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Mary Roberts Rinehart – Miss Pinkerton oder Ein Fall für die feine Gesellschaft

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Malfi, Ronald – Snow – Die Kälte
_Das geschieht:_
Anwalt Todd Curry wollte seinen Sohn, Kate Jansen ihren Verlobten, Fred und Nan Wilkinson wollten ihre Tochter besuchen. Sie müssen nach Des Moines im US-Staat Iowa, doch alle stranden sie am Heiligen Abend auf dem Flughafen von Chicago: Heftige Schneefälle und Stürme haben den Flugverkehr lahmgelegt.
Die Entfernung zwischen Chicago und Des Moines beträgt nur 500 km. Das Quartett – vom Pech zusammengewürfelt – beschließt, die Fahrt trotz der damit verbundenen Gefahren mit dem Automobil zu wagen. Weit kommt man nicht; Curry gerät irrtümlich vom Highway ab, und als er auf einer Nebenstraße beinahe einen einsamen Wanderer überfährt, landet der Wagen in einer Schneewehe und wird so stark beschädigt, dass an eine Weiterfahrt nicht zu denken ist.
Glücklicherweise ereignete sich der Unfall nahe der kleinen Ortschaft Woodson. Zu Fuß erreicht man dieses Ziel, doch nicht Hilfe, sondern der Tod wartet auf die Neuankömmlinge: Seltsame Wesen materialisieren sich aus Schneewirbeln. Sie dringen halbstofflich in die Körper ihrer menschlichen Opfer ein, die sie anschließend ihrem Willen unterwerfen. Die dabei entstandenen Mischwesen sind kannibalische Mörder, die sich zwar töten lassen, wobei der Eindringling jedoch unbeschadet in sein Zwischenreich zurückkehrt.
Nur wenige Einwohner haben überlebt. Die Verkäuferin Shawna Dupree kann die unfreiwilligen und entsetzten Gäste zunächst retten und sie über die Situation in Kenntnis setzen. Von außen wird keine Rettung kommen. Die Kreaturen und das Wetter haben Woodson isoliert. Man ist gegen die schussfeste Übermacht auf sich allein gestellt. Bald finden die Wesen die kleine Gruppe, die trotz verzweifelter Gegenwehr reduziert wird. Allerdings entdecken die Menschen im Gegenzug, dass die Kreaturen nicht gänzlich unverwundbar sind …
_Guter, alter, nie altmodischer Horror_
In letzter Zeit kann der Freund des ‚richtigen‘ Horrors das Gefühl der Verzweiflung erschreckend leicht heraufbeschwören. Es genügt der Gang in eine beliebige Buchhandlung und der Blick in die mit „Phantastik“ überschriebenen Fächer: Dort drängen sich jene aktuell erfolgreichen Machwerke, in denen sich glutvolle Vampire oder Engel oder ihre einkaufsfetischistisch veranlagten weiblichen Gegenstücke tummeln und treiben, was vorzugsweise Jungmädchen für sexy oder schick halten. Die immer gleichen Geschichtchen vermehren sich wie die Karnickel bzw. setzen unzählige Klone in die Welt, wo diese wiederum endlose Serien austreiben.
Darüber hinaus wird dümmlicher Sex-&-Splatter-Trash für permanentpubertierende Leserkreise feilgeboten: Eindimensionale Monster schlagen breite Blutschneisen durch machtlose Menschenmengen, bis ihnen leichthirnige aber schwer bewaffnete Einzelgänger Einhalt gebieten.
Mit Erleichterung reagiert der Leser, der solche Platt- und Plumpheiten verabscheut und sich lieber traditioneller grault, auf die Entdeckung eines Romans, dessen denglischer Titel eigentlich keine nahrhafte Genrekost signalisiert. Umso erfreulicher ist die Entdeckung, dass hier ein Autor ganz altmodisch einen Job erledigt, der ganz einfach lautet: Unterhalte dein Publikum, ohne es für dumm zu verkaufen!
|“Simpel“ ist kein Schimpfwort|
Wobei dieses Publikum wie gesagt eben nicht nur aus b(lut)rünstigen Jugendlichen besteht, sondern auch Leser einschließt, die mit einer echten Story überrascht werden möchten. Dieser rote Faden kann ruhig dünn sein; hier bringt schlechtes Wetter eine kleine Gruppe in eine isolierte Stadt, die von Ungeheuern belauert wird. Die sich daraus ergebenden Ereignisse wurden in tausend Filmen und zehntausend Romanen durchgespielt. Auch „Snow“ bietet weder Neues noch Originelles, kann aber mit der bestmöglichen Alternative dienen: Ronald Malfi weiß, wie man an der Spannungsschraube dreht!
Als fachkundiger Horror-Handwerker orientiert er sich grob am Großmeister des US-Kleinstadt-Horrors: „Snow“ erinnert an ein Werk von Stephen King (speziell an „Under the Dome“, dt. „Die Arena“). Freilich kopiert Malfi sein Vorbild hauptsächlich in der sorgfältig entwickelten und getimten Dramaturgie des Schreckens: Dieser setzt langsam und unmerklich ein und bietet zunächst nur Bruchstücke eines Gesamtbildes, das der Verfasser uns nicht schwatzhaft erklärt, sondern das er im Geschichtsfluss entstehen lässt.
Wir wissen nie mehr als die Unglücksraben, die es nach Woodson verschlägt. Informationen erhalten wir wie sie, indem wir die Straßen des Städtchens ‚beobachten‘, den Schilderungen der wenigen Überlebenden ‚zuhören‘ oder gemeinsam mit unseren Helden Nachforschungen anstellen.
|Jedermann & Jedefrau in der Krise|
Es sind keine Supermänner oder -frauen, die in Woodson um ihr Leben kämpfen. Sie mutieren auch nicht zu solchen, nachdem sie im Feuer (bzw. hier im kalten Schnee) geprüft und gestählt wurden: Solche Quantensprünge überlässt Malfi den weniger inspirierten Autoren. Seine Figuren sind Getriebene, Entwurzelte, Verlierer, denen es jetzt zu allem Überfluss auch noch ans Leder geht. Angst und Überlebenswillen setzen zwar kurzfristig Kräfte und Kampfgeist frei, doch mangelndes Wissen führt oft dazu, dass der Schuss buchstäblich nach hinten losgeht. Fehltritte und -schüsse führen zu neuen, verhängnisvollen Ereignissen.
Dass die Handlung dennoch voranschreiten kann und ein allmähliches Sammeln von Wissen damit einhergeht, fordert ganz realistisch Opfer. Malfi treibt das Element der Unsicherheit auf die Spitze: Wir wissen nicht, was geschehen, und wir wissen nicht, wen es als Nächsten erwischen wird! Auch aufwändig eingeführte Hauptfiguren sind davor keineswegs gefeit.
Die Krise bringt zudem nicht zwangsläufig das Positive zum Vorschein: Woodson ist ein Mikrokosmos des allzu Menschlichen. Mit offenen Armen werden die Flüchtigen nie empfangen. Wer seine kleine Nische vor den Monstern gefunden hat, will Sicherheit, Wärme und Nahrung nicht teilen. Kleine Geister wittern ihre große Chance und wachsen als Diktatoren oder religiöse Fanatiker unheilvoll über sich selbst hinaus.
|Was im Schnee umgeht|
Die daraus resultierenden Konflikte ermöglichen es Malfi, sparsam mit den Auftritten seiner Ungeheuer umzugehen. Gern sind die Menschen mit sich selbst beschäftigt. Manchmal ist der Leser sogar froh, dass die Kreaturen sich wieder bemerkbar machen: Sie bringen von außen Bewegung in die Handlung!
Dies ist ihr Primär-Job, und deshalb ist es gar nicht nötig, ihre Herkunft detailliert zu klären. Sind es Naturgeister? Unwillkommene Gäste aus einer fremden Dimension? Außerirdische? Wichtig ist: Es sind Jäger, sie sind teuflisch schlau, und ihnen ist mit Waffengewalt nicht beizukommen. Erforderlich sind Gewalt und Köpfchen, wobei beide Elemente sich die Waage halten: Schließlich ist „Snow“ kein Psycho-Thriller und will es auch nie sein.
Malfis Monster erfüllen ihre Aufgabe gut: Sie sind groß, es gibt sie in den Versionen bizarr bis hässlich, und ihr Verhalten sorgt jederzeit für Schrecken. Die Möglichkeit der Kommunikation ist im Romankonzept nicht vorgesehen. Ungeheuer sind und bleiben Ungeheuer. Man spricht nicht mit ihnen, man kämpft mit ihnen und rottet sie aus.
|Mit Volldampf in die Zielgerade|
„Snow“ gäbe die Grundlage für keinen guten aber einen unterhaltsamen Film ab. Ungeachtet der Frage, ob Malfi bei der Niederschrift schon mit einem Auge gen Hollywood schielte, sind entsprechende Stilmittel deutlich erkennbar. Die Handlung bietet sowohl regelmäßige Action-Einschübe als auch Pausen, in denen nicht nur die Figuren (= Darsteller) verschnaufen können. In solchen Momenten der Ruhe gibt es Rückblenden. Die Figuren erinnern sich an ihre Vergangenheit oder erzählen einander davon. Wirklich notwendig ist es nicht. Anders als der schon genannte Stephen King verfügt Malfi zudem nicht über das Talent, Klischees zu entstauben und Figuren in Menschen zu verwandeln. Sie bleiben Monsterfutter.
Die Verfolgungsjagden und Duelle mit den Kreaturen oder mit durchgedrehten Zeitgenossen steigern sich in ihrer Intensität. Wie ein Film steuert die Handlung klar auf einen finalen Höhepunkt zu. Alle relevanten bzw. noch lebenden Figuren werden zum letzten Gefecht antreten. Die Menschen sind hoffnungslos in der Unterzahl. Noch einmal wird aus Leibeskräften gestorben. Aber siehe: Wer lange genug die Zähne zusammengebissen und ein wenig Glück hat, wird mit einem Ende belohnt, das zwar nicht happy ist – wir leben schließlich im zynischen 21. Jahrhundert -, aber die üblichen Verhältnisse immerhin monsterfrei wiederherstellt. Ein bisschen Zuckerguss gibt’s noch dazu: Wer bisher sein Kind vernachlässigt oder dem falschen Mann hinterhergerannt ist, wird zukünftig alles besser machen.
Das ist wie gesagt alles keine Kunst, sondern Handwerk. Ronald Malfi beherrscht es so gut, dass man von ihm hierzulande hoffentlich noch mehr lesen wird – ein Gefühl der Erwartung, das der Horrorfreund im Wust des Trash-Grusels fast schon verloren wähnte. (Vielleicht stimmt der deutsche Verlag die Veröffentlichung des nächsten Malfi-Titels ein wenig besser auf die Jahreszeit ab …)
_Autor_
Ronald Damien Malfi wurde am 28. April 1977 als ältestes von vier Kindern in New York City, Stadtteil Brooklyn, geboren. Er studierte Englisch an der Towson University nahe Baltimore in Maryland. Seinen Abschluss machte Malfi 1999. Ebenfalls ab 1999 spielte er Gitarre und sang in der Alternative-Rock-Band „Nellie Blide“, die bis 2002 bestand.
Noch in den 1990er Jahren erschienen zahlreiche Kurzgeschichte und Novellen. Er beschränkte sich keineswegs auf Phantastisches, sondern mischte genreübergreifend Horror mit Thriller, triviale mit ‚hoher‘ Literatur. (Die dafür getischlerte Schublade nennt sich „Art House Horror“)
Seit 2000 schreibt Malfi auch und vor allem Romane. Seine Figuren sind meist Menschen, die den Halt oder gar ihre Identität verloren haben. Die daraus resultierende Unsicherheit schilderte Malfi meisterhaft in seinem Roman „Shamrock Alley“ (2009), der auf Erlebnissen seines Vaters, eines Undercover-Agenten, basierte, der eine Straßengang infiltrierte. Für „Shamrock Alley“ wurde Malfi 2010 mit einem „Independent Publisher Book Award“ für den besten Spannungs-Roman des Jahres ausgezeichnet.
|Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: Snow (New York : Leisure 2010)
Übersetzung: Jürgen Langowski
ISBN-13: 978-3-453-52852-9
Als eBook: Juli 2011
ISBN-13: 978-3-641-06076-3|
[http://www.ronmalfi.com]http://www.ronmalfi.com
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
King, Stephen – Gesang der Toten, Der
_Das geschieht:_
Der zweite Teil einer Sammlung früher Stephen-King-Geschichten präsentiert neun weitere Geschichten, die vom Einbruch des Grauens in eine womöglich ohnehin furchtbare Gegenwart (oder Vergangenheit oder Zukunft) erzählen: Die ‚Normalität‘ der Situation steigert den zudem geschickt geschürten Schrecken und sorgt für eine durchweg gruselige Lektüre.
– „Mrs. Todds Abkürzung“ (|“Mrs. Todd’s Shortcut“|, 1984): Ihr Hobby ist es, nach der kürzesten Strecke zu suchen; dass manche Abkürzung buchstäblich nicht von dieser Welt und lebensgefährlich ist, nimmt Mrs. Todd dabei in Kauf.
– „Der Hochzeitsempfang“ (|“The Wedding Gig“|, 1980): Der hässliche Streit zweier Gangster lässt eine ohnehin groteske Hochzeit im Chicago des Jahres 1927 in einer Katastrophe enden.
– „Travel/Der Jaunt“ (|“The Jaunt“|, 1981): Zwar kann der Mensch durch Raum & Zeit reisen, aber es gilt dabei gewisse Regeln zu beachten, was in dieser Geschichte mit üblen Folgen ignoriert wird.
– „Kains Aufbegehren“ (|“Cain Rose Up“|, 1986): Eines allzu heißen Sommertages hat der junge Student die Nase voll von der Welt – und ein Gewehr im Schrank.
– „Das Floß“ (|“The Raft“|, 1982): Pubertäre Wallungen verfliegen abrupt, als vier junge Schwimmer feststellen, dass sie ihren Badesee mit einer seltsamen und sehr hungrigen Kreatur teilen.
– „Der Gesang der Toten“/“Die Meerenge“ (|“The Reach“/“Do the Dead Sing?“|, 1981): Als die alte Stella ihren toten Gatten zu sehen beginnt, bricht sie eines eisigen Wintertages zu ihrer letzten Reise auf.
– „Der Sensenmann“/“Das Bildnis des Sensenmanns“ (|“The Reaper’s Image“|, 1969): Der alte Spiegel ist verhext, doch was seine neugierigen Betrachter trifft, haust nicht in seinem Inneren.
– „Nona“ (|“Nona“|, 1978): Seelennot und Hirnstörungen des jungen Mannes setzen ein hübsches aber mörderisches Geschöpf in die Welt.
– „Onkel Ottos Lastwagen“ (|“Uncle Otto’s Truck“|, 1983): Ein Mord ist nicht wirklich perfekt, wenn dem Opfer die Zeit bleibt, seinen Mörder mit einem Fluch zu belegen.
_Liebe & andere Katastrophen_
„Liebst du?“, werden die Protagonisten in den Geschichten „Der Gesang der Toten“ und „Nona“ gefragt. Die Antwort lautet „Ja“, aber Liebe ist ein gefährliches Gefühl, das nicht nur an ungewöhnlichen Orten existieren, sondern auch zerstören kann. Selbst wenn der Grundton versöhnlich ist, bleibt die Liebe riskant: In „Die Abkürzung“ benötigt sie Jahre des ängstlichen Abwartens, während das Objekt der Begierde durch exotisch gefährliche Regionen des Raum-Zeit-Kontinuums reist.
Die alte Stella wird von freundlichen Geistern weniger heimgesucht als begrüßt. Dennoch lässt sie Stephen King nicht friedlich im Bett sterben. Stella ist nicht nur eine Greisin an der Schwelle des Todes, sondern ein Element ihrer Heimat: Liebe beschränkt sich nicht auf Personen. Sie kann auch einem Ort wie der nur scheinbar kargen Insel gelten, die Stella Zeit ihres Lebens keineswegs grundlos nie verlassen hat.
Was den meisten Autoren zur sentimentalen Beschwörung von ewiger Liebe über den Tod hinaus geronnen wäre, kommt bei King angenehm schmalzarm und über weite Strecken beinahe dokumentarisch daher. Sein Erfolg bei einem breiten Publikum resultiert zu einem Gutteil aus seinem Talent, Emotionen nicht auszuwalzen, bis sie zur eigenen Parodie ausdünnen, sondern sie nachvollziehbar auszudrücken und es damit gut sein zu lassen.
|Der Horror der realen Welt|
In die dunklen Ecken des Menschenhirns, das auf reale Gespenster nicht angewiesen ist, weil es Nachtmahre und Phantome ausbrütet, mit denen diese kaum mithalten könnten, führt uns „Nona“. In „Kains Aufbegehren“ geht es nicht um (enttäuschte) Liebe, doch der Protagonist verdeutlicht Kings Konzept vom Wahn, der ohne Schaum vor dem Mund, sondern furchtbar banal bzw. alltäglich daherkommt. Niemand ahnt, wie es im Kopf des jungen Studenten aussieht, weshalb er seinen Amoklauf problemlos vorbereiten und durchführen kann.
„Nona“ ist ein ‚personifiziertes‘ Hirngespinst. Der Geist eines auf seine Weise ebenfalls gescheiterten und frustrierten Mann zerfällt in zwei scheinbar unabhängig voneinander funktionierte Wesenheiten. Tatsächlich ist Nona die Projektion einer unterdrückten Wut, die auf diese Weise die anerzogenen Barrieren überwinden und sich Bahn brechen kann.
Einen Schritt weiter geht King in „Onkel Ottos Lastwagen“. Plagt wirklich der Geist eines ermordeten Freundes den alten Otto, oder ist es das schlechte Gewissen, das ihn an den Tatort bannt, wo er die Rache, die das Gesetz nicht bringen kann, so sehr erwartet, dass er sie schließlich Gestalt annehmen lässt? Diese Frage bleibt offen; der Leser muss oder kann sie sich nach Belieben beantworten.
|Die Welt ist ein seltsamer Ort|
Andere Storys legt King weniger mehrschichtig an, sondern stellt – allerdings mit dem für ihn typischen Geschick, das in diesen frühen Geschichten besonders ausgeprägt ist – ‚realen‘ Horror in den Vordergrund. Unter seiner Feder wirkt dieser beängstigend, zumal es immer völlig alltägliche Menschen sind, denen er begegnet: King ist ein Meister in der Darstellung solcher Zeitgenossen, was selbst früher und vielfach von anderen Autoren beschworene Schreckensszenarien vergessen lässt.
Großartig in ihrer sowohl unmittelbaren als auch nachklingenden Wirkung sind Storys wie „Das Floß“ oder „Onkel Ottos Lastwagen“. Was Furcht ausmacht, stellt King in einfachen oder besser: klaren Worten dar. Das Grauen kann sehr handfest sein, so lautet die daraus zu ziehende Lehre, was uns zum „psychologischen“ Horror zurückführt.
Überraschungen sind dabei nicht nur möglich, sondern an der Tagesordnung. „Der Sensenmann“ mag in einem Spiegel hausen, aber seine Opfer finden ihr Ende in der realen Welt. Wie dies ablaufen könnte, verschweigt uns King. Er muss es auch nicht erläutern und darf es sogar nicht, weil seine Geschichte so sehr viel stärker wirkt. Deshalb bleibt auch „Mrs. Todds Abkürzung“ ein Geheimnis.
|Nicht alles kann perfekt sein|
Zwei Storys dieser (Teil-) Sammlung fallen aus dem Rahmen. „Der Hochzeitsempfang“ zeigt den Geschichtenerzähler Stephen King, der auf den Faktor Phantastik keineswegs angewiesen ist. Als Bestseller-Autor, der sich oder seinen Kritikern längst nichts mehr beweisen muss, ist King mutiger geworden und legt seinen Lesern ohne Scheu Erzählungen vor, die den alten Spruch belegen, dass zuerst und vor allem der Mensch des Menschen Wolf ist.
Die an sich witzige Geschichte von der dicken Braut des Gangsterbosses, der ebenso gefährlich wie leicht reizbar ist, wird zur Tragödie mit groteskem Epilog. Schon vorher trübt King die Atmosphäre einer Geschichte aus der „guten, alten Zeit“ ein, indem er quasi nebenbei auf zeitgenössische Hässlichkeiten in Gestalt eines ausgeprägten und aufgrund seiner Selbstverständlichkeit noch erschreckenderen Rassismus hinweist.
„Travel“ ist weniger eine Kurzgeschichte als eine Novelle. Sie ist nur bedingt gelungen, was auf eine unglückliche Zweiteilung der Handlung zurückgeht, deren Stränge nicht wirklich zueinanderfinden. Das in der Zukunft spielende Geschehen wird durch einen gegen Ende des 20. Jahrhunderts spielenden Rückblick ergänzt, der die Erfindung des Materietransmitters – denn genau dies ist die Jaunt-Maschine – nacherzählt. Originell ist das nicht und heute deutlich angestaubt; eine Story, die so in den SF-Magazinen der 1950er und 60er Jahre erschienen sein könnte. Nur Kings Stil lädt zum Weiterlesen ein.
Der zweite Handlungsstrang leidet unter einem Ende, das sich viel zu früh ankündigt und anschließend zu lange auf sich warten lässt. Selbstverständlich wird sich wiederholen, was in der Vergangenheit schiefging und vertuscht wurde. Immerhin trifft es eine überaus unsympathische Figur, die ihr Schicksal freiwillig herausgefordert hat. King erspart uns hämisches Frohlocken, denn „Travel“ ist in diesem Teil der Handlung ironisch angelegt: Die Familie auf dem Weg ist eine Parodie auf die US-Bilderbuch-Familie, wie sie über Jahrzehnte vor allem im Fernsehen propagiert wurde. Bei King ist der Vater ein eingebildeter Besserwisser, die Mutter eine dumme Gans, und die Kinder sind disziplinarme Nervensägen.
|Aus eins mach drei|
In einer Bibliografie der originalen Stephen-King-Werke wird man den Titel „Der Gesang der Toten“ vergeblich suchen: In Deutschland wurde die voluminöse Story-Sammlung „Skeleton Crew“ nicht in toto veröffentlicht, sondern in drei Taschenbuch-Bände aufgeteilt. Auf diese Weise konnte man mehr Geld aus dem Titel schlagen. Außerdem mag die Furcht mitgespielt haben, der deutsche Leser könnte vor dem Erwerb eines allzu seitenstarken Buches zurückschrecken, das ’nur‘ Storys bot.
In den 1990er Jahren war Stephen King auch in Deutschland nicht nur ein erfolgreicher Autor, sondern eine eingeführte Marke. Unter seinem Namen ließen sich vermutlich auch Gedichte vermarkten. 1996 wurden die immer wieder aufgelegten und gründlich ausgewerteten Story-Bände deshalb auch hierzulande endlich zusammengelegt.
Die in Deutschland ursprünglich dreigeteilte Sammlung erschien 1996 als Sammelband unter dem Titel „Blut“ im Wilhelm Heyne Verlag; diverse Übersetzungen wurden von Joachim Körber überarbeitet oder neu angefertigt. Später kehrte man zur Dreiteilung zurück, die bis heute beibehalten wird.
|“Skeleton“-Crew – die deutschen Bände:|
– „Im Morgengrauen“ – Heyne TB 6553/Ullstein TB 26376
– „Der Gesang der Toten“ – Heyne TB 6705/Ullstein TB 26329
– „Der Fornit“ – Heyne TB 6888/Ullstein TB 26377
_Autor_
Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen – aus gutem Grund, denn der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten.
|Taschenbuch: 283 Seiten
Originaltitel: Skeleton Crew [Teil 2] (New York : G. P. Putnam’s Sons 1985)
Übersetzung: Martin Bliesse (1), Alexandra von Reinhardt (6), Rolf Jurkeit (2)
Deutsche Erstausgabe: 1986 (Wilhelm Heyne Verlag/Allgemeine Reihe Nr. 01/6705)
ISBN-13: 978-3-453-02309-3|
[www.stephen-king.de]http://www.stephen-king.de
[www.stephenking.com]http://www.stephenking.com
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
|Aktuelle Auflage: 2006 (Ullstein Verlag/TB Nr. 26329)
Taschenbuch: 283 Seiten
ISBN-13: 978-3-548-26329-8|
[www.ullsteinbuchverlage.de]http://www.ullsteinbuchverlage.de
|Gesamtausgabe (unter dem Titel „Blut“): 1996 (Wilhelm Heyne Verlag/Allgemeine Reihe/TB Nr. 01/8900)
Taschenbuch: 701 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-09936-4|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
Über 40 weitere Rezensionen zu Büchern und Hörbüchern von |Stephen King| findet ihr in [unserer Datenbank]http://buchwurm.info/book .
Stuart MacBride – Dunkles Blut
01 „Die dunklen Wasser von Aberdeen“
02 „Dying light“
= „Die Stunde des Mörders“
03 „Der erste Tropfen Blut“
04 „Flesh House“
= „Blut und Knochen“
05 „Blinde Zeugen“
06 „Dunkles Blut“
_Das geschieht:_
Detective Sergeant Logan McRae von der Grampian Police im ostschottischen Aberdeen steckt noch tiefer im Dreck als sonst. Privat ist sein Alkoholkonsum so arg außer Kontrolle geraten, dass sich die Folgen auf seine Arbeit auswirken. McRae pöbelt Vorgesetzte wie Kollegen gleichermaßen an. Selbst seine unkonventionelle und belastbare Vorgesetzte Roberta Steel kann ihn nur noch mühsam vor längst fälligen Konsequenzen schützen.
Brett Halliday – Ein Fremder in Brockton
Nach einigen Urlaubstagen will Privatdetektiv Mike Shayne in seine Heimatstadt Miami zurückkehren. Die Fahrt dorthin ist lang, und Shayne kehrt in einer Bar der Kleinstadt Brockton ein, um auszuruhen. Als er seinen Drink nimmt, platzt eine junge Frau herein und bittet Shayne um Hilfe. Bevor er reagieren kann, betreten zwei Männer die Bar, schlagen den Detektiv nieder und entführen ihn, während die Frau flüchtet.
Als Shayne zu sich kommt, soll er umgebracht werden. Dass die Frau ihn völlig zufällig angesprochen hat, glauben seine Peiniger nicht. Die Killer haben die Rechnung jedoch ohne den agilen Detektiv gemacht, der sich nicht nur befreien kann, sondern auch beschließt, in Brockton zu bleiben, um Licht in die rätselhaften Ereignisse zu bringen.
Croft, Mike – Tief – Warnung aus dem Ozean
_Das geschieht:_
Als sich ein Pottwal ausgerechnet an den Strand des südenglischen Seebades Brighton wirft, wird Dr. Roderick „Roddy“ Ormond, Direktor des Instituts für Meeressäugetiere in London, alarmiert. Obwohl Ormond ein klassischer, nur auf seine Forschungen fixierter Wissenschaftler ist, der die Medien ignoriert und vor den Kopf stößt, gelingt es ihm, den riesigen Säuger mit Hilfe einer Strandschmierung durch Spülmittel zurück in den Ärmelkanal zu befördern.
Aber der Wal hat eine Mission: Er will die Menschen vor einem Unheil warnen, das in den Tiefen des nördlichen Atlantiks lauert. Dort hat Großbritannien nach dem II. Weltkrieg eine „Special Operations No Access Zone“ – kurz SONAZ – eingerichtet, die der Erprobung experimenteller Waffen meist atomarer Natur diente. Zwar hat man dort seit vielen Jahren keine Tests mehr durchgeführt, doch die Sünden bzw. Gift- und Kampfstoffe der Vergangenheit haben ein Eigenleben entwickelt und sich zu gruseligen, der Forschung gänzlich unbekannten Mixturen verbunden.
Hinzu kommt regelmäßiger Nachschub, denn der skrupellose Reeder Tony Rattigan missbraucht SONAZ, um dort illegal Giftmüll aus der ehemaligen Sowjetunion zu verklappen. Jetzt haben zumindest die Wale die Nase voll. Sie rammen und versenken Schiffe, die in die Zone eindringen wollen, und schicken Botschafter nach Großbritannien.
Da der oben erwähnte Pottwal sich nicht verständlich machen kann, alarmiert er 77 Walgenossen, die sich erneut an den genannten Strand werfen. Allmählich ahnt Ormond, worum es den Tieren geht. Mit Hilfe einiger Forscher-Kollegen sowie der Journalistin Kate Gunning löst er das SONAZ-Geheimnis, was freilich weder Rattigan noch die britische Regierung erfreut, sondern zu Gegenmaßnahmen provoziert ,,,
_Wale und Gutmenschen gegen Umwelt-Sünder_
Zwar wird es für die potenzielle Leserschaft vorsichtshalber nicht explizit ausgedrückt, doch schon nach weniger Lektüre-Seiten keimt ein gewisses Misstrauen auf: Haben wir es hier etwa mit einem dieser ‚ökologischen‘ Mystery-Thriller zu tun, die ihre Botschaft als Unterhaltung verpacken und dabei erst recht den erhobenen Zeigefinger sehen lassen? Hinzu kommen Ereignisse wie diese: Wale werfen sich vor oder gegen Schiffe, um sie am Entladen von Giftmüll zu hindern, dann springen sie aus dem Wasser, um ein Signal zu setzen, und schließlich krault ein Rudel Killerwale die Themse hinauf, um in London unterhalb des Parlamentsgebäudes auf die Verschmutzung der Meere aufmerksam zu machen.
Was hier ein wenig spöttisch skizziert wird, sind nur Elemente einer insgesamt wüsten Geschichte. Trotzdem ist „Tief“ weder grüner Hieb mit dem Zaunpfahl auf die Schädel gleichgültiger Öko-Ferkel noch Allmacht-Fantasie realiter machtloser Gutmenschen, die wenigstens im Roman ihren umweltzersetzenden Gegnern in Vertretung der leider stummen Mutter Gäa die Rechnung präsentieren können. „Tief“ bewegt sich in der sicheren Mitte zwischen diesen Polen und scheut sogar vor milden Sarkasmus nicht zurück, der in sämtliche politischen Richtungen ausstrahlt.
Selbstverständlich träufelt Autor Mike Croft ein wenig Mahnung und Warnung zwischen die Zeilen, was ja völlig legitim ist, solange die Primärfunktion nicht beeinträchtigt wird. Dies ist keineswegs der Fall: „Tief“ bietet ungeachtet des kruden Plots Spannung, einige gegen den Strich gebürstete Klischees und einen Schriftsteller, der – unterstützt von einer inspirierten Übersetzerin – seinen Job beherrscht.
|Was unter der Oberfläche schwappt …|
Was uns zum Plot zurückbringt, der es wahrlich in sich hat! An sich ist die Story ziemlich simpel. Croft zündet jedoch ein ganzes Bündel Nebelkerzen, das sein Publikum lange im Nebel tappen lässt, bis es merkt, in welche Richtung der Spuk gehen wird. Dabei verzichtet der Autor nicht nur auf Predigten, sondern meidet auch den Schritt zu viel in die andere Richtung: „Tief“ ist kein Frank-Schätzing-/Michael-Crichton-Klon. Hightech und Naturwissenschaft werden nicht effektvoll – oder übertrieben – miteinander verquirlt, Technobabbel fällt aus. Was uns Croft in diesen Richtungen zu sagen hat, baut er in die Handlung ein und erspart sich & uns kluge aber abschweifende Kommentare.
Lieber schildert er den alltäglichen Wahnwitz einer Menschheit, die unbekümmert oder gierig den Ast absägt, auf dem sie selbst sitzt. Politiker wollen wiedergewählt werden und Geschäftsleute verdienen. Die Medien produzieren Schlagzeilen und inszenieren Skandale, während die ohnehin schafsdumme Mehrheit der Menschheit sich manipulieren lässt. Wer sich verweigert, wird vom System überrollt wie Roddy Ormonds unglücklicher Assistent, den ein Pottwal unter sich begräbt.
Das gar nicht so exotische Rätsel im Nordatlantik funktioniert problemlos; es klingt sogar erschreckend realistisch, was sich Croft diesbezüglich ausgedacht hat. Dass die Wale der Welt den Kanal voll haben und die Alarmglocke betätigen, ist ein riskanter Zug, der das Geschehen hart an den Rand des Lächerlichen führt. Croft hält auch hier das Gleichgewicht, obwohl er ganze Passagen aus der Sicht des Pottwals Blackfin schildert, dem damit ein Bewusstsein und menschenähnliche Intelligenz zugebilligt wird. Croft meistert die Herausforderung, diese beiden Welten glaubhaft miteinander in Kontakt zu bringen. Er extrapoliert die rudimentären aber realen Versuche, mit Walen zu kommunizieren, und belässt es klug bei einer nur ansatzweisen Verständigung, die zudem die Spannung schürt.
|Je weiter das Wasser entfernt ist …|
… desto zahlreicher werden leider die Schnitzer, die sich Croft erlaubt. Wer war es, der ihm einredete, die Drohung der globalen Apokalypse sei nicht publikumswirksam genug? Jedenfalls meint der Autor, den Ereignissen individuelle Gesichter zuweisen zu müssen. Roddy Ormond ist deshalb nicht nur ein geradezu vernagelt idealistischer und genialer, sondern auch ein verschrobener Forscher, der zudem nach Jahren eines verbitterten Hagestolz-Daseins die verlorene Liebe seines Lebens wiedertrifft, die sich – in großzügiger Auslegung des Elements Zufall – als Gattin genau jenes Finsterlings entpuppt, dessen Giftmüll-Versenkungen das ozeanische Fass buchstäblich zum Überlaufen bringen. Wiederum ‚zufällig‘ waren er und Ormond einst Nebenbuhler, woraufhin genannter Schurke zusätzlich einen Rachefeldzug gegen den immer noch verhassten Ormond einleitet.
Dann ist da noch des Übertäters hübsches Töchterlein, das den bösen Papi als Fünfte Kolonne jenes buntscheckigen Teams ausspioniert, das Ormond um sich scharen kann. Dazu gehören eine geläuterte Sensationsreporterin, ein väterlicher Freund sowie ein witzboldiger Jung-Walkundler. Gejagt werden sie von Verschwörern und Berufskillern, die ihre Jobs sämtlich beim eifrigen Studium des Vorabendfernsehens gelernt haben müssen.
|Der menschliche Faktor|
Dabei versteht es Croft, Figuren zu zeichnen. Er vermeidet, zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ scharf zu konturieren. Der menschliche Charakter liegt nach Croft irgendwo dazwischen. Zudem ist er wandelbar, weshalb Tony Rattigan auf der einen Seite ein global aktiver Kapitalverbrecher ist, der seine Kontrahenten erpressen und umbringen lässt und die Gattin schlägt, während er andererseits anonym Millionensummen in Waisenhäuser und Schulen fließen lässt, weil er als Kind elternlos und ungeliebt aufwachsen musste und zu allem Überfluss missbraucht wurde. Vom eiskalten Verbrecher zum Menschenfreund und wieder zurück kann Rattigan in Sekunden mutieren – ein glaubwürdig begründeter Charakter, der doppelt bedrohlich wirkt, weil nie klar, ob Rattigan gerade Jekyll oder Hyde ist.
Auch Ormond ist bereit, die Linie zu überschreiten: Vor Jahren hat er bei einer Wal-Zählung die Zahlen zu niedrig angesetzt, um ein Wiedereinsetzen des Walfangs zu verhindern. Von den gestrandeten Walen schlachtet er eigenhändig sieben Tiere, um in ihren Innereien nach Ursachen für ihr eigentümliches Verhalten zu forschen. Die Medien ignoriert er mit einer Intensität, die ihn pathologisch und arrogant wirken lässt. Das Resultat gibt Croft Recht: Seine Ambivalenz verwandelt auch Ormond in eine interessantere Figur.
Kleine Meisterwerke gelingen Croft mit Randfiguren. Victoria Adlington, die feiste, schlaue, eisenharte britische Verteidigungsministerin, ist offensichtlich eine Kombination aus Queen Victoria und Margareth Thatcher. Aus wesentlich weicherem Holz ist der selbstmitleidige Kapitän Isaksson geschnitzt, der immer neue Ausreden für seine Bereitschaft findet, die Weltmeere zu verseuchen.
Insgesamt ist „Tief“ weder literarisch noch in Sachen Unterhaltung eine Offenbarung. Stattdessen bietet Croft die bestmögliche Alternative – einen Roman, der in den beiden genannten Kategorien über dem Durchschnitt sowie DEUTLICH oberhalb des Papiermülls rangiert, der auf den Verkaufstischen moderner Buchhandelsketten verklappt wird.
_Autor_
Mike Croft ist das Pseudonym des Dichters und Schriftstellers Mike Stocks, der 1965 in Nordengland geboren wurde. Er studierte an der Birmingham University. Seit 1995 veröffentlicht Stocks, der im schottischen Edinburgh lebt, als Autor, wobei er sich ursprünglich auf die ‚Nacherzählung‘ dabei drastisch auf ihre Grundstrukturen reduzierter bzw. ‚entschärfter‘ Roman- und Kurzgeschichten-Klassiker für Kinder und Jugendliche spezialisierte.
Als Dichter gründete Stocks das Magazin „Anon“, dessen Beiträge ausschließlich anonym veröffentlicht werden. Bekannt wurde Stocks in Literaturkreisen durch seine Übersetzung von Sonetten des römischen Poeten Giuseppe Gioacchino Belli (1791-1863).
2006 erschien Stocks Romandebüt „White Man Falling“ (dt. „Weißer Mann fällt“), für das er auf dem „Guildford Book Festival“ mit einem „Goss First Novel Award“ ausgezeichnet wurde. Zwei Jahre später erschien „Down Deep“ (dt. „Tief – Warnung aus dem Ozean“). Für dieses eher der ‚trivialen‘ Unterhaltung zuzurechnende Werk wählte Stocks das Pseudonym „Mike Croft“.
|Taschenbuch: 383 Seiten
Originaltitel: Down Deep (Richmond : Alma Books 2008)
Übersetzung: Theda Krohm-Linke
ISBN-13: 978-3-832-16122-4|
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Queen, Ellery – trennende Tür, Die
_Das geschieht:_
Den MacClures aus New York City scheint in diesem Jahr 1937 eine Doppelhochzeit ins Haus zu stehen: Vater John, ein berühmter Arzt, wurde von der erfolgreichen Schriftstellerin Karen Leigh erhört, während Kollege Dr. Richard Barr Scott erfolgreich um MacClures Adoptivtochter Eva warb. Bevor die Feierlichkeiten beginnen, begibt sich der kränkelnde MacClure zur Erholung auf eine Europa-Reise.
Als Eva Karen besuchen möchte, findet sie die Autorin mit durchschnittener Kehle in ihrem Schlafzimmer. Unbedacht nimmt Eva das Mordwerkzeug – die Hälfte einer zerbrochenen Schere – in die Hand und hinterlässt darauf ihre Fingerabdrücke. Diese Panik-Reaktion wird ihr zum Verhängnis, denn Inspektor Richard Queen, dem der Fall übertragen wurde, will sie als Mörderin festnehmen.
Auf dem Schiff, das ihn in die USA zurückbringt, lernt Dr. MacClure Queens Sohn kennen: Ellery Queen ist nicht nur ein bekannter Verfasser von Kriminalromanen, sondern auch ein fähiger Privatdetektiv. Natürlich kann er nicht widerstehen, sich in den Fall einzumischen, der ihm längst nicht so eindeutig scheint wie seinem misstrauischen Vater. In der Tat stößt Ellery auf eine bizarre Familientragödie: Vor vielen Jahren erschoss Esther, Karens Schwester, ihren Gatten, MacClures Bruder Floyd. Der tragische Unfall raubte ihr den Verstand und trieb sie in den Selbstmord.
Allerdings mehren sich die Hinweise darauf, dass Esther stattdessen von Karen im Dachgeschoss ihres Hauses quasi gefangen gehalten wurde, wo sie jene Romane schrieb, für die ihre Schwester den Ruhm beanspruchte. Hat Esther sich endlich befreit und gerächt, oder ist doch Eva die Mörderin, nachdem sie mit der Geschichte ihrer wahren Herkunft konfrontiert wurde …?
_Eine Rettung, die verdrießt_
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gehörten die Ellery-Queen-Krimis der Vettern Frederic Dannay und Manfred Bennington Lee zu den Bestsellern des Genres. Das geschäftstüchtige Autorenduo suchte jedoch nach Möglichkeiten, den Erfolg auszuweiten. Das Frauen-Magazin „Cosmopolitan“ interessierte sich für den Vorabdruck neuer Queen-Krimis. Aufgrund der enormen Auflagenzahl war dies ein Angebot, dem Dannay & Lee nicht widerstehen konnten.
Allerdings gab es eine Bedingung: Ellery Queen musste frauenaffiner nach „Cosmo“-Standards werden. Bisher löste er klassische Kriminal-Rätsel und dabei gern ‚unmögliche‘ Morde in von innen fest verschlossenen Räumen. Die Spurenlage wurde spannend verwirbelt, um anschließend akribisch rekonstruiert zu werden. Im Vordergrund standen die Indizien, während die in den Fall verwickelten Figuren eher notdürftig charakterisierte Statisten blieben.
Damit ließen sich die Leserinnen von „Cosmo“ & Co. nicht zufriedenstellen. Sie forderten Gefühlstiefe. Aus Figuren sollten Menschen werden – allerdings keine realistischen Menschen. Die Frau wird nicht nur vom Detektiv aus Krimi-Not gerettet, sondern findet bei dieser Gelegenheit gleich Mr. Right. Das Ergebnis bildete erwartungsgemäß ein wüstes Klischee-Gemenge, das anders als der „Whodunit“-Krimi nicht nur alltagsfern, sondern zusätzlich kitschig und verlogen war.
|Erdolcht die Heldin, nicht das Opfer!|
In „Die trennende Tür“ muss Ellery Queen immer wieder aus der Handlung weichen, die stattdessen aus der Sicht Eva MacClures geschildert wird. Diese ‚Heldin‘, die ganz klassisch in einen falschen Verdacht gerät, gehört zu den ärgerlichsten Figuren, die sich Dannay & Lee jemals aus den Hirnen gewrungen haben. Sie allein rechtfertigt den seltenen Rezensenten-Ratschlag, in Deutschland lieber zur gekürzten Neuauflage dieses Romans als zur ungekürzten Erstausgabe zu greifen, da den Kürzungen die schlimmsten Kitsch-Ergüsse zugunsten des Krimi-Geschehens zum Opfer fallen.
Sollte Eva MacClure die ‚typische‘ Frau des US-Jahres 1937 darstellen, hat die Menschheit in der Überwindung eines schauerlichen Frauenbildes tatsächlich Entwicklungsfortschritte erzielt. Zwanzig Jahre ist dieses „Mädchen“ zum Zeitpunkt des Geschehens – angeblich, denn in Wort und Tat wirkt sie jederzeit wie eine Halbwüchsige. Jegliche Aufregung – man könnte auch sagen: das wahre Leben – blieb ihr als Tochter einer Upper-Class-Familie bisher erspart. Dies ist sogar erforderlich, um sie ehetauglich zu erhalten, denn nur an der Seite eines Mannes existiert dieses ebenso erbärmliche wie lästige Geschöpf, dessen Schmalspur-Denken ein Arzt perfekt so auf den Punkt bringt: |“Besorgen Sie sich für ein paar hundert Dollar neue Kleider und einen Mann, und Sie werden keine Beschwerden mehr haben.“| (S. 17)
Eva denkt nicht, für sie wird gedacht. Jede Krise lässt sie in Tränen ausbrechen, worin sie von den Männern in ihrer Umgebung bestärkt wird, statt in den Hintern getreten zu werden. „Wo ist Dick?“, greint sie ständig, statt Inspektor Queen schlicht zu schildern, was sie im Schlafzimmer der ermordeten Karen getan hat; wahlweise muss auch Big Daddy sie stützen. Die Zumutung, das eigene Hirn in Gang zu setzen, erschöpft sie entweder oder lässt sie ohnmächtig umsinken. Zwischenzeitlich resigniert Eva und will sich bereitwillig ins Gefängnis werfen lassen, um endlich ihre Ruhe zu haben.
|Das unmögliche aber geschehene Verbrechen|
Sobald die händeringende und dabei an den Nerven des Lesers zerrende Eva-Gans in den Hintergrund verbannt wird, gewinnt „Die trennende Tür“ an Fahrt und Spannung. Ellery Queen findet zu seinen eigentlichen Qualitäten zurück: Er klärt ein an sich unmögliches Verbrechen auf – eine Prozedur, die trotz der altmodischen Methoden fasziniert. Dannay & Lee stellen sich wieder der typischen „Whodunit“-Herausforderung und kreieren eine Übeltat, die sie in allen Details schildern und dennoch Verwirrung stiften: Karen Leigh stirbt in einem Raum, vor dessen Eingangstür Eva steht, während die zweite Zimmertür eindeutig verschlossen ist. Wir können Inspektor Queen verstehen, der Eva verhaften will, denn der gesunde Menschenverstand gebietet, dass sie die Täterin sein muss.
Nur der Leser und Ellery Queen sind anderer Meinung – der eine hat zwar keine Ahnung, was geschehen ist, aber er vertraut dem anderen, der das Mysterium im großen Finale lösen wird. Bis es soweit ist, gilt es mancher falschen Spur zu folgen, während die Not der Heldin (sogar ungeachtet ihres Quallen-Hirns) immer akuter wird. Außerdem werden ganz nebenbei ‚unwichtige‘ Details eingestreut, die bei der Klärung selbstverständlich den Ausschlag geben werden.
Nur Ellery Queen verfügt über einen Geist, der sich über die Denkmuster und Konventionen der ebenfalls in den Fall verwickelten Personen erheben kann. Selbst sein Vater folgt stur der Dienstvorschrift. Immer wieder will er Eva festnehmen; er überlässt es dem Gericht zu entscheiden, ob die Beweise eine Verurteilung rechtfertigen.
|Alles wird gut – plus Epilog|
Doch die hysterische Eva fordert auch von Ellery Queen ihren Tribut. Ihr irrationales Verhalten lässt ihm buchstäblich nicht die Zeit, so sorgfältig wie sonst zu ermitteln. Er kann die Beweise für Schuld oder Unschuld nicht präsentieren, sondern muss sie postulieren; sie werden erst anschließend gesucht und gefunden. Dabei werden die Gesetze der Wahrscheinlichkeit arg gedehnt: Die Rekonstruktion der Mord-Ereignisse ist schlüssig aber eben auch grotesk.
Darüber hinaus muss sich Queen gegen einen zweiten Detektiv behaupten. Die Handlung benötigt diesen übertrieben kernigen Terry Ring nicht, der daher kontraproduktiv wirkt. Des Rätsels Lösung ist simpel: Da Ellery Queen als gattenfreie Projektionsfigur für schwärmerische Leserinnen erhalten bleiben soll, muss Ring einspringen und schließlich Eva heiraten.
Die alte Form beweisen Dannay & Lee, wenn sie die dumme Eva endlich aus dem Geschehen streichen: Nachdem der Tod von Karen Leigh geklärt ist, schließt sich ein ausführlicher Epilog an. Das seltsame Ende der betrügerischen Autorin erfährt eine gänzlich neue Dimension, als Queen der MacClureschen Familientragödie in letzter Sekunde (bzw. auf den letzten Buchseiten) eine gänzlich unerwartete Wende gibt. Für solche Einfälle liebte und liebt man Ellery Queen; hier versöhnt der Twist (zum Teil) mit den schmalzigen Sentimentalitäten, die einem soliden Krimi aufgepfropft wurden.
_Autoren_
Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.
Dabei half die Fähigkeit, die Leserschaft mit den damals beliebten, möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des ‚realen‘ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!
In den späteren Jahren verbarg das Markenzeichen Queen zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Cousins von Ghostwritern geschrieben.
|Taschenbuch: 156 Seiten
Originaltitel: The Door Between (New York : Frederick A. Stokes 1937)
Übersetzung: N. N.
ISBN-13: 978-3-502-51661-3|
[http://www.fischerverlage.de]http://www.fischerverlage.de
[Autorenhomepage]http://neptune.spaceports.com/~queen
_“Ellery Queen“ bei |Buchwurm.info|:_
[„Chinesische Mandarinen“ 222
[„Der nackte Tod“ 362
[„Drachenzähne“ 833
[„Das Geheimnis der weißen Schuhe“ 1921
[„Die siamesischen Zwillinge“ 3352
[„Der verschwundene Revolver“ 4712
[„Der Giftbecher“ 4888
[„Das Haus auf halber Straße“ 5899
[„Und raus bist du!“ 6335
[„Schatten über Wrightsville“ 6362
[„Spiel mit dem Feuer“ 6459
Rubenfeld, Jed – Todesinstinkt
_Das geschieht:_
Am 16. September 1920 treffen sich zwei alte Freunde auf der Wall Street in New York. Jimmy Littlemore, Beamter der New Yorker Polizei, freut sich, Dr. Stratham Younger, einen ehemaligen Psychoanalytiker, mit dessen Unterstützung er vor vielen Jahren einen aufsehenerregenden Fall lösen konnte, wiederzusehen. Younger ist in Begleitung der jungen Physikerin Colette Rousseau, die in den USA die Erkenntnisse ihrer Lehrerin, der großen Madame Curie, verbreiten will.
Um 12.01 Uhr endet das Wiedersehen jäh und spektakulär, als vor dem Bankhaus J. P. Morgan eine gewaltige Bombe detoniert. 38 Menschen sterben, hunderte werden schwer verletzt. Littlemore, Younger und Rousseau überleben. Der Polizist will sofort die Ermittlungen aufnehmen, wird jedoch vom noch jungen aber mächtigen FBI und dessen hochmütigen Leiter William J. „Big Bill“ Flynn ausgebremst, der die Tat unbedingt italienischen Anarchisten in die Schuhe schieben will.
Littlemore verlässt sich auf akribische Indizienauswertung und kommt zu einem gänzlich anderen Ergebnis. Er hält es nicht für einen Zufall, dass just am Tage der Explosion im alten Schatzamt auf der Wall Street damit begonnen wurde, US-Gold im Wert von 1 Milliarde Dollar in die angrenzende Münzanstalt zu transportieren. Weitere Spuren führen ins angrenzende Mexiko. Dort versucht die Regierung seit Jahren vergeblich, den festen Griff diverser Wall-Street-Magnaten auf die Ölfelder des Landes zu lockern. Sollte dem durch Terror Nachdruck verliehen werden? Schon rüsten die USA für einen Vergeltungsschlag gegen Mexiko. Littlemore, den es inzwischen nach Washington verschlagen hat, muss quasi im Alleingang versuchen, diesen Krieg zu verhindern, was die Verschwörer, die zudem in hohen Regierungsämtern sitzen, natürlich nicht tatenlos geschehen lassen …
_Historischer Terror und seelische Abgründe_
Der Historienkrimi ist Herausforderung und Hilfe zugleich für den Schriftsteller. Die zeitgenössische Realität der gewählten Bühne muss zwar recherchiert werden, doch die dabei ermittelten Fakten verschaffen dem geplanten Werk bereits ein Gerüst, auf dem die fiktive Handlung ruht bzw. in dessen Lücken sie eingebettet werden kann.
Denn Lücken müssen sein oder werden der Fiktion vom Verfasser künstlich geschaffen. Der Anschlag vom 16. September 1920 bietet beide Möglichkeiten. Einerseits wurden die Hintergründe dieser Tat nie geklärt, was Jed Rubenfeld gestattet, seine Version der Ereignisse zu entwickeln. Andererseits lässt er zahlreiche reale Zeitgenossen auftreten, folgt korrekt der historischen Chronologie und lässt seine Geschichte an tatsächlich existierenden Orten spielen. In einem Nachwort erläutert Rubenfeld sein Vorgehen und gibt zudem an, wo er die Realität ein wenig bog, um sie der Handlung zu unterwerfen – ein völlig legitimes Vorgehen, das daran erinnert, dass der Historienkrimi die Vergangenheit unterhaltsam instrumentalisiert, ohne ihr sklavisch ergeben sein zu müssen.
Freilich zieht Rubenfeld seiner Geschichte buchstäblich eine zweite Ebene ein. Jimmy Littlemore und Dr. Younger treten zwar im selben Roman auf und treffen sich dabei oft, aber sie erleben unterschiedliche und voneinander unabhängige Abenteuer. Während Littlemore den Hintermännern des Anschlags hinterher ist, gerätt Younger wieder einmal in eine Odyssee durch die Abgründe der menschlichen Seele, die ihn immerhin mehrfach über den Atlantik sowie per Eisenbahn, Motorrad und sogar Flugzeug kreuz und quer durch Mitteleuropa führt.
|Die Quadratur des Kreises|
Schon in seinem Romanerstling „The Interpretation of Murder“ (2006; dt. „Morddeutung“) versuchte Rubenfeld, einen Kriminalfall mit seinem Wissen über die Anfänge der modernen Psychoanalyse zu kombinieren. Im Studium hatte er über Sigmund Freud gearbeitet, der deshalb im genannten Debüt persönlich in das Geschehen eingriff. „Morddeutung“ spielte 1909, was dem Verfasser ermöglichte, Freud in die USA zu bringen, denn dieser besuchte die Vereinigten Staaten im genannten Jahr tatsächlich.
„Todesinstinkt“ spielt elf Jahre später. Freud lebt und bleibt historisch korrekt in Wien. Die Wall-Street-Bombe explodiert in New York. Eine Verbindung zwischen den Ereignissen in Österreich und in den USA gibt es nicht, was Rubenfeld dadurch zu kaschieren versucht, dass er die beiden Stränge im Finale trotzdem verzwirbelt. Dies funktioniert nicht wirklich; der Leser hört die Handlungsmaschine unter der dünnen Ereignisdecke unrund rattern.
Der gesamte Freud-Strang ließe sich nicht nur problemlos, sondern auch zu ihrem Nutzen aus der Geschichte eliminieren. Vage stellt Rubenfeld leitmotivisch den „Todesinstinkt“ über seinen Doppel-Roman. Er will keinen einfachen Krimi erzählen, sondern bemüht sich um eine Diagnose der globalen Gefühlslage um 1920. Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur das Gesicht der Welt verändert, sondern in Sachen Grausamkeit und Tod gänzlich neue Maßstäbe gesetzt. Durch Sigmund Freuds Mund postuliert Rubenfeld den Anbruch einer neuen Ära, in der nicht mehr für ein Ziel, sondern anonym und um des Tötens willen gemordet wird. Der Autor schlägt einen Bogen, der 1920 beginnt und am 11. September 2001 nicht endet, sondern einen Höhepunkt findet; eine These, über diskussionswürdig ist, doch nicht an dieser Stelle, nicht in diesem Roman, der im Finale zumal die Theorie vom „Todesinstinkt“ negiert, schnöde, zeitlose Motive wie Machthunger, Geldgier oder Rache offenbart und selbst den genialen aber verrückten Psychopathen aufleben lässt.
|Historienkrimi plus Literatur?|
Rubenfeld entwirft ein kompliziertes Rätsel, das er souverän nach und nach entwirrt. Die Lösung mag nicht sehr originell sein, aber die meisten Geheimnisse enttäuschen, sobald sie keine mehr sind: Hinter verborgenem Tun stecken meist sehr profane Gründe. Der USA-Handlungsstrang macht deshalb Spaß. Der Verfasser hat ihn im Griff, er hat ein gutes Gespür für Timing und keine Furcht vor spektakulären Effekten. Selbst vor Elementen des Horrors schreckt Rubenfeld nicht zurück, ohne es dabei so zu übertreiben wie mit seinen Krieg-ist-die-Hölle-Klischees.
Künstlich und überdramatisiert wirkt auch die Lovestory zwischen Stratham Younger und Colette Rousseau. Rubenfeld sucht sein Heil im publikumskonformen Entwurf einer früh gleichberechtigten aber von den Gesetzen und Regeln ihrer Zeit geknechteten Frau, die darüber hinaus ihrem kriegsneurotischen Bruder die Eltern ersetzen muss, sich an einem Schurken rächen will, an der Seite von Marie Curie Pionierarbeit als Physikerin leistet und außerdem atemberaubend hübsch ist. Die Leiden der Colette R. haben mit dem eigentlichen Thema höchstens beiläufig zu tun und lenken unnötig davon ab, muss das Urteil daher lauten. Seltsam, dass niemand aus der kopfstarken Schar, der Rubenfeld für Unterstützung und Feedback dankt, ihn darauf hingewiesen hat.
|Das augenfreundliche Buch|
Die Bedeutung einer Geschichte lässt sich nach Auffassung des deutschen Verlags offenbar an der Breite des Buchrückens ermessen. Was sich im Original über etwas mehr als 450 Seiten erstreckt, wird hierzulande auf 624 Seiten aufgeblasen. Mächtige Buchstaben und großzügige Zeilenabstände sorgen für ein wahrlich (ge-) wichtiges Werk. Da sich dies immerhin nicht in einem höheren Kaufpreis niederschlägt, bleibt höchstens die Klage über das Mehr an Bäumen, die zu Papierbrei zerquetscht werden mussten …
Wenn von „Big Bill“ Flynn und seinen Agenten die Rede ist, spricht Rubenfeld (oder ist es sein Übersetzer?) übrigens stets vom „Federal Bureau of Investigation“, also dem heute bekannten FBI. Es wurde allerdings 1908 als „Bureau of Investigation“ gegründet und trug diesen Namen bis 1935.
_Autor _
Jed Rubenfeld (*1959) studierte zunächst an der Princeton University und später an der Harvard Law School Jura. Seinen Abschluss machte er 1986; gleichzeitig studierte er Kunst und Literatur an der Juilliard School of the Performing Arts. Ab 1986 arbeitete Rubenfeld für eine Anwaltskanzlei in New York. Später wurde er ein Assistent des Staatsanwaltes in New York. Außerdem lehrte er an der Duke University School of Law als Gastdozent. 1990 wechselte Rubenfeld gänzlich in die Lehre und ging als Dozent zur Universität Yale, wo er 1994 zum Professor ernannt wurde. Sein Spezialgebiet ist das Verfassungsrecht, das er nicht nur in Yale, sondern u. a. als Gastdozent der Stanford University School of Law lehrt.
Bereits während seiner Studienzeit in Princeton beschäftigte sich Rubenfeld mit Sigmund Freud. Dieses Wissen floss 2006 in seinen Romanerstling „The Interpretation of Murder“ (dt. „Morddeutung“) ein, der den berühmten Vater der modernen Psychoanalyse während eines (realen) USA-Aufenthaltes 1909 als Berater in einem (fiktiven) Mordfall präsentiert. Dem erfolgreichen Debüt ließ Rubenfeld – der keineswegs hauptberuflicher Schriftsteller, sondern weiterhin Jurist und Dozent ist – 2010 eine ähnlich erfolgreiche Fortsetzung folgen.
Mit seiner Familie lebt und arbeitet Jed Rubenfeld in New Haven im US-Staat Connecticut.
|Gebunden: 624 Seiten
Originaltitel: The Death Instinct (London : Headline Publishing 2010)
Übersetzung: Friedrich Mader
ISBN-13: 978-3-453-26703-9
Als eBook: April 2011 (Wilhelm Heyne Verlag)
ISBN-13: 978-3-641-05945-3|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
_Jed Rubenfeld bei |Buchwurm.info|:_
[„Morddeutung“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4259
Scott, Rob – 15 Meilen
_Das geschieht:_
Samuel Doyle, Polizeibeamter in Richmond im US-Staat Virginia, ist ein Getriebener: Er trinkt, ist tablettensüchtig und betrügt seine Ehefrau, die ihm gerade das zweite Kind geboren hat. Dass man Doyle gerade zur Mordkommission versetzt hat, erhöht seinen Stress, zumal dem unerfahrenen Ermittler als erster Fall die Klärung eines bizarren Geschehnisses übertragen wird: 15 Meilen vor den Toren der Stadt wurden auf einer einsamen und völlig verwahrlosten Farm zwei Leichen entdeckt. Captain Carl James Bruckner gehörte einst zum US-Marine Corps und zeichnete sich im Vietnamkrieg durch besondere Tapferkeit aus. Mit seiner Ehefrau Claire und der geistig behinderten Tochter Molly lebte er seit Jahren völlig zurückgezogen. Nachbarn gibt es nicht, niemand weiß, welche Tragödie sich auf dem Hof abgespielt hat.
Mit den beiden älteren Bruckners starben ihr Vieh und ihre Haustiere, deren Kadaver überall im Haus und in den Stallungen ausliegen. Claires Leiche wurde in Katzenstreu mumifiziert. Karls Körper steckt in einer Truhe; aus seinen Schultern wurden Fleischstücke geschnitten. Molly ist spurlos verschwunden.
Was ist hier geschehen? Doyle, der alles richtig machen will, gerät ins Schwimmen. Die Indiziendecke ist dünn, erste Untersuchungsergebnisse deuten Ungeheuerliches an: Offenbar war Bruckner in Vietnam an einen schlecht geplanten Einsatz beteiligt, der den meisten Kameraden das Leben kostete. Die Schuldigen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Einer von ihnen stellt sich in Richmond als zukünftiger Präsident der USA vor. Wollte sich Bruckner rächen?
Als klar ist, was die Farmtiere umbrachte, bricht Panik aus. Alles deutet darauf hin, dass Molly ahnungslos weiterhin versucht, das Attentat durchzuführen. Nur Doyle ahnt die wesentlich gefährlichere Wahrheit, aber auch ihn hat inzwischen erwischt, was auf der Bruckner-Farm umgeht …
_Die tausend Tücken des Objekts_
Diese Rezension ist ein Drahtseilakt: Eigentlich lässt sie sich überhaupt nicht schreiben, ohne die Katze beim Namen zu nennen, die Autor Scott schließlich aus dem Sack lässt. Er entfesselt keinen Geisterspuk, weder Zombies noch (Gott bewahre!) Vampire geistern durch die hochsommerlichen Sümpfe von Virginia. „15 Meilen“ erzählt stattdessen die Geschichte eines ‚realen‘ Horrors, der seinen Weg in eine unvorbereitete und entsetzte Menschenwelt findet.
Insofern führt der Klappentext, der in das Versprechen „Gänsehaus garantiert – Rob Scott ist der neue Star des Horrorgenres!“ mündet, den Leser in eine gänzlich falsche Richtung. Andererseits ignoriert der erfahrene, weil durch böse Erfahrung klug gewordene Leser Klappentexte ohnehin; sie werden heute in der Regel von Knechten der Werbe-Branche geschrieben, die das Buch dazu höchstens überflogen haben.
Ohne solchen Dummsprech kann sich der Leser viel unbefangener auf einen tatsächlich etwas anderen Horror-Roman einlassen. „15 Meilen“ bietet Mystery-Grusel, wie ihn Michael Crichton selig oder das erfolgreiche Duo Preston & Child liefer(te)n: Scott entwirft ein Rätsel an der Grenze zum Absurden bzw. zum Übernatürlichen, das er nach und nach und möglichst spannend auflöst. Das Wirken jenseitiger Mächte wird dabei als Verkettung jederzeit erklärbarer Ereignisse geschildert.
Die Kunst besteht darin, den Leser dadurch nicht zu enttäuschen, sondern im Gegenteil zu faszinieren. Dies ist durchaus möglich, wenn der Rätsel Lösungen überraschen können und der Weg bis dahin spannend ist. Beide Hürden kann Scott nehmen.
|Auf Nummer Sicher gehen – und es übertreiben|
„15 Meilen“ ist Scotts erster Solo-Roman. Dies lässt verstehen, dass er es richtig machen und auf Nummer Sicher gehen wollte. Auf keinen Fall sollte diese Geschichte simple Horror-Action werden. Scott ist ehrgeizig. „15 Meilen“ soll nicht nur spannend und gruselig sein, sondern auch Tiefgang bieten.
Diesen verbindet der Autor mit seiner Hauptfigur. Schon in der Inhaltsbeschreibung wurden einige der Bürden aufgezählt, die auf „Sailor“ Doyles Schultern lasten. Obwohl dies mehr als genug Stoff für den Entwurf einer interessant gebrochenen Existenz sein dürfte, ist die Liste keinesfalls vollständig. Weitere seelische Altlasten brechen über den armen Doyle herein, der ohnehin die meiste Zeit damit beschäftigt ist, den endgültigen Einsturz seines maroden Privatlebens aufzuhalten.
Es überrascht kaum, dass Scott es übertreibt, zumal er einen unguten Hang zum Exkurs hat. So reicht es ihm nicht, Doyle mit einer tragisch verunglückten Schwester zu schlagen. Wo die Erwähnung der Tatsache und der daraus resultierenden psychischen Probleme gereicht hätte, lässt Scott Marie in zwei Rückblenden quasi auferstehen. Ihr Schicksal hat mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun und lässt gleichgültig. Wenn der Leser dies bemerkt, reagiert er gereizt, zumal uns Scott noch auf weitere nutzlose Abwege führt.
|Detective Doyle: Schmerzensmann oder Idiot?|
Schon die Einleitung ist durchaus eine Zumutung: 41 Seiten sitzen Doyle und seine Kollegen in einer Kneipe und saufen. Was in Doyles Welt einführen soll, gerinnt so zur Abfolge von Wiederholungen. Viel effektiver wäre es gewesen, in die Handlung einzusteigen und Doyles Probleme und Dämonen nach und nach einfließen zu lassen, zumal seine Schwierigkeiten mit dem Geschehen nur am Rande oder gar nicht zu tun haben.
So funktioniert es jedenfalls nicht: Doyle dröhnt und schüttet sich zu, bleibt dabei jedoch als Fahnder stets am Ball. Der Fall wird gelöst, obwohl die nörgelnde Gattin, die unzufriedene Geliebte, die tote Schwester, der lästige Vorgesetzte, die verlockend hübsche neue Kollegin und andere Hindernisse sich in Doyles Hosenboden verbeißen.
Solche künstlichen Verwicklungen sind im Grunde überflüssig. Der Detective mag unerfahren sein, aber er kann seinen Job. Wenn wir ihn bei seiner Polizei-Arbeit beobachten, kommt „15 Meilen“ endlich in Schwung. Selbst Sohn eines Polizisten und auch mit der Kulisse Virginia vertraut, versteht es Scott, die Ermittlungen anschaulich darzustellen.
Das Finale ist ambivalent: Einerseits schildert Scott eine spannende Jagd auf Leben & Tod, während er andererseits seinen Helden dabei mit Rauschgift und Medikamenten vollpumpt, an einer tödlichen Krankheit leiden, von gleich mehreren Giftschlangen beißen, einem religiösen Irren in die Arme laufen sowie sich anschießen und von einer Brücke stürzen lässt. Jedes Mal, wenn es ihn trifft, beteuert Doyle glaubhaft, am Ende zu sein, und taumelt doch dem nächsten Desaster und der Auflösung jeglicher Glaubwürdigkeit entgegen.
|CSI-Ekel ist steigerbar|
In seinem Element ist Scott, wenn er den zentralen Ort des Geschehens nicht einfach beschreibt, sondern zelebriert. Die Bruckner-Farm wird zur Stätte eines Grauens, das umso stärker wirkt, weil es vor allem im Menschenhirn nistet. Zwar sorgt die Natur in ihrer evolutionären Gleichgültigkeit für Tod, Hitze, Fliegen und Fäulnis, doch an den wirklich finsteren Ereignissen ist sie unschuldig.
Was sich im Haus der Bruckners abgespielte, ist dabei so traurig, lächerlich und bizarr wie das wahre Leben. Die Ereignisse liefen dort ohne das spätere Grauen bereits aus dem Ruder. Bis dies offenbart und schlüssig beschrieben wird, wirft Scott leider erneut seine Nebelkerzen und führt den inzwischen längst misstrauisch gewordenen Leser nicht elegant in die Irre, sondern packt ihn am Schlafittchen und zerrt ihn dorthin.
Sollte es Scott gelingen, seinen Hang zum Aus- und Abschweifen zu bändigen oder durch eine energische Redaktion kontrollieren zu lassen, dürften seine nächsten Romane deutlich besser geraten. Wie dies aussehen könnte, lässt sich einfach vorstellen: „15 Meilen“ minus 200 Seiten ergäben ein Grusel-Garn, das dem pompösen Klappentext wesentlich besser entspräche!
_Autor_
Robert Scott (geb. 1968 in New York) studierte zunächst Musik. Sein Instrument war die Gitarre, mit der er sich als Künstler seinen Lebensunterhalt verdiente, bevor er ein Studium der Erziehungswissenschaften anschloss.
Schriftsteller wurde Scott, nachdem er in seinem Schwiegervater Jay Gordon ebenfalls einen Liebhaber epischer Fantasy entdeckte. Sie beschlossen, eine eigene Serie zu schreiben. Aus diesem Plan entwickelte sich nach mehrjähriger Vorbereitung der |Eldarn|-Zyklus, der als Trilogie endete, als Gordon 2005 einer schweren Krankheit erlag.
Als „Rob Scott“ veröffentlichte Scott 2010 seinen ersten Solo-Roman und wechselte dabei von der Fantasy zum Horror. In diesem Genre hatte er seit 1985 diverse Kurzgeschichten veröffentlicht. Hauptberuflich arbeitet Scott heute als Direktor einer Schule im US-Staat Virginia, wo er mit seiner Familie lebt.
|Taschenbuch: 527 Seiten
Originaltitel: 15 Miles (London : Victor Gollancz Ltd./Orion Publishing Group 2010)
Übersetzung: Andreas Brandhorst
ISBN-13: 978-3-453-52740-9|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
Bullington, Jesse – traurige Geschichte der Brüder Grossbart, Die
_Das geschieht:_
Vermutlich in einem der deutschen Länder – sämtliche Zeitgenossen weigern sich später, sie als Landsleute anzuerkennen – werden die Zwillingsbrüder Hegel und Manfried Großbart um 1340 geboren. Die ersten 25 Jahre ihres Lebens verdingen sie sich als Grabräuber. Nach dem Tod der Mutter satteln sie um und überfallen lebende Zeitgenossen. Schon der erste Versuch gipfelt in einem Gemetzel, dem die flüchtenden Brüder ein Massaker an ihren Verfolgern folgen lassen.
Über die Alpen zieht es sie in den warmen Süden Europas und weiter nach Ägypten, wo ihr Vater es angeblich zu einem kleinen Königreich gebracht hat – eine barmherzige Lüge der Mutter, weshalb die Großbarts unverdrossen daran gehen, unter Anwendung brutaler Gewalt ihre eigene Vision von einem bequemen Dasein zu verwirklichen. Nicht nur die Zahl ihrer Opfer steigt kontinuierlich. Sie geraten an Menschen fressende Ungeheuer, einen Pest-Dämonen und eine Hexe, die sie obendrein mit einem Fluch belegt. Stets den Großbarts hart auf den Fersen reitet Bauer Heinrich, der sich für den Mord an seiner Familie rächen will.
In Venedig, wo sie sich von den Strapazen der Alpenreise erholen, wird den Großbarts der Boden heiß unter den Füßen, als die Kunde ihrer Übeltaten sich verbreitet. Bevor sie verhaftet werden können, schiffen sie sich nach Ägypten ein. Dort wollen sie das eine oder andere Grabmal schänden. Stattdessen sorgt eine zaubermächtige Sirene für unerwartete Turbulenzen und weitere gewaltsame Todesfälle. Unerschütterlich morden und lügen die Großbarts sich durch das Chaos, das ihnen auch in Ägypten treu bleibt, wo sie einen bizarren Kreuzzug geraten und Heinrich, der wütende Pest-Dämon und zwei grässliche Homunkuli sie endlich einholen …
_Ein ganz besonderer Blick in die Vergangenheit_
Das Mittelalter ist ab 1350 nicht nur eine exotische Ära, sondern zeigt eine Welt im Ausnahmezustand. Ursprünglich in Asien ausgebrochen, rast die Pest, der „Schwarze Tod“, ab 1347 durch Europa. Ganze Landstriche werden entvölkert, 25 Mio. Menschen – ein Drittel der Gesamtbevölkerung – sterben. Die Überlebenden sind durch das erlebte Grauen gezeichnet. Kaum eine Familie ist ohne Opfer und die Angst vor der Seuche so groß, dass sie in Hysterie umschlägt. Ohne Kenntnis der Ursachen oder medizinisch wirksamer Gegenmittel, auf der verzweifelten Suche nach Heilung oder wenigstens einer Erklärung verfallen die Menschen Scharlatanen und Weltuntergangs-Propheten. Auf der Suche nach ‚Schuldigen‘ brennen ‚Ketzer‘ und Juden. Als dieser Pestzug 1351 abklingt, folgen nach kurzen Jahren der Ruhe neue Wellen. Die Ratlosigkeit und die daraus resultierende Angst erhalten sich bis in die Neuzeit, und noch heute, da die Krankheit beinahe ausgerottet sowie heilbar ist, sorgt schon das Wort „Pest“ für Gänsehaut.
Eine ohnehin aus den Fugen geratene Welt wird bei Jesse Bullington zur Kulisse eines bemerkenswerten Fantasy-Romans. Nicht Schwertkämpfer, Dämonen-Fürsten oder von Tolkien plagiierte Orks/Zwergen/Elben/Etc.-Klone treiben ihr Unwesen in einer verfremdeten Märchen-Welt, sondern simple Menschen als Produkte ihrer turbulenten Gegenwart. Bullington, der als studierter Historiker das Mittelalter nicht nur als simple Folie benutzt, sondern in Kenntnis der historischen Realität einsetzt, gelingt das Kunststück, die zeitgenössische Gedankenwelt so zu verfremden, dass sie die zeitgenössische Realität umso deutlicher herausstellt. Darüber hinaus gelingt ihm eine ungemein unterhaltsame Geschichte.
|Gott, der Teufel und der arme Mensch|
Die Welt des Mittelalters muss man mit der Allgegenwärtigkeit von Religion und – aus heutiger Sicht – Aberglauben gleichsetzen. Gott und vor allem der Teufel und seine Geschöpfe waren überall. Die Kirche lehrte die Lebenden, sich dem schlauen, in vielen Verkleidungen auftretenden Bösen zu entziehen. Für die Toten bzw. deren Seelen wurde gebetet, denn das Höllenfeuer loderte stets in Reichweite. Angesichts einer Lebenserwartung, die durchschnittlich bei 35 oder 40 Jahren lag, war der Tod den Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit.
Nur der bedingungslose Glaube bot einen Ausweg, während sehr reale Missstände als Ausdruck einer vorgegebenen Ordnung zu akzeptieren waren. Also sind die Großbarts einerseits durchaus ehrlich fromm und andererseits ungebildete, grobe, schmutzige Lumpen. Im Mittelalter war dies kein Widerspruch. Die meisten Zeitgenossen Hegels und Manfrieds würden aus heutiger Sicht in diese Kategorie fallen.
Gleichzeitig steckte die Wissenschaft in den Kinderschuhen. Das Mittelalter war vor allem in Europa sprichwörtlich dunkel, während Forschung und Lehre ausgerechnet in den ‚heidnischen‘ arabischen Ländern blühte. Der Zusammenhang zwischen Ansteckung und Hygiene blieb unerkannt, Zauberei bzw. Hexerei galt als Tatsache, und die meist unbekannte Welt wurde von gefährlichen Kreaturen bevölkert. Bullington geht nur einen Schritt weiter und nimmt diesen Aberglauben für bare Münze. Die Großbarts oder Bruder Martin entsetzen sich daher nicht vor eingebildeten, sondern vor ‚echten‘ Ungeheuern und Dämonen.
|Zwei brutale Schelme auf privatem Kreuzzug|
Hegel und Manfried Großbart begeben sich auf eine lange Reise, die ihnen jedoch keine geistige Reifung bringen wird. Bullington karikiert das Motiv der Queste, wie er überhaupt sorgfältig darauf achtet, jeglichen Gedanken an positive Werte zu tilgen. Moralische Integrität, Frömmigkeit, Liebe – immer verbergen sich hinter solcher Anständigkeit Bigotterie, Lüge und Eigennutz. In dieser Beziehung ist Bullington modern: Seine Leser sollen durch die Lektüre nicht belehrt werden. Mit Vorsicht sei deshalb das umfangreiche Literaturverzeichnis betrachtet: Zwischen tatsächlich existierenden Werken verbergen sich geschickt erfundene Werke, die eine Existenz von Grossbart-Überlieferungen vorspiegeln
Hegel und Manfried sind Räuber und Mörder, aber als solche passen sie in ihre Welt. Selbst der unglückliche Heinrich paktiert für seine Rache mit einer Hexe und einem Dämonen. So kann man den Zwillingen nicht wirklich böse sein. Zwischen Anfällen eingetrichterter (und köstlich fehlinterpretierter) Glaubensstärke sind sie konsequent ehrlich. Sie wollen ihren Zipfel von der Wurst. Nach einem Leben in Elend haben sie begriffen, dass niemand mit ihnen teilen wird. Also nehmen sie sich, was sie begehren, und geben sich dabei nicht einmal den Anschein, Robin Hoods zu sein. Wenn eine ganze Welt sich in ein Irrenhaus verwandelt, sind Hegel und Manfried exemplarische Bewohner.
Der Zug ins „Gypterland“ ist ihr einziger Traum oder besser: eine vage Wunschvorstellung. Mitte des 14. Jahrhunderts lagen die ‚klassischen‘ Kreuzzüge ins längst sarazenische Morgenland schon viele Jahrzehnte zurück. Geblieben waren nur geschönte Erinnerungen an ein hehres Ziel, das tatsächlich in eine endlose Kette blutiger Sinnlosigkeiten ausgeartet war. Als die Großbarts 1365 tatsächlich ihr Ziel erreichen, geraten sie in den aberwitzigen „Kreuzzug gegen Alexandria“, den König Peter I. von Zypern angezettelt hat. Dieser will nicht die Wiege der Christenheit befreien, sondern lässt Alexandria sowie 1366 Tripolis und Tartus überfallen, plündern und zerstören – ein reales, durch und durch verlogenes Unternehmen, dem schließlich sogar der Papst seine Unterstützung verweigerte.
|Eine traurige Geschichte aber ein tolles Buch|
„Die traurige Geschichte …“ erzählt nicht nur eine kurzweilige Geschichte, die ihrem Titel erst auf der letzten Seite gerecht wird und selbst dabei heiter wirkt. Weitere und längst nicht selbstverständliche Vorteile tragen zur Freude des Lesers bei. Da ist vor allem die fabelhafte Übersetzung hervorzuheben. Der Name Eva Bauche-Eppers sorgt für Erwartungen, denn diese Frau versteht ihr Handwerk, was u. a. daraus ersichtlich wird, dass sie 2003 für ihre Übertragung von China Miévilles Roman „Perdido Street Station“ mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde. Sie mit der Übersetzung zu beauftragen, war eine wirklich gute Entscheidung, weil die Vorlage sprachlich eine Herausforderung darstellt. Bullington wandelt bunt auf einem schmalen Grat zwischen ‚originaler‘ mittelalterlicher und lesbar moderner Ausdrucksweise. Bauche-Eppers vermag ihm dorthin zu folgen. Die Übersetzung wirkt durch geschickt eingeflochtene altertümliche oder altertümlich erscheinende Redewendungen und Ausdrücke zeitgemäß, ohne es zu sein, es sein zu müssen oder den Leser zu überfordern. „Die traurige Geschichte …“ liest sich reibungslos, und der historisch oder sprachlich Bewanderte freut sich über Neu- und Wiederentdeckungen als Boni.
Das Auge isst nicht nur in der Küche mit. Auch der Leser freut sich über Bücher, die ihm solide aber geschmeidig in der Hand liegen, bei Öffnen und Blättern nicht spröde krachen sowie schön aufgemacht sind. „Die traurige Geschichte …“ bietet sich durch ihren Umfang für ein Paperback geradezu an, weshalb ihm dieses Gewand gut steht. Hier musste kein Text durch Großschrift, Leerseiten und gewaltige Zeilenabstände künstlich aufgeblasen werden. Darüber hinaus gibt es nicht nur ein ‚richtiges‘, also gemaltes Cover, sondern eigens angefertigte Innenzeichnungen. Man kann es prosaisch auch so ausdrücken: Hier bekommt der Leser wirklich etwas für sein Geld!
_Autor_
Jesse Bullington wurde in Boulder, US-Staat Colorado geboren. Nach einem Umzug wuchs er zunächst in Pennsylvania auf, bevor die Familie für mehrere Jahre in die Niederlande übersiedelte. Nach der Rückkehr in die USA beendete Bullington die High School und studierte Englische Literatur und Geschichte an der Florida State University. Beide Fächer schloss er 2005 ab.
Bereits in seiner High-School-Zeit lernte Bullington den Fantasy-Autoren Jeff Vandermeer kennen. Sie wurden Freunde, und Vandermeer wurde Bullingtons Mentor, als dieser eigene schriftstellerische Pläne entwickelte. Mit der Arbeit an seinem Debütroman „The Sad Tale of the Brothers Grossbart“ (dt. „Die traurige Geschichte der Brüder Grossbart“) begann Bullington unmittelbar nach dem Studium. Das opulente, inhaltlich wie formal vom Fantasy-Mainstream abweichende Werk erregte bei Kritik und Publikum großes Aufsehen.
|Paperback: 541 Seiten
Originaltitel: The Sad Tale of the Brothers Grossbart (New York : Orbit 2009)
Übersetzung: Eva Bauche-Eppers
Cover: Oliver Wetter
Deutsche Erstausgabe: Mai 2011 (Bastei-Lübbe-Verlag 2011/Paperback Nr. 28550)
ISBN-13: 978-3-404-28550-1|
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Mina, Denise – In der Stille der Nacht
_Das geschieht:_
Eddy, Pat und Malki, drei perspektivlose Loser aus dem schottischen Glasgow, lassen sich für eine Entführung anheuern. Einen gewissen „Bob“ sollen sie kidnappen, doch als sie nervös und überstürzt in das vom Auftraggeber angegebene Haus stürmen, finden sie dort nur die pakistanische Immigrantenfamilie Anwar vor. In ihrer Panik schnappen sie sich Aamir, den Vater, und verschleppen ihn.
Die polizeiliche Ermittlung müsste eigentlich Detective Sergeant Alex Morrow übernehmen. Ihr Vorgesetzter DSI MacKechnie, mit dem sie im Streit liegt, übergeht sie und übergibt den Fall dem weniger begabten aber pflegeleichten Karrieristen Grant Bannerman, den Morrow noch heftiger verabscheut. Dennoch kann sie die offensichtlichen Fehler des Kollegen weder ignorieren noch ihre Neugier zügeln.
Wer ist „Bob“, für den absurde 2 Mio. Pfund Lösegeld gefordert werden, die nun für den Vater zu zahlen sind? Hat die Familie etwas mit der Entführung zu tun? Hinter der kultivierten Kulisse der Anwars treten diverse Brüche hervor. Die in ihrem schottischen Umfeld nur scheinbar integrierte Gesellschaft praktiziert neuerdings wieder den islamischen Glauben. Die misstrauische Polizei wittert terroristische Umtriebe, und auch Morrow hält Omar und Billal, Aamirs Söhne, für verdächtig.
Inzwischen gerät Aamir in Lebensgefahr. Der Auftraggeber weigert sich, ihn statt „Bob“ in seine Obhut zu nehmen. Die drei Kidnapper stehen mit einer überzähligen Geisel dar. Während der besonnene Pat eine Eskalation zu verhindern sucht, denkt der psychotische Eddie an Mord. Nachdem Bannerman mit seiner nassforschen Methode scheitert, holt MacKechnie Morrow im Wettlauf mit der Zeit zurück ins Ermittlungs-Boot. Doch eine wahre Lügen-Flut vernebelt den Fall, während Aamir beschließt, sich gegen seine Peiniger zu wehren …
_Schottische Umtriebe im Dauerregen_
In die noch zahlenschmale Riege schottischer Kriminalpolizisten reiht sich hiermit eine weitere Serien-Ermittlerin ein: Alex Morrow ist die Apotheose sämtlicher mürrischer, psychisch aus dem Lot geratener, von den Kollegen gemiedener und von den Vorgesetzten gehasster, privat auf Grund gelaufener Krimi-Helden. Was genau ihr zugestoßen ist, hält uns die Verfasserin zunächst vor. Als sie die Katzen nach und nach aus dem Sack lässt, haben wir das Interesse bereits verloren.
Dies ist das erste mehrerer Warnsignale, die schließlich in der erstaunlichen Erkenntnis münden, dass „In der Stille der Nacht“ ein guter Krimi aber keine erfreuliche Lektüre darstellt. Zwar ist der Plot gut konstruiert und wird mit den dem Genre geschuldeten Verzögerungen und Verwicklungen entwickelt. Das Ergebnis lässt dennoch seltsam kalt.
Liegt es daran, dass Denise Mina sich höchstens am Rande für das Krimi-Element ihrer Geschichte interessiert? Moderne Krimis schwelgen gern und manchmal zu ausgiebig in Gesellschaftskritik und Politikverdrossenheit. Bis zur Seifenoper ist der Weg nicht weit und die Fahrbahndecke schlüpfrig. Doch nicht deshalb kommt Mina ins Rutschen. Sie meint es in jeder Sekunde bitterernst mit ihrem doppelten Psychogramm einer exotisch-dysfunktionalen Familie und einer gestörten Polizistin.
|Spaß bleibt ausdrücklich ausgeschlossen!|
„Bitterernst“ ist das Stichwort. Denise Mina suhlt sich förmlich in der Gefühlskälte der Gegenwart. Auch Ian Rankin oder Stuart MacBride, die ihre Krimis ebenfalls in Schottland ansiedeln, verschließen nie die Augen vor den Schattenseiten des modernen, globalisierten, urbanen Alltags. Sie gönnen ihren Lesern allerdings Erholungspausen, die sie mit durchaus schwarzem Humor so unterhaltsam gestalten, dass die grundsätzliche Stimmung ihrer Geschichten darunter nicht leidet.
Mina verweigert ihrer Leserschaft jede Ablenkung. Immer neue Abgründe deckt sie stattdessen auf. Dies sorgt u. a. für einen Krimi, dessen gesamtes, kriminelles wie kriminologisches Figurenpersonal unsympathisch ist. Damit erregt die Autorin zweifellos unser Interesse, aber sie stößt ihre Geschichte gleichzeitig und buchstäblich in eine Grauzone. Trübsinnig schleppt sie sich dahin, während die ermittelnde Beamtin diverse Gangster trifft, sich mit dem Chef anlegt, den Kollegen hasst und den Gatten schurigelt. Für alle diese Finsternis gibt es gute Gründe, aber da wir unter ihnen förmlich begraben werden, wollen wir lieber flüchten als uns auf sie einlassen.
|Noch mehr Elend als Hirngepäck|
Eine ‚Glanzleistung‘ stellt übrigens wieder einmal die ‚Übersetzung‘ des Titels dar. In der Nacht des Überfalls auf die Familie Anwar geht es alles andere als still zu, und auch in den nächsten Nächten bleibt es turbulent. Tatsächlich spielt der Originaltitel „Still Midnight“ auf die Geisterstunde in der Seele von Aamir Anwar an, der als Flüchtlingskind erlittenen Gräuel auch nach Jahrzehnten nur oberflächlich verarbeitet hat aber nie überwinden konnte; als Entführungsopfer wird er in diese dunkle Zeit zurückgeworfen.
Mina entwirft sehr aufwendig, solide recherchiert und politisch überaus korrekt das Psychogramm eines Mannes, der in Pakistan geboren wurde, mit der Familie nach Uganda auswanderte und dort in einen Bürgerkriegsterror geriet, dem er allein entkommen konnte. Nach Aamirs Ansicht hat er sich das Leben auf Kosten der Mutter erkauft; Mina zeichnet folgerichtig das Bild eines Mannes, der sich für sein Überleben schuldig fühlt. Dazu gehören seitenlange Rückblenden auf Aamirs Kindheit, die sicherlich (bzw. selbstverständlich) ernst gemeint aber – so ketzerisch es klingen mag – langweilig sind. In Aamirs Kopf läuft immer und immer wieder der Film des erlittenen Schicksals ab. Der Leser hat schon nach dem ersten Mal begriffen.
|Die Sorgen der nächsten Generation|
Immerhin widersteht Mina der Verlockung, den Plot mit einer 9/11-Motivdecke zu unterfüttern. Nahe hätte es gelegen: Eine islamische Familie steckt in einem nicht nur latent misstrauischen Umfeld. Das daraus resultierende Unrecht böte zuverlässig Stoff für ein gegenseitiges Aufschaukeln von Verdacht und Gewalt. Hier bricht Mina mit den Erwartungen. Die Anwars sind nur zum Teil fromm, und Terrorismus spielt keinerlei Rolle. „In der Stille der Nacht“ bleibt in diesem Punkt ganz Krimi, das Verbrechen ungemein irdisch.
Tatsächlich sind die Anwars bereits besser integriert als ihnen lieb ist: Die schottische Unterwelt kennt keine Berührungsängste. Mina gelingt die Darstellung einer gänzlich glanzlosen kriminellen Realität: Brutale Proleten scheffeln Geld mit der gleichgültigen Ausbeutung und Misshandlung von Menschen. Sie haben keinen Stil, kennen keine Ganovenehre. Nicht nur für die Polizei, sondern auch für diese ‚etablierten‘ Verbrecher sind Eddy, Pat und Malki Instrumente, derer man sich bedient und entledigt.
Ähnlich trostlos sieht bei Mina der Polizeialltag aus. Jeder ist sich selbst der Nächste. Von oben wird getreten und der Druck nach unten weitergegeben. Seilschaften werden gebildet und gepflegt, Konkurrenten gemobbt, Ermittlungsergebnisse eifersüchtig gehortet. Alex Morrow gliedert sich perfekt in dieses Umfeld ein. Sie ist höchstens noch ein wenig hinterlistiger. Den Unterhaltungswert dieser Geschichte steigert das freilich nicht.
|Am Ende ist alles umsonst|
Die rumpelt ohnehin in Düsternis ihrem Finale entgegen. „In der Stille der Nacht“ ist ein „Whodunit“, denn unsere drei untalentierten Entführer haben einen Hintermann, der bis zum Schluss unsichtbar und unbekannt bleibt. Weil Mina mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl nicht nur winkt, sondern kräftig um sich schlägt, ist außerdem schnell klar, dass jemand in der Anwar-Sippe Dreck am Stecken hat. Pflichtschuldig werden beide Fragen beantwortet. Der Leser fragt sich unwillkürlich, ob dieser Sieg der Gerechtigkeit notwendig ist: Wäre die Strafe für alle Beteiligten nicht größer, beließe Mina sie im breit ausgemalten Elend?
Oder sind es die beiden angeflanschten Happy-Endings, die uns irritieren? Nachdem wir von der Autorin über 400 Seiten wie das Schnitzel im Paniermehl in Tristesse gewälzt wurden, bricht plötzlich die Wolkendecke über DS Morrow auf. Wen es interessiert, wie und ob der seelische Notstand beendet wird, darf sich auf ihren neuen Fall freuen, der 2011 unter schönen Titel „The End of the Wasp Season“ (dt. „Blinde Wut“) erschienen ist.
_Autorin_
Denise Mina wurde 1966 im schottischen Glasgow geboren. An der dortigen Universität studierte sie Jura. Dort nutzte sie ihr Doktoranden-Stipendium, um einen ersten Kriminalroman zu schreiben. „Garnethill“ (dt. „Schrei lauter, Maureen“) erschien 1999 und wurde von der „Crime Writers‘ Association“ mit einem „John Creasy Dagger“ für das beste Krimi-Debüt des Jahres ausgezeichnet. Mina baute „Garnethhill“ 2000 und 2001 zur Trilogie aus.
Zwei nicht seriengebundenen Krimis folgte 2005 „The Field of Blood“ (dt. „Der Hintermann“), der erste, 2010 für das britische Fernsehen auch verfilmte Roman um die Journalistin Patricia „Paddy“ Meehan. 2009 begann Mina eine dritte Serie um die Glasgower Kriminalpolizistin Alex Morrow.
Mina schreibt nicht nur Kriminalromane, sondern auch Comics. So textete sie ein Jahr für die Serie „Hellblazer“ und lieferte die Vorlagen für verschiedene Comic-Romane. Weiterhin verfasst sie Texte für Radio und Fernsehen und legte 2006 ein erstes Theaterstück vor.
|Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: Still Midnight (London : Orion Books 2009)
Übersetzung: Conny Lösch
ISBN-13: 978-3-453-43490-5
Als eBook: Juli 2010
ISBN-13: 978-3-641-04750-4|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
[www.denisemina.co.uk]http://www.denisemina.co.uk
_Denise Mina bei |Buchwurm.info|:_
[„Refugium“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=928
[„Der Hintermann“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4192
Eric Frank Russell – Gedanken-Vampire
Im Mai des Jahres 2015 fallen – zunächst unbemerkt – berühmte Wissenschaftler seltsamen ‚Unfällen‘ und ‚Selbstmorden‘ zum Opfer. Bill Graham, Agent der Finanz- und Kreditabteilung der US-Regierung, wird in New York zufällig Zeuge eines solchen Todesfalls und reagiert berufsbedingt neugierig.
Während Leutnant Wohl, der für die Kriminalpolizei im Fenstersturz des Dr. Irwin Webb ermittelt, Wahnsinn oder Drogen als Ursache vermutet, entdeckt Graham die Spuren einer bizarren Verschwörung: Die Todesserie begann mit dem schwedischen Physiker Peter Bjornsen, der als Koryphäe auf dem Gebiet der Optik galt. Er hatte versucht, das Sichtspektrum des menschlichen Auges zu erweitern und war dabei sehr erfolgreich gewesen.
Als weitere Wissenschaftler sterben, die nachweislich mit Bjornsen in Kontakt standen, wird Graham dem US-Geheimdienst überstellt: Die Regierung ist über den akademischen Aderlass besorgt und wünscht rasche Aufklärung. Graham findet einen Forscher des Bjornsen-Kreises, der lang genug lebt, um ihn über die Vitonen aufzuklären: Tief im sonst für den Menschen unsichtbaren Infrarot-Spektrum des Lichts entdeckte Bjornsen blaue Energiewesen, die nicht nur intelligent, sondern auch außerirdischen Ursprungs sind. Seit sie auf die Erde kamen, förderten die Vitonen Konflikte und Kriege, denn sie ernähren sich von den dabei freigesetzten Emotionen.
Auf die Tatsache ihrer Entdeckung reagieren die Vitonen erwartungsgemäß unfreundlich. Fatalerweise können sie das menschliche Hirn nicht nur manipulieren, sondern auf geringe Entfernung auch Gedanken lesen. Wer ihnen in die Quere kommt, kann deshalb rasch ausgeschaltet werden. Dessen ungeachtet bricht ein weltweiter, entbehrungsreicher Kampf um die Freiheit der Menschheit aus …
Böse Geister in harten Zeiten
Die Science Fiction galt einmal als Genre, das der Gegenwart ‚Informationen‘ über den Alltag der Zukunft liefern konnte. Diese Ansicht war vor allem in der „Goldenen Ära“ der SF vor dem II. Weltkrieg verbreitet; sie wurde durch aktuelle Fortschritte in Wissenschaft und Technik unterstützt, die sich scheinbar grenzenlos fortschreiben ließen, weshalb die Menschen in unserer Geschichte zwar ohne Handy oder Internet leben müssen, aber immerhin auf mehrstöckig übereinander montierten Hochstraßen zur Arbeit fahren können.
Tatsächlich besitzt auch der SF-Autor keinen Draht in die Zukunft. Science Fiction ist eine ganz im Hier & Jetzt angesiedelte Literatur, die Gegebenheiten der Gegenwart in zukünftige Zeiten extrapoliert und damit höchstens zufällig ins Schwarze trifft. In „Gedanken-Vampire“ fällt dem Leser der Gegenwart beispielsweise der elektronische „Zeitungswiedergabeschirm“ auf; die dort angezeigten Blätter lassen sich bei Bedarf ausdrucken: Da ist es – irgendwie – doch, das Internet! Dennoch wirkt Russells 2015 jederzeit altmodisch.
Interessant und historisch relevant ist die Extrapolation an sich, die viel über die Entstehungszeit aussagen kann. Dabei darf man freilich nicht übers Ziel hinausschießen und SF nachträglich fehl- bzw. überinterpretieren. „Gedanken-Vampire“ wurde erstmals 1939 – in der März-Ausgabe des legendären Pulp-Magazins „Unknown“ – veröffentlicht und fällt in eine Ära, die ganz im Zeichen eines drohenden zweiten Weltkriegs stand, der bekanntlich noch im gleichen Jahr ausbrach.
Die Vitonen waren vor den Nazis da …
Sind die Vitonen also mit den Nazis gleichzusetzen, die in Mitteleuropa nach Belieben schalteten und walteten, während das Ausland ihrem Treiben scheinbar machtlos ausgeliefert war? Russell selbst gab in einem Vorwort zur überarbeiteten und erweiterten Buchausgabe von 1948 selbst (wenn auch indirekt) die verneinende Antwort: „Falls jemals eine (Science-Fiction-) Story auf Tatsachen beruhte, so ist es diese“. Es folgt eine Schimpfkanonade gegen die etablierte Wissenschaft, die ihr nicht genehme Fakten unterschlage und einsame Propheten lächerlich mache.
Gemeint ist Charles Fort (1874-1932), ein besessener Sammler unerklärter bzw. unerklärlicher Phänomene, die er in mehreren, zu seiner Zeit sehr populären Büchern nicht nur auflistete, sondern ‚erklärte‘. Forts Theorie einer dem Menschen unsichtbaren Welt oberhalb der Wolken, die der Erdball als buchstäblicher Luft-Ozean umgibt, schien Russell einleuchtend. Jenseits dieser „sinister barrier“ lebten nach Fort nicht nur seltsame Kreaturen, sondern lauerten womöglich auch Wesen, die dem Menschen keineswegs wohlgesonnen waren.
In John W. Campbell, Jr. (1906-1972), Herausgeber von „Unknown“ (und dem ungleich berühmteren Magazin „Astounding Science-Fiction“), fand Russell einen Mann, dem solche Spökenkiekerei nicht fremd war; u. a. unterstützte Campbell lange Jahre den „Dianetics“-Humbug des SF-Schreibers L. Ron Hubbard, dem die „Scientology“-Sekte entwucherte. Russells Irrglaube war deutlich harmloser; er hielt sich freilich ähnlich hartnäckig – die Vorstellung einer unsichtbaren Überwelt griff der Verfasser noch in den 1950er Jahren wieder auf.
Vom SF-Krimi zur Apokalypse
Dieser ‚ernsthafte‘ Hintergrund lässt sich viele Jahrzehnte später problemfrei ausblenden. „Gedanken-Vampire“ entpuppt sich (auch in der Version von 1948, die allen deutschen Übersetzungen zugrundeliegt) als typisches Garn der Pulp-Ära. Entschlossene Männer geben heimtückischen Aliens Saures; zwischendurch bleibt Zeit für wilde Verfolgungsjagden und Schießereien, aber auch für eine Liebesgeschichte, denn zumindest der Held begnügt sich nicht mit der Rettung der Welt, sondern freut sich über eine schöne Frau als finale Belohnung.
Diese wird hier weder von geilen „Bug-Eyed“-Monstern gekidnappt oder muss in Ohnmacht fallen, sondern darf sogar ein wenig zur Handlung beitragen. Überhaupt trägt Russell nicht gar so dick auf wie viele seiner Pulp-Kollegen. Ansonsten frönt Russell der in der britischen SF ausgeprägten Lust an der Apokalypse: Während Campbell und sein treuer Kumpel Wohl nach der Achillesferse der Vitonen fahnden, findet quasi im Hintergrund ein globaler Atomkrieg statt.
Vor diesem turbulenten Hintergrund konzentriert sich Russell auf Bill Graham, einen „All American Hero“ aus dem Bilderbuch. Er steht stellvertretend für das gesichtslose Heer der Spezialisten, die sich im Falle einer realen Katastrophe einem Problem stellen. Solche Vereinfachung führt zu der irritierenden Erkenntnis, dass offenbar nur Graham den Vitonen Paroli bietet. Selbst der Präsident wartet ab, was Graham herausfindet und anordnet.
Kampf den blauen Kugeln!
Dabei startet Campbell nicht einmal als Geheimdienstmann ins Gefecht. Er ermittelt für eine Regierungsbehörde, die ein Auge auf verschwenderische Wissenschaftler im Staatsdienst hält. Allerdings sind in diesem Krieg weder Erfahrung noch Intelligenz, sondern Tatkraft, Entschlossenheit und Einfallsreichtum nötig. Es ist ein hübscher Einfall, die klügsten Köpfe der Welt gerade deshalb zum Bersten zu bringen, weil sie sich zu gedankenklar mit den Vitonen beschäftigen, die ihnen so leicht auf die Schliche kommen.
„Gedanken-Vampire“ startet als Kriminalroman. Auch später bedient sich Russell Elemente dieses Genres (weshalb eine deutsche Übersetzung in einer Reihe namens „Utopia Kriminal“ erscheinen konnte). Eine Spur von Indizien, die entschlüsselt und in die korrekte Reihenfolge gebracht werden müssen, führt zu den Vitonen.
SF kommt ins Spiel, wenn geklärt ist, wie man dem Gegner beikommen kann. Weil dem Leser keine Antwort auf zuvor gestellte Fragen vorenthalten bleiben soll, bemüht sich Russell sehr um ‚logische‘ Erklärungen. Diese sind natürlich Humbug, klingen aber immerhin wissenschaftlich und belegen außerdem, dass Technobabbel keine Erfindung des „Star-Trek“-Franchises ist.
Dagegen spart sich Russell eindeutige ‚Informationen‘ über die Vitonen. Über ihre Herkunft und mögliche Motive wird nur spekuliert. Sie bleiben auf diese Weise fremde und gefährliche „Gedanken-Vampire“. Ihre Geschichte ist weder anspruchsvoll noch raffiniert, aber sie besitzt Unterhaltungsqualitäten, mit denen sich noch heute Leser finden lassen – und sei es nur deshalb, weil Russell sich in der Darstellung einer erderschütternden Krise so kurz zu fassen vermag …
Autor
Geboren wurde Eric Frank Russell am 6. Januar 1905 quasi im Schatten der „Royal Military Academy“ in Sandhurst, der Schmiede englischer Berufsoffiziere, zu denen auch der Vater gehörte. Dieser wurde dienstlich oft versetzt, was die Familie an ferne Orte des Empires führte; so lebte man lange in Ägypten und im Sudan.
Schon 1937 hatte Russell eine erste Science-Fiction-Geschichte, „The Saga of Pelican West“, in „Astounding Stories“, einem der besseren der zahllosen Pulp-Magazine dieser Ära, veröffentlicht, die als „Golden Age“ der SF gilt. Noch während des Krieges begann Russell eine Serie von Storys um den Roboter Jay Score, der nicht nur Menschengestalt besitzt, sondern sich bemüht, ein echter Mensch zu werden.
Nach dem II. Weltkrieg und einem kurzen beruflichen Zwischenspiel als Ingenieur wurde Russell Vollzeit-Schriftsteller. Vor allem in „Astounding“ erschienen seine Kurzgeschichten so oft, dass der Autor sich der Pseudonyme Duncan H. Munro und Webster Craig bediente. Was Russell in seiner Zeit bei der Royal Air Force in Sachen Militär-Logik und Bürokratie erlebt hatte, diente ihm als unerschöpflicher Fundus für bissige aber nie bösartige Satire. Zu Klassikern der Science Fiction wurden die Novelle „… And Then There Were None“ (dt. „… dann war‘n sie alle futsch“) oder die 1956 mit einem „Hugo Gernsback Award“ als beste Kurzgeschichte des Jahres ausgezeichnete Story „Allamagoosa“ (dt. „Technischer Bluff“).
Obwohl Russell als Autor beliebt und erfolgreich war, gab er die Schriftstellerei 1964 auf. Er starb am 28. Februar 1978 im Alter von 73 Jahren. Posthum wurde Eric Frank Russell 2000 in die „Science Fiction and Fantasy Hall of Fame“ aufgenommen.
Taschenbuch: 141 Seiten
Originaltitel: Sinister Barrier (Kingswood/Surrey : World’s Work 1943)
Übersetzung: Otto Kühn
http://www.ullsteinbuchverlage.de
Der Autor vergibt: 



Stephen Baxter – Die letzte Arche

Stephen Baxter – Die letzte Arche weiterlesen
Connelly, Michael – Sein letzter Auftrag
_Das geschieht:_
Der Siegeszug des Internets und die Wirtschaftskrise machen den klassischen Printmedien allmählich den Garaus. Auch die „Los Angeles Times“ muss sparen. Wie überall werden die Kosten gesenkt, indem Personal ‚abgebaut‘ wird. Niemand ist sicher, wie auch Jack McEvoy, altgedienter Polizeireporter, erfährt, dem nach zwanzig erfolgreichen Arbeitsjahren gekündigt wird.
Als besondere Demütigung soll er noch seine Nachfolgerin einarbeiten, bevor er geht. Angela Cook ist jung, hübsch und wird schlechter bezahlt als McEvoy, der dem Arrangement nur deshalb zustimmt, weil er sich mit einer großen Story verabschieden und für eine neue Stelle empfehlen will. Den Aufhänger bietet der Anruf einer Mutter, die sich über einen Justizirrtum beklagt. Alonzo Winslow hat angeblich eine Tänzerin umgebracht, was er vehement bestreitet. Polizei und Staatsanwaltschaft würden den Fall gern schnell und erfolgreich abschließen, sodass sie die Unschuldsbeteuerungen des Verdächtigen nicht allzu sorgfältig überprüfen.
Mit dem Instinkt des erfahrenen Journalisten erkennt McEvoy, dass dieser Fall auf wackligen Füßen steht. Seine Recherchen legen außerdem frühere Frauenmorde offen, die auf ganz ähnliche Weise begangen wurden. Bald muss auch die Polizei zugeben, dass ein bisher unbekannter Serienkiller sein Unwesen treibt. Als dieser wiederum feststellt, dass seine Tarnung aufzufliegen droht, beginnt er mit Hilfe modernster EDV-Technik seine Spuren zu verwischen und setzt McEvoy unter Druck, der plötzlich ohne Kreditkarte, Handyvertrag oder Internet-Zugang dasteht. Als McEvoy und Cook immer noch nicht von ihrer Story ablassen wollen, beschließt der Killer, die Reporter endgültig zu erledigen. Zumindest Jack McEvoy, der inzwischen von der FBI-Agentin Rachel Walling unterstützt wird, erweist sich als hartnäckiger und ebenbürtiger Gegner …
|Schöne, neue, dumme Welt|
Der |American Dream| basiert auf der Überzeugung, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Rückschläge auf dem Weg zu Ruhm & Reichtum werden als Marken jenes Weges gedeutet, der den unermüdlich Strebenden schließlich als Sieger über die Ziellinie bringen wird. Dass die Realität anders aussieht und Globalisierung oder Rationalisierungsfortschritt auch den ins Abseits stellen, der sich an die Spielregeln hält, ist eine noch relativ junge, traumatische sowie gern geleugnete Erkenntnis. Michael Connelly nutzt sie als Grundlage für den Einstieg in einen modernen Kriminalroman.
Die Idee ist bestürzend gut und wird so geschickt umgesetzt, dass Connelly sich selbst ein Bein stellt: „Sein letzter Auftrag“ ist ein sauber geplotteter, spannend geschriebener Roman, dessen Krimi-Plot es mit dem realen Horror eines personellen „Outsourcings“ nicht so recht aufnehmen kann. Ein Serienkiller geht um und metzelt Frauen in Horrorfilm-Manier. Das ist im Vergleich dazu alles andere als eine Novität. In der Tat muss sich Connelly alle Mühe geben, der vieltausendfach ausgewalzten Schauermär einige Glanzlichter aufzustecken.
|Der Weg ist wieder einmal das Ziel|
Ein Mann wird gefeuert. Er ist gut in seinem Job, hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Sein berufliches Ende basiert auf einer rein ökonomischen Entscheidung. Das persönliche Drama des Jack McEvoy fesselt den Leser sofort. Connelly schürt das Feuer, indem er McEvoy mit seiner taffen, hungrigen Nachfolgerin konfrontiert. Wie wird der gedemütigte Journalist reagieren?
Er leugnet, ignoriert, gaukelt sich Alternativen vor. Die daraus resultierende Stimmung begründet die Intensität, mit der McEvoy sich in seinen letzten Auftrag verbeißt. Nun setzt die eigentliche Krimi-Handlung ein. Connelly entwirft sie nicht als „Whodunit“. Die Identität des Killers ist dem Leser immer bekannt; dieser bestreitet bereits den Prolog. Connelly weicht dem ohnehin beinahe unmöglichen Problem, im 21. Jahrhundert noch einen originellen Serienkiller zu kreieren, auf diese Weise geschickt aus. Er widmet dem Killer und dessen üblicher Vorgeschichte inklusive gestörter Mutter, Missbrauch & Wahnvorstellungen vergleichsweise wenig Raum bzw. skizziert sie sogar erst in einem Epilog, als die eigentliche Geschichte bereits ihr Ende gefunden hat.
Stattdessen ist der Killer auch ein professioneller Identitätsdieb und Manipulator. „Scarecrow“, also „Vogelscheuche“, betitelte Connelly seinen Roman. Der Mörder verdient sich seinen Lebensunterhalt damit, sensible Datenbestände zu betreuen und gegen Hacker zu sichern, die er nicht nur abwehrt, sondern auch mit Hilfe fingierter Indizien als Kriminelle brandmarkt, ihre Konten abräumt, sie beruflich, finanziell und privat ruiniert.
Wie dies geschehen kann, schildert Connelly auf eine Weise, die den Fachmann vermutlich zum Lachen reizt. Der lesende Laie findet es jedoch dramatisch, wie der Verfasser ihm die Schattenseiten der digitalen Gegenwart vor Augen führt. Indem der Killer McEvoy die Identität nimmt, wirkt er wesentlich gefährlicher als während der späteren ‚klassischen‘, also körperlichen Attacken.
|Eine Reise durch das Connellyversum|
Michael Connelly schreibt verschiedene Serien sowie Einzelromane. Sie spielen in einer gemeinsamen Welt. Ihre Figuren begegnen einander, lösen Fälle zusammen, nehmen serienübergreifend Kontakt auf. Eine dramatische Notwendigkeit gibt es dafür nicht, weshalb der Verfasser von der Kritik oft gescholten wird. Ihm scheint dieses Spiel Freude zu bereiten; er bleibt dabei und knüpft immer neue Verbindungen. Auch Jack McEvoy ist fest ins Connellyversum eingebunden. Er kennt den Cop Harry Bosch und den „Lincoln Lawyer“ Michael Haller – der wiederum ein Halbbruder von Bosch ist – und frischt in „Sein letzter Auftrag“ die Beziehung zur FBI-Agentin Rachel Walling auf, die zwischenzeitlich mit Bosch verbandelt war.
Kennengelernt haben wir McEvoy in dem Roman „Der Poet“ (1996; zu diesem Roman gibt es eine Fortsetzung, die Harry Bosch – wer sonst? – als Hauptfigur bestreitet und u. a. den Tod des Polizei-Kollegen Terry McCaleb untersucht, der 1997 Held des Connelly-Romans „Das zweite Herz“ war). Wie Bosch und Haller ist er ein Profi, der einerseits alle Kniffe und Schlichen kennt, während er sich andererseits ausgeprägte idealistische Züge bewahren konnte. Der private Jack McEvoy ist eine vergleichsweise profilarme und durchaus uninteressante Gestalt. Sie lebt durch ihre Tätigkeit: McEvoy ist nicht ein, sondern „der“ Journalist.
Ebenso ist Rachel Walling „die“ FBI-Agentin, auch wenn der Autor ihr eine stürmische berufliche Karriere verordnet: Connelly-Figuren haben Probleme mit Obrigkeiten, die sich lieber selbst verwalten, als ihre Aufgaben zu erledigen und dabei einfallsreich zu sein oder gar Risiken einzugehen. Ansonsten wirkt Walling ebenso diffus wie McEvoy, was auch die peinlichen, lächerlichen und aus heiterem Himmel über den Leser hereinbrechenden Liebesszenen erklären könnte, für die Connelly berüchtigt ist.
|Alles wird gut oder zumindest anders|
Das letzte Romandrittel bestreitet Connelly mit Krimi-Routinen. Der Abstand zwischen Killer und Verfolger verringert sich, während die Gefahr steigt. Dabei zeigt uns der erfahrene Verfasser, wie man dies inklusive zeitweiliger Fehlschlüsse als Folge professioneller Ermittlungsarbeit inszeniert, ohne dabei dem Zufall eine allzu gewichtige Rolle zu übertragen. Selbstverständlich gehen spätestens im Finale alle klugen Pläne schief, um – zugegeben etwas mechanisch – einen krönenden Abschluss zu schaffen.
Zwar ist der Schurke geschnappt, doch das Ende ist dennoch offen. Jack McEvoy dreht der schnöden Realität eine letzte Nase und kehrt nicht in seinen Job zurück. Wie er sich neu orientiert, wird zweifellos zu einem der Handlungsstränge in McEvoys nächstem Abenteuer, dem Connelly so bereits den Boden bereitet und gleichzeitig seine Leser – erfolgreich – neugierig macht.
_Autor_
Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.
Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.
Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida.
|Gebunden: 495 Seiten
Originaltitel: The Scarecrow (New York; Little, Brown and Company 2009/London; Orion 2009)
Übersetzung: Sepp Leeb
ISBN-13: 978-3-453-26645-2|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
[www.michaelconnelly.com]http://www.michaelconnelly.com
_Michael Connelly auf Buchwurm.info (in Veröffentlichungsreihenfolge):_
|Harry Bosch:|
[„Schwarzes Echo“ 958
[„Schwarzes Eis“ 2572
[„Die Frau im Beton“ 3950
[„Das Comeback“ 2637
[„Schwarze Engel“ 1192
[„Dunkler als die Nacht“ 4086
[„Kein Engel so rein“ 334
[„Die Rückkehr des Poeten“ 1703
[„Vergessene Stimmen“ 2897
[„Kalter Tod“ 5282 (Buchausgabe)
[„Kalter Tod“ 5362 (Hörbuch)
[„Das zweite Herz“ 5290
[„Der Poet“ 2642
[„Im Schatten des Mondes“ 1448
[„Unbekannt verzogen“ 803
[„Der Mandant“ 4068
[„L.A. Crime Report“ 4418
[„So wahr uns Gott helfe“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6291
Hogan, Chuck – Kopfgeld
_Das geschieht:_
Nachdem er sich im Irak-Krieg bewährt hat, ist Neal Maven, ehemaliges Mitglied der Special Forces, in seine Heimatstadt Boston zurückgekehrt. Ohne Drill und Disziplin hat er den Halt verloren und schlägt sich als Parkplatzwächter durch. Als er dabei eines Nachts von Räubern überfallen wird, setzen die antrainierten Reflexe sich durch: Maven bringt die Ganoven beinahe um.
Der Geschäftsmann Brad Royce beobachtet dies mit Wohlgefallen. Er ist ebenfalls ein Veteran, der es jedoch zu viel Geld gebracht hat. Statt es sich gut gehen zu lassen, ist Royce auf einer neuen Mission im eigenen Land: Seit ein guter Freund den Drogentod starb, hat er der Mafia von Boston buchstäblich den Krieg erklärt. Mit den Elitesoldaten Suarez, Glade, Termino und nun auch Maven überfällt er Großdealer beim Drogenkauf, nimmt ihnen das Geld ab, vernichtet das Rauschgift und lässt die düpierten Opfer von der Polizei auflesen.
Den örtlichen Mafiabossen Broadhouse, Lockerty und Crassion reißt rasch der Geduldsfaden. Sie loben ein gewaltiges Kopfgeld auf die unliebsamen Konkurrenten aus. Die übelsten Killer machen sich auf den Weg nach Boston. Gleichzeitig nimmt Marcus Lash die Verfolgung der Vigilanten auf. Der erfolgreiche Drogenfahnder verfügt über einen ausgezeichneten Spürsinn und gute Unterwelt-Verbindungen, die ihn bald auf die richtige Spur bringen.
Dies gilt auch für die Kopfgeldjäger, sodass Royce und seine Gruppe zwischen Hammer und Amboss geraten. In Boston bricht ein brutaler Straßenkrieg aus, in dem sich die gut ausgebildeten und bewaffneten Ex-Soldaten trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit zunächst mörderisch gut halten, bis Verrat ins wilde Spiel kommt. Wo unbedingter Zusammenhalt erforderlich wäre, bricht zusätzlich heftiger Streit aus, der das Schicksal der Gruppe zu besiegeln droht …
|Dürfen gute Jungs verbotene Dinge tun?|
Schon diese Frage ist eine Provokation. Sie markiert außerdem den Pfad, den Chuck Hogan mit seinem Roman „Kopfgeld“ einschlagen wird. Der simplen Story kann es nur helfen, wenn ihr Verfasser ein wenig wider den Stachel löckt. Selbstjustiz ist vor allem dort, wo sie quasi im Gesetz verankert ist, ein heißes und heikles Thema: In den USA dürfen |bounty hunter| kautionspflichtige Personen jagen, die nicht zum angesetzten Gerichtstermin erscheinen, sondern die Flucht ergreifen. Vigilantentum ist demgegenüber zwar verboten, aber die Trennlinie ist schmal, wie eine lange US-Geschichte entsprechender Lynch-Gewalttaten dokumentiert.
Die Frage bleibt: Kann es gelingen, dem Teufel den Beelzebub auszutreiben? In den Augen vieler Zeitgenossen ist das Gesetz selbst sein ärgster Feind. Während Gauner tun und lassen können, was ihnen einfällt, müssen sich Polizisten oder Staatsanwälte an eng gefasste Vorschriften halten, deren Missachtung den schon gefassten und vor Gericht gestellten Schurken erneut Schlupflöcher öffnen. Der Gedanke liegt nahe, den Strolchen Saubermänner hinterherzuschicken, die dem System gleichfalls nicht verpflichtet sind.
Realiter ist dies nicht grundlos verboten, denn noch immer ging jeder Schuss in diese Richtung nach hinten los. Auch Hogan drückt sich nicht gänzlich um den grundsätzlichen Haken des Vigilantentums: Gut und Böse, Gangsterjäger und Gangster beginnen, sich im Denken und Handeln rasch anzugleichen. Im Dienst der scheinbar guten Sache schlagen die Jäger nicht selten härter zu als ihr Wild.
|Die Spannung der Jagd|
Nichtsdestotrotz bleiben solche Gedankenspiele für Hogan bloß Vorwand. Sein Ziel ist die reine, schnelle Unterhaltung. Die Story beginnt als Zweifrontenkrieg zwischen den Vigilanten und der Mafia, der durch die Einmischung der Polizei und internen Verrat kompliziert wird: Die Gaunerjäger geraten zwischen die Fronten und drohen aufgerieben zu werden.
Damit hat Hogan den gewünschten Punkt erreicht. Er kann die (ohnehin eher pflichtschuldig aufgetischten) Vorgeschichten seiner Figuren vergessen und auf Action-Routine umschalten. Die muss nicht realistisch, sondern nur spannend sein. Anleihen an einschlägige Filme werden gern genommen; sie setzen das Kino im Kopf des Lesers in Gang und ersparen dem Verfasser die Mühe detaillierter Darstellungen.
Die investiert Hogan lieber in die Beschreibung schwerer Waffen, dicker Autos und geschmackfrei eingerichteter Protz-Wohnungen. Die Konvention fordert, dass dieses teure Spielzeug betont lässig behandelt oder im Gefecht zerschroten wird. Grundsätzlich könnten unsere Vigilanten auch in Höhlen hausen und auf Pferden reiten – ein Bild, das den Ursprung dieser Geschichte erfasst, die eindeutig im Wilden Westen wurzelt.
|Harte Jungs für einen harten Job|
Freilich haben die Zeiten sich geändert. Während ein Mann einst angeblich wusste, was ein Mann zu tun hat, kommt ihm nun – s. o. – das System mit seinen Regeln in die Quere. Die nackte Lust zur Ausrottung des Bösen reicht als Begründung nicht mehr. Dieser Entwicklung verdanken wir die lange aber nicht kurzweilige Einleitung zu „Kopfgeld“. Zumindest Royce, der Anführer, und Maven, der Gefolgsmann, müssen Zeugnis ablegen. Wie können aus rechtschaffenen Männern Vigilanten werden?
Erneut hält sich Hogan an einschlägige Klischees und drückt zusätzlich auf die Tränendrüse. Will man ihm Glauben schenken, wimmelt es in den USA von guten Soldaten, die in diversen Schurkenstaaten ihre Köpfe bzw. andere Gliedmaßen hingehalten haben, während daheim Drückeberger, Karrieristen und Gangsterbosse das Ruder übernahmen. Statt die Krieger in der Heimat mit offenen Armen willkommen zu heißen, drückt sie das System schnöde beiseite. Diese simple und nicht nur latent verzerrte Sicht vertritt vor allem Brad Royce, den Hogan gern als charismatischen Anführer charakterisiert sähe. Tatsächlich ist Royce ein Schwätzer, der die Köpfe seiner ratlosen Gefolgsleute sowie viele Buchseiten mit Phrasen füllt, die der Leser lieber überspringt, um sich das Vergnügen an den deutlich besser gelungenen Action-Passagen zu erhalten.
|Holterdipolter plus eine schöne Frau|
Selbstverständlich mischt in „Kopfgeld“ eine schöne Frau mit. Hogan versucht sich an der Schilderung einer „femme fatale“, die klassisch die Männer in ihren Bann zieht und schließlich in den Untergang stürzt. Danielle entspricht den Klischee-Vorgaben so punktgenau, dass der Leser sie keinen Augenblick ernst nehmen kann. Stets trägt sie feinste Designer-Kleidung, dünstet Sex förmlich aus und scheint über dem Boden zu schweben. Ausgerechnet sie, die Gefährtin des Chefs, ist nicht nur untreu, sondern auch noch rauschgiftsüchtig. Diese Kombination soll Gefühlstiefe symbolisieren. Tatsächlich wirkt sie abgeschmackt. Wie Tragik ohne Gefühlsduseligkeit aussieht, belegt deutlich gelungener Lee Child mit seinen Romanen der thematisch ähnlichen „Reacher“-Serie.
Ein Routinier wie Chuck Hogan rührt aus den genannten Ingredienzen dennoch einen unterhaltsamen Thriller an. Er leugnet die Klischees gar nicht, sondern zelebriert sie förmlich. Außerdem tritt er stetig aufs Handlungsgas, während sich das Thema Selbstjustiz in den Hintergrund verabschiedet und vom bewährten Trio Verrat, Rache & körperliche Gewalt ersetzt wird. 450 Seiten verstreichen auf diese Weise wie im Fluge. Die dabei entstandene heiße Luft entspricht der Erinnerung an das Romangeschehen. Es entströmt dem Gedächtnis des Lesers mit Höchstgeschwindigkeit und macht Platz für die nächste Story, die so „clever, schnell und stilsicher“ ist wie „Kopfgeld“ – so urteilt (hoffentlich gut bezahlt bzw. angeblich) jedenfalls Jeffery Deaver auf dem Frontcover.
_Autor_
Charles „Chuck“ Hogan wurde 1968 in Boston, US-Staat Massachusetts, geboren. Dort wuchs er auf, besuchte die High School sowie das Boston College. Auch heute lebt und arbeitet Hogan in seiner Heimatstadt.
Als Schriftsteller veröffentlicht Hogan seit 1995. Bereits sein Debüt „The Standoff“ (dt. „Das Hornissennest“) war ein Thriller, der mit hohem Tempo und schnellen Szenenwechseln Hogans Markenzeichen etablierte. Figurenzeichnung und Charaktertiefe zeigen demgegenüber des Verfassers Hang zum Klischee.
Die Mainstream-Nähe bescherte Hogan nicht nur Verkaufserfolge, sondern machte sein Werk auch tauglich für Hollywood. „Prince of Thieves“ (dt. „Endspiel“) wurde 2010 von und mit Ben Affleck unter dem Titel „The Town – Stadt ohne Gnade“ verfilmt. Die Romanvorlage war 2005 mit einem „North American Hammett Prize“ ausgezeichnet worden.
Ab 2009 verfasste Hogan zusammen mit dem Regisseur Guillermo del Toro (und wohl als federführender Autor) die „Strain“-Trilogie um einen blutigen Krieg zwischen Menschen und Vampiren.
|Taschenbuch: 447 Seiten
Originaltitel: Devils in Exile (New York : Scribner, a division of Simon & Schuster, Inc. 2010)
Übersetzung: Thomas Piltz
ISBN-13: 978-3-453-43539-1|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne
_Chuck Hogan bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Saat“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5905
[„Das Blut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6691
[„Das Blut“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7034
Shanty, Frank [Hg.] – Mafia. Die Geschichte der organisierten Kriminalität
_Sie kamen nie aus dem Nichts_
Dem |“sizilianischen Gelehrten“| Umberto Santino gelang die nach Auskunft der Verfasser |“allgemein anerkannte Definition“| des Begriffes „Mafia“, die er als |“eine Gruppe von kriminellen Vereinigungen …“| beschrieb, |“deren Zweck darin besteht, mittels Gewalt und illegaler Aktivitäten Vermögen anzuhäufen und Machtstellungen einzunehmen. Sie agiert über ein umfassendes Netzwerk, folgt einem kulturellen Code und genießt in gewissem Maße sozialen Konsens.“| (S. 17)
Damit ist jene Verwirrung aufgelöst, die der Buchtitel ausgelöst haben könnte: „Mafia“ bezeichnet eben nicht nur ein italienisches bzw. sizilianisches Phänomen. Mafiöse Vereinigungen existieren und existierten überall auf der Welt. Im Kapitel „Ursprünge“ (S. 12-31) zeichnen die Autoren die Entstehungsgeschichten der wichtigsten Organisationen (sizilianische Mafia, amerikanische Mafia, japanische Yakuza, chinesische Triaden, russische Mafia) nach. Diese reichen nicht selten viele Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, was einleuchtend mit dem spezifischen, quasi alterslosen Organisationsaspekt derartiger Mafias erklärt wird: Hier schließen sich keine ’normalen‘ Verbrecher außerhalb des Systems zusammen. Stattdessen suchen Mafias ausdrücklich die Nähe von Politik und Wirtschaft, dienen sich deren hochrangigen Vertretern an, schaffen Verbindungen, die sich nicht aufkündigen lassen, und verwischen die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität. Die Zeche zahlen stets diejenigen, die einerseits Steuern und andererseits Schutzgelder entrichten müssen.
_Aufstieg der Schattenmächte_
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert förderten historische Entwicklungen die endgültige Etablierung der Mafia („Aufbruch ins 20. Jahrhundert“, S. 32-107). Wo das organisierte Verbrechen womöglich in seinen Keimen noch hätte erstickt werden können, blühte es auf, weil sich korrupte und skrupellose aber legale Gruppen seiner bedienten bzw. zu bedienen glaubten, um Bauern, streikende Arbeiter oder politische Gegner gewaltsam in Schach zu halten.
Die in Millionenzahl nach Nordamerika auswandernden Italiener, Chinesen oder Russen nahmen ‚ihre‘ Mafias mit in die neue Heimat. Dort fassten sie umgehend Fuß und breiteten sich unaufhaltsam aus. In den USA wurde die Prohibition zum Geschenk an die Mafia. Sie verdiente mit dem Verkauf illegalen Alkohols ungeheure Summen, die der Finanzierung weiterer ‚Geschäftszweige‘ wie Glücksspiel oder Drogenhandel dienten. Konkurrenzkämpfe wurden mit Waffengewalt entschieden.
Der Kampf gegen die Mafia verlief nur dort erfolgreich, wo sich der Staat der Methoden des Gegners bediente. In den 1920er Jahren ging der italienische Diktator Mussolini rücksichtslos gegen die sizilianische Mafia vor; ein fragwürdiges und nutzloses Unterfangen, denn im Zweiten Weltkrieg rekrutierten die alliierten Invasoren im Kampf gegen die nazideutschen Besatzer moralfrei ortskundige Mafiosi, die dafür mit Straffreiheit honoriert wurden.
_Das organisierte Verbrechen wird global_
„Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert“ (S. 108-199) durchliefen die Mafias der Welt verschiedene Metamorphosen, ohne sich im Wesenskern zu ändern. Sie übernahmen gewisse Methoden der ‚legalen‘ Konkurrenz und nutzten vor allem die Möglichkeiten der Globalisierung. So profitierte die Russenmafia vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Ihre Vertreter stießen ins entstehende Vakuum vor, zogen die Inhaber höchster politischer Ämter auf ihre Seite (oder schalteten sie aus) und entwickelten sich zur „kriminellen Supermacht“.
Ähnlich dicht verzahnten sich das chinesische und das japanische Establishment in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen mit den Triaden und der Yakuza. Die 1960er und 70er Jahre ließen den Drogenhandel auf ein nie gekanntes Niveau steigen. Zu den traditionellen Anbau- und Erntegebieten in Asien („Goldenes Dreieck“) kamen die Drogenimperien mittel- und südamerikanischer Kartelle, die zum Teil der Staatsmacht ganz offen Paroli bieten konnten.
_Tradition und Neuerfindung_
„Das neue Jahrtausend“ (S. 200-287) zeigt die globalen Mafias in geschickter Anpassung an die Möglichkeiten, die ihnen das Informationszeitalter bietet. Computerkriminalität bietet einerseits die Chance des ‚digitalen‘ Geldraubs, während die Beute andererseits ‚gewaschen‘ und reinvestiert werden kann, ohne dass Verbrecher gewaltsam Hand anlegen müssten. Da die technischen Möglichkeiten auch der Gegenseite zur Verfügung stehen, musste das organisierte Verbringen allerdings Schlappen hinnehmen. Vor allem die modernen Hightech-Methoden der Überwachung sorgten für spektakuläre Polizei-Erfolge.
Dennoch bleiben entsprechende Ermittlungen ein ewiger Wettlauf, denn die gut finanzierten Mafias rüsten nach. Die internationale Vernetzung gestattet die Zusammenarbeit räumlich und kulturell weit voneinander entfernter Organisationen. Seltsame Bettgesellen schließen sich heute zusammen, um mit Menschen zu handeln, moderne Piraterie zu betreiben oder mit Terroristen zu kooperieren. Interne Querelen werden weiterhin mit Gewalt geklärt, dennoch funktionieren die globalen Bündnisse des Verbrechens, das sich immer wieder neu definiert.
|Eine deprimierende Bestandsaufnahme|
352 Seiten im Format 24 x 30 cm ergeben ein Buch, das dem Leser nicht nur als Bettlektüre schwer im Magen liegt bzw. auf den Bauch drückt, weil es stolze 2,2 kg wiegt. Was ein Kollektiv aus neun Autoren hier an Informationen zusammengetragen hat, zeigt unterm Strich unsere Welt im Würgegriff eines organisierten Verbrechens, das keine einzige Möglichkeit der illegalen Vermögensschaffung unberücksichtigt lässt und dabei eine Findigkeit an den Tag legt, die einer besseren Sache würdig wäre!
Doch die Quellen sind trotz ihrer Vielzahl eindeutig. Obwohl die Mafias sich über den gesamten Globus verteilen, besitzen sie gemeinsame Ursprünge – nicht geografisch oder kulturell, sondern in Entstehung und Entwicklung. Die Pessimisten unter den Lesern wird es kaum überraschend, dass sich das organisierte Verbrechen im Windschatten von Macht- und Geldgier stets prächtig entfalten konnte. Grundsätzlich haben die Reichen & Mächtigen dieser Erde ihre dunklen Spiegelbilder selbst erschaffen.
Sie schufen ihnen ein inzwischen globales Biotop, in dem die Mafias so tief und dicht verwurzelt sind, dass sie nicht mehr auszurotten sind, zumal einst wie jetzt immer genug Institutionen und Individuen bereit sind, sich mit der „ehrenhaften Gesellschaft“ in ihrer Umgebung einzulassen.
|Dickes Buch mit dünnem Faden|
„Mafia“ verspricht seinen Lesern „Die Geschichte der organisierten Kriminalität“. Mit solchen pompösen Titeln sollte man generell vorsichtig sein. In diesem Fall ist das Projekt bereits im Ansatz gescheitert: Obwohl über 300 Seiten stark und mit über 500 Fotos illustriert, bietet dieses Buch in seiner ganzen Opulenz nur ein Überblick, der kaum die Oberfläche des gewählten Themas ankratzt.
Damit könnte man aufgrund des komplexen Themas leben, würde die Darstellung der behaupteten historischen und geografischen Gliederung folgen und dadurch nachvollziehbar bleiben. Stattdessen werden die Beiträge der Verfasser denkbar schlecht miteinander abgestimmt, während die Autoren zu allem Überfluss örtlich wie zeitlich wild umherspringen.
Je weiter wir uns der Gegenwart nähern, desto unruhiger geht es zu. Immer wieder werden abgehakt gewähnte Themen erneut aufgegriffen, verlieren die Verfasser sich in Details und Anekdoten, wo sie dem Gesamtbild mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Prominente Gangster wie Al Capone oder „Lucky“ Luciano wollen anscheinend nicht sterben und tauchen immer wieder in Kapiteln auf, in denen sie nichts mehr verloren haben, wenn man den Kapitelüberschriften Glauben schenken möchte.
|Durcheinander als Programm?|
Fragen wirft auch die Auswahl der Abbildungen auf. Seit es die Fotografie gibt, werden Verbrechen und Verbrecher ausgiebig in Bildern festgehalten, an denen es folglich keinen Mangel gibt. Dennoch stehen in diesem Buch neben seltenen zeitgenössischen Fotos immer wieder völlig beliebige Bilder, die beispielsweise eine alltägliche und im Themenzusammenhang nichtssagende Straßenszene aus New Yorks Chinatown zeigen.
Nachdem die Darstellung auf der Seite 287 recht überstürzt zu ihrem Ende kommt, folgt das Kapitel „Ein Jahrhundert Mafia und organisierte Kriminalität“. Es zeigt in grober chronologischer Ordnung aber inhaltlich willkürlich Fotografien von Kriminellen und Kriminologen, die wir im Hauptteil längst kennengelernt haben. Wieso werden die Bilder also nicht dort gezeigt? Hier wirken sie wie eine Beigabe: Eigentlich haben wir keine Verwendung mehr für sie, aber es wäre schade, diese Fotos nicht zu zeigen. Doch einer bebilderten Geschichte des organisierten Verbrechens eine Chronologie desselben in Bildern anschließen, ist nicht wirklich sinnvoll.
Insgesamt enttäuscht „Mafia“ deshalb trotz des unzweifelhaft hohen Informationsgehalts. Der Aufwand der Darstellung spiegelt sich in der Vermittlung der Fakten nicht wider und ist deshalb vergeblich. Das ehrgeizige Werk bleibt ein gruseliges Bilderbuch. Angesichts des Preises wird sich der Leser damit vermutlich nicht zufriedengeben.
|Gebunden: 352 Seiten
Originaltitel: Mafia. The Necessary Reference to Organized Crime (Elanora Heights/New South Wales : Millennium House 2009)
Übersetzung: Ursula Fethke
ISBN-13: 978-3-8331-5637-3|
[www.ullmann-publishing.com]http://www.ullmann-publishing.com
Boothby, Guy Newell – Experiment des Doctor Nikola, Das
_Die |Doctor Nikola|-Reihe:_
(1895) [„Die Rache des Doctor Nikola“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6319 (|“A Bid for Fortune, or: Dr. Nikola’s Vendetta“| / |“Enter Dr. Nikola!“|)
(1896) [„Die Expedition des Doctor Nikola“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6746 (|“Dr. Nikola“|)
(1898) |“The Lust of Hate“|
(1899) _“Das Experiment des Doctor Nikola“_ (|“Dr. Nikola’s Experiment“|)
(1901) „Der Palazzo des Doctor Nikola“ (|“Farewell, Nikola“|)
_Das geschieht:_
Das Leben meint es nicht gut mit Dr. Douglas Ingleby. Ohne Job und Einkommen nagt er buchstäblich am Hungertuch, als ihn ein alter und erfolgreicher Freund nicht nur in sein Haus einlädt, sondern dem genialen Wissenschaftler Dr. Nikolai vorstellt, der just auf der Suche nach einem abenteuerlustigen Assistenten ist.
Rasch wird man sich einig, und schon ist Ingleby auf dem Weg in die englische Grafschaft Northumberland. Dort hat Nikolai Allerdyne Castle, ein einsam am Meeresstrand gelegenes Schloss, für ein großes Experiment erworben: Nach jahrelangen Bemühungen ist er sicher, das Geheimnis des ewigen Lebens gelüftet zu haben!
Bis es soweit ist, muss freilich noch einige Forschungsarbeit geleistet werden. Nikolai gedenkt keinesfalls, sich den damit verbundenen Risiken auszusetzen. Er hat sich ein menschliches Versuchskaninchen gesucht: Don Miguel de Moreno ist im Alter von 98 Jahren dem Tod deutlich näher als dem Leben. Begleitet von der blutjungen Consuelo, seiner Urenkelin, und zukünftig ärztlich betreut von Dr. Ingleby, zieht er deshalb in Allerdyne Castle ein, wo Nikola ihn ‚behandeln‘ wird.
Doch Nikola hat sich auf seiner weltweiten Jagd nach der Unsterblichkeitsformel zahlreiche Feinde gemacht. Zuletzt brachte er eine chinesische Geheimorganisation gegen sich auf, die ihm auch in England nach dem Leben trachtet. Der einohrige Mordbube Quong Ma umschleicht das Schloss, in dem die Natur sich nicht wehrlos von Nikola ins Handwerk pfuschen lässt. Während Consuelo machtlos die Hände ringt, macht sich Ingleby, der sich längst in die spanische Schönheit verliebt hat, für Recht & Ordnung stark …
|Keine Furcht vor Geistern oder Klischees|
Ein uraltes, baufälliges, mit Keller-Kerkern ausgestattetes und von Geheimgängen durchzogenes Schloss auf einer sturmumtosten Meeresklippe, darin ein mysteriös und bedrohlich ausgestattetes ‚Labor‘, das eher einer Alchimistenstube gleicht, sowie eine abgelegene Kammer, in der die gruseligen Überlebenden nur bedingt gelungener Experimente ihr Dasein fristen: Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass sich Guy Newell Boothby vor dem Klischee fürchtet. Schon als er vor einem Jahrhundert „Das Experiment des Doctor Nikola“ schrieb, war dessen ‚gotisches‘ Ambiente keine frische Schöpfung mehr. Auch die übrigen Zutaten dieses dritten „Nikola“-Abenteuers sind gut abgehangen aber schmackhaft bzw. bewährt. Mordgierige Asiaten waren dem viktorianischen Publikum wohlvertraut; dass sie dieses Mal in England selbst ihr Unwesen treiben, sorgt für zusätzliche Angstschauer.
Da Nikola der Rolle des genialen Übermenschen treu bleiben muss, führt Boothby zwei ‚Normalsterbliche‘ als Identifikationsfiguren ein. Schon die erste Begegnung zwischen Ingleby und Consuelo lässt den erfahrenen Leser seufzen: Eine Liebesgeschichte ist vorprogrammiert. In der Tat verzichtet Boothby keinesfalls auf dieses nicht nur zu seiner Zeit probate und angeblich unverzichtbare Element eines Romans, der ein möglichst breites Publikum finden sollte. Der Verfasser griff auf dabei auf jene Balzrituale und Liebesschwüre zurück, mit denen sich die entsprechenden Sequenzen offensichtlich automatisch schrieben – auf den Leser des 21. Jahrhunderts wirken sie jedenfalls recht mechanisch.
|Ein Bösewicht wird reaktiviert|
Mit dem brillanten aber skrupellosen bis diabolischen Dr. Nikola war dem Vielschreiber Boothby 1895 eine attraktive und publikumswirksame Figur gelungen. Der Autor schmiedete dieses Eisen, so lang es heiß war, und ließ dem ersten Abenteuer mehrere Fortsetzungen folgen. „Das Experiment des Doctor Nikola“ ist dabei deutlich kürzer geraten als der erste und zweite Roman. Der stets von Terminen gehetzte Boothby wollte einerseits vom Erfolg der Nikola-Reihe profitieren, während ihm andererseits keine wirklich originelle Story einfiel, was für ihn nie ein Grund war, die Feder ruhen zu lassen.
In der Tat fällt nach dem in China und Tibet spielenden zweiten Teil mit seinen ausführlichen, farbenfrohen Schilderungen geheimnisvoller Orte die Beschränkung auf ein Schloss im wenig exotischen England auf. Obwohl Boothby sich Mühe gibt, wirkt Allerdyne Castle nur auf die chronisch gefühlsschwache Consuelo unheimlich. Ohnehin erreicht die Handlung diesen Ort vergleichsweise spät. Wie üblich vertändelt Boothby viel Zeit mit einer allzu breit angelegten Einleitung. Diese Verzögerung muss er später aufholen. Mit ausdrücklicher Ausnahme der Liebesgeschichte gelingt ihm dies: „Das Experiment …“ profitiert von der relativen Kürze der Story.
|Ein Schurke verändert sich|
Dr. Nikola ist ein Mann mit vielen Facetten. Ein „Schurke“ ist er jedoch nur bedingt. Schon in „Die Expedition …“ erwies er sich als Kamerad, der seinen Gefährten zwar in die Höhle des Löwen führte, dort und im Verlauf der späteren Flucht aber treu an seiner Seite stand. Wenn Nikola ein Schurke ist, so bezieht sich dies auf die Bedingungslosigkeit, mit welcher er seine Ziele verfolgt. Nikola ist ein besessener Forscher, der wie sein Vorgänger Frankenstein an den Grundfesten des Lebens selbst rührt. Macht und Geld sind ihm dabei nur notwendige Instrumente.
Auch seine ‚Assistenten‘ fallen in diese Kategorie. Dies wird deutlich, als Nikola in „Das Experiment …“ ein einziges Mal die Maske fallen lässt: Ingleby hat durch ein Versehen beinahe den Tod des alten Don Miguel verschuldet. Nikola verliert die Fassung und droht: |“Sie haben das ganze Experiment gefährdet, und wenn der alte Mann gestorben wäre, … dann hätten Sie, so wahr ich lebe, die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Ich schwöre Ihnen, ich hätte Sie getötet, ohne irgendwelche Gewissensbisse, wie einen Hund, der mich gebissen hat.“| (S. 92) Boothby macht hier deutlich, dass und wieso Nikola ein gefährlicher Mann ist.
Ansonsten beschränkt er sich auf die Schilderung von Nikolas Taten, ohne diese zu werten. Es bleibt dem Leser überlassen zu fragen, wie es um die Moral eines Mannes bestellt ist, der raubt und wohl auch mordet, um an begehrtes Wissen zu kommen. Das Mittel zur Lebensverlängerung probiert er an einem Menschen aus, den niemand außer der Urenkelin vermissen wird, weshalb Nikola sie einfach mit in sein Schloss nimmt und damit mundtot macht.
Allerdings verändert der unerwartete Ausgang seines Experimentes Nikola. Sein ganzes Leben hatte er darauf ausgerichtet. Nun muss er sich ein neues Ziel setzen. Boothby bereitet geschickt die Fortsetzung der „Nikola“-Saga vor: Der Mann, der bisher alles unter Kontrolle hatte, ist aus dem Gleichgewicht geraten. Dies werden seine Feinde erkennen und ausnutzen.
|Alles bleibt gut|
Ob sie erfolgreich waren, erfuhren Boothbys englische Leser bereits 1901. Das deutsche Publikum musste sich 99 Jahre gedulden. Nachdem „Die Expedition des Doctor Nikola“ 1912 erschienen war, wurde die Reihe nicht mehr fortgesetzt bzw. übersetzt. Erst 2011 ging es im Rahmen der „Doctor Nikola“-Edition des Wurdack-Verlags weiter, die – da offensichtlich erfolgreich – ihrer Vollendung entgegengeht: Dieses Mal werden wir auch hierzulande Nikolas Schicksal kennenlernen.
Wie üblich und vom Leser erfreut registriert, liest sich „Das Experiment …“ trotz der geschickt berücksichtigten Anachronismen sehr flüssig. Das Denken und Handeln unserer Vorfahren wird im Roman zusätzlich dramatisiert, doch was einst fesselte, wirkt heute oft langweilig oder sogar peinlich. Diese Hürde muss der Leser nicht fürchten. Stattdessen geht es mit Schwung in die Zielgerade. Im „Palazzo des Doctor Nikola“ werden wir uns wiedertreffen!
|Bonustrack: Unsterbliche Liebe|
Weil dieses dritte „Nikola“-Abenteuer ein wenig kurz geraten ist, hängt der deutsche Herausgeber eine (ebenfalls erstmalig in Deutschland veröffentlichte) Kurzgeschichte (S. 139-157) an. G. N. Boothby schrieb „Eine Geschichte von Ägypten“ („A Professor of Egyptology“) 1904. Er erzählt von der jungen Erbin Cecilia Westmoreland. Sie wird im Verlauf einer Ägyptenreise damit konfrontiert, die Wiedergeburt einer Prinzessin zu sein, welche zur Zeit der Pharaonen einen tragischen Tod starb.
Der Handlungsverlauf birgt für den heutigen Leser keine Überraschungen. Sie ist vor allem Beleg für jene historische Epoche, die ein ‚gebildetes‘ Europa im Bann des alten Ägyptens zeigt. Bis in die 1930er Jahre sorgten Ausgrabungen für spektakuläre und die Fantasie anregende Funde. Schriftsteller sprangen auf diesen Zug auf und schrieben spannende, die Forschungsergebnisse notfalls ignorierende Geschichten über mächtige Pharaonen, schöne Prinzessinnen und rächende Mumien. Reinkarnation bildete eine beliebte Brücke in die ausgeschmückte Vergangenheit. Auch Boothby beschreitet sie, doch wesentlich interessanter ist seine ausführliche Einleitung geraten, die mit deutlichem Spott aber trügerisch elegant das hohle gesellschaftliche Treiben der britischen Oberschicht in Kairo um 1900 schildert: Boothby war sicherlich ein Vielschreiber, aber sein Handwerk beherrschte er!
_Autor_
Am 13. Oktober 1867 wurde Guy Newell Boothby im australischen Glen Osmond, einer Vorstadt von Adelaide, geboren. Die Boothbys gehörten zur Oberschicht, Guys Vater saß im Parlament von Südaustralien. Der Sohn besuchte von 1874 bis 1883 die Schule im englischen Salisbury, dem Geburtsort seiner Mutter.
Nach Australien zurückgekehrt, versuchte sich Boothby als Theaterautor. Sein Geld verdiente er allerdings als Sekretär des Bürgermeisters von Adelaide. Beide Tätigkeiten wurden nicht von Erfolg gekrönt. Boothbys Lehr- und Wanderjahre führten ihn 1891/92 kreuz und quer durch Australien sowie den südasiatischen Inselraum. Sein 1894 veröffentlichter Reisebericht wurde zum Start einer außergewöhnlichen Schriftstellerkarriere.
1895 siedelte Boothby nach England um, heiratete und gründete eine Familie. Er schrieb nun Romane, wobei er sämtliche Genres der Unterhaltungsliteratur bediente und lieferte, was ein möglichst breites Publikum wünschte. Boothby war ein findiger und fleißiger Autor, der überaus ökonomisch arbeitete, indem er seine Worte nicht niederschrieb, sondern in einen Phonographen diktierte und die so besprochenen Wachswalzen von einer Sekretärin in Reinschrift bringen ließ. Jährlich konnten auf diese Weise durchschnittlich fünf Titel erscheinen. Boothbys Einkünfte ermöglichten ihm den Kauf eines Herrenhauses an der Südküste Englands, in dem er mit seiner Familie lebte, bis er am 26. Februar 1905 im Alter von nur 37 Jahren an einer Lungenentzündung starb.
|“The Lust of Hate“| wird keine Neuauflage erfahren; Dr. Nikola tritt nur als ‚Gaststar‘ in einer Geschichte auf, die ansonsten mit ’seiner‘ Serie nichts zu tun hat.
|Paperback mit Klappenbroschur: 157 Seiten
Originaltitel: Dr. Nikola’s Experiment (London : Ward, Lock & Co. 1899)
Übersetzung: Michael Böhnhardt
Cover: Ernst Wurdack
ISBN-13: 978-3-938065-73-0|
[doctornikola.blogspot.com]http://doctornikola.blogspot.com
[www.wurdackverlag.de]http://www.wurdackverlag.de
_Guy N. Boothby bei |Buchwurm.info|:_
[„Pharos der Ägypter“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=297
















