich hier übrigens nicht anwenden, es sei denn, man meint den Umstand des Schreibens an sich und nicht das Geschriebene. Vater und Sohn dürften auf gänzlich unterschiedliche Zielgruppen abzielen und so verwundert es auch nicht, dass um das Debüt von King junior auch kein allzu großes Brimborium gemacht wird.

Owen King dürfte mit seinem Debüt „Der wahre Präsident von Amerika“ vor allem die Freunde zeitgenössischer amerikanischer Autoren wie Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen, Matthew Sharpe, etc. ansprechen. Ein wenig schräge Figuren, eine augenzwinkernde Erzählweise, gespickt mit liebevollen Details, und eine Geschichte, die im Grunde doch ganz alltäglich zu sein scheint – das macht den Lesegenuss von „Der wahre Präsident von Amerika“ aus.

Mag man dem Äußeren nach zunächst einmal einen Roman erwarten, so entpuppt sich das Buch bei näherer Betrachtung als Band mit fünf Erzählungen. „Der wahre Präsident von Amerika“ stellt den Auftakt dar und nimmt zwei Drittel des Buches ein. Daran schließen sich vier kürzere Erzählungen an. Die Gemeinsamkeit aller Erzählungen ist, dass sie Ausschnitte aus dem ganz normalen amerikanischen Alltag zeigen – zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und anhand unterschiedlicher Figuren.

_Der wahre Präsident von Amerika_

George ist fünfzehn und der einzige Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Wir schreiben das Jahr 2000 und Georges Großvater, ein alter Gewerkschafter, ärgert sich maßlos über den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahl. In seinen Augen ist der Wahlausgang Betrug (womit er ja nicht so ganz falsch liegt) und er tut seinen Unmut kund, indem er in seinem Vorgarten Al Gore auf einem übergroßen Plakat zum wahren Präsidenten Amerikas erklärt. Als ein Unbekannter das Plakat beschmiert, entbrennt ein regelrechter Kleinkrieg, in den auch George hineingezogen wird.

Doch das ist nicht Georges einziges Problem. Sein Hauptkriegsschauplatz ist vielmehr das Haus, in dem George mit seiner Mutter bei deren Verlobten Dr. Vic wohnt. Dr. Vic ist nun wirklich nicht die Sorte Mann, die George sich als seinen zukünftigen Stiefvater vorstellen möchte, und so tut er sein Möglichstes, um die bevorstehende Heirat der beiden zu verhindern. Doch als George sein Ziel erreicht zu haben scheint und eigentlich allen Grund hätte zu triumphieren, kommt es alles ganz anders als erwartet …

„Der wahre Präsident von Amerika“ zeigt zum einen, wie George versucht, seinen Platz im Leben zu finden. Er weiß nicht so recht, wo er hingehört, und ist das Nomadenleben, das er dank wechselnder Liebhaber seiner Mutter führen musste, satt. Doch als sich George die Chance bietet, sesshaft zu werden und endlich ein richtiges Familienleben ansteuern zu können, ist ihm das auch wieder nicht recht. George ist jemand, der enge Bindungen und tiefer gehende Kontakte scheut und sich auf diese Weise den Verantwortungen des Erwachsenenlebens entzieht.

Doch George macht im Laufe der Geschichte einen Reifungsprozess durch. King skizziert den Moment in Georges Leben, in dem er beginnt, erwachsen zu werden und zu reifen, und diese Veränderung demonstriert er ganz glaubwürdig. King staffiert seine Geschichte mit einer Reihe skurriler Figuren aus, die gewissermaßen das Salz in der Suppe sind. King zeigt die Menschen, wie sie sind, mit ihren Ecken und Kanten. Georges Großvater Henry und sein Nachbar Gil sorgen dabei mit ihren Schrullen immer wieder für Heiterkeit. Liebevoll beschreibt King die Figuren, aber auch ohne die Realität auszusperren oder zu beschönigen. Da wird im Schlaf gesabbert und die alten Herrschaften dürfen ihre von Inkontinenz geplagte Blase auch schon mal auf dem Gehsteg entleeren. Alles ohne dass man das Gefühl hat, der Autor würde sich über seine Protagonisten lustig machen. Feinfühlig versetzt King sich in seine Figuren und kehrt ihre komischen wie auch ihre tragischen Seiten hervor.

Letztendlich skizziert King anhand seiner Figuren ein Stück des heutigen Amerikas. So wie er sich einen Wendepunkt in Georges Leben herausgegriffen hat, thematisiert er auch einen Wendepunkt der amerikanischen Geschichte – den „Putsch“ der Konservativen, die sich in einem denkwürdigen historischen Prozess ins Weiße Haus geschlichen haben, obwohl Gegenkandidat Al Gore eigentlich mehr Stimmen hatte.

Henry will sich damit nicht einfach abfinden und rebelliert in seinem Vorgarten gegen diese Art der Machtergreifung. King zeigt ein Stück weit auch die Zerrissenheit, in der das Land politisch steckt, die Gegensätzlichkeiten der unterschiedlichen Seiten und die Gleichgültigkeit, mit der ein Volk einen Putsch hingenommen hat, nur weil man ihn als rechtmäßigen Wahlausgang verkauft hat. Und so dokumentiert King das heutige Amerika eben auf zwei Ebenen, der großen, politischen und der kleinen, persönlichen. Der Erzählung fügt das einen reizvollen Aspekt zu.

King ist ein Autor, der genau beobachten kann, der sich auf treffende Formulierungen versteht und den Leser durch seine punktgenaue und wohlakzentuierte Erzählweise das heutige Amerika begreifen lässt. Und das ist stets unterhaltsam und hat eine gewisse Klasse. Er versteht es, Gefühle zu vermitteln, würzt seine Erzählung mit Tragik und Humor, so dass die Lektüre eine durchaus lohnenswerte Erfahrung ist.

_Das Weitere_

In den folgenden vier Erzählungen beleuchtet King weitere Aspekte der amerikanischen Alltagswelt. Er portraitiert Menschen, teils in ganz alltäglichen Situationen, teils darin, wie sie markante Punkte ihres Lebens meistern. In _“Eiskalte Tiere“_ erzählt der Autor von einem reisenden Zahnarzt, der irgendwo in der amerikanischen Einöde praktiziert. Zwei Trapper begleiten ihn durch einen Schneesturm auf einen Berg, wo die hochschwangere Frau des einen Trappers auf eine dringend notwendige Zahnbehandlung wartet. Der Zahnarzt ist ein gebrochener Mann, der vor den Trümmern seines Lebens steht und für den der Trip in die verschneite Wildnis zu einer ganz besonderen Erfahrung wird.

In _“Wunder“_ erzählt King die Geschichte des Baseballspielers Eckstein, der in den Dreißigerjahren für die Coney Island Wonders spielt. Eckstein interessiert sich eigentlich nur für Baseball und Kino und dort besonders für Filmvorführerin Lilian. Doch die will so recht nichts mehr von ihm wissen, seit er sie „versehentlich“ geschwängert hat. Eckstein bemüht sich um eine Lösung des Problems.

_“Schlange“_ erzählt von einem Nachmittag im Einkaufszentrum. Der Jugendliche Frank, Kind geschiedener Eltern, wird dort von seinem Vater abgesetzt, damit beide den Nachmittag nach ihren ganz eigenen Vorstellungen verbringen können. Im Einkaufszentrum trifft Frank einen Kerl in Bikerklamotten, der dort mit einer Boa Constrictor posiert. Die beiden kommen ins Gespräch und der alte Hippie hat eine interessante Geschichte zu erzählen, die Frank nicht mehr loslässt.

In der abschließenden Erzählung _“Meine zweite Frau“_ erzählt King die Geschichte eines Mannes, der mit seinem Bruder eine Reise nach Florida unternimmt. Keine gewöhnliche Reise, denn der Bruder will in Florida das Auto eines Mannes kaufen, der gerade hingerichtet werden soll – für Taten, bei den denen das Auto gewissermaßen als Mordwaffe diente. Während also der Bruder in Florida seinen Autokauf tätigt, hofft die Hauptfigur selbst, endlich ein wenig abschalten zu können, nachdem seine Frau ihn verlassen hat.

Auch die vier angeschlossenen Erzählungen vereinen Skurriles mit Alltäglichem in sich. Herausragend ist besonders „Wunder“. Die Welt von Coney Island in den Dreißigerjahren ist ein faszinierender Mikrokosmos, den auch Sarah Hall in [„Der Elektrische Michelangelo“ 1808 schon so wunderbar beschrieben hat. Auch bei King kommt die Skurrilität und Verschrobenheit dieser Insel sehr schön zum Tragen. Der Handlungsbogen ist hier wunderbar geformt und die Geschichte findet einen sehr schön akzentuierten Ausgang.

Auch „Meine zweite Frau“ wirkt in Erzählverlauf und Komposition durchaus stimmig. King verwebt hier wieder auf wohldosierte Art Verrücktes mit Alltäglichem und schafft es damit, das heutige Amerika zu karikieren. Bei den übrigen zwei Erzählungen bleiben dagegen eher gemischte Gefühle zurück. Die geschilderten Begebenheiten sind interessant genug, um den Leser bei Laune zu halten, aber die Schlusspointe lässt den Leser etwas in der Luft hängen. Den uneingeschränkt wohlwollenden Eindruck, den noch „Der wahre Präsident von Amerika“ hinterlassen hat, trüben sie dadurch leider ein wenig, auch wenn unterm Strich immer noch ein positives Gesamturteil dabei herauskommt.

So kann man als Fazit festhalten, dass Owen King durchaus ein talentierter Schreiber ist. Er formuliert treffsicher, kreuzt auf wohlakzentuierte Art und Weise Skurriles mit Alltäglichem, beweist ein großes Herz für seine Figuren und zeichnet sich durch eine genaue Beobachtungsgabe aus. Alles in allem hat er ein wirklich vielversprechendes Debüt abgeliefert. Auch wenn von den weiteren Erzählungen nicht alle restlos überzeugen können, so ist das Gros der Geschichten wirklich sehr lesenswert.

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Stieg Larsson – Verblendung (Millennium 1)

Wenn man den Pressestimmen im Klappentext Glauben schenkt, dann dürfte „Verblendung“ von Stieg Larsson eine der vielversprechendsten Thriller-Veröffentlichungen des Jahres sein. Der kritische Leser mag da gleich entgegenhalten, dass ebendiese Pressestimmen allesamt von schwedischen Zeitungen mit unaussprechlichen und nach Ikea-Katalog klingenden Namen kommen, doch für den |Heyne|-Verlag war dies kein Hindernis, „Verblendung“ schon mal im Vorfeld als Thrillerveröffentlichung des Jahres zu lobpreisen. Ob das alles nur leere Versprechungen sind oder in dieser Lobhudelei wirklich ein Fünkchen Wahrheit steckt, soll der folgende Text klären.

Ganz beschaulich fängt der Roman an, als der Journalist Mikael Blomkvist den Auftrag erhält, eine Familienchronik im Auftrag des Patriarchen Henrik Vanger zu schreiben. Die Vangers stehen einem der größten schwedischen Konzerne vor, einem komplexen Familienimperium, das tief in der schwedischen Geschichte verwurzelt ist.

Für Mikael kommt dieser Auftrag gerade zur rechten Zeit, gibt er ihm doch die Möglichkeit, nach seiner Verurteilung wegen übler Nachrede aus dem Rampenlicht der Stockholmer Pressewelt abzutauchen. Mikael hatte in einem Artikel für sein Magazin „Millennium“ über zwielichtige Geschäfte des Großindustriellen Hans-Erik Wennerström berichtet, aber in der darauf folgenden Gerichtverhandlung den Kürzeren gezogen.

So richtet Mikael sich also auf der beschaulichen Insel Hedeby ein, um an Vangers Familienchronik zu schreiben. Was nur Henrik Vanger und er selbst wissen, ist, dass dies nur ein Scheinauftrag ist. In Wirklichkeit soll Mikael herausfinden, was aus Vangers vor vierzig Jahren verschwundenen Großnichte geworden ist. Harriet Vanger war in Henrik Vangers Augen eine wichtige Hoffnung für die Zukunft des Vangerschen Konzerns. Doch Harriet verschwand während einer Familienzusammenkunft auf der Insel unter mysteriösen Umständen. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Henrik Vanger vermutet einen Mord.

Als Mikael nach einigen Wochen der Ermittlungen wider Erwarten eine erste Spur entdeckt, wird ihm die junge Ermittlerin Lisbeth Salander zur Seite gestellt. Lisbeth, die mit sehr eigenwilligen Methoden arbeitet und sich nie in die Karten gucken lässt, stellt sich als überaus pfiffige und kompetente Assistentin heraus. Gemeinsam kommen die beiden auf die Spur eines alten Familiengeheimnisses und bringen sich durch ihr Wissen schließlich selbst in Gefahr. Wie schwer die Wahrheit wirklich wiegt, die die beiden zutage fördern werden, ahnen sie dabei selbst noch nicht, aber sie werden sich wünschen, dieses grausige Geheimnis niemals aufgestöbert zu haben …

Der Handlungsabriss von „Verblendung“ verspricht schon außerordentlich spannende Lektüre. Obwohl Larsson den Handlungsbogen ganz gemächlich spannt, zieht er den Leser gleich tief in die Geschichte hinein. Er erzählt auf eine schlichte und lockere Art, schafft es aber, den Leser von Anfang an mitzureißen. „Verblendung“ ist ein Buch, das den Anschein erweckt, als würde es sich quasi von selbst lesen. Leichtfüßig huscht man mit den Augen über die Seiten und zieht dabei unmerklich mit der Zeit das Lesetempo an – bis man irgendwann an den Punkt kommt, dass man „Verblendung“ nicht mehr gerne aus der Hand legen mag.

Dabei ist es nicht einmal die Spannung, die den Leser von der ersten Seite gefangen nimmt. Vielmehr sind es die Figuren, mit denen man mitfiebert. Larsson widmet sich erst einmal in aller Ruhe dem Leben seiner beiden Protagonisten Mikael und Lisbeth. In aller Ruhe erzählt er ihre Vorgeschichte (die in beiden Fällen durchaus interessant ist) und sorgt damit für eine vergleichsweise enge Bindung zwischen Leser und Figuren. Larsson geht es ganz offensichtlich nicht einfach nur darum, oberflächliche Spannung zu erzeugen und den Leser in einem atemlosen Plot mitzureißen, er legt seine Geschichte auf etwas mehr Tiefe an.

Mikael und Lisbeth sind zwei Figuren, die für sich genommen schon reichlich unterhaltsam sind. Beide haben ihre ganz ureigenen Macken. Bei Mikael ist es ein permanentes, offenes Dreiecksverhältnis, das er nun schon seit Jahren mit Freundin und Chefredakteurin Erika pflegt. Bei Lisbeth ist es ihre mangelnde soziale Kompetenz. Lisbeth ist aktenkundig und wird betreut, ist in ihrem Job als Ermittlerin für eine Security-Firma aber unübertroffen. Mikael und Lisbeth sind in ihrer ganzen Art und Weise ein interessanter Gegensatz, und auch dieser ist es, der auf den Leser einen Reiz ausübt und ihn bei der Stange hält.

Mit dem Thrillerplot lässt sich Larsson dagegen Zeit, aber das kann er sich durchaus leisten, denn auch so bleibt die Geschichte stets interessant. Mikaels Arbeit gleicht der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Immer wieder geht er Akten und Polizeiberichte durch, die vor ihm schon andere zigmal durchgekaut haben. Natürlich ist dem Leser klar, dass Mikael irgendwann etwas finden wird, aber dadurch, dass Larsson diesen Moment hinauszögert, steigert er die Spannung.

Als Mikael dann die erste Spur entdeckt, beginnt Larsson kontinuierlich an der Spannungsschraube zu drehen. Mit viel Liebe zum Detail schildert er Mikaels mühselige Vorgehensweise zur Rekonstruktion der Geschehnisse von vor vierzig Jahren. Als dann die ersten Drohungen gegen das Ermittlerduo von unbekannter Adresse kommen, steigt die Spannung zu ihrem Höhepunkt an. Larsson enthüllt eine grausige Familiengeschichte, und das Wissen darum ist für beide Protagonisten gleichermaßen belastend.

Der Spannungshöhepunkt ist dann schon weit vor Ende des Buches erreicht. Schon 150 Seiten vor dem Ende des Romans ist der Fall geklärt – größtenteils schlüssig aufgelöst und bis auf in kleineren Details durchaus glaubwürdig. Doch auch nach diesem vermeintlichen Ende gibt es noch einiges Spannendes zu lesen. Auch wenn der Fall abgeschlossen ist, so gibt es für die Protagonisten doch noch Vieles zu tun. Auch hier steigt die Spannung zum Ende hin dann noch einmal gewaltig an und endet mit einem Tusch, der die Romankomposition wunderbar abrundet.

Vom Aufbau her kann man „Verblendung“ durchaus als sehr gelungene Spannungslektüre sehen. Der Plot ist dicht und fein gewoben, der Leser fiebert mit den Figuren mit und der Erzählstil ist so eingängig und leichtfüßig, dass man bei der Lektüre gerne mal die Zeit vergisst. Man bekommt einen Einblick in den Journalistenalltag und blickt den Figuren bei all ihren Aktivitäten stets über die Schulter. Man ist nah am Geschehen, schmunzelt und leidet mit den Protagonisten, die sehr bildhaft und trotz ihrer merkwürdigen Eigenarten lebensnah erscheinen.

„Verblendung“ ist der Auftakt zu Larssons „Millennium-Trilogie“. In Schweden hat sich der Roman so ordentlich verkauft, dass die Verfilmung offenbar bereits in Arbeit ist. Die Filmrechte hat sich übrigens die gleiche Produktionsfirma gesichert, die auch schon Mankells Wallander-Krimis verfilmt hat. Larsson ist mit „Verblendung“ für den „Gläsernen Schlüssel“, den schwedischen Krimipreis, nominiert worden. Larsson selbst war seines Zeichens Journalist und Herausgeber des schwedischen Magazins „EXPO“ – also selbst ein kleiner Mikael Blomkvist. Vielleicht wirkt auch deswegen das Leben von Blomkvist so authentisch. Larsson starb leider schon 2004 fünfzigjährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

Kurzum: Mit „Verblendung“ ist Stieg Larsson ein überaus spannend erzählter Roman geglückt. Ob das Ganze nun wirklich die Thriller-Veröffentlichung des Jahres ist, werden wir wohl erst am Jahresende wissen. Dennoch kann man „Verblendung“ getrost weiterempfehlen. Man fiebert mit den Figuren mit, schließt sie in sein Herz und mag sie am Ende des Romans gar nicht mehr verlassen. Der Spannungsbogen strebt kontinuierlich aufwärts und trotzdem besitzt Larsson die Professionalität, seinen Roman gewissermaßen ruhig angehen zu lassen. Freunden spannender Lektüre absolut zu empfehlen, denn mit diesem Buch vergisst man die Zeit.

Schenkel, Andrea Maria – Tannöd

„Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel ist schon ein recht ungewöhnliches Krimivergnügen. Mitten in den Fünfziger Jahren, mitten in der piefigen Provinz der Oberpfalz – klingt nicht gerade, als wären das Zeit und Ort für einen packenden Krimiplot. Doch wer sich jetzt schon wieder abwenden möchte, der verpasst etwas, nämlich einen schönen kleinen Krimi, mitten aus deutschen Landen, mitten aus dem Leben …

|Tannöd| – Der Name ist Programm auf dem Hof der Familie Danner. Ein einsames Gehöft vor einem dunklen Tannenwald, fernab der Dorfidylle von Einhausen in der Oberpfalz. Nach Tannöd verirrt sich so schnell niemand. Nicht nur, weil der Hof die letzte Bastion der Zivilisation vor der völligen Einöde der deutschen Provinz zu sein scheint, sondern einfach auch, weil den Hausherren Bauer Danner niemand so recht mag.

Er ist ein Eigenbrödler, der Tannöder, sagt man sich im Dorf, und ein Geizkragen obendrein. Und so dauert es halt auch ein paar Tage, bis die Dorfbewohner merken, dass dort oben auf Tannöd irgendetwas nicht zu stimmen scheint. Niemand hat die Familie in den letzten Tagen gesehen. Die Kinder waren nicht in der Schule und niemand hat am Sonntag die heilige Messe besucht.

Grund genug für ein paar Nachbarn, schließlich rauszufahren und nach dem Rechten zu sehen. Als die Männer auf dem Hof ankommen, machen sie eine grausige Entdeckung: Bauer, Bäuerin, Altbäuerin, Magd und die beiden Kinder – alle sind tot, von einem Wahnsinnigen grausam mit der Spitzhacke erschlagen …

Der Leser steht in Andrea Maria Schenkels Debütroman im Zentrum des Geschehens. Es ist, als würden die Leute aus dem Dorf ihm persönlich Bericht erstatten. Jeder weiß irgendetwas über den Tannöder und seine Familie zu berichten, und aus den verschiedenen Aussagen kann sich der Leser das Gesamtbild wie ein Puzzle Stück für Stück zusammensetzen.

Der Leser bekommt dabei tatsächlich das Gefühl, ganz nah an der Handlung zu sein. Man sieht die Dorfbewohner förmlich vor sich. Alte Frauen mit Kittelschürze und Kopftuch, Männer in ausgebeulten Hosen, auf eine Mistgabel gestützt – jeder der Dorfbewohner darf in seiner ihm eigenen Art berichten, egal ob mit Grammatikfehlern oder seltsamem Provinzkauderwelsch.

„Tannöd“ wirkt dadurch sehr authentisch und unverfälscht. Und tatsächlich beruht die Geschichte auf einer wahren Begebenheit. Diesen Fall hat es in sehr ähnlicher Form tatsächlich gegeben, wenngleich das schon in den Zwanzigerjahren war und nicht erst in den Fünfzigern. Doch der veränderte zeitliche Kontext hat auch sein Gutes. Der Krieg ist den meisten auftretenden Figuren noch sehr frisch im Gedächtnis, und so erinnert sich so manch einer auch der damaligen Taten anderer Dorfbewohner. So schürt Schenkel Verdächtigungen, die in vielfältige Richtungen deutbar sind. Sie lockt den Leser auf falsche Fährten und offenbart ihm den Mörder erst ganz am Ende – und das, obwohl der Leser seine Handlungen die ganze Zeit über schon mitverfolgen darf.

Man muss Frau Schenkel schon lassen, dass sie ihren Plot sehr gut konstruiert hat. Sie verrät nie zu viel, stellt immer wieder Fallen und erhöht durch ständige Handlungssprünge und Perspektivenwechsel die Spannung. Klein und kompakt erscheint das Buch mit seinen gerade einmal 125 Seiten, aber diese Seiten haben es in sich. Düster und abgründig offenbart sich die Realität hinter der bigotten Provinzidylle. Ungeahnte Tiefen tun sich auf und der Plot entwickelt, obwohl er ganz unscheinbar daher kommt, viel Spannung.

Ein wenig kann man „Tannöd“ auch als Spiegel der damaligen Zeit betrachten. Man hat das Gefühl, dass das Bild des deutschen Provinzlebens, das Schenkel skizziert, in der Art durchaus realistisch ist. Sie belebt die Fünfzigerjahre, die irgendwo zwischen der schweren Last der Kriegsschuld und dem Aufbruch zu einer neuen Epoche liegen, und macht damit für den Leser auch ein Stückchen Zeitgeschichte greifbar.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück, der sich auch mit dem ersten Platz der |KrimiWelt|-Bestenliste deckt. Die dortigen Juroren sehen Andrea Maria Schenkel quasi als die Hoffnung des deutschen Provinzkrimis, machen sie an ihr doch eine Wende aus, die weg vom |“drögen deutschen Regionalkrimi“| führt und hin zu mehr |“Sprache, Tiefe und Farbe“|.

Festhalten kann man in jedem Fall schon mal, dass Andrea Maria Schenkel ein auffälliges und interessantes Debüt abgeliefert hat, das den Leser auf einfache und bestechend klare Art zu fesseln weiß. Der Leser ist hautnah am Geschehen, die Figuren wirken wie mitten aus dem Leben und der Plot ist ausgesprochen klug konstruiert. Kurzum: Ein lesenswertes Kleinod deutscher Krimiunterhaltung, das hinter seinem schmalen Buchrücken eine erstaunliche Tiefe und Schwärze offenbart.

Edition Nautilus