Alle Beiträge von Michael Drewniok

Landay, William – Strangler

_Das geschieht:_

Boston im US-Staat Massachusetts gilt im Jahre 1962 als Großstadt im Aufbruch. Ganze Stadtviertel fallen einer visionsreichen Stadtplanung zum Opfer. In das „Neue Boston“ wird massiv investiert. Großzügig fließen öffentliche Gelder in aufwändige Bauprojekte. Wer Kritik äußert, gilt als Feind des Fortschritts. Dabei gibt es gute Gründe zur Skepsis. Schiebung und Korruption sind allgegenwärtig. Nicht nur hohe Politiker und örtliche Unternehmer füllen sich die Taschen. Auch die Mafia sahnt kräftig ab. Die Polizei ist in diese Machenschaften verwickelt. Mitmachen oder wegschauen, lautet die Devise.

Joe Daley ist eigentlich ein guter Cop. Schon sein Vater war Polizist, bis ihn im Vorjahr eine Kugel traf. Sein Tod stellt die Familie vor eine Zerreißprobe. Ohne die strenge Hand des Vaters ist Joe dem Glücksspiel verfallen. Seine Wettschulden sind so hoch, dass er sich von Vinnie „The Animal“ Gargano, der rechten Hand des Mafia-Paten Carlo Gapobianco, rekrutieren lassen muss, für den er säumige Schutzgeldzahler zusammenschlägt. Joes Bruder Ricky ist ein professioneller Einbrecher, der sich beim letzten Coup dummerweise an Diamanten vergriffen hat, deren Eigentümer unter dem Schutz der Mafia steht. Nun sitzt Gargano auch Ricky im Nacken. Michael, der dritte Bruder, stand im Dienst der städtischen Enteignungskommission, die Mieter und Ladenbesitzer aus ihren Wohnungen und Läden klagt, bevor er die Leitung der „Taktischen Einsatzgruppe“ übernahm, die nach dem „Würger von Boston“ fahndet, der in anderthalb Jahren 13 Frauen ermordet hat.

In die Rolle des Würgers schlüpft Albert DeSalvo, nach Michaels Auffassung ein psychisch instabiler Wichtigtuer. Amy, Rickys Freundin und eine engagierte Journalistin, teilt seine Meinung. Kurz darauf wird sie ermordet: Ihr Ende entspricht bis ins Detail dem Modus Operandi des Würgers, obwohl DeSalvo hinter Gittern sitzt. Polizei und Staatsanwaltschaft ignorieren diese Tatsache. Michael beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Joe und Ricky unterstützen ihn, denn Amy war offenbar einer Verschwörung auf die Spur gekommen: Die Profiteure des „Neuen Boston“ gehen über Leichen. Nun werden sie aufmerksam. Die Mafia wird aktiv. Mit den Rücken zur Wand nehmen die Daley-Brüder einen Kampf auf, in dem sie völlig chancenlos zu sein scheinen …

_Eine Stadt im Würgegriff_

„The Strangler“ lautet der klug gewählte, weil einerseits nur bedingt korrekte, aber andererseits den eigentlichen Kern der Sache treffende Titel dieses ehrgeizigen Romans. Eine Mischung aus Historienkrimi und Thriller hat Autor William Landay konzipiert und dabei zumeist großartige Arbeit mit einer Geschichte geleistet, die in der Vergangenheit spielt, während ihr Inhalt zeitlos ist.

Korruption, Gier, Verbrechen, und das im ganz großen Maßstab: Kein eifriger Frauenmörder ist es, der Boston 1962 in seinem Würgegriff hält. Landay lässt ihn, der zu einer prominenten Gestalt der Kriminalgeschichte wurde, nur eine Nebenrolle spielen. Ob tatsächlich Albert DeSalvo der „Boston Strangler“ war, ist für den Verfasser nebensächlich. ‚Sein‘ Würger ist nur Mittel zum Zweck. Die eigentlichen Verbrechen finden auf einer ganz anderen Ebene statt: Kein Wunder, dass Landay seinen Roman lieber „The Year of the Strangler“ genannt hätte; der Titel wurde vom Verlag als nicht zugkräftig genug abgelehnt.

Auch die USA hatten ihre Wirtschaftswunder-Ära. Nach 1945 lief die im Weltkrieg auf Hochtouren gebrachte Wirtschaft mit voller Kraft weiter. Gewinne und Steuereinnahmen wollten investiert werden. Geld bedeutet Macht. Damit war die Schnittmenge zwischen Politik und Unternehmertum nicht nur in Boston schnell gefunden: Staatsdiener verfügen über gewaltige Geldsummen. „Zum Wohle des Volkes“ ordnen sie die Enteignung und Räumung ganzer Stadtviertel an. Skrupelfreie Geschäftemacher versprechen ihnen finanzielle Zuwendungen und Unterstützung im Wahlkampf, wenn Großaufträge, die legal ausgeschrieben gehören, an sie gehen.

Zum perfekten Funktionieren benötigt diese Maschinerie eine dritte Komponente: Nicht alle Bürger weichen der staatlichen oder städtischen Macht freiwillig. Hier kommt die Mafia ins Spiel, die mit Gewalt durchsetzt, was sich dank friedlichen Widerstandes Jahre hinziehen könnte. Wie das in der Realität aussieht, schildert Landay brutal und überzeugend in „Strangler“. Wenn er die alltägliche Korruption beschreibt, die quasi alle städtischen Bediensteten in Handlanger der einander in Gier verbundenen Schattenherren von Boston verwandelt, läuft der Verfasser zu ganz großer Form auf.

_Historie nimmt Handlung Huckepack_

„Strangler“ ist kein Tatsachen-Roman, der die böse Geschichte einer gleichermaßen moralisch verkommenen wie hilf- und ahnungslos Stadt erzählen will. In einem Nachwort erläutert Autor Landay sein Konzept. Die historische Realität dient ihm als Folie. Die Ereignisse von 1962 bilden den Hintergrund für das eigentliche Geschehen. Zwar bemüht sich Landay um eine akkurate Darstellung, ohne sich sklavisch an die Fakten zu halten. Er lässt reale Personen der Stadtgeschichte auftreten, legt ihnen jedoch seine Worte in die Münder und setzt sie so ein, wie es die Story verlangt. Das Ergebnis ist nicht authentisch, sondern hinterlässt jenen Eindruck unterhaltsamer Glaubwürdigkeit, die einen guten Historienroman auszeichnet.

Dazu kommt ein ausgefeilter Stil. Landay zeigt, dass man den Kriminalroman nicht in die Genre-Ecke drängen soll, weil eben auch seine Autoren literarisch anspruchsvoll schreiben können, ohne dass die Unterhaltung dabei auf der Strecke bleibt. „Strangler“ ist vor allem in den beschreibenden Szenen ein Genuss. Landay schreibt – in der deutschen Fassung tatkräftig und tüchtig unterstützt von seinem Übersetzer – klar und anschaulich, ohne dabei ins Schwafeln oder Predigen zu verfallen. Der Verfasser war selbst Jurist, weshalb die präzise Darstellung der Ablaufprozesse in einer US-Gerichtsbehörde besonders fesselt.

_Großes Drama benötigt Gesichter_

Landay entscheidet sich für eine Dreiteilung der Hauptfigur und platziert die Daleys an den Brennpunkten der Handlung. Joe, der Polizist, repräsentiert den korrupten Unterbau der Stadtverwaltung. Michael, der Jurist, gehört zumindest randständig der selektiv ihren Bürgern dienenden Führungsschicht an. Ricky, der Dieb, steht im Lager des Verbrechens. Damit haben alle Brüder einen guten Blick auf das jeweilige Milieu.

Mit der Charakterisierung tut sich Landay schwer. Joe lässt sich bestechen und von der Mafia instrumentalisieren, Michael von seinen Vorgesetzten manipulieren, Joe stiehlt. Geprägt von irisch-katholischen Grundsätzen (die hier eher wie Gemeinplätze wirken), sind sie trotz ihrer Fehler ‚gute Menschen‘. Landay versucht jede Schwarz-Weiß-Färbung zu vermeiden. Seine Welt ist in unterschiedlichen Grautönen gezeichnet. Nicht nur die Daleys, sondern auch die vielen anderen Figuren, die er in „Strangler“ auftreten lässt, mühen sich mit ihrem Leben ab; selbst mordlustige Mafiosi haben ihre schwachen Momente.

Für diese durchaus der Realität entsprechende Ambivalenz findet Landay manchmal nur klischeeträchtige Bilder. Beispielhaft ist ein Basketballspiel zwischen Joe, Michael und Ricky. Der Verfasser spiegelt im Spielverhalten die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Brüder. Dann ändert sich die Perspektive; im Haus hinter dem Spielfeld stehen die Mutter, die Ehefrau und die Freundin. Sie beobachten ihre Söhne, den Gatten und den Geliebten, kommentieren deren Verhalten und entschlüsseln es für diejenigen Leser, die vielleicht immer noch kapiert haben, wessen Geistes Kinder die Daley-Brüder sind. Solche Szenen familiärer Interaktion kennt man aus Kino- und vor allem Fernsehfilmen. Sie sind plakativ und stören die Illusion einer ansonsten geschlossenen und ausgewogenen Romanhandlung.

Ungemein eindimensional denken, handeln und sprechen Landays Mafiosi. Der Autor hat sich anscheinend herausgegriffen, was er bei Puzo, Coppola und Scorsese gelesen oder gesehen hat, und schmeckt es mit einer Prise Sopranos ab. Im Interview erwähnt Landay die oft und gern zitierte Anekdote, dass erst Puzo und Coppola mit „Der Pate“ der Mafia ihr bekanntes Selbstbild verschafft haben: Nachdem sie das Buch gelesen und den Film gesehen und für gut befunden hatten, begannen sie die Film-Gangster in Verhalten und Auftreten zu imitieren. Landay projiziert dies auf ’seine‘ Mafiosi aus Boston. So wirken sie denn auch: wie Laienschauspieler.

Das Ende ist – wiederum erwartungsgemäß – tragisch. Dass es nicht happy ausfallen wird, ist dem Leser schnell klar, denn ein wenig zu stark weht der traurige Wind der Verdammnis durch die Kapitel … Noch einmal lässt der Autor sich fremdinspirieren. Die Matriarchin als rasendes Muttertier und Rächerin ist ein Klischee, dass Landay sich und seinen Lesern hätte ersparen können, zumal es dem sonst überzeugenden Finale angeflanscht wirkt.

Mit solchen Einschränkungen kann der Leser freilich leben. Der Ehrgeiz des Verfassers spiegelt sich unterm Strich positiv in seiner Geschichte wider. Landay schreibt langsam und sorgfältig, er fordert die Aufmerksamkeit seines Publikums. Womöglich muss man nach der Lektüre allzu vieler mit der heißen Nadel gestrickter ‚Bestseller‘ erst wieder lernen, sich auf diese Herausforderung einzulassen …

_Der Autor_

William Landay wurde 1964 in Boston geboren. Seine Jugend verbrachte er in Brookline. Er studierte Jura in Yale und an der Boston College Law School. Nach seinem Abschluss arbeitete er für die Staatsanwaltschaft des Distrikts Middlesex.

Landay war kein Vollblutjurist. Zwischen 1991 und 1997 nahm er sich zwei längere Auszeiten und versuchte sich als Schriftsteller. Die beiden dabei entstandenen Romane wurden abgelehnt, und Landay kehrte ins Büro zurück. In seiner Freizeit schrieb er indes weiter. 2003 veröffentlichte er – inzwischen verheiratet – seinen Romanerstling „Mission Flats“ (dt. „Jagdrevier“), für den ihn die britische „Crime Writers Association“ mit einem „John Creasey Memorial Award“ für das beste Romandebüt des Jahres auszeichnete. Landay gab die Jurisprudenz abermals und endgültig auf. Auch sein zweiter Roman „The Strangler“ (dt. „Strangler“) wurde von der Kritik hoch gelobt.

Über sein Werk informiert der Verfasser auf seiner Website: http://www.williamlanday.com.

_Impressum_

Originaltitel: The Strangler (New York : Delacorte Press 2007)
Übersetzung: Robert Brack
Deutsche Erstausgabe: Januar 2009 (Wilhelm Heyne Verlag/TB Nr. 40584)
528 Seiten
EUR 9,95
ISBN-13: 978-3-453-40584-4
http://www.heyne.de

Abraham Merritt – Flieh, Hexe, flieh!

merritt-hexe-cover-1973-kleinIm modernen New York verwandelt eine uralte Hexe ihre Opfer in Puppen, die sie mordend gegen ihre Feinde schickt. Ein Psychiater will ihr im Bund mit einem Gangster und einem Cowboy das Handwerk legen … – Dieser Horror-Klassiker erschien in Deutschland zu Unrecht fast unbemerkt, denn die einfache Geschichte wird sauber entwickelt und sorgfältig erzählt. Nicht grundlos ist hat sie viele spätere Genre-Romane und Filme beeinflusst: im positiven Sinn altmodischer Grusel.
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Victor Gunn – Das rote Haar

Gunn Rotes Haar Cover kleinEin Motel in der englischen Provinz wird Schauplatz eines rätselhaftes Mordes. Zwei zufällig anwesende Scotland-Yard-Beamte übernehmen den Fall an, der sich bald zum Doppelmord entwickelt, und enthüllen ein sorgsam gehütetes Familiendrama … – Der 40. Fall des Ermittler-Duos Cromwell und Lister ist einer der besseren der langlaufenden Serie und bietet in routinierter Variation altmodisches Miträtseln des Lesers auf einer wendungsreichen Suche nach dem Täter, der in einem großen Finale überführt wird.
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Savile, Steven – Primeval 1 – Im Schatten des Jaguars

_Vorab einige grundsätzliche Informationen:_

In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts begannen sich in England immer wieder „Anomalien“ zu öffnen – Falten oder Risse im Raum-Zeit-Kontinuum, durch die man in die Vergangenheit oder Zukunft gelangt. Der Weg ist nach beiden Seiten offen; neugierige Dinosaurier, Riesenskorpione und andere Kreaturen der Vorzeit haben sich so ihren Weg in die Gegenwart gebahnt und für Entsetzen und viele Todesfälle gesorgt. Das britische Innenministerium richtete das „Anomaly Research Center“ (ARC) ein. Unter der Leitung von James Lester rücken der Evolutionsbiologe Nick Cutter, der im Umgang mit Waffen geübte Stephen Hart sowie der Student Connor Temple und die Reptilien-Expertin Abby Maitland aus, sobald eine Anomalie gemeldet wird, um den Durchbruch hungriger Untiere zu verhindern oder bereits erfolgreiche Invasoren abzufangen.

Eine geheimnisvolle Macht arbeitet gegen die ARC-Gruppe: Helen, Cutters ehemalige Gattin, studiert die Anomalien schon seit Jahren. Sie hat Kontakt zu intelligenten Wesen aus der fernen Zukunft aufgenommen. Helens Ziele sind mysteriös, ihr Vorgehen skrupellos. Immer wieder kreuzen sich ihre und Cutters Wege, denn dieser weiß aus eigener Erfahrung um die Tücken der Anomalien: Er stammt aus einer Zeitlinie, in der es nie ein ARC gab. Offenbar verändern Reisen durch die Zeit die Gegenwart, was Helens unkontrolliertes Treiben umso gefährlicher macht …

(Anmerkung: „Im Schatten des Jaguars“ spielt zeitlich zwischen der 1. und 2. bzw. zu Beginn der 2. TV-Staffel.)

_Das geschieht:_

In Peru sind Cameron und Jaime, die beiden Söhne des britischen Staatssekretärs Sir Charles Bairstow, auf einer Expedition im dichten Regenwald der Region Madre de Dios verschollen. Wie der Zufall (bzw. Autor Steven Savile) spielt, erhält Professor Nick Cutter genau jetzt einen Hilferuf von seinem ehemaligen Studenten Nando Estevez, der als Biologe in der genannten Anden-Region tätig ist und dort immer wieder auf frische Knochen von Tieren stößt, die vor Jahrtausenden ausgestorben sind!

Hat sich in Peru erstmals eine Anomalie außerhalb Englands geöffnet? Cutter alarmiert sein Team. James Lester, Leiter des ARC, setzt es gen Südamerika in Bewegung. Sir Charles hat diesen Außeneinsatz möglich gemacht, nachdem Cameron schwer verletzt und im Delirium aus dem Dschungel taumelte. Eine gigantische Raubkatze habe seinen Bruder umgebracht, erzählt er, was die Theorie von einer Anomalie im Urwald von Madre de Dios unterstützt.

Auf Cameron Bairstow wird im Krankenhaus der Stadt Cusco ein Mordanschlag verübt. Eine unbekannte Macht will offensichtlich alle Zeugen des mysteriösen Vorfalls zum Schweigen bringen. Steckt wieder einmal Helen, Cutters undurchsichtige Ex-Gattin, hinter dem Anschlag? Da außerdem schwer bewaffnete Tierschmuggler und korrupte Regierungsbeamte in Madre de Dios ihr Unwesen treiben, werden Cutter und sein Team bald von allen Seiten attackiert …

_Das „Primeval“-Prinzip_

Menschen lieben Monster, solange sie ihnen nicht in natura begegnen. Film und Fernsehen stellen sie uns im 21. Jahrhundert dank stetig entwickelter Spezialeffekte immer eindrucksvoller vor. Sogar im TV wirken sie nun schaurig-schön ‚echt‘, wenn sie – wie in „Primeval“ üblich – unter Hinterlassung beträchtlicher Sach- und Personenschäden durch Wälder, über Straßen oder gar durch Städte schnauben und toben.

Aus der Konfrontation der Vergangenheit (repräsentiert durch in der Regel naturwissenschaftlich belegte Monster) bzw. Zukunft (vertreten durch fantasievoll ausgedachte Kreaturen) mit der Menschenwelt der Gegenwart schöpft „Primeval“ sein Unterhaltungspotenzial. Vor allem in der ersten Staffel blieb es dabei, in jeder Woche einem neuen Ungetüm hinterherzujagen.

Obwohl sich inzwischen eine Verschwörungsgeschichte um die (freilich immer noch dominierende) Monsterhatz rankt, ist „Primeval“ nie hintergründig oder gar originell und womöglich gerade deshalb so erfolgreich. Eine oberflächliche Figurencharakterisierung erhöht den Wiedererkennungswert. Gäbe es die erwähnte Verschwörung nicht, könnte man sich die Episoden der Serie ohne Verständnisprobleme in beliebiger Reihenfolge anschauen: Zu Beginn einer Folge öffnet sich eine Anomalie, unbemerkt schleicht meist vorzeitliches Leben heraus, macht sich gewalttätig bemerkbar, woraufhin Nick Cutter, unbestechlicher Ritter der Naturwissenschaften, mit Stephen Hart, Projektionsfigur für die Sehnsüchte der weiblichen Zuschauerschaft, dem trotteligen, für ‚komische‘ Verwicklungen zuständigen Connor Temple, sowie der niedlichen Jungmaid Abby Maitland, die als ’neue Frau‘ entweder zuschlägt oder – ganz klassisch – gerettet werden muss, zum Ort des Geschehens eilt. Im Hintergrund treibt der garstige aber eigentlich taffe Lester bürokratische Spielchen, wobei ihm die ebenfalls hübsche Pressefrau Jenna Lewis zur Hand geht, wenn sie nicht dem anti-amourös teflonbeschichteten Cutter hinterherstöckelt. Im Hintergrund tückt Cutters Ex Helen und munkelt von einem ungeheuerlichen, sich über Zeit und Raum erstreckenden Projekt, in das sie auf sorgfältig fragwürdig gehaltene Weise verwickelt ist. Im Finale wird das Ungeheuer der Woche entweder zu Tode gebracht oder in seine Zeit zurückgescheucht, bevor sich die Anomalie schließt; Fortsetzung folgt wie gehabt.

_Monsterhatz jetzt auch global!_

Dass die Anomalien sich im Fernseher auf England beschränken, liegt am begrenzten Serienbudget, das Exkursionen an exotische Ort nicht gestattet. Der Schriftsteller ist an solche Grenzen nicht gebunden. Ihn hält eine wesentlich stärkere Kette: Niemals darf sich im „Primeval“-Roman etwas ereignen, das den Rahmen der „Primeval“-Fernsehserie sprengt! Was Cutter und seine Freunde in Peru und anderswo erleben, bleibt ohne Folgen. Sie werden nicht sterben oder sich auf Dauer fremdverlieben, sondern sich generell so verhalten, wie wir sie kennen. Faktisch kopiert Steven Savile nur das Bekannte, Bewährte und Beliebte von „Primeval“: Das ist der Fluch des „Romans zur Serie“, der immer nur „tie-in“, d. h. einer von möglichst vielen Geschäftszweigen eines Franchises ist, zu dem sich auch „Primeval“ gemausert hat.

Mit der 2008 gestarteten und fortgesetzten Buchreihe soll den „Primeval“-Fans noch ein bisschen mehr Geld aus der Börse gesogen werden. Inhaltliche oder formale Experimente sind deshalb weder erwünscht noch notwendig. Der Leser bekommt, was er erwartet: ‚Neue‘ „Primeval“-Abenteuer im alten Stil. Auf diesem Niveau hält „Der Schatten des Jaguars“, was die Inhaltsangabe verspricht. Die folgenden kritischen Zeilen richten sich deshalb bevorzugt an diejenigen Leser, die auch von purer Unterhaltung ein bisschen mehr erwarten.

_Abenteuer der vorgestanzten Art_

Offen muss die Frage bleiben, ob ein talentierterer Autor als Savile mehr aus seinem Stoff herausgeholt hätte; wie das „CSI“-Franchise belegt, können richtig gute Romane auch am „tie-in“-Fließband entstehen. „Der Schatten des Jaguars“ ist hingegen die übliche Routine. Der exotische Schauplatz ändert daran gar nichts.

Es hapert vor allem an der Umsetzung des Plots. „Der Schatten des Jaguars“ bietet keine Handlung, die über 300 Seiten tragen könnte. Savile zieht sie künstlich in die Länge, ergeht sich in ellenlangen (und kruden, gern pathetischen) Beschreibungen, wo Andeutungen zur Orientierung des Lesers ausreichend wären. Er stellt uns ausführlich Figuren vor, deren Schicksal nicht interessiert, weil sie ohnehin abrupt aus dem Geschehen verschwinden. Nie geht es mit der Handlung stringent voran. Savile konstruiert Zwischenfälle, führt Cutters Crew unnötig in die Irre und verliert sich in Unwichtigkeiten: Was im Fernsehen zügig vorangeht, weil es binnen einer Dreiviertelstunde erzählt werden muss, wälzt sich als Roman träge dem Finale entgegen.

Schade, denn als Buch kommt „Im Schatten des Jaguars“ nicht nur hübsch (bunt) gestaltet, sondern auch mit einem ausführlichen Interview daher: Autor Steven Savile äußert sich auf zwölf Seiten über seine Arbeit in den „tie-in“-Minen moderner Franchises. Die Informationen sind interessant und beantworten manche Frage, die sich dem Leser stellt, der sich über die grobe Machart dieses ersten „Primeval“-Romans wundert.

_Anomalien einer Übersetzung_

Der Lesespaß wird durch die holprige und wenig gelungene Übersetzung zusätzlich beeinträchtigt. Locker-flockig soll wohl sein, was nur salopp und schlampig wirkt: Ein teurer Brandy ist weder ein „Kurzer“ (S. 16) noch ein „Gesöff“ (S. 17), zusätzlicher Batteriestrom kein „Extra-Saft“ (S. 53), und „ratzfatz“ (S. 54) darf auch in einem für den raschen Verbrauch bestimmten Unterhaltungsroman das klassische „rasch“ nicht ‚ersetzen‘.

Im 21. Jahrhundert ist es nicht nur politisch unkorrekt, sondern es berührt auch unangenehm, wenn den der englischen Sprache nur rudimentär kundigen peruanischen ‚Eingeborenen‘ der Wumba-Wumba-Sprech alter Tarzan-Filme aufgezwungen wird. Wenn Fahrer Eloy Stephens Klippensprung per Wingsuit kommentiert, klingt das in der ‚Übersetzung‘ so: „Du nicht fallen gerade runter wie Mann, der jagen Kojote?“

Ärgerlich sind echte, oft sinnentstellende Fehler, die ebenfalls so reichlich vorkommen, dass hier nur einige Beispiele herausgegriffen werden; sie sind – man möge es dem Rezensenten glauben – leider sehr repräsentativ, und die Liste kann auf Wunsch problemlos erweitert werden:

– Man lacht nicht „bitterlich“ (S. 28), sondern höchstens „bitter“.
– Die auf S. 23 mehrfach erwähnten „Essays“ sollten korrekt mit „(wissenschaftliche) Abhandlungen“ oder „Aufsätze“ übersetzt werden, was im Kontext sogleich mehr Sinn ergibt.
– Wenn Stephen Hart auf S. 55 in einem „Sarg“ nach Ausrüstungsgegenständen sucht, ist garantiert eine „Kassette“ gemeint, die im Englischen ebenfalls „casket“ genannt wird.

Im Wissen um diese Peinlichkeiten ist es nicht der Vorzeit-Jaguar, der den tiefsten Schatten auf diesen Roman wirft …

_Autor_

Steven Savile wurde 1969 in der englischen Stadt Newcastle geboren. Nach eigener Auskunft ließ er sich auf der Suche nach Lebenserfahrungen durch den Arbeitsmarkt treiben. Auf seinem Weg war er als unter anderem als Englisch-Lehrer, Vertreter und Berater des Verteidigungsministeriums tätig.

Ende der 1990er Jahre hatte er nicht nur genug Erfahrungen gesammelt, sondern war sich außerdem bewusst geworden, dass er Schriftsteller werden wollte. Er bewarb er sich als „tie-in“-Schreiber und fabrizierte fürderhin Romane und Kurzgeschichten für anspruchsarme, aber erfolgreiche Unterhaltungsserien und TV-Serien. In diesem Metier spielt die Einhaltung vorgegebener Abgabetermine eine größere Rolle als die Schaffung literarisch anspruchsvollen Lesestoffes. Savile reüssierte als Autor, der lieferte, was das jeweilige Franchise von ihm forderte. Seine Produktivität ist enorm, und manchmal schreibt er auch Bücher nach Ideen, die er sich selbst ausgedacht hat.

Savile lebt und arbeitet seit vielen Jahren in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Über seine Aktivitäten informiert er auf seiner Website:
http://www.stevensavile.com.

_Impressum_

Originaltitel: Primeval – Shadow of the Jaguar (London : Titan Books 2008)
Deutsche Erstausgabe: März 2009 (Cross Cult Verlag/Primeval 1)
349 Seiten
EUR 12,80
ISBN-13: 978-3-941248-11-3
http://www.cross-cult.de

Newman, Kim – Vampire, Die

|I – Anno Dracula| (S. 7-461)

Im Jahre 1885 haben Abraham van Helsing und seine Gefährten im Kampf gegen den Vampirfürsten Dracula, der sich aus Transsylvanien nach England begab, um seinen Machtgelüsten zu frönen, schmählich versagt. Dracula vernichtete seine Widersacher und stieg gesellschaftlich steil auf. 1886 ehelichte er gar die Königin Viktoria und ist seither nominelles Oberhaupt des britischen Weltreichs. London ist eine Hochburg von Vampiren geworden, die ihr verstecktes Dasein aufgegeben haben und ohne Scheu neben den warmblütigen Menschen leben. Ihre Zahl nimmt ständig zu, weil sich vor allem die „Neugeborenen“ nicht bändigen können und mit ihren Bissen immer neue Vampire hervorbringen.

1888 ist die Lage gespannt. Menschen und Vampire leben in Unfrieden, seit Dracula damit begonnen hat, alle politisch relevanten Positionen mit Seinesgleichen zu besetzen. Regimegegner wie Bram Stoker oder Sherlock Holmes verschwanden in Konzentrationslagern. Bürgerkrieg liegt in der Luft, der durch Draculas brutale Schergen geschürt wird.

In dieser brisanten Situation beginnt „Silver Knife“ seine Schreckensherrschaft. In den übelsten Vierteln der Stadt überfällt er vampirische Prostituierte, um sie auf grässlichste Weise abzuschlachten. Er brüstet er sich seiner Taten und ist stolz auf den Namen, den die Presse ihm gibt: „Jack the Ripper“ …

Um die immer stärker aufflackernden Konflikte einzudämmen, schickt der „Diogenes Club“ – der britische Geheimdienst – seinen besten Mann auf die Jagd nach dem Schlächter. An der Seite der schönen Vampirfrau Geneviève Dieudonné kommt Charles Beauregard nicht nur Jack the Ripper, sondern auch Draculas streng geheimen Plänen für ein vampirisches Empire auf die Spur …

|II – Der Rote Baron| (S. 463-915)

Dracula entkam den britischen Revolutionären, die ihn 1888 vom Thron stießen; er floh auf den Kontinent, wo er damit begann, die verlorene Macht zurückzugewinnen. Von Königshaus zu Königshaus wandernd, verwandelte er die gekrönten Häupter Europas in Untote. 1905 schlug Draculas Stunde, als er einen Bundesgenossen fand, der sich als idealer Strohmann erwies: Wilhelm II., deutscher Kaiser, der von einem Weltreich träumt und bereit ist, Deutschland mit Waffengewalt einen Platz an der Seite der Groß- und Kolonialmächten zu verschaffen. Dracula wurde Wilhelms Vertrauter und stieg zum Kanzler des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf.

1914 brach der von Dracula mit entfesselte I. Weltkrieg aus. Im Frühjahr 1918 toben die Kämpfe mit unverminderter Härte. Im Westen zieht sich die Front durch Holland, Belgien und Frankreich. Für das Reich und seine Verbündeten scheint der Krieg allerdings verloren. Dracula gedenkt jedoch nicht aufzugeben. Sein alter Feind Charles Beauregard, ein hochrangiges Mitglied des britischen Geheimdienstes, begibt sich an die Front. Er findet heraus, dass Dracula im Château du Malinbois eine Geheimwaffe entwickeln lässt, die den „Kaiserangriff“, eine gewaltige deutsche Gegenoffensive, einleiten soll …

|III – Dracula Cha-Cha-Cha| (S. 917-1280)

1959 lebt Dracula als reicher, scheinbar dem Müßiggang ergebener High-Society-Vampirfürst in Rom. Gerade wurde seine Heirat mit der Vampir-Ältesten Aja Vajda angekündigt, die in der Presse großes Aufsehen erregt. Der britische Geheimdienst vermutet ein Komplott, das Dracula zurück an die Macht in Transsilvanien, jetzt Rumänien, bringen soll; womöglich arbeitet er mit den Kommunisten zusammen, was im Zeitalter des Kalten Kriegs für die allerhöchste Alarmstufe sorgt. Charles Beauregard, inzwischen zur Grauen Eminenz des „Diogenes Club“ aufgestiegen, ist mit seinen 106 Jahren allerdings zu alt, um den seit Jahrzehnten währenden Kampf mit Dracula fortzusetzen. Commander Hamish Bond, ein Agent der neuen Zeit, wird zu seinem verlängerten Arm.

Während im Palazzo Otranto die Vorbereitungen für die große Hochzeit getroffen werden, treibt in Rom ein maskierter Vampirmörder sein Unwesen. Er hat es nur auf die ältesten Blutsauger abgesehen, von denen er bereits 17 spektakulär umgebracht hat. Die nach Rom gereiste Journalistin Kate Reed, die ihren alten Freund Beauregard besuchen möchte, wird zufällig in die Ereignisse verwickelt. Gemeinsam mit der Ältesten Geneviève Dieudonné, Hamish Bond und dem Paparazzi Marcello macht sie sich daran, die aktuellen Schlichen Draculas aufzudecken …

_Die Neuzeit als Ära der Blutsauger_

Natürlich waren sie niemals fort, doch Anfang des 21. Jahrhunderts sind sie so präsent wie nie: die Vampire, aus dem Grab auferstehende Nachzehrer, die in der Nacht nach Menschenblut gieren! Zwar dominieren derzeit bleiche Schmachtlappen („Edwards“) sowie (hirn-)tote Schuhfetischistinnen („Betsys“) und tumbmannstolle Kellnerinnen („Sookies“) die Wiedergänger-Szene, doch erwachen in ihrem seichten Kielwasser glücklicherweise auch die Schwergewichte des Horror-Genres zum ‚Leben‘.

Kim Newmans Dracula ist aber auch kein altmodischer, aristokratischer Blutsauger, der ein rotgefüttertes Cape trägt, des Nachts jungfräuliche (aber geile) Jungfrauen überfällt und sich darauf beschränkt, seine Allmachtfantasien aus den Grüften baufälliger Burgen und Klöster heraus zu verwirklichen. Dass der wahre Fürst der Vampire mehr sein kann als der simple Buhmann unterhaltsamer Mitternachts-Vorstellungen, hat u. a. Francis Ford Coppola eindrucksvoll in den Rückblenden seines „Dracula“-Films von 1992 bewiesen. Der zeitgenössische Vlad Tepes II. (1433-1477) war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein grausamer, sondern auch ein sehr erfolgreicher Herrscher, dem es als „Woiwode“ der (später rumänischen) Walachei über Jahrzehnte gelang, die mächtigen und expansionswütigen türkischen und bulgarischen ‚Nachbarn‘ in Schach zu halten. In der Wahl seiner Mittel war er gewiss nicht wählerisch, aber Kriegsherren wie ihn gab es im Mittelalter viele. Das Recht war mit dem Erfolg jedenfalls auf seiner Seite und bewies, dass Vlad, der gefürchtete Pfähler, ein entschlossener und auch intelligenter Mann gewesen ist.

Diese Eigenschaften sollte er folgerichtig auch nach seiner Wiederauferstehung als Vampir bewahrt haben. Insofern setzt Kim Newman und nicht Bram Stoker dem ‚wahren‘ Dracula ein literarisches Denkmal. Newmans Dracula ist ein rücksichtsloser, zu allem entschlossener Krieger – und ein Überlebenskünstler. Das lässt ihn immer wieder aus schier aussichtslosen Situationen entkommen.

Andererseits bleibt Dracula in der modernen Welt ein Anachronismus. Er spielt geschickt die Königshäuser Europas gegeneinander aus, und als Oberbefehlshaber der deutschen Armee weiß er die technischen Errungenschaften seiner Zeit einzusetzen. Dennoch ist er in seinem Denken noch immer dem Mittelalter verhaftet, in das er geboren wurde. Die Konflikte, die er 1888 und 1914 entfesselt, wie er es seit Jahrhunderten tut, um sich zu nehmen, was er begehrt – die uneingeschränkte Macht -, entgleiten schließlich seiner Kontrolle, weil er sie nicht steuern kann. Am Ende steht Dracula vor den Scherben seiner Vision. Freilich wird ihn das nicht abhalten, es aufs Neue zu versuchen.

_Eine fremde und doch vertraute Vergangenheit_

Mit erstaunlicher Sicherheit weiß Autor Newman die reale Geschichte des späten 19. und 20. Jahrhunderts mit seiner erfundenen Historie zu verquicken. Bei ihm wirkt es völlig logisch, dass Jack the Ripper ein irrer Vampir-Schlächter ist, dass die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914 den Weltkrieg auslösten, weil seine serbischen Untertanen es nicht ertrugen, von einem Untoten regiert zu werden, oder dass Roms „la dolce vita“ erst durch vampirische Präsenz erst richtig dekadent wirkt.

Vor den drei großzügig, aber auch im Detail vortrefflich ausgemalten Hintergründen müssen Newmans Plots fast notgedrungen ein wenig verblassen. In „Anno Dracula“ ist es der Zauber des Neuen, der den Leser über die faktische Dünnblütigkeit der Geschichte täuscht und tröstet. Man bewundert den immensen Einfallsreichtum, den Newman besonders in der ersten Hälfte aufbringt. Hier zehrt der Verfasser von einer früheren Novelle („Red Reign“, erschienen 1991), deren Erzähldichte er nicht über die gesamte Romandistanz retten kann. Das Finale von „Anno Dracula“ ist primär blutig, aber es kann das Übergewicht des überragenden Auftakts nicht austarieren.

Ähnlich ergeht es dem „Roten Baron“, zumal dieser Roman das bekannte Muster nur variiert – dies freilich erneut mit einer überschäumendem Ideenflut. Newman greift hier ungleich tiefer in die Historie ein. In die komplexe Weltgeschichte am Vorabend und nach Beginn des I. Weltkriegs, die er meisterhaft als Folge Draculascher Ränken umdeutet, baut er die eigene, in „Anno Dracula“ geschaffene Vorgeschichte ein. Lose Enden liebt Newman nicht; was im ersten Band ungeklärt blieb, greift er garantiert wieder auf und beschränkt sich dabei längst nicht nur auf die große Zahl der bereits eingeführten Figuren. Selbst kleine Nebenrollen können wieder auftauchen oder finden zumindest Erwähnung.

Der „Fliegende Zirkus“ des Barons von Richthofen und seine Verwandlung in wahre Dämonen der Lüfte ist zweifellos ein enttäuschend ’normaler‘ Einfall, wie man ihn in jedem x-beliebigen Horror-Roman finden könnte. Aber gleichzeitig besticht „Der rote Baron“ durch die sorgfältige, beinahe dokumentarische Schilderung des Kriegsalltags einer- und des (Luft-)Kampfes gegen den berüchtigten von Richthofen andererseits, der sich zwar als blutdürstige, gleichzeitig aber tragische Gestalt entpuppt, die um die Aussichtslosigkeit ihres Tuns weiß.

„Dracula-Cha-Cha“ ist auf den ersten Blick eine heitere Variante des Dracula-Motivs. Dracula ist allerdings wesentlich undurchschaubarer geworden. Die daraus resultierende Unsicherheit überträgt sich auch auf den Leser, denn noch stärker als in den beiden Vorgängerbänden limitiert Newman das persönliche Auftreten Draculas. Stets spricht man über ihn, der quasi die unsichtbare Hauptfigur darstellt, aber in persona trifft man ihn erst im Finale, und auch dort macht er sich rar. Nichts ist demaskierender als stetige Präsenz, während eine imaginierte Gefahr die Realität meist übertrifft.

Einerseits bedient sich Newman abermals einer bekannten Plotstruktur: Ein Vampirmörder geht um. Andererseits ist „Dracula-Cha-Cha“ noch ‚realitätsferner‘ und abgehobener als die beiden Vorgängerbände. „Dracula-Cha-Cha“ spielt nicht in einem Rom, das Teil einer von Vampire bevölkerten Welt ist, sondern in einem Rom, das Federico Fellini 1960 für sein filmisches Meisterwerk „La Dolce Vita“ (dt. „Das süße Leben“) erschuf und das so nie existierte.

Newman arbeitet die Grundstimmung des Film-Vorbilds – das er mehrfach ’szenengleich‘ übernimmt (und dabei parodiert) – heraus. Sie eignet sich verblüffend gut als Hintergrund einer mit Mord und Blut nie geizenden Vampir-Story. Dracula passt in das überdrehte Umfeld einer Haute-Volée Welt, die trotz ihres Rock-’n‘-Roll-Gehabes näher am Abgrund steht denn je: Nicht umsonst mischt Newman Fellinis süßes Leben mit Mario Bavas – oder wegen der in die Handlung eingeführten „Mutter der Tränen“ wohl besser Dario Argentos – optisch extravaganten Grausamkeiten des italienischen Giallos und erwähnt darüber hinaus die reale Bedrohung der Wasserstoffbombe, in deren Schatten die Furcht vor einem Dracula lächerlich erscheint.

_Figurenpersonal aus Realität und Fiktion_

Die „Anno Dracula“-Serie gewinnt einen ganz besonderen Reiz aus der Tatsache, dass Autor Newman nicht nur Personen der Zeitgeschichte auftreten lässt, sondern wie selbstverständlich Charaktere zum Leben erweckt, die völlig fiktiv sind und den Werken anderer Schriftsteller entnommen wurden. So kann es geschehen, dass in einem Feldlazarett des I. Weltkriegs H. G. Wells‘ Dr. Moreau neben H. P. Lovecrafts Herbert West, dem „Wiedererwecker“, am Operationstisch steht, Jules Vernes Ingenieur Robur seine Kampf-Luftschiffe über Paris schweben lässt oder Norbert Jacques‘ Dr. Mabuse das deutsche Kriegspresseamt leitet. Aber auch Personen, die tatsächlich gelebt haben, sieht man in Newmans alternativen Welten in völlig neuen Rollen; so begegnet der untote, im Exil lebende Schriftsteller Edgar Allan Poe in den Sälen des Prager Gerichts dem Schreiber Franz Kafka, bevor er im Auftrag Dr. Mabuses nach Frankreich reist, um dort eine Biographie des Flieger-Helden Manfred von Richthofen zu verfassen, dessen Burschen Fritz Haarmann und Peter Kürten heißen … (In „Dracula-Cha-Cha“ schreibt Poe Drehbücher für Roms „Cinecittà“.)

Solche an sich absurden Paarungen präsentiert Newman in rascher Folge, und er konstruiert sie so geschickt, dass man ihrer niemals überdrüssig wird. Auf die Spitze treibt er es zweifellos in „Dracula-Cha-Cha“; 1959 kommen sechs Jahrzehnte Film zur Trivialliteratur. Sie schufen einen reichen Fundus ‚moderner‘ Spukgestalten, aus dem sich Newman zusätzlich bedienen kann und skrupellos bedient. Zu den Vampiren, die bisher die hauptsächlichen wenn nicht sogar einzigen Geschöpfe der Nacht darstellten, gesellen sich nun Zombies, der Golem, Frankensteins Ungeheuer, E. T. A. Hoffmanns Puppe Olympia und andere Kreaturen. Was weniger begabten Autoren zu einem Effekt-Overkill verkocht wäre, führt bei Newman zur Öffnung eines weiteren Handlungs-Levels.

„Dracula-Cha-Cha“ führt die „Anno Dracula“-Trilogie zu ihrem ebenso logischen wie würdigen Ende. (Was Newman nicht davon abhält, sporadisch an einem vierten Band mit dem Arbeitstitel „Johnny Alucard“ zu schreiben, der in den 1970er und 80er Jahren spielen soll und von dem Teilkapitel bereits veröffentlicht wurden.) Dass sie endlich vollständig in deutscher Sprache vorliegt, schließt hierzulande eine echte Lücke in der phantastischen Literatur. Die vorzügliche Übersetzung aller drei Bände vertieft das Lektürevergnügen erheblich. Mit „Die Vampire“ hat der |Heyne|-Verlag mit dem ansonsten ungeliebten Paperback-Format endlich einmal den passenden Rahmen für eine Veröffentlichung gefunden und liefert dem Freund des Genres Grusel vom Feinsten für schmales Geld!

_Der Autor_

Kim Newman wurde am 31. Juli 1959 in London geboren, verbrachte seine Jugendjahre aber in Somerset. An der University of Sussex studierte er Englische Sprach- und Literaturwissenschaft. Er verfasste Theaterstücke und schrieb fürs Kabarett, aber nach seinem Abschluss (1980) arbeitete er hauptberuflich als Journalist und Filmkritiker, wobei seine Vorliebe eindeutig der Phantastik galt.

Sein erstes Buch beschäftigte sich 1983 folgerichtig populärwissenschaftlich mit den Literaturgenres Science-Fiction und Fantasy. Weitere Sachbücher folgten, in denen sich Newman auf den Horror konzentrierte. Außerdem war und ist er oft für das Fernsehen tätig; er stellt Filme vor und ist der Autor zahlreicher TV-Dokumentationen, die sich der klassischen und modernen Phantastik sowie dem Krimi widmen.

1989 folgte mit „The Night Mayor“ (dt. „Die Nacht in dir“) ein erster Roman – ein SF-Krimi im „Noir“-Gewand der 1930er und 40er Jahre, der bereits Newmans Vorliebe demonstrierte, historische Fakten mit Fiktion zu einer ’neuen‘ bzw. alternativen Realität zu mischen. Ab 1992 bewies er mit der „Anno Dracula“-Trilogie (bis 1998) seine diesbezügliche Meisterschaft. Auch nach Abschluss dieses Dreiteilers blieb Newman der glänzend eingeführten Parallelwelt treu und schrieb u. a. eine lange Reihe von Geschichten um den „Diogenes Club“, den er als Institution den Sherlock-Holmes-Geschichten des Arthur Conan Doyle entlieh. Überhaupt ist Newman ein Autor, der einen großen Teil seiner beachtlichen Schaffenskraft in Kurzgeschichten investiert, deren erste („Dreamers“) bereits 1982 erschien.

Für seinen Lebensunterhalt schrieb Newman ebenfalls ab 1989 Routine-Horror für Trivial-Reihen wie „Warhammer“ und „Dark Future“, wofür er das Pseudonym „Jack Yeovil“ verwendete.

Über sein Leben und Werk informiert Kim Newman auf seiner inhaltlich informationsreichen und akkurat layouteten Website:
http://www.johnnyalucard.com.

_Impressum_

Originalausgabe
Originaltitel:
– [Anno Dracula 1184 (London : Simon & Schuster 1992)
– The Bloody Red Baron (New York : Carroll & Graf 1995)
– Judgement of Tears: Anno Dracula 1959 / Dracula Cha-Cha-Cha (New York : Carroll & Graf 1998)
Übersetzung: Thomas Mohr (Bd. 1 u. 2), Frank Böhmert (Bd. 3)
Deutsche Erstausgabe: März 2009 (Wilhelm Heyne Verlag/Paperback Nr. 53296)
1280 Seiten
EUR 15,00
ISBN-13: 978-3-453-53296-0
http://www.heyne.de

Lawrence Block – Falsches Herz

Zwei Betrüger und eine schöne Frau planen einen geldgierigen Spekulanten auszunehmen. Der Coup scheint zu gelingen, aber mindestens einer der Beteiligten spielt falsch, um die Beute für sich allein zu gewinnen … – Typischer „Pulp“-Krimi der 1960er Jahre: schnörkellos, schnell und ohne Furcht vor Klischees, die sich hier vor allem um die weibliche Figur ranken; trotzdem und wegen des überraschenden Endes gut lesbar.
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Robie Macauley – Dunkel kommt die Zukunft

_Kurzkritik für Ungeduldige_

Nach dem III. Weltkrieg ist die USA entvölkert. Nur wenige Menschen leben noch in dem verödeten Land, die Zivilisation ist auf einen vortechnischen Status abgesunken. Auf der Suche nach den Rätseln der Vergangenheit wird der Heiler Kinkaid in einen Kampf zwischen Siedlern und Plünderern gezogen … – Literarisch anspruchsvoll geschriebene „Post-Doomsday“-Story, die zugunsten einprägsamer Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen die Handlung vernachlässigt; die fragmentarische Darstellung ist freilich auch Stilmittel: ein sanft gealterter, ’stiller‘, lesenswerter Roman.

_Das geschieht:_

I. Die vergangene Zukunft: In den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts intensivieren sich in den USA die Rassenkonflikte, bis schließlich ein neuer Bürgerkrieg ausbricht. Weiß kämpft gegen Schwarz, und Pardon wird nicht gegeben. Auf Beschluss der Vereinten Nationen werden die Vereinigten Staaten isoliert, Kanada und Mexiko schließen und befestigen ihre Grenzen.

Nach Jahren des Kampfes steht die „schwarze“ Seite vor dem Aus. Die Übermacht der „Weißen“ sowie interne Streitigkeiten fordern ihren Tribut. Unerbittlich gedenken die „Weißen“ den ‚Feind‘ auszurotten. Außerhalb Nordamerikas nutzt die Sowjetunion das Verschwinden ihres alten Angstgegners USA, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ein Atomschlag gegen China setzt die Apokalypse in Gang, die zum Untergang der Zivilisation führt.

II. Die gegenwärtige Zukunft: Jahrhunderte später ist die hochtechnisierte Welt der „Vorväter“ nurmehr ein Mythos. Die großen Städte der Vergangenheit sind verfallene oder gar radioaktiv verstrahlte Rätsel. Von den wenigen Nachkommen der Überlebenden werden sie gemieden. Die Menschen sind wieder Ackerbauern und Farmer geworden, die isoliert in kleinen, weit voneinander entfernten Dörfern leben.

Durch die dichten Wälder dieser Zukunft zieht Kinkaid, der Heiler aus dem Land Pennsylvan. Ihn locken Visionen der versunkenen Vergangenheit in das sagenhafte „Michigan“. Der Weg ist weit und gefährlich, und am Ufer des längst verlandeten Eriesees gerät Kinkaid in eine Auseinandersetzung zwischen Siedlern, Marodeuren und Mutanten. Unfreiwillig muss er Partei ergreifen, denn er findet einen Mann, der schon einmal dort war, wohin es Kinkaid zieht; helfen will er dem Neuankömmling nur, wenn dieser ihm hilft, seine entführte Tochter zu befreien …

_Kettenreaktion der Apokalypse_

Geschichten aus der Zeit nach dem „Großen Knall“ sind in der Sciencefiction so zahlreich, dass sie ein eigenes Subgenre – passend „Post-Doomsday-Stories“ genannt – bilden. In dem knappen halben Jahrhundert des „Kalten Krieges“ zwischen den Supermächten USA und UdSSR, also etwa zwischen 1945 und 1990, beschäftigte die Furcht vor „der Bombe“ – eigentlich waren es sogar zwei: die Atom- und die Wasserstoffbombe – (nicht nur) die Schriftsteller einer Welt, die permanent vor der Selbstzerstörung zu stehen schien. Immer wieder wurden die atomare Apokalypse und vor allem ihre Folgen thematisiert, bis durch den Zerfall des „Ostblocks“ neue Schreckgespenster – Ressourcenschwund, religiöser Wahn, sozialer Niedergang – auf der globalen Bühne spukten.

Robie Macauley schrieb „Dunkel kommt die Zukunft“ 1979 und damit in einer Hochzeit der Angst vor dem Untergang. Als Afro-Amerikaner und 1919 geboren in einer Zeit, als Bürger mit dunkler Hautfarbe als Menschen zweiter Klasse galten, greift der Verfasser in und für seinen Roman einen weiteren zeitgenössischen Konflikt auf. Die zweite Hälfte der 1960er Jahre wurde in den USA zur Ära offen ausgetragener Rassenkonflikte. Die schwarze Bevölkerung forderte endlich und nachdrücklich die ihnen zustehenden aber vorenthaltenen Rechte. Dass reaktionäre weiße Gruppen dies um jeden Preis verhindern wollten, bewiesen u. a. die Morde an Bürgerrechtlern wie Martin Luther King oder Malcolm X. In der Folge kam es zu Rassenkämpfen, die Schlimmeres anzukündigen drohten: einen regelrechten Krieg zwischen weißen und schwarzen Bürgern, an dessen Ende der Genozid stand.

Macauley wertet den bei ihm tatsächlich stattfindenden Bürgerkrieg nicht unbedingt als Auslöser, aber als wichtigen Katalysator des Untergangs. In der Welt, die er den namenlosen Chronisten der Apokalypse schildern lässt, gärt es ohnehin. Als die mit der Selbstzerfleischung beschäftigten und von der Weltgemeinschaft ausgegrenzten USA das „Gleichgewicht des Schreckens“ nicht mehr austarieren können, kommt es zur Explosion.

_Episoden aus einer kargen Zukunft_

Offensichtlich war es Macauley wichtig, den Zusammenbruch detailliert und mit Bezug auf die reale Gegenwart zu beschreiben. Der Leser ist – zumal Jahrzehnte später – irritiert: Die beiden Erzählebenen des Romans wollen sich nie zu einem harmonischen Ganzen fügen. Lag dies in Macauleys Absicht? Darüber kann an dieser Stelle nur spekuliert werden.

„Post-Doomsday“-Geschichten sind üblicherweise mehr oder weniger verkappte Warnungen vor dem Untergang. Sie enthalten eine Botschaft, die hier schwer zu entziffern ist, weil Macauley einerseits keinen Raum für Hoffnungen lässt. Der Krieg zwischen den Rassen endet bei ihm mit der völligen Vernichtung der „Schwarzen“. Ihr Ende spielt für die zweite Handlungsebene jedoch keine Rolle. Will uns Macauley also verdeutlichen, dass der (weiße) Mensch keine dunkelhäutigen Mitmenschen benötigt, um einen Schädel zum Einschlagen zu finden? Der Kampf an den Ufern des atomar versumpften Eriesees wird mit Flinten und Messern ausgetragen, aber er kann es an brutaler Entschlossenheit mit dem Krieg aufnehmen, an dem uns der namenlose Chronist teilnehmen lässt.

Der hat Visionen von Kinkaid, der Jahrhunderte später durch die Wildnis zieht und nach seiner Niederschrift sucht. Umgekehrt tagträumt auch Kinkaid vom Chronisten. Beide ahnen, dass sie auf unterschiedlichen Zeitstufen leben, doch Handlungsrelevanz kann auch diese Entdeckung nie für sich beanspruchen.

Ab Seite 57 lässt Macauley die Vergangenheit buchstäblich hinter sich. „Dunkel kommt die Zukunft“ verwandelt sich in die episodenhafte und ausschnitthafte Schilderung einer Zukunft, deren Bewohner gerade die Katastrophe zu überwinden beginnen und den Neuanfang planen. Die Relikte der Vergangenheit sind ihnen Ansporn, Schatzkammer und Quelle stetiger Schrecken gleichzeitig, denn in den Ruinen stoßen sie immer wieder auf nützliche, aber auch auf gefährliche Hinterlassenschaften.

_Kleine Dramen in einer stillen Welt_

Es geschieht wenig, das sich spektakulär nennen ließe. Zwar wird viel geschossen und gestorben, doch Macauley macht deutlich, dass dies nur ‚kleine‘ Dramen in einer Welt sind, die vom Menschen nur noch bewohnt, aber nicht mehr beherrscht wird. Hinter der nächsten Hügelkette hört man nichts mehr von den Getümmeln. Kinkaid begreift ansatzweise die aktuelle Bedeutungslosigkeit des Menschen. Konsequent macht ihn Macauley deshalb nicht zum Anführer einer neuen Zivilisation, sondern entlässt ihn allein, in ein offenes Ende und in eine ungewisse Zukunft.

„Dunkel kommt die Zukunft“ gehört zu den (Sciencefiction-)Romanen, die durch ihre Sprache beeindrucken. Von Thomas Ziegler hervorragend ins Deutsche übersetzt, entfaltet Macauley die Kunst, eine mögliche Zukunft überaus anschaulich zu kreieren, ohne dabei auf Genreklischees zurückzugreifen. Zwar lässt auch er radioaktiv geschädigte Mutanten auftreten, doch diese sind nicht gefährlich, sondern eher tragische Randgestalten, die unter der Furcht und der Herablassung ihrer ‚gesunden‘ Nachbarn leiden: Die Mutanten der Zukunft werden zu den ’neuen‘ Schwarzen, und die Geschichte wiederholt sich.

Macauley gelingen eindringliche Szenen, wenn er die Menschen der Zukunft mit den Artefakten der Vergangenheit konfrontiert. Es klingt komisch, wenn er beschreibt, wie Nichtigkeiten ehrfürchtig bestaunt und missverstanden werden, aber das Lachen bleibt im Halse stecken, weil Macauley die ‚Dummheit‘ unfreiwillig archaischer Menschen beschreibt, die es aufgrund der Unvernunft ihrer Ahnen nicht besser wissen können.

Wird Kinkaids Welt den Neustart schaffen? Macauley lässt auch diese Frage offen, aber er gibt Hoffnung. Kinkaid überlebt womöglich seine Odyssee und findet die Aufzeichnungen des Chronisten, die Aufschluss über die Fehler der verehrten „Vorväter“ geben. Aus den Siedlungen am Eriesee wird man weitere Expeditionen in die Ruinenstädte schicken und Maschinen, Bücher und andere nützliche ‚Erbstücke‘ bergen – oder auf die gut bestückten Raketensilos der Vergangenheit stoßen, von denen alte Frauen in bildhaft überlieferten Schauermärchen erzählen …

„Dunkel kommt die Zukunft“ ist ein ‚anderer‘ SF-Roman. Die beschriebenen Schrecken mögen heute ein wenig angestaubt wirken, doch unter dieser Schicht lesen sie sich immer noch aktuell. Rasante Action gibt es nicht, Macauley lässt und nimmt sich die Zeit für Beschreibungen und gedankliche Reflexionen. Die Grundstimmung ist traurig, aber „Dunkel kommt die Zukunft“ besitzt seine eigene Bannkraft, auf die einzulassen sich lohnt. Klingt das als Lob oder Empfehlung ein wenig dezent? Dann passt es zu diesem Buch …

_Der Autor_

Robie Mayhew Macauley wurde 1919 in Grand Rapids (US-Staat Michigan) geboren. Er studierte darstellende Kunst am Kenyon College in Ohio, zog 1941 mit der US-Army in den II. Weltkrieg und ging nach seiner Rückkehr an die University of Iowa. Ab 1946 lehrte er an diversen Colleges. Seit 1948 verheiratet, wurde Macauley zwischen 1959 und 1966 Herausgeber des Literaturmagazins |Kenyon Review|. Er wechselte zum |Playboy| und 1977 zur |Houghton Mifflin Publishing Company|.

Parallel zu seiner Herausgebertätigkeit wurde Macauley selbst schriftstellerisch tätig. Sein Werk blieb schmal; es umfasst zwei Romane, eine Sammlung mit Kurzgeschichten und ein Sachbuch. 1990 gehörte Macauley zu den Mitgründern des „Ploughshares International Writing Seminar“, das in den Niederlanden gehalten wurde.

Verwitwert und zum zweiten Mal verheiratet, starb Robie Macauley, der zuletzt in Boston lebte, 1995 an Lymphdrüsenkrebs.

_Impressum_

Originaltitel: A Secret History of Time to Come (New York : Albert A. Knopf 1979)
Deutsche Erstausgabe: Januar 1982 (Knaur Verlag/Knaur Science Fiction Nr. 5755)
Übersetzung: Thomas Ziegler
Cover: Thomas Kidd
234 Seiten
ISBN-13: 978-3-426-05755-1
http://www.knaur.de

Michael Connelly – Echo Park [Harry Bosch 12]

Der Fahndungsdurchbruch in einem längst ‚kalten‘ Mordfall entpuppt sich als Teil eines Komplotts, durch das der wahre Täter aus der Schusslinie gebracht werden soll. Zwischen dem Erfolg der mächtigen Dunkelmänner und der Wahrheit steht nur der unbestechliche Polizist Harry Bosch … – In seinem 12. Roman um den unkonventionellen Ermittler lässt Connelly keinerlei Schwächen erkennen. Der Plot ist komplex aber schlüssig, die Umsetzung fesselt, das Tempo ist hoch und „Echo Park“ ein Pageturner, der dieses Prädikat verdient! Michael Connelly – Echo Park [Harry Bosch 12] weiterlesen

Cortez, Donn – CSI Miami: Mörderisches Fest

_Das geschieht:_

Im tropisch klimatisierten Miami gleichen die Weihnachtsfeiertage eher dem europäischen Fasching. Hitze, Alkohol und Drogen lassen manchen Zeitgenossen über die Stränge schlagen. Aktuell bereitet ein neues Phänomen der Polizei Kopfzerbrechen: Männer und Frauen verkleiden sich als Santa Claus und Weihnachtselfen, um im Schutz ihrer Kostüme die öffentliche Ruhe zu stören. Ryan Wolfe vom kriminaltechnischen Labor von Miami-Dade muss den Fall eines Santas übernehmen, der seine Eskapaden nicht überlebte: Man fand ihn nackt und tot in einem Hinterhof.

Kollege Eric Delko untersucht das gewalttätige Ende eines Mannes, den man ermordet aus dem Everglade-Sumpf zog. Die Identifizierung ist schwierig, da sich nicht nur Alligatoren an der Leiche gütlich taten, sondern ihr auch der Kopf durch eine Rohrbombe abgerissen wurde.

Teamchef Horatio Caine plagt sich mit einer besonders mysteriösen Angelegenheit: Der bekannte Bühnenmagier Abdus Sattar Pathan wurde gefasst, nachdem er in einem kleinen Laden den Besitzer zusammenschlug. Die Fingerabdrücke, die am Tatort gesichert wurden, sind jedoch nicht die seinen. Der Verdächtige muss freigelassen werden, was Caine enorm ärgert, der genau weiß, dass man ihn hereingelegt hat. Er fragt sich nach dem Grund und vermutet hinter der Tat ein ganz anderes Verbrechen.

Kurz darauf wird Pathan entführt – oder auch nicht -, und das FBI schaltet sich rüde ein. Bald gesellt sich „Homeland Security“ hinzu, da plötzlich Terroristen aus dem Nahen Osten ihr Unwesen treiben. Im CSI-Labor geht es hoch her, die Teams müssen neu gemischt werden, wobei es zu Verzögerungen und Fehlern kommt: Dieses Weihnachtsfest wird den Männern und Frauen um Horatio Caine noch lange im Gedächtnis bleiben!

_Besinnliche Tage der besonderen Art_

Weihnachten ist im Genre Kriminalroman ein wichtiges Datum. Seit jeher fasziniert der Kontrast zwischen der quasi verordneten Besinnlichkeit und dem Verbrechen, das in dieser Umgebung besonders krass wirkt. Hinzu kommt leidvolles Erfahrungswissen: An den Feiertagen kommen Menschen zusammen, die sich ansonsten womöglich mit gutem Grund aus dem Weg gehen. Sie werden in fragwürdiger Harmonie und Langeweile zusammengesperrt sowie mit gutem Essen und reichlich Alkohol versorgt. Explosionen sind auf diese Weise quasi vorprogrammiert.

Das Weihnachtsfest war schon vor der globalen Erwärmung nicht auf die christlich dominierten und verschneiten Regionen dieses Erdballs beschränkt. Auch dort, wo die Sonne am 25. und 26. Dezember hoch und heiß am Himmel steht, wird es in einer Mischung aus Tradition und lokalspezifischen Ergänzungen begangen, die bizarre Züge annehmen können. Donn Cortez profitiert von diesem Kontrast, wenn er dick vermummte und bärtige Weihnachtsmänner durch die tropische Nacht von Miami toben lässt.

Dieser Aufhänger ermöglicht den leicht variierten Einstand in ein neues „CSI“-Abenteuer, das ansonsten nach bekanntem Muster verläuft: Das Team um Horatio Caine bearbeitet simultan drei Fälle. Natürlich weichen diese stark von den Verbrechen ab, die normalerweise von der Polizei untersucht werden. Caine & Co. geben sich nicht mit ’normalen‘ Gewalttätern ab. Sie jagen den genialen und/oder wahnsinnigen und/oder ultrabrutalen Strolchen hinterher, die am Tatort (scheinbar) keine oder nur widersprüchliche Indizien zurücklassen, die erst einmal entdeckt und anschließend im Hightech-CSI-Labor trickreich ausgewertet werden müssen.

_Der richtige Mann für einen unterschätzten Job_

Das funktioniert im Fernsehen natürlich besser, wo wir beeindruckt sehen, wie z. B. die hübsche Natalia Boa Vista ausführliche Täterprofile buchstäblich mit den Fingern aus dem Computerspeicher zieht und an eine riesige Projektionswand wirft. Andererseits heißt der Verfasser von „Mörderisches Fest“ Donn Cortez – und der erweist sich als Autor dieses „Buchs zum Film“, das dem „CSI“-Franchise eigentlich nur einige zusätzliche Dollars in die Kasse spülen soll, als seltener Glücksfall: Cortez beschränkt sich nicht auf Dienst nach Vorschrift, sondern verwandelt einen simplen „Tie-in“-Roman in einen spannenden Krimi, der gänzlich für sich bestehen kann.

Bereits die Story ist mit ihren drei Subplots ausgezeichnet konstruiert. „Mörderisches Fest“ könnte man sich sofort als Drehbuch-Vorlage bzw. verfilmt vorstellen. Cortez bewahrt das Gleichgewicht zwischen dem rätselhaft Möglichem und der Übertreibung, welche die Illusion zerstören würde. Was sich hier vor dem geistigen Auge des Lesers abspielt, ist höchst mysteriös, wirkt aber jederzeit möglich. (IST es tatsächlich möglich? Das steht auf einem anderen Blatt, das niemand zur Kenntnis nehmen muss, denn verlangt wird nicht Realismus, sondern unterhaltsame „CSI“-Fiktion.) Technobabbel hält sich im Rahmen, komplexe Methoden und Techniken der Deduktion werden in klaren Worten dargestellt, wobei der Verfasser die Mühen einschlägiger Recherchen nie scheut. Auch die gewählten Schauplätze werden nicht einfach grob beschrieben, sondern geografisch und historisch im Stadtbild von Miami verankert.

Das Timing der Handlung stimmt; Cortez springt gekonnt von einem Brennpunkt zum nächsten, ohne den Cliffhanger-Effekt zu strapazieren. Die geschilderten Fälle sind kurios, grausam und offensichtlich unlösbar. Damit decken die Subplots das typische „CSI“-Spektrum ab. Die Variation gelingt, und Cortez ist immer gut für eine Zugabe: So konfrontiert er den auf Fakten fixierten Horatio Caine mit einem Terroristen, der ein hervorragender Magier ist: Labor trifft Bühne. Wer wird den Sieg davontragen? Die Frage ist natürlich rhetorisch, aber bis der selbstgefällige Pathan entzaubert wird, fügt er seinen Verfolgern manche trickreiche Schlappe zu.

_Alte Bekannte aber keine Neuigkeiten_

Donn Cortez muss seinen Job quasi mit einer auf den Rücken gebundenen Hand erledigen. Elementares, von dem das „CSI“-Personal betroffen wird, hat stets im Fernsehen zu geschehen. Niemals wird eine Hauptfigur deshalb in einem Buch zur Serie sterben oder nach Europa ziehen oder heiraten. Das schränkt die Verwicklungen ein, in die der Autor seine Figuren treiben kann. Cortez muss sich darauf beschränken, Bekanntes (Calleigh Duquesne muss über die Feiertage ihren Vater von der Flasche fernhalten) und Belangloses (Dr. Alexx Woods ist daheim ein Putzteufel) als frische Ware zu verkaufen. Auch das gelingt ihm, weil er auf die richtige Mischung von Kriminalfall und Seifenoper – darum handelt es sich ja, wenn private Aspekte ins Spiel kommen – achtet.

_Anmerkung: Ein Ende mit Fragezeichen_

„Mörderisches Fest“ ist also ein Roman, der (vor allem aber eben nicht nur) den „CSI“-Fans empfohlen werden kann. Dennoch wird die Lektüre Stirnrunzeln hinterlassen, denn längst nicht alle Rätsel werden gelöst; die Handlung endet offen. Leider (oder vorsichtshalber) wird nirgendwo darauf verwiesen, dass „Mörderisches Fest“ die eine Hälfte eines Zweiteilers ist, der mit „Todsicheres Alibi“ (ebenfalls bei |Egmont Vgs| erschienen) fortgesetzt wird.

_Der Autor_

Donn Cortez ist das Pseudonym des kanadisches Schriftstellers Don H. DeBrandt, der unter seinem Geburtsnamen Sciencefiction und Horror schreibt. „The Quicksilver Screen“, sein Romandebüt von 1992, wurde vom renommierten SF-Magazin „Locus“ als Geheimtipp gehandelt. DeBrandt schrieb außerdem für „Marvel Comics“, wo er an Reihen wie „Spiderman 2099“ und „2099 Unlimited“ mitarbeitete.

Seit 2006 verfasst DeBrandt, der im kanadischen Vancouver lebt und arbeitet, Romane zur TV-Serie „CSI: Miami“. Über seine Werke informieren die Websites:

http://www.donncortez.com
http://www.sfwa.org/members/DeBrandt

_Impressum_

Originaltitel: CSI: Miami – Harm for the Holidays (New York : Pocket Star Books, a division of Simon & Schuster 2006)
Deutsche Erstveröffentlichung (geb.): Oktober 2007 (Vgs Verlag/CSI Miami, Bd. 5)
Übersetzung: Frauke Meier
306 Seiten
EUR 17,95
ISBN-13: 978-3-8025-3627-4
http://www.vgs.de

_Donn Cortez auf |Buchwurm.info|:_

[„CSI Miami: Der Preis der Freiheit“ 5017
[„CSI Miami: Tödliche Brandung“ 5122
[„Closer“ 5371

Edric, Robert – Ihr Blut soll vergossen werden

_Das geschieht:_

Leo Rivers ist Privatdetektiv in Hull, einer Hafenstadt an der englischen Ostküste. Seine aktuelle Klientin ist Susan Hendry, deren drogensüchtiger Sohn Paul in der Praxis seines Hausarztes gefunden wurde: Offensichtlich hat er erst seine Lebensgefährtin Lucy ermordet und sich dann nach dem Einbruch eine Überdosis Rauschgift gespritzt. Ob dies ein Unfall oder ein Selbstmordversuch war, bleibt offen, denn Paul liegt im Koma, aus dem er wohl nie mehr erwachen wird.

Für Chief Superintendent Alexander Lister, der unbedingt Polizeipräsident von Hull werden möchte, ist Paul Hendry, der sich nicht verteidigen kann, das ideale Bauernopfer. Um die Politiker der Stadt sowie die Medien auf seine Seite zu bringen, lässt er durchblicken, dass Hendry auch verantwortlich für zwei weitere ungeklärte Frauenmorde ist. Lister verknüpft dies mit einem Feldzug gegen das Rotlichtmilieu von Hull, der ihm viel positive Publicity einbringen soll. Deshalb versucht er die Presse auf seine Seite zu ziehen sowie Störenfriede einzuschüchtern.

Zu diesen zählt er auch Rivers, denn dieser durchschaut das Spiel. Seine Ermittlungen ergeben ein anderes, besorgniserregendes Bild: In Hull treibt offenbar ein Serienkiller sein Unwesen, der es auf junge Frauen abgesehen hat. Die drei fälschlich Paul Hendry zugeschriebenen Morde sind sehr wahrscheinlich nicht die einzigen Bluttaten des unbekannten und sehr organisiert vorgehenden Täters.

Von der Polizei angefeindet und auf der Basis mehr als magerer Indizien, macht sich Rivers auf die Suche nach dem wahren Mörder. Er enthüllt dabei eine Tragödie, die vor mehr als drei Jahrzehnten ihren Ursprung nahm und erst jetzt durch einen ebenso irren wie schlauen Mörder gerächt werden soll. Rivers muss sich sputen, denn noch ist dieser Feldzug nicht abgeschlossen – der Killer hat schon das nächste Opfer ins Visier genommen …

_Ritter in einer wenig glanzvollen Gegenwart_

Privatdetektive stehen seit jeher in einem gespannten Verhältnis zur Polizei. Wen wundert’s, da diese über – womöglich auch noch erfolgreiche – Konkurrenz, die zudem an keine Dienstvorschriften gebunden ist, nicht erbaut sein kann. Zwar verfügt der Detektiv nicht über die Möglichkeiten, die der Polizei ihre Ermittlungen ermöglichen und erleichtern sollen, doch öffnen sich ihm andererseits Türen, die den offiziellen Ermittlern manchmal verschlossen bleiben.

So wird aus dem Privatdetektiv des Kriminalromans die letzte Instanz; nicht unbedingt für das Recht, sondern für die Gerechtigkeit, die er auf manchmal leicht krummen Wegen vertritt. Der klassische Detektiv – und in diese Kategorie fällt Leo Rivers – ist ein Ritter in rostiger Rüstung. Letzteres ist längst zum Klischee geworden: Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit rentieren sich nicht in einer merkantil und moralfrei orientierten Welt. Deshalb haust auch Rivers in einem Büro, dessen liebevoll ausgemalte Schäbigkeit beinahe lächerlich wirkt; betrachten wir es als literarische Anleihe an die Klassiker des Genres.

Auf die stützt sich Robert Edric sichtlich in seiner düsteren und sehr komplizierten Geschichte einer ‚verzögerten‘ Rache. Sorgfältig vertuschte Skandale in gesellschaftlichen Hochkreisen sind ein trüber Teich, in dem schon die Großmeister des Genres – Chandler, Hammett, Macdonald – ihre Detektive fischen ließen. „Ihr Blut soll vergossen werden“ wirkt wie eine gen Osten über den Atlantik verlagerte und für das 21. Jahrhundert aktualisierte Version dieser Krimis, die stets viel über die politischen und sozialen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit aussagten.

_Diese Welt ist ein meist trostloser Ort_

Hull ist so, wie Edric diese Stadt schildert, die ideale Umgebung für Anti-Helden wie Rivers, dem mit seinen Freunden Sunny und Yvonne ähnlich angeschlagene Zeitgenossen zur Seite stehen. Die Globalisierungskrise wurde hier in den 1970er Jahren durch den Zusammenbruch der Fischerei vorweggenommen, die der Stadt ihre jahrhundertealte wirtschaftliche Basis nahm und einen ganzen Berufsstand überflüssig machte. Die Fischer wurden verdrängt und vergessen; sie sanken zur dauerarbeitslosen Unterschicht ab. Auch Rivers‘ Vorfahren waren Fischer; er kennt die Problematik, was es ihm ermöglicht, die verbitterten Männer zu verstehen, mit denen er es im Verlauf seiner Ermittlung immer wieder zu tun bekommt.

Politiker sind im Detektivroman quasi automatisch verdächtig. Sind sie selbst nicht in das zentrale Verbrechen verwickelt, finden sie genug andere Möglichkeiten, sich moralisch ins Unrecht zu setzen. Statt sich für die Menschen einzusetzen, die sie gewählt haben, verbringen sie ihre Zeit mit Intrigen, Korruption und dem Kampf um den Erhalt der Macht. In unserem Fall repräsentiert Chief Superintendent Lister diese Klasse einer neuen gesellschaftlichen Elite, die durch moralisch ebenso gleichgültige Bankiers, Manager oder Wirtschaftsmagnaten verstärkt wird. Der Mord an einer jungen Frau und später eine ganze Mordserie interessiert sie nur als Treibstoff oder als Stolperstein für ihre Karrieren. Lister sind seine arrangierten ‚Pressekonferenzen‘ wichtiger als der Fortschritt der Fahndung, die er Untergebenen überlässt, denen er im Bedarfsfall ein Scheitern in die Schuhe schieben kann. Auf diesem Niveau bewegen sich alle selbst ernannten Stützen der Gesellschaft, auf die Rivers trifft.

_War da nicht noch ein Serienkiller …?_

Verlierer oder Schurken stellen die kopfstarke Schar derer dar, mit denen es Rivers zu tun bekommt. Für die Freunde des unschuldigen Rätselkrimis bedeutet „Ihr Blut soll vergossen werden“ harte und bittere Kost. Verbrechen ist hier kein intellektuelles Spiel, sondern schmutzige, schmerzhafte Realität. Die eigentlichen Morde werden nie geschildert. Edric beschränkt sich auf die Darstellung der Folgen, was mehr als ausreichend ist. Seine Schlussfolgerung ist überzeugend: Zu den Opfern eines Verbrechens gehören auch die Überlebenden.

Auch die detektivische Ermittlung ist bei Eldric kein glanzvoller Sprung von Geistesblitz zu Geistesblitz. Rivers‘ Alltagsarbeit besteht aus Fußarbeit und Frustration. Selten erfährt er, was er wissen möchte. Pure Hartnäckigkeit und Berufsroutine bringen ihn langsam weiter. Dabei unterlaufen ihm Fehler und Fehleinschätzungen, die ihn mit in den Strudel von Schuld und Sühne ziehen. Letztlich muss Rivers sogar entdecken, dass ihn das Establishment missbraucht hat. Er hat den Mörder gestellt, doch zufrieden stellt ihn das nicht – es kann einen Mann wie ihn auch nicht zufriedenstellen, der im Grunde ein Idealist ist.

Der Mörder: keine Lecter-Kopie, die in blutigen Spektakeln schwelgt, sondern ein gestörter Mensch, der nur den Dämonen im eigenen Hirn verpflichtet ist. Die Bluttaten sind schäbig, die Leichen hässlich. In dem Heer egoistischer Karrieristen und Heuchler, mit denen uns Edric konfrontiert, fällt der Mörder eigentlich gar nicht auf.

_Traurige Realität in kunstvoller Sprache_

Das klingt nach einer geradezu niederschmetternden Lektüre. In der Tat lässt uns Edric kein Schlupfloch. Ruhepausen in Gestalt schwarzhumoriger Einlagen à la Ian Rankin oder Stuart MacBride gibt es nicht. Oder ist der Leser solche emotionale Intensität einfach nicht mehr gewöhnt? „Ihr Blut soll vergossen werden“ gehört zwar äußerlich zum Strom lieblos gestalteter Thriller, die der Buchfabrik-Gigant |Random House| allmonatlich auf den Markt wirft, doch inhaltlich ist dieser Roman von einer Qualität, die das übliche Lesefutter vermissen lässt. (Damit das bloß kein Durchschnittsleser merkt und womöglich vom Kauf abgeschreckt wird, wurde dem Roman in Deutschland der reißerische Dumm-Titel „Ihr Blut soll vergossen werden“ aufgeprägt.)

An dieser Stelle soll nicht schon wieder in jene Kerbe gehauen werden, die in Deutschland die „Literatur“ von der „Unterhaltung“ trennt. Diese fruchtlose Diskussion wird an anderer Stelle kundiger (und vehementer) geführt. Beschränken wir uns hier auf die nüchterne Feststellung, dass Robert Edric unabhängig vom gewählten Genre ein versierter Geschichtenerzähler ist. Er kann mit Worten umgehen, er hat ein Gespür für Handlungsstruktur und Timing. „Ihr Blut soll vergossen werden“ ist ein Roman mit mehr als 400 Seiten Umfang. Die Überraschung ist, dass jeglicher Leerlauf ausbleibt. Das kennt man als Leser der ziegelsteindicken Krimis der Gegenwart kaum noch, sondern hat sich darauf eingestellt, Passagen, die früher als Geschwafel erkannt und gekürzt worden wären, einfach zu überspringen. Edric hat und hält uns am Haken. Falls es das ist, was einen Literaten kennzeichnet, dann wünscht sich der Krimifreund mehr Schriftsteller wie Robert Edric!

_Der Autor_

Robert Edric ist das Pseudonym von Gary Edric Armitage, der 1956 im englischen Sheffield geboren wurde. Dort wuchs er auf und studierte Geografie – ein Fach, das er später als Dozent an der Hull University lehrte.

Schon in seiner Doktorarbeit zeigte sich Edric als Literat: Er untersuchte die Bedeutung geografischer Begriffe wie Landschaft und Raum im viktorianischen Roman. Als Autor wurde er aktiv, nachdem er 1982 nach Hornsea in East Yorkshire umgezogen war, wo er noch heute lebt und arbeitet. 1985 veröffentlichte Edric „Winter Garden“. Für seinen Debütroman wurde er mit einem James Tait Black Prize ausgezeichnet. Auch für seine weiteren, meist historische Themen aufgreifenden Romane wurde Edric mehrfach preisgekrönt.

Die „Song Circle“-Trilogie um den Privatdetektiv Leo Rivers erschien im Wilhelm Goldmann Verlag:

(2003) Die toten Mädchen („Cradle Song“) – TB Nr. 45661
(2004) Die Tote im Meer („Siren Song“) – TB Nr. 45662
(2005) Ihr Blut soll vergossen werden („Swan Song“)

_Impressum_

Originaltitel: Swan Song (London : Doubleday, a division of Transworld Publishers 2005)
Übersetzung: Giovanni u. Ditte Bandini
Deutsche Erstausgabe: Oktober 2007 (Wilhelm Goldmann Verlag/TB Nr. 46451)
416 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-442-46451-7
http://www.randomhouse.de/goldmann

Kinman, Ben (McGrew, Chandler) – Todesfluch

_Das geschieht:_

Was verbindet Lucy Devereau, eine Privatdetektivin, und Dylan Barnes, Lehrer für Kampfsport, die in unterschiedlichen Kleinstädten Neuenglands ihr unauffälliges Dasein fristen? Diese Frage wird akut, als man beiden plötzlich nach dem Leben trachtet. Schon länger litten sie unter dem Gefühl, beobachtet und bedroht zu werden. Barnes, der seit dem Tod seiner über alles geliebten Gattin psychisch aus dem Gleichgewicht ist, hatte sogar den Eindruck, es würde in seinem Haus spuken.

Lucy wird entführt, kann sich aber befreien. Als sie erleben muss, dass die Polizeibeamten, die sie bewachen und schützen sollen, ebenfalls zu ihren Verfolgern gehören, ergreift sie die Flucht. Ähnliche Erfahrungen macht Barnes, dem zusätzlich die Leiche seiner Frau aus der Friedhofserde gestohlen wird. Auch er macht sich aus dem Staub.

Die Wege der Flüchtlinge kreuzen sich, als sie von Mitgliedern der uralten Geheimorganisation „Rex Deus“ gerettet werden. Diese steht wieder einmal im Kampf mit den „Qedem Melech“, die aufgrund einer anstehenden „Verdunklung“ Oberwasser wittern: Zwischen der irdischen Realität und einer fremden Dimension bildet sich ein Portal, hinter dem die „Ewigen“ – mächtige, böse Wesenheiten – auf ihre Chance lauern, die Erde zu erobern.

Die meisten Menschen verschwinden spurlos. Es gibt keine elektrische Energie mehr. Blutrünstige Ungeheuer wandeln über die Erde. Sie halten Ausschau nach Lucy Devereau und Dylan Barnes, denn diese beiden Menschen sind die Einzigen, die dem Durchbruch der „Ewigen“ Einhalt gebieten könnten. Nur der „Burgfried“, die Basis der Rex-Deus-Bewegung, würde ihnen Schutz bieten, doch bis dorthin steht ihnen ein weiter, an bösen Zwischenfällen reicher Fußmarsch bevor …

_Die Welt geht unter – oder auch nicht_

Mystery und Munkel sind in der heutigen Unterhaltungsliteratur leider austauschbare Begriffe geworden. Geheimnisvolle Mächte, zu gleichen Teilen gezeugt aus halb verdauter Realmythologie und moderner Populärkultur, drängen dank Dan Brown & Co. mit Macht auf diese Erde. In diesem Fall sind es die „Ewigen“, die verdächtig an H. P. Lovecrafts „Große Alte“ erinnern. Es wird nicht die einzige ‚Ähnlichkeit‘ bleiben.

Biblisches Gedankengut wird trivialisiert und dem Gemenge als Treibmittel beigefügt. Autor Kinman bedient sich vor allem der „Entrückung“, die u. a. im Neuen Testament Erwähnung findet: Wenn dereinst Jesus Christus ein zweites Mal zurückkehren wird, um den Antichristen zu besiegen, werden alle gläubigen Christen in den Himmel auffahren und die Erde menschenleer hinterlassen – mit Ausnahme jener schwarzseeligen Pechvögel natürlich, die den moralischen Maßstäben des HERRN nicht genügen können und zurückbleiben müssen, bis der Teufel sie endgültig holen kommt.

Vor allem die christliche Fundamentalisten-Fraktion, die jedes Bibelwort buchstäblich nimmt, wartet sehnsüchtig auf diesen Moment. Ben Kinman bleibt vorsichtshalber vage, wenn er die Attacke der „Ewigen“ und die „Entrückung“ zur „Verdunklung“ verquirlt. Er lässt die direkte Wiederkehr Gottes weg und tut gut daran, weil dies den Rahmen seiner nicht gerade genial ausgetüftelten und erzählten Geschichte zweifelsohne sprengen würde. Von Gott wird viel (zu viel) geredet, aber dieses Weltende findet ohne ihn statt. „Todesfluch“ ist zwar reich an Andeutungen, die eine simple Invasionsstory emotional zum apokalyptischen Weltuntergangs-Spektakel aufladen sollen, doch Kinman fabriziert stattdessen nur einschlägige Klischees und hohle Melodramatik.

Auf die große vatikanische Verschwörung mag er dagegen nicht verzichten: Der Papst weiß von den Umtrieben der „Ewigen“, glaubt aber nicht an die Realität der Bedrohung, die sie verkörpern. Er weigert sich deshalb nicht nur, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, sondern schickt Kirchenmännern, die dies ignorieren und die Welt warnen wollen, seine Schlägertruppen auf den Hals …

_Der Weg ist das Ziel_

Falls Ben Kinman von Ambitionen geplagt wurde, die über den Willen zur bloßen Unterhaltung hinausgehen, sollte ihm der Leser dies lieber stillschweigend vergeben sowie schnell vergessen. „Todesfluch“ besitzt keine dramatische Dimension, ist weder vom Geist noch vom Ungeist des Dan Brown berührt und kann nicht einmal als Kopie einer Stephen-King-Aventiure durchgehen. (Wie der große Meister des modernen Horrors stammt auch Ben Kinman – der eigentlich Chandler McGrew heißt – aus dem US-Staat Maine, der ihm gern als Hintergrund für seine Geschichten dient.) „Todesfluch“ erinnert (zumindest von fern) an King-Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“ oder an die Serie vom Dunklen Turm.

In der Umsetzung orientiert sich Kinman allerdings weniger an King als an Dean Koontz, der die Verfolgungsjagd nicht nur zur Kunst, sondern zum Inhalt seiner ziegelsteindicken Romane erhoben hat. Es wird gerannt, geflüchtet & gekämpft, bis die Schwarte buchstäblich kracht. Erklärungen bleiben bis zum Finale aufgeschoben. In der Regel taugen sie als Auflösung wenig, sodass es gut ist, wenn sie so lange wie möglich ausbleiben.

Also werden Lucy und Dylan, unsere beiden Heilande wider Willen, mit dem Hinweis auf Flucht und Eile immer wieder vertröstet, wenn sie – verständlicherweise – endlich wissen wollen, wie ihnen geschieht. Unterdessen stapft man im klerikalen Swat-Team tage- und wochenlang gen Burgfried und findet trotzdem keine Gelegenheit, einige klärende Worte zu sprechen … Logik ist halt kein Faktor, der dem Mystery-Genre behagt. Deshalb frage man u. a. lieber nicht:

– wer sich den genialen ‚Plan‘ ausgedacht hat, die „Ewigen“ durch zwei Erlösergestalten in Schach zu halten, die von ihrem Job keinerlei Ahnung haben.

– wie es die „Ewigen“ von jenseits des Dimensionstors schaffen, charakterschwache Zeitgenossen in Reptil-Monster zu verwandeln, die den „Rex Deus“-Gruppen hinterherschlurfen (ohne sie jemals richtig zu erwischen, weil die „Rhothag“ aus dramaturgischen Gründen kein Tageslicht ertragen und auch sonst in entscheidenden Momenten schwächeln).

– warum die „Ewigen“ ausgerechnet auf die Erde so scharf sind, obwohl ihnen der Aufenthalt dort gar nicht behagen dürfte.

_Wer gar nichts weiß, kann umso größere Wunder wirken_

Der typische Erlöser ist nicht nur in der christlichen Religion gern ein ‚ganz normaler‘ Mensch, der sich von seiner Mission überfordert fühlt. Lucy und Dylan – immerhin Privatdetektivin und Kampfsportler, was ihr permanentes Entwischen etwas realistischer erscheinen lässt – ringen kapitellang mit ihren Selbstzweifeln. Zwischen ihnen und ihren „Rex Deus“-Gefährten werden pathetische Allgemeinplätze und Binsenweisheiten gewechselt, bis es Zeit für einen neuen Angriff der Rhothag ist, die der Leser herbeizusehnen beginnt, da sie dem sich endlos im Kreis drehenden Geschwätz wenigstens kurzfristig ein Ende bereiten.

Für Lucy und Dylan ist der Weg zur Erkenntnis nicht nur lang, sondern mit der üblichen Weigerung verbunden, das ihnen auferlegte Schicksal zu übernehmen. Das mündet gern in der tränenreich vorgebrachten Forderung, man wolle doch nichts als ’normal‘ sein. Für die daraus resultierenden Klagen und Zweifel muss Kinman nur einschlägige Klischees abrufen und sie an die Handlung dübeln, was diese weiter in die Länge zieht.

Damit die Situation wenigstens ein bisschen brisanter wird, wird das Lager der Guten zusätzlich geschwächt, indem die „Rex-Deus“-Bewegung in zwei konkurrierende Lager zerfällt. Das führt zu weiteren fruchtlosen Diskussionen, die erneut viele Seiten füllen und zu nichts führen, denn letztlich stellt sich heraus, dass es nichts mehr gibt, über das sich zu balgen lohnte: Als die finale Entscheidungsschlacht dann kommt, hört man statt des großen Knalls nur ein feuchtes Zischen. Kinman hat keine Visionen für die Endzeit, sondern verharrt auf TV-Niveau. So schließt er unfreiwillig kongenial ein Werk ab, das weder Fisch noch Fleisch und in jeder Hinsicht mittelmäßig ist.

_Der Autor_

Ben Kinman ist das Pseudonym des texanischen Schriftstellers Chandler McGrew. Der in Texas geborene und heute mit seiner Familie im neuenglischen US-Staat Maine lebende Autor veröffentlichte zwischen 2000 und 2005 fünf Mystery-Thriller, die weniger durch Originalität als durch ihre handwerkliche Glätte auffallen und recht erfolgreich wurden. In den letzten Jahren versucht sich McGrew folgerichtig als Autor im Film- und TV-Sektor.

Über sein Werk informiert der Autor auf seiner beklagenswert informationsarmen und gar nicht aktuellen Website: http://www.chandlermcgrew.com.

_Impressum_

Originaltitel: The Darkening (New York : Bantam Dell 2004)
Übersetzung: Sabine Schlilasky
Dt. Erstausgabe: April 2008 (Knaur Taschenbuchverlag/TB Nr. 63819)
457 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-426-63819-4
http://www.knaur.de

Preston, Douglas / Child, Lincoln – Darkness – Wettlauf mit der Zeit

_Das geschieht:_

Nachdem er im mörderischen Kampf mit seinem wahnsinnigen Bruder an Leib und Seele Schaden nahm (vgl. die Trilogie „Burn Case“, „Dark Secret“ und „Maniac“), zieht sich FBI-Agent Aloysius Pendergast – begleitet von seinem jungen Mündel Constance Green – für eine Weile in das abgelegene tibetanische Kloster Gsahrig Chongg zurück. Lama Thubten bittet ihn dort um seine Unterstützung: Aus der Schatzkammer des Klosters wurde das Agozyen gestohlen. Worum es sich bei dem uralten Artefakt handelt, ist den Mönchen nicht bekannt; der Überlieferung zufolge soll es dereinst die sündige Menschheit von dieser Welt tilgen.

Der Täter, ein englischer Bergsteiger, kann sich seiner Beute nicht lange erfreuen. Pendergast findet Jordan Ambrose brutal ermordet in einem Londoner Hotelzimmer. Das Agozyen ist verschwunden. Die Spur führt an Bord der |Britannic|. Das brandneue Linienschiff – es ist das größte der Welt – steht vor seiner Jungfernfahrt. 2700 betuchte und einflussreiche Passagiere werden während der siebentägigen Seereise von Southampton nach New York von 1600 Besatzungsmitgliedern betreut. Der Mörder hat sich mit dem Agozyen unter sie gemischt.

Auch Pendergast und Constance schiffen sich ein. Möglichst unauffällig beginnen sie die infrage kommenden Passagiere zu überprüfen. Eile ist geboten, denn Mitreisende beginnen spurlos zu verschwinden. Wenig später tauchen grässlich verstümmelte Leichen auf. Zu allem Überfluss beginnt ein leibhaftiger Dämon unter Deck umzugehen. Auf der |Britannic| macht sich Panik breit, Meuterei liegt in der Luft. Die Schiffsführung wird von der Situation überrumpelt. Eine bösartige Macht übernimmt buchstäblich das Steuer. Mit Höchstgeschwindigkeit steuert die |Britannic| auf die mörderischen Klippen der Carrion Rocks zu. Nur Pendergast könnte dem Einhalt gebieten, doch der steht längst im Bann des Agozyen …

_Mystery-Action, die den Bauch erfreut_

Zum achten Mal gerät Aloysius Pendergast, der für das FBI tätig ist (das aber dieses Mal nie in Erscheinung tritt bzw. keine Einwände gegen einen Beamten hat, der viele Monate in einem tibetanischen Kloster meditiert, sich von einem Bergmönch als Reliquienjäger anheuern lässt sowie auf eigene Faust einen Serienkiller jagt), in ein Abenteuer, das weder dem gesunden Menschenverstand noch den Naturgesetzen, sondern ausschließlich den Regeln der Unterhaltung verpflichtet ist. „Darkness – Wettlauf mit der Zeit“ klingt zwar nach einem dieser sinnfreien deutschen Titel, die übersetzten Thrillern gern übergestülpt werden, doch in diesem Fall trifft zu, was angedeutet wird: Ein düsteres Geheimnis muss gelüftet werden, damit eine Doppel-Katastrophe – der Untergang eines gigantischen Schiffes, gefolgt vom Untergang der Welt – ausbleibt.

Nach dem monumentalen, sich über drei Bände hin- und herziehenden Duell der Brüder Aloysius und Diogenes Pendergast kehrt das Autorenduo Preston & Child zu einer deutlich simpler gestrickten Handlung zurück. Wie Perlen auf einer Kettenschnur reihen sich mehr oder weniger spektakuläre Ereignisse. Die Chronologie bleibt gewahrt, es gibt keine Rückblenden oder Zeitsprünge. Auch topografisch geht es von Ort A nach B, dann nach C und so weiter. Für den Anschein von Dynamik sorgt eine Flut von Cliffhangern; die Handlung bricht im entscheidenden Moment ab, um zum nächsten Krisenpunkt zu springen.

_Nicht so hanebüchen wie üblich_

Die einfache Dramaturgie ist der Story angemessen. „Darkness“ funktioniert deutlich besser als die künstlich aufgeblähte Vorgänger-Trilogie. Preston & Child spinnen ein recht dünnes Garn, dem der Verzicht auf allzu übertriebene und dadurch ins Lächerliche abgleitende Knalleffekte guttut. Der Plot ist bewährt; schließlich bedient sich das Autorenduo seiner schon seit vielen Jahren. „Darkness“ ist wieder ein ‚Remake‘ von „Relic“ (dt. „Das Relikt“), dem ersten und mit Abstand besten Band der Pendergast-Serie. Das „American Museum of Natural History“ wird durch die |Britannic| ersetzt, in deren Stahlrumpf es ebenso verwinkelt und unübersichtlich zugeht. Die Führung des Schiffes ist untereinander uneins, es wird gemobbt und gemauschelt. Ein Monster schleicht durch die Gänge, bis sich die feine Gesellschaft in einen tobenden Mob verwandelt, der sich selbst effektiver meuchelt als jede Bestie. Darüber schwebt mehr als ein Hauch von „Titanic“ in der Seeluft, was Preston & Child gar nicht leugnen, sondern selbst mehrfach ansprechen; er sorgt für zusätzliche Gänsehaut, die nicht eigens heraufbeschworen werden muss.

Von außen ist keine Hilfe zu erwarten, der Ort des Geschehens ist isoliert, denn ein Schiff auf hoher See bleibt ein auf sich gestellter Mikrokosmos, der es zu einem klassischen und immer wieder gern genutzten Schauplatz macht. Die |Britannic| ist zu allem Überfluss so gut gegen (terroristische) Attacken aller Art geschützt, dass sie sich partout nicht lahmlegen lässt, als der Wahnsinn auf der Kommandobrücke regiert. (Auch ein aus „Relic“ übernommener Punkt.)

Bis es so weit ist, gilt es für den Leser, manche Flaute zu überstehen. Um auf die vertraglich vereinbarte Seitenzahl zu kommen, scheinen die Autoren tüchtig Stroh dreschen zu müssen. Absolut ohne Belang für das eigentliche Geschehen ist unter anderem eine endlos ausgewalzte Episode, die sich um die Entlarvung an Bord aktiver Falschspieler dreht. Viel zu viel Zeit investieren Preston & Child außerdem in die Biografien von Figuren, die nur Futter für das Monster sind.

Auch dass ein Handlungsstrang in Tibet spielt, lässt Unbehagen aufkommen. In der Tat kommen uns Preston & Child einmal mehr mit dem Langbart-Klischee der übermenschlichen Weisheit meditierender Himalaya-Mönche. Mit exotischen Ritualen lassen sich Seiten füllen, und es klingt bedeutsam, wenn die Autoren einige tibetische Sprachbrocken einfließen lassen. Faktisch langweilen solche Luftnummern, alldieweil Konsequenzen stets ausbleiben. Die Mönche von Gsahrig Chongg wirken nicht wirklich weise – geschickt fassen sie Binsenweisheiten in möglichst kryptische Worte. Selbst das vorgeblich allmächtige Agozyen begnügt sich damit, einen Ozeanliner zu verwüsten. Das Ende der Welt bleibt wieder einmal aus.

_Agent auf neuen Pfaden?_

Agent Pendergast war im Konflikt mit seinem Bruder Diogenes (der in „Darkness“ einen ‚Gastauftritt‘ hat; in der Mystery-Märchenwelt von Preston & Child gilt der Tod als reversibler Faktor …) vom exzentrischen und eigenwilligen Ermittler zum tragischen Übermenschen mutiert: aufdringlich geheimnisvoll, ausgestattet mit überragenden geistigen Fähigkeiten, die ihn zur Konstruktion eines virtuellen „Gedächtnis-Palastes“ befähigen, geschlagen mit einer bizarren Familiengeschichte, die beinahe außerirdisch anmutet, unermesslich reich und fähig, mit immer neuen Talenten und Fähigkeiten aufzuwarten. In „Darkness“ schalten Preston & Child einen Gang zurück. Die Figur Pendergast bekommt wieder Bodenkontakt, was ihr gut bekommt. Weiterhin schüttelt Aloysius Genialitäten aus den Ärmeln seines feintuchigen Anzugs, doch er ist nicht mehr seine eigene Karikatur.

An seine Seite tritt zum ersten Mal mehr oder weniger selbstständig Constance Green, bisher eher lästig als lebendiger Schatten der Vergangenheit und später Jungfrau in Not, die von Diogenes Pendergast primär deshalb gepiesackt wurde, weil er damit seinem Bruder eins auswischen konnte.

Als ausgezeichnete Entscheidung erweist sich der Verzicht auf ausgelaugte Figuren wie den Knurr-Cop Vincent D’Agosta oder den rasenden Reporter Bill Smithback. Preston & Child lieben ausgiebige Querverweise zwischen ihren Werken und kombinieren gern ihre Hauptfiguren neu. In „Darkness“ werfen sie diesen Ballast ab. Pendergast und Green bleiben unter sich.

„Darkness“ wird als Roman seine Leserschaft spalten. Was die eine Seite im Bruderkampf zu spektakulär im Sinne von übertrieben fand, wird die andere dieses Mal vermutlich vermissen. Klammert man den direkten Vergleich aus, kann man „Darkness“ unterhaltsam genug finden, um dem Autorenduo das fortgesetzte Breittreten bekannter Elemente zu verzeihen.

_Die Autoren_

Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte ausgiebig, nämlich Mathematik, Physik, Anthropologie, Biologie, Chemie, Geologie, Astronomie und Englische Literatur. Erstaunlicherweise immer noch jung an Jahren, nahm er anschließend einen Job am „American Museum of Natural History“ in New York an. Während der Recherchen zu einem Sachbuch über „Dinosaurier in der Dachkammer“ – gemeint sind die über das ganze Riesenhaus verteilten, oft ungehobenen Schätze dieses Museums – arbeitete Preston bei |St. Martin’s Press| mit einem jungen Lektor namens Lincoln Child zusammen. Thema und Ort inspirierten das Duo zur Niederschrift eines ersten Romans: „Relic“ (1994; dt. „Das Relikt – Museum der Angst“).

Wenn Preston das Hirn ist, muss man Lincoln Child, geboren 1957 in Westport, Connecticut, als Herz des Duos bezeichnen. Er begann schon früh zu schreiben, entdeckte sein Faible für das Phantastische und bald darauf die Tatsache, dass sich davon schlecht leben ließ. So ging Child – auch er studierte übrigens Englische Literatur – nach New York und wurde bei |St. Martins Press| angestellt. Er betreute Autoren des Hauses und gab selbst mehrere Anthologien mit Geistergeschichten heraus. 1987 wechselte Child in die Software-Entwicklung. Mehrere Jahre war er dort tätig, während er an den Feierabenden mit Douglas Preston an „Relic“ schrieb. Erst seit dem Durchbruch mit diesem Werk ist Child hauptberuflicher Schriftsteller. (Douglas Preston ist übrigens nicht mit seinem ebenfalls schriftstellernden Bruder Richard zu verwechseln, aus dessen Feder Bestseller wie „The Cobra Event“ und „The Hot Zone“ stammen.)

Selbstverständlich haben die beiden Autoren eine eigene Website ins Netz gestellt. Unter [www.prestonchild.com]http://www.prestonchild.com wird man großzügig mit Neuigkeiten versorgt (und mit verkaufsförderlichen Ankündigungen gelockt).

Die Aloysius-Pendergast-Serie erscheint in Deutschland gebunden im |Droemer| sowie als Taschenbuch im |Knaur| Verlag:

(1994) „Relic“ (Relic – Museum der Angst / Das Relikt – Museum der Angst)
(1997) „Reliquary“ (Attic – Gefahr aus der Tiefe)
(2002) „The Cabinet of Curiosities“ (Formula – Tunnel des Grauens)
(2003) „Still Life with Crows“ (Ritual – Höhle des Schreckens)
(2004) „Brimstone“ (Burn Case – Geruch des Teufels)
(2005) „Dance of Death“ (Dark Secret – Mörderische Jagd)
(2006) „The Book of the Dead“ (Maniac – Fluch der Vergangenheit)
(2007) „The Wheel of Darkness“ (Darkness – Wettlauf mit der Zeit)
(2009) „Cemetery Dance“ (noch kein dt. Titel)

_Impressum_

Originaltitel: The Wheel of Darkness (New York : Warner Books 2007)
Übersetzung: Michael Benthack
Dt. Erstausgabe (geb.): Januar 2009 (Droemer Verlag)
499 Seiten
EUR 19,95
ISBN-13: 978-3-426-19808-7
http://www.droemer.de

_Preston & Child auf |Buchwurm.info|:_

[„Maniac – Fluch der Vergangenheit“ 4249
[„Dark Secret – Mörderische Jagd“ 2809
[„Dark Secret – Mörderische Jagd“ 4124 (Hörbuch)
[„Burn Case – Geruch des Teufels“ 1725
[„Burn Case – Geruch des Teufels“ 2193 (Hörbuch)
[„Das Patent“ 701
[„Ritual – Höhle des Schreckens“ 656
[„Formula – Tunnel des Grauens“ 192
[„Riptide – Mörderische Flut“ 71

Richard Stark – Keiner rennt für immer [Parker 22]

Der kühl und klug geplante Überfall auf einen schwer beladenen Geldtransporter wird für Berufsgangster Parker durch unberechenbare Komplizen und die Tücken des Schicksals zu einem Himmelfahrts-Unternehmen, das allen Risiken zum Trotz durchgezogen wird … – Die Geschichte eines zum Scheitern verteilten Coups wird in klarer Sprache, ohne stilistischen Sperenzchen und ungemein spannend erzählt: kein Epos, kein Reiten auf dem „human factor“, sondern einfach ein großartiger Gangster-Thriller. Richard Stark – Keiner rennt für immer [Parker 22] weiterlesen

Little, Bentley – Böse

_Das geschieht:_

Willis, eine Kleinstadt in Arizona, schmort unter glühender Sommersonne. Lehrer Doug Albin freut sich auf die Ferien, die er mit Gattin Trish und Sohn Billy daheim verbringen möchte. Das Leben in dem abgeschiedenen Ort ist beschaulich. Jeder kennt jeden, Nachbarn helfen einander, Geheimnisse müssen sorgfältig gehütet werden, wenn sie gewahrt bleiben sollen.

Der Schock ist deshalb groß, als sich Bob Ronda, der leutselige und allseits beliebte Postbote, mit der Schrotflinte den Kopf wegschießt. Niemand kann sich einen Reim auf diese sinnlose Tat machen, aber schon am nächsten Tag fährt sein Nachfolger die Post aus. John Smith ist sein Name, und er scheint sehr tüchtig zu sein. Doug Albin kann ihn allerdings überhaupt nicht leiden; Smith strahlt etwas Bedrohliches aus.

Zudem beginnen seltsame Vorfälle für Verwirrung und Unfrieden zu sorgen. Rechnungen und Mahnungen werden nicht mehr zugestellt, Telefon- und Stromanschlüsse gekündigt. Viele Bürger erhalten Nachrichten von Familienangehörigen und Freunden, zu denen der Kontakt seit Jahren abgebrochen war. Diese Briefe sind geschickte Fälschungen. Andere Schreiben landen absichtlich falsch in nachbarschaftlichen Briefkästen. Oft liegen Nacktfotos bei, die bekannte Bürger bloßstellen.

Doug will Smith zur Rede stellen, doch der hat geschickt dafür gesorgt, dass es keine Beweise für seine Machenschaften gibt. Einige Bewohner von Willis glauben Doug zwar, aber voller Angst verweigern sie ihm die Hilfe. Der Terror verstärkt sich, offene Gewalt bricht aus. Smith nimmt die Albins direkt ins Visier. Verzweifelt sucht Doug nach einem Ausweg. Die Zeit drängt, denn Smith, der sich immer fester im Sattel wähnt, lässt seine Maske endgültig fallen …

_Dämonischer Schuss in den Ofen_

„Böse“ ist das seltene Beispiels eines Romans, der flüssig geschrieben ist und seine Leser trotzdem irritiert und verärgert zurücklässt. Der Plot ist bewährt und hat seine Tauglichkeit schon oft unter Beweis gestellt. Die Kleinstadt, hinter deren idyllischer Kulisse sich allerlei düstere Geheimnisse verbergen, ist ein klassisches Motiv, seine Bewohner, ‚durchschnittliche‘ US-Amerikaner, bilden einen gut eingeführten Figuren-Pool. Aber irgendwie geht Bentley Little alles schief.

Der Plot: In eine kleine, von der Außenwelt bereits geografisch isolierte Gemeinde kommt John Smith, ein Dämon in Menschengestalt. Er schlüpft in die Rolle des Postboten und damit in eine Position, die es ihm möglich macht, sich mit privatem und beruflichem Hintergrundwissen zu versorgen, das er benötigt, um die Menschen besagter Gemeinde gegeneinander aufzuhetzen. Wie man so etwas richtig macht, hätte Smith vielleicht vorher bei seinem Dämonenkollegen Leland Gaunt erfragen sollen, der 1991 das neuenglische Städtchen Castle Rock heimsuchte. „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ wurde allerdings von Stephen King verfasst, der offensichtlich in einer ganz anderen Liga schreibt als Little. Der ‚borgt‘ sich nicht nur den Plot, sondern auch Kings Kleinstadt-Ambiente, vermag aber aus beidem wenig zu machen.

_Horror im Dorf der Holzköpfe_

Was hat Postbote Smith den guten Menschen von Willis nur ins Wasser getan? Wie sonst ließe sich deren kollektive Irrationalität erklären? So fern von Gut und Böse kann selbst die Bürgerschaft eines Provinznestes in Arizona nicht sein, dass sie sich von einem einzigen Schurken – Dämon hin, Dämon her – aus den Angeln heben ließe! Schon bald weiß nicht nur Lehrer Albin, dass Smith ein Betrüger ist. Es geschieht – nichts! Seine Nachbarn werfen ihm auf der Suche nach Unterstützung wie dem einsamen Sheriff aus „12 Uhr mittags“ die Haustüren ins Gesicht. Die örtliche Polizei ignoriert ihn. Wieso? Vermutlich vor allem deshalb, weil der gute Doug sich so umständlich ausdrückt, dass kein Polizist versteht, was er eigentlich sagen will.

Little will uns außerdem glauben machen, dass der böse Postmann nicht nur die Bürger von Willis, sondern auch die US-Postbehörde, das Elektrizitätswerk oder die Telefongesellschaft wie Marionetten an seinen Fäden tanzen lassen kann. Das ist schwer genug zu glauben, ohne dass Little es uns so plump schildert. Selbst in der modernen Servicewüste würde es einem Unternehmen auffallen, wollte eine ganze Stadt plötzlich auf seine Dienste verzichten.

In Willis bricht ob der falschen Briefe erst Unruhe und dann der Bürgerkrieg aus. Alle wissen, wer hinter der Hetze steckt. Statt sich zusammenzutun, um Smith auf die Postbude zu rücken, verkriechen sich seine Opfer in ihren Häusern und streiten sich munter weiter. Mit seinem Brett vor dem Kopf rennt jede/r rat- und sinnlos umher. Den moralischen Verfall der Menschen von Willis symbolisiert der Autor so: „Sein Haar hatte er anders gekämmt als sonst. Er hatte es in der Mitte gescheitelt, und das ließ ihn älter und härter aussehen.“ Gemeint ist Lane, Billy Albins Freund, der zwölf Jahre ‚alt‘ ist. Manipulation muss wesentlich subtiler inszeniert werden, wenn sie überzeugen und nicht zum Lachen reizen soll, Mr. Little!

_Im Grunde bekommen sie, was sie verdienen_

Erregt das Schicksal der Bürger von Willis beim Leser Mitleid? Ein deutliches NEIN ist die Antwort. Sogar seine Hauptfiguren, die Angehörigen der Lehrerfamilie Albin, denken und handeln so blöd, dass die Schweine sie beißen, wie man in Westfalen zu sagen pflegt. Wie Stephen King wollte Little typische Durchschnittsamerikaner als Sympathiefiguren zu literarischem Leben erwecken. Das ist augenscheinlich schwieriger, als es scheint. Wenn dabei nur Trottel und Langweiler entstehen, gibt es erst recht ein Problem.

Little scheinen seine Figuren selbst wenig zu interessieren. Sie werden aufwändig eingeführt, um nicht selten irgendwann spurlos aus der Handlung zu verschwinden. Da ist zum Beispiel Stockley, der Verleger der örtlichen Zeitung, mit dem Doug Albin seinen Verdacht gegen Smith diskutiert. Einige Seiten später lesen wir, dass Stockley bewaffnet in der Bank von Willis Amok gelaufen ist, ein Dutzend Menschen erschossen und Selbstmord begangen hat. Wie kam es dazu, zumal er laut Little eindeutig wusste, dass Smith nur Lügen verbreitet? Andere Figuren enden ebenso irrational; Little schert sich nicht um die daraus resultierende Unlogik. Lieber inszeniert er drastische Schockeffekte und lässt unter anderem die alte Irene in einer Badewanne sterben, in deren Wasser die Fragmente ihres zerstückelten Gatten treiben …

_Ein Teufel für dämliche Zeitgenossen_

Ein Horror-Roman wie „Böse“ steht und fällt mit der Qualität des Bösewichts. Den muss man hier einen Totalausfall nennen. Ein Postbote ist beim besten Willen keine Schreckensgestalt, auch wenn ihn Little laut im nächtlichen Wald tanzen und singen lässt – das soll wohl dämonische Fremdartigkeit suggerieren; der Leser denkt indes unwillkürlich an Rumpelstilzchen. („Ach wie gut, dass niemand weiß …“)

Weil selbst Little nicht entging, wie untauglich John Smith als Buhmann ist, pflanzt er seinen Figuren eine heilige Todesangst ein: Sie müssen den Postboten nur sehen, dann fährt sie ihnen tief ins Mark. Behaupteter Schrecken ist freilich wie feuchtes Schießpulver: Er zündet nicht. Der Leser bleibt ratlos mit seiner Frage, wie Smith solches Grauen verbreiten kann. Weil er der trutschigen Trish Albin feuchte Träume beschert? (Später schneidet er immerhin den Dorfhunden in Serie die Köpfe ab …)

Das Ende des dämonischen Postboten wird zum traurigen Höhepunkt dieser missglückten Horrormär. Aus heiterem Himmel gelingt Albin, womit er bisher scheiterte: Die Bürger von Willis stellen sich auf seine Seite und bilden eine gemeinsame Front. Wären sie früher auf diese naheliegende Idee gekommen, hätten sich diverse Morde, Selbstmorde, Haustiermorde und andere Ungeheuerlichkeiten gar nicht erst ereignet. Damit wäre dieser Roman überflüssig geworden; nichtsdestotrotz gibt ihn, und weil er nun auch die deutschen Leser erzürnen kann, muss man wohl annehmen, dass John Smith zu schlechter Letzt doch triumphiert …

_Zwei Anmerkungen zur deutschen Ausgabe_

– „Böse“ erschien im US-Original nicht wie im Buchimpressum angegeben 2003, sondern bereits 1991; der Roman ist also schon ein wenig angejahrt, was den Lesern/Käufern offensichtlich vorenthalten werden soll. Das Alter lässt sich gut an der völligen Abwesenheit der heute allgegenwärtigen Handys erkennen; im 21. Jahrhundert wäre John Smith schon aufgrund der modernen Kommunikationstechnik mit seinem Postboten-Coup schmählich gescheitert …

– „Kein Buch für schwache Nerven – und dabei bin ich wahrlich kein ängstlicher Zeitgenosse“: Stephen King soll diese lobenden Worte geäußert haben, die prompt und werbewirksam auf dem Cover auftauchen. Verkauft King solche hohlen Elogen en gros? Schämt er sich nicht, seinen Namen herzugeben, mit dem Humpel-Horror wie „Böse“ angepriesen werden kann? (Offensichtlich nicht.)

_Der Autor_

Der studierte Sprach- und Literaturwissenschaftler Bentley Little (geb. 1960 im US-Staat Arizona) veröffentlicht seit 1990 Geschichten und Romane, die recht kompromisslos dem Horror-Genre zuzuordnen sind: Das Übernatürliche wird nicht rational entschlüsselt, sondern als real vorausgesetzt.

Als Autor ist Little kein Feingeist. Er arbeitet ausgiebig mit blutigen Morde, sexuellen Perversionen und anderen vordergründigen Effekten. Gern lässt er solche Schrecken auf eine scheinbar heile Welt niederprasseln, um diese dann anschaulich in Stücke zu reißen. Als Vorbilder nennt Little Dean Koontz und Stephen King, wobei der Mann aus Maine sich schon früh für den jungen Kollegen einsetzte. Dass Little für seinen Roman „The Revelation“ 1990 einen „Bram Stoker Award“ für das beste phantastische Erstlingswerk erhielt, verdankt er auch Kings Fürsprache.

Mit seiner Familie lebt und arbeitet Bentley Little in Fullerton, Kalifornien. Über seine Aktivitäten informiert diese Website: http://bentleylittle.homestead.com

_Impressum_

Originaltitel: The Mailman (New York : Signet 1991)
Übersetzung: Rolf Tatje
Deutsche Erstausgabe: April 2009 (Bastei-Lübbe-Verlag/TB Nr. 15986)
414 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-404-15986-4
http://www.bastei-luebbe.de

Krajewski, Marek – Gespenster in Breslau

_Das geschieht:_

Breslau im Spätsommer des Jahres 1919: Kriminalassistent Eberhard Mock, eigentlich in der Abteilung für Sittlichkeitsverbrechen tätig, wird zur Mordkommission versetzt, um bei der Aufklärung eines grotesken Massenmords zu helfen: Vier nackte Männer mit Matrosenmützen – offensichtlich Prostituierte – wurden betäubt, ihre Gliedmaßen systematisch zerschlagen und ihre Lungen mit langen Nadeln durchbohrt.

Bei den Leichen hinterließ der Täter eine Nachricht: Eberhard Mock soll sich für ein unerkannt gebliebenes Verbrechen schuldig bekennen. Fatalerweise kann sich Mock an keine entsprechende Missetat erinnern, will diese aber nicht ausschließen: Er ist Alkoholiker, betrinkt sich regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit und leidet unter Schlafstörungen.

So geschieht, womit zu rechnen war: Als Mock sich nicht offenbart, schlägt der ungeduldig gewordene Mörder erneut zu. Von seinen Vorgesetzten kaltgestellt, schart Mock eine kleine Gruppe ihm gewogener Männer um sich und führt die Ermittlungen auf eigene Faust fort. Er stößt auf eine Spur, die in die höchsten gesellschaftlichen Kreise Breslaus führt, was seine Nachforschungen erheblich erschwert. Mocks Albträume nehmen zu, denn weitere Bluttaten ereignen sich, für die er sich verantwortlich fühlt. Umso nachdrücklicher stürzt er sich in die gefährlichen Untiefen der Breslauer Halbwelt, denn nur dort findet er die Antworten, die er sucht …

_Verbrechen als zeitloses Lesevergnügen_

Historienkrimis liegen im Trend. Vor allem in Deutschland wird die Mischung aus Verbrechen und Vergangenheit sehr geschätzt, was sich in entsprechenden Verkaufszahlen niederschlägt. Wo die Nachfrage hoch ist, wird von Autoren und Verlagen selbstverständlich geliefert – um jeden Preis, was den Historienkrimi zu einem Genre macht, das unter argen Qualitätsgefällen leidet. Noch die dümmlichste Mordmär wird scheinbar geadelt, wenn man sie nur in ferner Zeit ansiedelt: So wird offensichtlich und leider viel zu oft erfolgreich kalkuliert. Dabei ersetzen Recherche und historische Akkuratesse keineswegs eine gute Story, während andererseits eine gute Story problemlos Anachronismen ausgleichen kann.

„Gespenster in Breslau“ stellt keineswegs die ideale Symbiose von Historienroman und Krimi dar – glücklicherweise: Nicht nur die Geschichte liest sich spannend, auch das historische Umfeld ist glänzend rekonstruiert. Kein Wunder, war Autor Krajewski doch einst als Bibliothekar an der Breslauer Universität tätig und hat sich tief in die Geschichte seiner Heimatstadt eingearbeitet. Gleichzeitig übertreibt er es mit den Fakten nicht. Sie unterstützen die Handlung, erdrücken sie aber nie. „Gespenster in Breslau“ bleibt vor allem eine weitere Episode aus dem bewegten Leben des Eberhard Mock, mit dem Krajewski eine Figur gelungen ist, die er zu Recht in den Vordergrund schiebt.

_Serienmord und der Tanz auf dem Vulkan_

Vier schwule Matrosen werden gerädert und mit Nadeln erstochen, weitere Pechvögel erfahren ähnlich bizarre Lebensenden: In Sachen Drastik kann Krajewski auf jeden Fall mit den Metzeleien der aktuellen Killer-Thriller mithalten. Diese ereignen sich allerdings in Breslau, einer Stadt, die erfreuliches Krimi-Neuland für den interessierten Leser darstellt. Das Jahr 1919 ist kein vom Verfasser willkürlich gewähltes Datum; es signalisiert dem historisch leidlich vorgebildeten Leser ein Umfeld, das von politischer und gesellschaftlicher Instabilität geprägt ist und in dem ein Geschehen, wie es Krajewski schildert, plötzlich gar nicht mehr außergewöhnlich wirkt.

1919 ist nicht nur das Jahr 1 nach einem I. Weltkrieg, der viele Millionen Opfer gekostet hat. Jetzt strömen die Überlebenden zurück ins ’normale‘ Leben. Eberhard Mock gehört zu ihnen – ein typischer Vertreter seiner Generation, der nach dem Grauen, das er in einem Abnutzungs- und Vernichtungskrieg erleben musste, psychisch gezeichnet ist. Er kann nicht schlafen, wird von Albträumen heimgesucht, die er mit Alkohol und Sex betäubt. Nachts suchen ihn Gespenster heim, vermischen sich seine Kriegserinnerungen mit den alltäglichen Schrecken, denen er als Polizist ausgesetzt ist.

Die Gegenwart wird ihn kaum zur Ruhe kommen zu lassen. Nach Jahrhunderten, in denen Monarchen die europäischen Staaten regierten, versuchen diese nun die Demokratie. Immer neue Krisen erschüttern die jungen Republiken. Die Inflation galoppiert. Nach sowjetischen Vorbild bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte. Eine Revolution scheint auch in Deutschland nicht unwahrscheinlich; auch Mock wird damit konfrontiert, dass sich Räte und Militär belauern und ein Funke den bewaffneten Straßenkrieg auslösen kann. Währenddessen rühren die geschassten Machthaber von einst im Untergrund, versuchen alte Positionen neu zu besetzen. Noch spricht niemand von den Nazis, aber das Fundament, auf dem sie gedeihen, wird bereits bereitet.

_Eine Atmosphäre der Bedrohung_

„Gespenster in Breslau“ ist zweifellos ein spannender Kriminalroman. Dennoch ist der Plot vergleichsweise simpel, seine Auflösung womöglich platt. Wesentlich eindrucksvoller ist dagegen die Stimmung, die über dem Geschehen liegt. Über Breslau schweben in der Tat Gespenster; es sind nicht nur die für Mock ungelösten Konflikte der Vergangenheit, von denen die Gegenwart geprägt ist. Die allgemeine Unsicherheit wird von Krajewski selten direkt angesprochen. Viel lieber und effektvoller verdeutlicht er sie durch das fast verzweifelt zu nennende Bemühen der Breslauer, sich zu amüsieren.

In dieser Stadt herrscht kein Frieden, sondern eher eine Ruhe vor dem Sturm. Die Bürger versuchen an die Vorkriegszeit anzuknüpfen und den Krieg und seine Folgen zu verdrängen. Obwohl es hoch hergeht in den Bars und Boudoirs, wirken die Ausschweifungen wie Fluchten. Man genießt nicht, sondern frisst, säuft, kokst und hurt bis zum Erbrechen, bis zur Bewusstlosigkeit, als ob es kein Morgen gäbe oder als ob man schon die nationalsozialistische Zukunft ahnt, die Breslau 1945 in Schutt und Asche sinken und als polnisches Wroclaw wiedererstehen lässt. Dekadenz ist nicht tadelnswert, sondern beinahe das Gebot der Stunde.

In dieser Situation wirken auch die Umtriebe einer obskuren Geheimgesellschaft durchaus realistisch, zumal namentlich erwähnte Personen wie Ludwig Klages, Lanz von Liebenfels oder Walter Friedrich Otto tatsächlich existierten. Natürlich übertreibt Krajewski mit dem Wissen des Nachgeborenen. Der Prägnanz seiner Darstellung tut das jedoch keinen Abbruch.

_Ein Mann wie Mock_

Eberhard Mock markiert wie schon erwähnt das eigentliche Zentrum dieses Romans. Er ist als Person faszinierend, trägt aber durchaus unsympathische Züge. Die einzige Konstante seines Wesens scheint seine Unberechenbarkeit zu sein. Er ist in dem einen Moment sentimental und mitfühlend, um im nächsten seiner Aggressivität freien Lauf zu lassen, die er selbst nicht begreift. Mocks ‚Verhältnis‘ zu Frauen ist – gelinge ausgedrückt – gestört. Eine seiner Kriegsneurosen ist die womöglich eingebildete Erinnerung an eine rothaarige Krankenschwester, in die Mock seine unerfüllten Sehnsüchte projiziert. In Gestalt einer jugendlichen Prostituierten nimmt sie Gestalt an und sieht sich Mocks innerer Zerrissenheit ausgesetzt, der hilflos zwischen Illusion und Realität taumelt.

Wohin gehört dieser Eberhard Mock eigentlich? Auch ohne Krieg wüsste er es wohl nicht. Er ist ein Mann aus dem Volk, Sohn eines Schusters, der aber in den Genuss einer höheren Schulbildung kam. Seine klassische Bildung kann und will Mock nicht verleugnen. Sie hätte ihn womöglich in eine akademische Laufbahn geführt. Stattdessen und ohne sich die Gründe vor Augen führen zu können, ist Mock Polizist geworden. Als solcher ist er gut, aber gleichzeitig korrupt: ein gelangweilter Mann mit selbstzerstörerischen Zügen, der sich im Beruf, aber auch bei seiner Familie und seinen Freunden vorsätzlich in Schwierigkeiten bringt und das heimlich zu genießen scheint.

Als Leser versteht man gut, wieso Krajewski von Mock nicht lassen mag, obwohl er ihn ursprünglich nach vier Romanen ‚entlassen‘ wollte. Er passt in die unruhigen Zeiten, in die ihn der Autor wirft. Mocks Unberechenbarkeit wird unterstrichen durch den Verzicht auf eine chronologische Abfolge seiner Fälle: Während „Tod in Breslau“, der erste Teil der Serie, 1933 spielt, springt [„Der Kalenderblattmörder“ 5001 zurück ins Jahr 1927. „Gespenster in Breslau“ geht weitere acht Jahre zurück, während wir in „Festung Breslau“ den Mock von 1945 erleben. Mit „Pest in Breslau“ geht es zurück nach 1923. Die nüchterne und das Schwelgen in historischem Lokalkolorit meidende Form der Darstellung, die Krajewski – der sich lieber als Handwerker denn als Schriftsteller bezeichnet – bevorzugt, macht auch auf diese Romane neugierig.

Die Eberhard-Mock-Serie:

(1999) Tod in Breslau (btb Verlag Nr. 72831)
(2003) [Der Kalenderblattmörder 5001 (dtv Nr. 21092)
(2005) Gespenster in Breslau (dtv Nr. 21150)
(2006) Festung Breslau (dtv premium Nr. 24644)
(2007) Pest in Breslau (dtv premium Nr. 24727)

_Impressum_

Originaltitel: Widma w mieście Breslau (Warschau : Wydawnictwo W. A. B. 2005)
Übersetzung: Paulina Schulz
Deutsche Erstausgabe: August 2007 (Deutscher Taschenbuch Verlag/Dtv premium 24608)
317 Seiten
EUR 14,50
ISBN-13: 978-3-423-24608-8

Als Taschenbuch: Juli 2009 (Deutscher Taschenbuch Verlag Nr. 21150)
317 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-423-21150-5
http://www.dtv.de

Max Brooks – World War Z. Operation Zombie

Das geschieht:

Kaum ein Jahrzehnt ist vergangen, seit die menschliche Zivilisation beinahe unterging. Kein Atomkrieg, keine terroristischen Umtriebe und keine Ebola-Pandemie haben ihr den Untergang gebracht, sondern Zombies – verstorbene und wiederauferstandene Männer und Frauen, die nicht nur hungrig Jagd auf ihre früheren Mitmenschen machten, sondern diese durch ihren Biss selbst in lebende Tote verwandelten. Erst nach Jahren eines verzweifelten Kampfes konnten die Zombies ausgerottet werden. Die Zahl der Opfer geht in die Milliarden.

Der Autor dieses Buches gehörte einer Kommission an, die für die Vereinten Nationen die Geschichte des „Zombie-Weltkriegs“ rekonstruierte. Er konnte die Brennpunkte der Ereignisse bereisen und mit denen sprechen, die dort mit den Zombies in Berührung kamen (und dies überlebten). Die gesammelten Interviewtexte sind wichtige Steinchen in einem Mosaik, das bisher nie in seiner Gesamtheit dargestellt werden konnte. Sie wurden chronologisch geordnet und spielen an vielen Orten der Erde.

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Lovesey, Peter – Abschied auf Englisch

_Das geschieht:_

Der unglücklich verheiratete Zahnarzt Walter Baranov und die Blumenverkäuferin Alma Webster haben sich ineinander verliebt. An eine Scheidung darf Walter nicht einmal denken; Gattin Lydia hat in dieser Ehe die Hosen an und das Geld auf der Bank. Außerdem schreibt man das Jahr 1921, und untreue Ehemänner, die ihre Frau verlassen und sich zu ihrer deutlich jüngeren Geliebten bekennen, können mit finanziellem Ruin und gesellschaftlicher Ächtung rechnen.

Alma findet die Lösung: Lydia muss sterben! In seiner Not ist Walter einverstanden. Allerdings erinnert er sich an den unglücklichen Dr. Hawley Crippen, der es 1910 ebenfalls mit Gattinnenmord versucht hatte, nach einer aufsehenerregenden Verfolgungsjagd über den Atlantik in Kanada festgenommen und später gehenkt worden war. Er hatte die Leiche nicht gut genug entsorgt, was ihm zum Verhängnis wurde. Walter und Alma wollen es besser machen: Da Lydia eine Schiffsreise in die USA plant, wollen sie ihr an Bord des Luxusdampfers „Mauretania“ folgen, sie erst dort ermorden und die Leiche durch ein Bullauge verschwinden lassen, worauf Alma in Lydias Rolle schlüpft: Niemand wird auf der Passagierliste fehlen, und das verliebte Paar kann in der neuen Welt in eine ungestörte Zukunft starten!

Doch der Zufall spielt Walter und Alma einen bösen Streich: Eine zweite Frau geht ermordet über Bord. Ihre Leiche kann geborgen werden. Erfreut hört Kapitän Rostron, dass sich unter seinen Passagieren ein berühmter Polizist befindet: Keck nennt sich Baranov an Bord der „Mauretania“ ausgerechnet „Walter Dew“. Dew war der Inspektor, der einst Crippen stellte. Daran erinnert sich der Kapitän. Notgedrungen versucht sich Walter als Ermittler. Ihm hilft seine Vergangenheit als Bühnenmagier; tatsächlich sind seine Nachforschungen so erfolgreich, dass der Mörder unruhig wird und seinem Verfolger nachzustellen beginnt …

_Die Realität schlägt wieder einmal die Fiktion_

„Abschied auf Englisch“ ist der im Deutschen (wie üblich, muss man sagen) nichtssagende Titel einer Geschichte, deren Originaltitel den eingeweihten Leser bereits auf die Handlung einstimmt: Inspektor Dew ist zumindest in England eine bekannte Figur der (kriminologischen) Zeitgeschichte: der Mann, der 1910 den (natürlich ungleich berühmteren) Dr. Crippen stellte.

Das reale Geschehen bildet den idealen Untergrund für diesen Roman. Crippen war kein außergewöhnlicher Verbrecher und Dew als Polizist und Mensch niemand, an den man sich normalerweise erinnert hätte. Es sind die Umstände, die beide unsterblich machten: Crippen floh mit seiner Geliebten per Schiff nach Kanada. Vor 1910 hätte er in dem riesigen Land untertauchen können und wäre nie zur Rechenschaft gezogen worden. Doch Crippen bestieg mit der „SS Montrose“ eines der ersten Schiffe, das mit einer Funkstation ausgestattet war. Als Passagiere das flüchtige Paar erkannten, wurde die Nachricht nach London durchgegeben. Scotland Yard setzte Inspektor Dew in Marsch, der im Wettlauf mit der „Montrose“ nach Toronto reiste. Während Crippen sich ahnungslos auf dem Weg in die Freiheit wähnte, war nicht nur die Polizei, sondern auch die Weltpresse über jeden seiner Schritte informiert. (Diese fesselnde Geschichte rekonstruiert übrigens Eric Larson in seinem Buch [„Marconis magische Maschine. Ein Genie, ein Mörder und die Erfindung der drahtlosen Kommunikation“, 4545 das der Rezensent a. a. O. dieser Website besprochen hat.)

Peter Lovesey orientiert sich stark am Crippen-Fall. Der Zahnarzt Walter Baranov gleicht charakterlich dem unglücklichen Mörder, der ebenfalls als zurückhaltender und von seiner Ehefrau dominierter Mann galt. Auch die Dreiecks-Konstellation Baranov – Lydia – Alma ist der Realität entlehnt. Erst als sich die Handlung an Bord der „Mauretania“ verlagert, weicht Lovesey vom Vorbild ab.

Für diese Nähe zur Realität ist keineswegs die Denkfaulheit des Verfassers verantwortlich. Im Gegenteil: Lovesey setzt sich unter verstärkten schöpferischen Druck, indem er Crippens Odyssee sich in Baranovs Abenteuern widerspiegeln lässt. Auf diese Weise gelingt ihm weit mehr als eine geistreiche Variation. Er dringt tief in die Psychen von Hawley Crippen (der hier durch Baranov ‚gedoubelt‘ wird), Cora Crippen (= Lydia) und Ethel le Neve (Crippens Geliebte = Alma Webster) ein und schafft ein Stimmungsbild, das vielleicht nicht der historischen Realität entspricht, aber auf jeden Fall zeigen könnte, wieso Crippen, der alles andere als der ‚typische‘ Verbrecher war, zum fast perfekten Mörder mutierte.

_Mörderisches Durcheinander als vergnüglicher Historienkrimi_

In diesem ersten Drittel wird der puristische Krimi-Leser womöglich nicht auf seine Kosten kommen. Es geschieht nichts Kriminelles, stattdessen erzählt Lovesey die Lovestory von Walter und Alma. Er beachtet die zeitgenössischen Gesellschaftsregeln genau und verdeutlicht seinen Lesern, wieso eine Befreiung für das Paar aus seinem Dilemma nur in Mord bestehen kann. Dabei brüstet sich der Verfasser nicht mit aufdringlich dargebotenem historischem Wissen. Das Jahr 1921 fließt wohldosiert dort in die Geschichte ein, wo es ihr zugute kommt.

In diesen Handlungsstrang eingeflochten werden Ereignisse und Personen, die zunächst nicht mit dem Hauptgeschehen in Einklang gebracht werden können. Der Autor, der dazu quasi vor unseren Augen und ohne Scheu in die Rolle des allwissenden Erzählers schlüpft, weist uns darauf hin, dass es wichtig ist, diese Informationen im Hinterkopf zu bewahren, weil sie später ihre Bedeutung gewinnen werden. Auf diese Weise liefert er uns jenes Hintergrundwissen, das der Leser von einem ‚fairen‘ Rätselkrimi aus dem „Golden Age“ dieses Genres erwarten darf.

_Fakten & Fiktion in idealhomogener Mischung_

Doch „Abschied auf Englisch“ ist kein ‚authentischer‘ „Whodunit“, obwohl sich die Handlung 1921 abspielt. Erst mehr als sechs Jahrzehnte später schrieb Lovesey seinen Roman. Er ist ein ehrgeiziger und auch guter Schriftsteller, der sich nicht damit begnügt, die alten Schablonen möglichst deckungsgleich abzupausen. „Abschied auf Englisch“ ist ein Historienkrimi, ein Spiel mit dem Genre Kriminalroman und mit seiner Geschichte.

Der Widerhall des Crippen-Dramas ist ein Merkmal. Auch an Bord der „Mauretania“ hinterfragt Lovesey jedoch die zeitgenössischen Verhältnisse, indem er sie einerseits akkurat schildert und seine Kritik daran andererseits behutsam in die Handlung einfließen lässt. Jene Tiefen, die Loveseys figurenpsychologische Bohrungen erreichen, wird man in einem tatsächlich 1921 entstandenen Kriminalroman kaum finden.

Dabei gerät dem Verfasser den Unterhaltungsaspekt nie aus den Augen. Im zweiten Drittel beginnt sich der Grundton zu ändern. Aus der mit durchaus tragischen Zügen angereicherten Liebesgeschichte wird ein ‚echter‘ Krimi bzw. eine Krimi-Komödie. Der ernsthafte Unterbau wird nicht ignoriert; dass Walter Baranov sich so flüssig in Inspektor Dew verwandelt, bliebe ohne das Wissen um seine charakterlichen Eigenschaften schwer verständlich. Doch die Weichen der Handlung werden neu gestellt.

_Jeder verbirgt etwas, das niemand wissen darf_

Die Launen des Schicksals versetzen den Kriminellen in die Rolle des Vertreters von Recht & Gesetz; womöglich muss er sich sogar selbst verfolgen: Neu war diese Konstellation schon 1982 nicht mehr. Sie zählt aber zum Kanon klassischer Plots und wird gut erzählt ihre Wirkung weiterhin nicht verfehlen. Die Begleitumstände sind einfach zu reizvoll: „Inspektor Dew“ geht seiner Arbeit – die er nie erlernt hat – nicht allein nach, sondern wird von der Besatzung und den Passagieren der „Mauretania“ neugierig beobachtet. Fehler muss er tunlichst vermeiden bzw. sie kunstvoll überspielen. An Bord eines Dampfers ist er in seiner Rolle buchstäblich gefangen. Der Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle: Wenn die „Mauretania“ in New York anlegt, sollte „Dew“ nicht nur den Täter gestellt, sondern sich auch über seine Zukunft Gedanken gemacht haben. Als Baranov Dew wurde, hat er sich öffentlich gemacht. Die daraus resultierenden Konsequenzen sorgen für ein Ansteigen der Spannungskurve.

Wer ist der Mörder? In dieser Frage segelt Lovesey im Kielwasser der Klassiker. Verdächtig sind sie alle, diese ausdrucksstarken Figuren, die er uns gründlich vorstellt; so verlangt es das Genre. Selbstverständlich wird im großen Finale kein Deus ex Machina herbeigezaubert. Der Täter rekrutiert sich aus der Schar der Verdächtigen. Wer aufmerksam liest, wird ihn (oder sie) gemeinsam mit „Inspektor Dew“ entlarven, denn Lovesey sorgt wie gesagt für entsprechende Hinweise.

Was ihn allerdings nicht daran hindert, der Krimi-Klassik in einer originellen Coda kategorisch zu entsagen. „Abschied auf Englisch“ schließt mit einer Schlusspointe, die so in einem Krimi der 1920er Jahre nicht möglich gewesen wäre. Lovesey stellt das Geschehene binnen weniger Zeilen auf den Kopf und sorgt für den würdigen Ausklang eines Romans, der inzwischen selbst zum Klassiker seines Genres geworden ist. Dies der Leser nach Abschluss der Lektüre ebenso deutlich unterstreichen wie die fachkundige Jury der „Crime Writers Association“, die „The False Inspector Dew“ mit einem „Gold Dagger Award“ als besten englischen Kriminalroman des Jahres 1982 auszeichnete.

_Die „Mauretania“ sticht wieder in See_

„The False Inspector Dew“ ist bereits 1983 in deutscher Übersetzung erschienen. Noch einmal als Taschenbuch aufgelegt, verschwand der Roman vor vielen Jahren aus den Buchläden verschwunden und blieb nur mehr antiquarisch greifbar.

In der „CrimeClassic“-Serie des |Fischer|-Verlags erlebt er endlich seine Wiederkehr. Die Neuausgabe beinhaltet ein Nachwort von „Krimi-Couch“-Chefredakteur Lars Schafft, der unter dem Titel „Ein Maskenspiel auf hoher See“ relevante Hintergrundinformationen zum gerade gelesenen Roman liefert.

_Impressum_

Originaltitel: The False Inspector Dew (London : Macmillan 1982/New York : Pantheon 1982)
Übersetzung: Herbert Neumaier
Diese Neuausgabe: Februar 2009 (Fischer Taschenbuch Verlag/Fischer Crime Classic Nr. 18246)
318 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-596-18246-6
http://www.fischerverlage.de

Ed McBain – Die Gosse und das Grab

Ein abgehalfterter Ex-Detektiv lässt sich zu einer Ermittlung überreden, die umgehend in einen Mordfall mündet. Bedrängt von der Polizei, attackiert von unbekannten Schlägern und im Kampf mit den inneren Dämonen setzt er hartnäckig seine Arbeit fort, an deren Ende nichts als sein Tod stehen könnte … – Sehr ‚schwarzer‘ und pulpiger Thriller, der seine düstere Geschichte temporeich, in klaren Worten und ohne Beschönigungen erzählt; die Welt ist schlecht, und McBain liefert den Beweis!
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Robert Louis Stevenson / Lloyd Osbourne – Die falsche Kiste

Das geschieht:

Vor vielen Jahren zahlte der Kaufmann Jacob Finsbury aus London im Namen seiner beiden Söhne Joseph und Masterman je 1000 Pfund in eine Tontine ein: 36 Väter handelten ebenso, das Geld wurde zinsbringend angelegt, und dem letzten noch lebenden Sohn – und nur diesem! – wird es ausbezahlt!

Inzwischen ist es beinahe so weit. Die letzten beiden Kandidaten sind ausgerechnet Joseph und Masterman, die einander keineswegs in brüderlicher Liebe zugetan sind. Der leichtlebige Joseph steckt zudem in finanziellen Schwierigkeiten. Er hat das Erbteil seiner Neffen John und Morris durchgebracht. Vor allem Morris macht ihm deshalb das Leben zur Hölle. Die inzwischen auf stolze 116.000 Pfund angewachsene Tontine soll den Familienfrieden wieder herstellen. Mit Michael, Mastermans Sohn, einem gerissenen Winkeladvokaten, kann man sich einigen, denkt Morris. Als der ablehnt, wittert Morris Betrug: Lebt Masterman überhaupt noch oder will Michael nur diesen Anschein erwecken, um die Tontine an sich zu reißen?

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Robert E. Howard – Das Ungeheuer aus dem Sumpf

Acht Kurzgeschichten eines Großmeisters der „Pulp“-Ära:

– Vorwort, S. 7-9

– |Das Ungeheuer aus dem Sumpf| („Black Canaan“, 1936), S. 10-54: In den Sümpfen von Louisiana übt ein Zaubermeister mit schwarzer Magie sein Schreckensregiment aus …

– |Delenda est| („Delenda est“, 1968), S. 55-63: In der Nacht vor dem Vandalen-Sturm auf Rom offenbart sich König Geiserich ein gespenstischer Verbündeter …

– |Der Dämon des Ringes| („The Haunter of the Ring“, 1934), S. 64-84: Ein eifersüchtiger Magier will sich seines Nebenbuhlers auf wahrlich teuflische Weise entledigen …

– |Das Haus unter den Eichen| („The House in the Oaks“, 1971), S. 84-107: Sein Blick durch seine Fenster fällt in eine andere Welt, doch können ihn deren Bewohner ebenfalls sehen …

– |Der Todestraum| („The Cobra in the Dream“, 1968), S. 107-115: Ein Fluch überlebt seinen höllischen Vollstrecker und macht sich selbstständig …

– |Dermods Fluch| („Dermod’s Bane“, 1967), S. 115-121: Ein grausam zu Tode gekommener Unhold sucht Opfer, die er ins Verderben locken kann …

– |An der schwarzen Küste| („People of the Black Coast“, 1969), S. 122-134: Auf einer einsamen Insel führt ein Mann einen grimmigen Rachefeldzug gegen die dämonischen Bewohner …

– |Die unter Gräbern hausen| („The Dwellers under the Tombs“, 1976), S. 134-161: Der alte Jonas plant einen Schurkenstreich, doch er fängt sich in der eigenen Falle, als er dabei schauderhafte Kreaturen aufstört …

_Die schrecklich schöne Welt des Groschen-Grusels_

Ein Cent pro Wort – das war der durchschnittliche Satz, nach dem die Autoren der „Pulp“-Magazine in den 1930er Jahren ‚entlohnt‘ wurden. Wer auf Geld aus dieser Quelle angewiesen war, schrieb deshalb möglichst rasch & viel. Das Ergebnis war oft entsprechend; kein Wunder, dass neun von zehn Schriftsteller (oder Schreiberlinge) der Pulp-Ära nur noch Eingeweihten bekannt sind.

Doch die Schufterei in den Pulp-Minen bot gleichzeitig jungen und ehrgeizigen Autoren die Möglichkeit zu publizieren, sich einen Namen zu machen und diesen in klingende Münze zu verwandeln. Viele Klassiker der US-Phantastik wurden mit und durch die Groschenhefte groß.

Robert E. Howard (1906-1936) schaffte zwar den Durchbruch, doch er starb zu früh, um nachhaltig unter Beweis zu stellen, was seine Storys ankündigten: Hier stand ein Meister der unterhaltsamen Phantastik in den Startlöchern.

_Horror rasant – und roh_

Howard war in praktisch allen Genres präsent, die von den Pulps bedient wurden. „Das Ungeheuer aus dem Sumpf“ zeigt eine Auswahl seiner Horrorstorys. Für diesen Bereich seines Werkes sind sie einigermaßen repräsentativ, obwohl sie die wirklich guten Geschichten ausdrücklich ausklammern. Das lässt sich jedenfalls dem Vorwort entnehmen, bevor eilig erklärt wird, dass auch der ‚hastige‘ Howard, der Stoff für die Pulps strickte, sein erzählerisches Talent nicht verleugnen könne.

Solche argumentativen Fallrückzieher hat Howard weder verdient noch nötig. Hilfreicher wären Hinweise auf das historische Umfeld des Verfassers, denn es sind weniger die Qualität – ohnehin ein Begriff mit schwammigen Definitionskriterien – der hier vorgestellten Geschichten als gewisse zeitgenössische Eigentümlichkeiten, die für Staunen oder Stirnrunzeln sorgen.

Eher ungünstig steigt der Leser mit einer Titelgeschichte ein, die tief dem alltäglichen Rassismus ihrer Entstehungszeit verhaftet ist. Nicht nur dem zwanghaften Gutmenschen der Gegenwart stößt Howards Mär vom Kampf eines weißen Herrenmenschen – diesen Begriff muss man hier nicht in Anführungsstriche setzen – gegen schwarze „Sumpf-Nigger“ übel auf. Niemand dachte sich offensichtlich etwas dabei, denn sonst wäre diese Story kaum 1936 im Magazin |Weird Tales| veröffentlicht worden; aus ökonomischen Gründen blieben die Pulps politisch und ideologisch konformistisch. (Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob „Das Ungeheuer aus dem Sumpf“ in der die unschönen Dinge deutlich beim Namen nennenden Übersetzung von 1981 heutzutage noch erscheinen dürfte.)

Objektiv betrachtet, stellt Howard freilich auch in dieser Story sein Talent für abenteuerreiche Unterhaltung unter Beweis. Die Handlung ist dynamisch, die Stimmung düster und bedrohlich. Tiefsinnigkeit ist Howards Sache nicht, das Übernatürliche ist in der diesseitigen Welt überraschend heimisch; es verbirgt sich nie, sondern agiert dynamisch im Vordergrund. Damit kommt es seinen menschlichen Widersachern entgegen, denn Howards Figuren sind – Helden und Schurken – Männer der Tat. Kommt es zur Konfrontation, dann erfolgt diese direkt. In dem dann ausbrechenden Kampf kann sich der Mensch auf atavistische Kräfte aus dem Unterbewusstsein verlassen: „All seine zivilisierte Zurückhaltung war von ihm abgefallen, und übrig blieb der primitive, elementare Mensch, rasend und über den Untergang eines verhassten Feindes jubilierend.“ (S. 79) Dazu passen Seelenwanderung („Der Dämon des Ringes“) oder die leibhaftige Wiederkehr längst verstorbener, aber mit der Welt der Lebenden noch nicht ‚fertiger‘ Menschen („Delenda est“).

_Des Schreckens andere Töne_

Während nur eine (und glücklicherweise nur kurze) Story wirklich schlecht (= vorhersehbar und abgedroschen) geraten ist („Der Todestraum“), überwiegen in „Das Ungeheuer …“ die lesenswerten Geschichten. „An der schwarzen Küste“ ist eine eindringliche Rachegeschichte auf einer fast kulissenleeren Bühne. Einmal mehr nimmt die Handlung eine unerwartete Wende: Nicht der einsame Mann flüchtet vor seinen schrecklichen Verfolgern. Howard kehrt – typisch für ihn – die Rollen um: Die Mächte des Jenseits sind vielleicht letztlich stärker als der Mensch, doch dieser leistet Widerstand, und der Sieg des Bösen muss nicht selten teuer erkauft werden.

Dass Howard keineswegs auf handfeste Prügeleien mit den Kreaturen der Nacht fixiert war, belegt „Dermods Fluch“. Hier rettet das Opfer eines irischen Schlagetots sich nicht aus eigener Kraft. Hilfe kommt von unerwarteter Seite, und sie hinterlässt kein blutiges Trümmerfeld, sondern einen weinenden (!) Mann, dem das Erlebte endlich die Kraft gibt, um seine verstorbene Schwester zu trauern.

_In den Schuhen des Meisters_

Eine Sonderstellung nehmen in dieser Sammlung die Storys „Das Haus unter den Eichen“ und „Die unter Gräbern hausen“ ein. Der Freund der Phantastik erkennt sofort die thematische und stilistische Nähe zu den Horrorgeschichten von H. P. Lovecraft (1890-1947). Sein „Cthulhu“-Zyklus gehört zu den fundamentalen Klassikern des Genres. Lovecraft ging hier von der Prämisse aus, dass die Erde Nebenschauplatz eines kosmischen Krieges ist, den mächtige und unsterbliche Wesenheiten seit Äonen miteinander führen. Allzu neugierige Menschen erfahren mehr, als sie verkraften können; sie geraten in den Bann der Kreaturen und nehmen ein schreckliches Ende.

Noch zu seinen Lebzeiten scharte Lovecraft eine kleine Gruppe meist jüngerer Autoren um sich, die seine Geschichten nicht nur bewunderten, sondern sich selbst an der „Cthulhu“-Sage versuchten. Lovecraft förderte solche Versuche belustigt oder geschmeichelt. Mit seiner Unterstützung unternahmen später selbst erfolgreiche Autoren erste literarische Gehversuche. Zu ihnen gehörten u. a. Robert Bloch, Frank Belknap Long, August Derleth – und Robert E. Howard.

„Das Haus unter den Eichen“ und „Die unter Gräbern hausen“ zeigen einen Howard, der Lovecrafts eigentümlichen Schreibduktus einerseits gut imitieren kann, während er andererseits dessen sonst eher von schwächlichen Forscherseelen dominierte Welt mit seinen Tatmenschen bevölkerte. (Wenn „Das Haus unter den Eichen“ mehr nach Lovecraft als nach Howard klingt, so mag dies allerdings daran liegen, dass diese Geschichte erst 35 Jahre nach Howards Tod und in einer ‚Bearbeitung‘ durch Lovecrafts Nachlassverwalter Derleth erstmals veröffentlicht wurde. Andere Beispiele belegen, dass dieser sich im Rahmen solcher ‚postumer Kollaborationen‘ erhebliche Freiheiten gestattete und Storys nachdrücklich ‚lovecraftisierte‘, um sie dem Mythos, wie er ihn nach Lovecrafts Tod definierte, anzupassen.)

_Einige bibliografische Anmerkungen_

„Das Ungeheuer aus dem Sumpf“ basiert auf der US-Original-Kollektion „Black Canaan“, die Glenn Lord 1978 herausgab. In Deutschland erschien sie als „Das Ungeheuer aus dem Sumpf“ in der Reihe „Terra Fantasy“ der |Pabel|-Verlags. Dieser frönte noch Anfang der 1980er Jahre der Unsitte, Taschenbücher prinzipiell auf 160 Seiten zu limitieren. War ein Roman im Original zu lang, wurde gekürzt.

Auch „Das Ungeheuer aus dem Sumpf“ erfuhr dieses Schicksal. Die Kurzgeschichten selbst blieben immerhin vom Rotstift verschont. Stattdessen ließ man zwei Storys einfach weg. „The Noseless Horror“ und „Moon of Zembabwei“ sollten später nachgereicht werden, doch das Ende der „Terra Fantasy“-Reihe verhindert das. „The Noseless Horror“ erschien 1986 als „Der Fluch der Mumie“ in der 36. Folge des Magazins |Magira|; „Moon of Zembabwei“ arbeiteten Lyon Sprague de Camp und Lin Carter 1977 zur „Conan“-Story „Der rote Mond von Zembabwei“ für „Conan von Aquilonien“ (|Heyne| SF-TB Nr. 4113) um.

Von den acht Storys der Originalsammlung erschienen nur zwei („Der Dämon des Ringes“ und „Das Ungeheuer aus dem Sumpf“) zu Howards Lebzeiten. Er war ein Mann vieler Projekte, zu deren Verwirklichung ihm wenig Zeit blieb. Als Howard 1936 starb, hinterließ er offenbar ganze Stöße halb oder fast fertiggestellter Manuskripte, Entwürfe und Skizzen, und als er in den 1960er Jahren ‚wiederentdeckt‘ wurde, nahmen sich zahlreiche Autoren dieses ungehobenen Schatzes an. Sie schrieben Howards Werke zu Ende oder setzten seine Vorgaben um, so gut dies ging. Lange war es schwierig zu entscheiden, was tatsächlich aus Howards Feder geflossen und was ihm nachgedichtet war. Als „Das Ding aus dem Sumpf“ 1981 in Deutschland erschien, war dieses Wissen noch einer Handvoll Eingeweihter vorbehalten. Erst allmählich wurde die Spreu vom Weizen getrennt. Heute lässt sich meist per Internet ermitteln, was Howard wirklich zuzuschreiben ist.

_Der Autor_

Robert Ervin Howard wurde am 22. Januar 1906 in Peaster, einem staubigen Flecken irgendwo im US-Staat Texas, geboren. Sein Vater, ein Landarzt, zog mit seiner kleinen Familie oft um, bis er sich 1919 in Cross Plain und damit im Herzen von Texas fest niederließ. Robert erlebte nach eigener Auskunft keine glückliche Kindheit. Er war körperlich schmächtig, ein fantasiebegabter Bücherwurm und damit der ideale Prügelknabe für die rustikale Landjugend. Der Realität entzog er sich einerseits durch seine Lektüre, während er sich ihr andererseits stellte, indem er sich ein intensives Bodybuilding-Training verordnete, woraufhin ihn seine Peiniger lieber in Frieden ließen: Körperliche Kraft bedeutet Macht, der Willensstarke setzt sich durch – das war eine Lektion, die Howard verinnerlichte und die seine literarischen Helden auszeichnete, was ihm von der Kritik lange verübelt wurde; Howard wurden sogar faschistoide Züge unterstellt; er selbst lehnte den zeitgenössischen Faschismus ausdrücklich ab.

Nachdem er die Highschool verlassen hatte, arbeitete Howard in einer langen Reihe unterbezahlter Jobs. Er war fest entschlossen, sein Geld als hauptberuflicher Autor zu verdienen. Aber erst 1928 begann Howard auf dem Magazin-Markt Fuß zu fassen. Er schrieb eine Reihe von Geschichten um den Puritaner Solomon Kane, der mit dem Schwert gegen das Böse kämpfte. 1929 ließ er ihm Kull folgen, den König von Valusien, dem barbarischen Reich einer (fiktiven) Vorgeschichte, 1932 Bran Mak Morn, Herr der Pikten, der in Britannien die römischen Eindringlinge in Angst und Schrecken versetzte. Im Dezember 1932 betrat Conan die literarische Szene, ein ehemaliger Sklave, Dieb, Söldner und Freibeuter, der es im von Howard für die Zeit vor 12000 Jahren postulierten „Hyborischen Zeitalter“ bis zum König bringt.

Die Weltweltwirtschaftskrise verschonte auch die US-amerikanische Magazin-Szene nicht. 1935 und 1936 war Robert E. Howard dennoch in allen wichtigen US-Pulp-Magazinen vertreten. Er verdiente gut und sah einer vielversprechenden Zukunft entgegen, korrespondierte eifrig und selbstbewusst mit Kollegen und Verlegern und wurde umgekehrt als noch raues, aber bemerkenswertes Erzähltalent gewürdigt.

Privat litt Howard an depressiven Schüben. Diese Krankheit war in den 1930er Jahren noch wenig erforscht und wurde selten als solche erkannt oder gar behandelt. In Howards Fall kam eine überaus enge Mutterbindung hinzu. Als Hester Ervin Howard 1935 an Krebs erkrankte und dieser sich als unheilbar erwies, geriet ihr Sohn psychisch in die Krise. Im Juni 1936 fiel Hester ins Koma, am 11. des Monats war klar, dass sie den Tag nicht überleben würde. Als Howard dies realisierte, setzte er sich in seinen Wagen und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Er war erst 30 Jahre alt. Sein umfangreiches Gesamtwerk geriet in Vergessenheit, bis es in den 1950er und 60er Jahren wiederentdeckt wurde und nie gekannte Bekanntheitsgrade erreichte, was seinen frühen Tod als doppelten Verlust für die moderne Populärkultur erkennbar macht.

_Impressum_

Originaltitel: Black Canaan (New York : Berkley Books 1978)
Übersetzung: Klaus Mahn
Deutsche Erstausgabe: April 1981 (Erich Pabel Verlag/Terra Fantasy 84)
161 Seiten
[keine ISBN]